1913 / 284 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 02 Dec 1913 18:00:01 GMT) scan diff

Wenn man jedoch feststellt, in welhen Artikeln denn die kanadische Cinfuhr sich so erheblich gesteigert hat, crgibt sich, daß Kanada bei uns eingeführt hat im Jahre 1910 für 2,9 Millionen Mark Weizen, im Zahre 1911 für 14,3 Millionen Mark Weizen, im Jahre 1912 für 46,3 Millionen Mark Weizen. Aber auch diese Zahlen kann man erst würdigen, wenn man berüdsichtigt, wie si im gleichen Zeitraum die Einfuhr der Vereinigten Staaten von Amerika nah Deutschland entwidelt: hat, und da ergibt fich, daß, während im Jahre 1910 die amerikanische Einfuhr noch 5,6 Millionen Dollar betrug, sie im Jahre 1911 0,7 und ünter dem Einfluß der guten Ernte von 1912 1,5 Millionen Dollar betragen hat. (Hört, hört! bei den National- liberalen.) Es handelt sih also hier im wesentlichen niht um eine érxheblihe Vermehrung der Weizeneinfuhr nah Deutschland, sondern 1m éine natürliche Verschiebung, die auf dem starken Konsum der Vereinigten Staaten von Nordamerika beruht, mit dem die Pro- duktion nicht mehr standhält, und der auf die Dauer die Ausfuhrmög- lichkeiten der Vereinigten Staaten immer mehr verringern und wahr- icheinlih bald auf Null reduzieren wird, und auderseits um tie Wurkung der außerordentlichen Erxpansion der kanadishen Landwirt- ichaft, die vielleicht früher ich bin nicht in der Lage, das zu kon- irollieren auch einen Teil ihres Weizens nicht direkt, sondern über Hafen der Vereinigten Staaten hat hierher gelangen lassen.

Was demgegenüber in bezug auf unsere Beziehungen zu Kanada in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung beansprucht, ift die erhebliche Steigerung der deutschen Einfuhr nah Kanada, die mit der durch die Verschiebung der Verhältnisse bedingten höheren Weizen- emnfuhr aus Kanada mit einer Steigerung von 36,6 Millionen auf 54,3 Millionen Mark der Ausfuhr deutscher Industrieerzeugnisse dahin einen Ausgleih geschaffen hat. Meine Herren, ih habe nie untec- lassen, wenn Vertreter der beteiligten Industrien bei mir vorspracben, die Frage unserer Handelsbeziehungen zu Kanada und zum Britischen Meiche zum Gegenstande eingehender Erörterungen zu machen, und es Ut mir noch in der allerleßten Zeit wiederum von einem Vertreter der am meisten beteiligten und interessierten Industrie, nämlich unserer Seidenindustrie, erklärt worden: So wünschenswert es sei, daß die ungünstige Behandlung der deutschen Einfuhr gegenüber der französi schen in Kanada beseitigt würde, so sei doch der jebige Zustand für den Handel bei weitem erträglicher als die Verhältnisse vor dem Jahre 1910. Daraus ergibt sich, daß unsere Politik Kanada gegenüber richtig und unseren Handelsbeziehungen zu Kanada förderlicher gewesen ift, als wenn wir den Weg gegangen wären, den det Herr Abgeordnete Hoesch soeben empfohlen hat.

Wenn ich nun noch mit wenigen Worten auf die anderen Kolonien des Britischen Weltreichs, die uns differenzieren, eingehe, so handelt cs sh dabei, abgesehen von Kanada, vor allem noch um SüÜd- afrifa und Australien. Es ist richtig, daß unsere Ausfuhr nach Südafrika im Laufe der leßten zwei Jahre gegen diejenige des Jahres 1910 zurückgegangen ist. Man muß aber berücksichtigen, daß ste sich Um ganzen in günstiger Weise entwidelt. Sie hatte im Jahre 1899 einen Wert von 11,3 Millionen Mark, und diese Ausfuhr ift mit einigen Schwankungen. allmählih gestiegen. Während sie im Jahre 1903 41,7 Millionen Mark betrug, ist sie namentlich in den Jahren 1904 und 1907 stark gefallen, um dann wieder bis zum Jahre 1910 auf 54 Millionen Mark zu steigen. Man wird nach alledem wobl feststellen können, daß die Differenzierung, die British Süd afrika uns hat zuteil werden lassen, einzelne Zweige unseres Handels mit Südafrika ungünstig beeinflußt hat, daß aber im ganzen auch hier eine günstige Entwicklung unserer Handelsbeziehungen nicht auf- gehalten worden ist. Ebenso liegt es, wie die Zahlen der Begründung des vorliegenden Entwurfs beweisen, hinsichtlich unseres Außenhandels mit Australien.

Der Herr Vorredner hat sih dann noch, wenn ih ibn ritig verstanden habe, mit British Westindien beschäftigt. Meine erren, es ist sehr schwer, sih aus der Statistik ein Bild zu machen, in welchem Umfang diese neueste Differenzierung gewisser britisch- westindisher Gebiete unsere Handelsbeziehungen beeinträchtigen wird. Gutstanden ist die Differenzierung in der Weise, daß Kanada mit einigen westindishen Kolonien einen Handelsvertrag abgeschlossen hat und die Vergünstigungen dieses Handelsvertrags, die nur einzelne Artikel betreffen, der Natur der Dinge nah auf das Mutterland aus- gedehnt worden sind, sodaß wir also dur diese Maßnahmen tatsäc- lich auh dem englischen Mutterlande gegenüber differenziert sind. Soweit wir es übersehen können, bandelt es si bei den Waren der deutschen Ausfuhr, die hier in Frage fommen, um Werte 6G—700 000 Æ im Durbschnitt der Jahre 1910 bis 1912 Werte, die in keinem Verhältnis stehen zu den Summen, die in unseren Handelsbeziehungen zum Britischen Reicbe, seinen Kolonien und Besißungen in ihrer Gesamtheit umgesebt werden.

Ich möchte die Herren bitten, do noch einmal einen Blick auf die Begründung der Vorlage zu werfen, aus der Sie entnehmen werden, Daß der deutsche Außenhandel mit dem britisben Gefamtreich sowohl in der Ausfuhr wie in der Einfuhr bei weitem die erste Stelle ein- nimmt. Die Einfuhr ist gewachsen von 1505 Millionen Mark im Zahre 1909 auf 2000,5 Millionen im Jahre 1912: die Ausfuhr ist ge- wachsen von 1255 Millionen Mark im Jahre 1909 auf 1510 Millionen Mark im Jahre 1912. Auch die so wertvolle Entwicklung des Handels ¿wischen dem britishen Mutterlande und uns zeigt einen erfreulichen Aufstieg.

Meine Herren, wenn an si von unserem Standpunkte aus felbft- verständlich jede Differenzierung unerwünscht ist, fo konnte es doch mchGt zweckmäßig erscheinen, in all die vorerwähnten Handels- beziehungen störend einzugreifen, um verhältnismäßig wenige Differen- gierungen einzelner Zweige unserer Industrie in einzelnen Teilen des britischen Wesltreicbes zugunsten des britischen Mutterlandes oder ein- zelner Kolonien zu beseitigen. Diesen Standpunkt teilen die ver- bündeten Regierungen heute noch. Auch alle Vertreter von Handel und Industrie, mit denen ih über die Sache gesprochen habe, sino derselben Meinung, und auch der Reichstag hat si bisher auf diesen Standpunkt gestellt. Jch gebe mich unter diesen Umständen der Hoff- nung hin, daß die Mehrheit des Reichstags der Vorlage der verbündeten Megierungen zustimmen wird. (Bravo! bei den Nationalliberalen.)

Abg. Molkenbuh r (Soz.): Ih muß von vornherein erklä- ren, daß wir selbstverständlih die Votlage annehmen. Diese würde Chamberlain, wenn er in Gngland noch an der Leitung wäre, eine besondere Genugtuung bereiten. Da er aber in England son abgetän ift, so kann man ja darüber hinweggehen. Die Stellung der

érren von der rechten Seite des Hauses ist nicht verwunderlich, da

Zollkrieg stehen, damit die allerhöhsten Säße des Agrarzolles in Kraft bleiben. Die Uebersichten, die uns regelmäßig bei den- Verlänge- rungen tes Proviforiums gegeben werden, sind meiner. Meinung nach eine so kräftige Begründung, daß man eigentli mit gar keinem Worte dazu Stellung zu nehmen brauchte. Eines freili ist uns unerklärlih, taß wir nämlih immer von einem Provisorium zum anderen gehen: es wäre jedenfalls vorteilhafter, wenn wir zu etnem dauernden Berhältnis mit England kommen würden. Wenn auch Deutschland immet als Feind Englands in der alldeutschen Presse hingestellt wird, so zeigt sich doch in der Uebersicht, wie wichtig beide Länder füreinander sind. Der Abg. Hoesch wies darauf hin, daß namentlich Känada jeßt erheblich mehr Weizen nah Deutschland ausgeführt hat als früher. Eine Untérbindung dieser Ausfuhr würde abêr nichts weiter herbeifüh- ren, als daß dieser Weizen nicht von Kanada, fondern aus den Ver- einigten Staaten nah Deutschland käme, Es ist ganz selbstverständ- lich, daß dasjenige Land, das eine besonders günstige Ernte aufzuweisen hat, an dem Import nah Deutschland immer besonders stark beteiligt sêin wird. Dies trifft beim Gerstenimport großenteils auch für Nuß- land zu. Wenn ein Volk so toriht wäre, uns den wirtschaftlichen Aufschwung nicht zu gönnen, so würden diese Leute, die wünschen, daß wir wirtschaftlich herunterkämen, keine guten Geschäfte mehr mit unsy machen können. Solche Vorstöße gegen die Handelsvertragspolitik, wie sie der Abg. Hoesch unternommen hat, haben gar keinen ‘anderen Zweckck als den, einen allgemeinen Zollkrièg mit der ganzen Welt einzu- leiten. Es ist die. erste Einleitung zu dem Kampf, der demnächst um die neuen Handelsverträge entbrennen wird. Die Herren wollen von ihrem Standpunkt aus verhüten, daß in irgend einer Weise mit dem Abbau der Zolle begonnen wird.

Abg. Herold (Zentr.): Es wäre vielleicht rihtiger gewesen, wenn das Handelsprovisorium mit England angenommen worden wäre, obne daß eine Diskussion darüber stattfand. Gewiß wäre es wün- schenswert, von der Differenzierung der Kolonien in nicht zu ferner Zeit befreit zu werden, aber das tann uns nicht veranlassen, dieser Vorlage unsere Zustimmung zu verweigern. Unsere Industrie hat sich unter dem Provisorium sehr bedeutend entwidelt; Handelsbeziehungen abzubrechen ist außerordentlich leicht, aber wenn sie abgebrochen sind, sie von neuem wieder anzuknüpfen, ist erheblich \{werer; wir müssen dann die Folge eines Zollkrieges tragen. Darum sollte man außer: ordentlich vorsichtig sein, ehe man cine folhe Entscheidung trifft. Unsere Handelsbilanz gegenüber England hat si immer günstiger entwieli. Gowiß ist die Differenzierung durch Kanada zu beklagen; immerhin ist eine wesentliche Steigerung unserer Ausfuhr eingetreten. Wir werden also der Verlängerung des Handelsprovisoriums zustimmen.

Abg. Dr. Paasche (nl.): Auch wir mußten glauben, daß das Handelsprovisorium wie früher ohne weiteres vom Reichstage verlän- gert werden würde. Nachdem aber von der konservativen Seite eine definitive Ablehnung des Geseßentwurfes vorgeschlagen ist, mochte ich doch mit ein paar Worten auf die Vorlage eingehen. Wenn man sich die Statistik genauer ansieht, muß man doch zugeben, daß unfer Berhältnis zu England und seinen Kolonien kein ungünstiges ist. Man geniert sich beinahe, unsere Handelsbeziehungen zu England und zu feinen Kolonien im eigenen Lande klipp und klar darzulegen. Es sind das Resultate, auf die England gewiß nicht stolz sein darf, wohl aber wir. Wir beziehen von England vorwiegend Rohstoffe, Stein- kohlen und Halbfabrikate, während England allein für 266 Millionen Tertilwaren und 270 Millionen Eisen- und Stahlwaren von uns be- zieht. Das beweist ohne Zweifel unsere Ueberlegenheit gegenüber England. Wenn wir uns unsere gesamten Ausfuhrziffern nah Eng»-

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land ansehen, so haben wir wahrlich keine Ursache zu sagen, daß wir gegenüber England ungünstig dastehen. Daß wir den englischen Ko- lonien gegerüber eine passive Handelsbilanz haben, is gar nit s{limm, da es sich um Nobstoffe handelt. Auch die Rücksichten auf Kanada und Britischafrika können uns nicht veranlassen, dieses Provi- sorium nit zu bewilligen. Gewiß wünschten auch wir, daß wir zu einem Definitivbum mit England gelangten, aber zu einem folchen Vertrage gehören zwei und auch die Kolonien. Wir können nur wünschen, daß wir bald zu einem Definitivum gelangen.

Abg. Dr. Pachnicke (forts{hr. Volksp): Meine Freunde hatten es für möglich, ja für nüßlih gehalten, diese Vorlage ohne Debatte passieren zu lassen, denn es foll nur der bestehende Zustand aufrecht erbalten werden, aber die Herren Konservativen wollten es anders. Die Nede des Abg. Hoesch war ein Auftakt zu der Diskussion über die neuen Handelsverträge, der nicht unerwidert bleiben fann. Die Herren bekämpfen die ganze Handelsvertragspolitif, wie wir es immer aus dem Munde des verstorbenen Grafen Kaniß gehört haben. Deutschland ist nicht England gegenüber geschwächt, weder politifsch noch mwirtschaftlih. Unsere politishen Beziehungen zu England haben sich verbessert; das ist ein Erfolg unserer auswärtigen Politik, die sonst nicht überreih an Erfolgen ist. Und in wirtscaftlicher Be- ziehung ist unser Warenaustausch mit England bis zu 114 Milliarden aufgestiegen, und relativ besteht ein ebenso erheblicher Aufstieg Kanada gegenüber bis zu 54 Millionen Mark. Was das für unsere gesamte Zndustrie, für unseren Handel und für die Arbeitslöbne bedeutet, sollten die Herren auf der Rechten zu würdigen wissen. Welche Verantwortung laden die Konservativen auf sich, wenn ihr Stand- punkt, diesen Gefeßentwurf abzulehnen, durhdringt? Der Abg. Hoesch wünscht einen zollpolitisben Kampf, mit Gnergie geführt, um cin anderes Nesultat England gegenüber herbeizuführen. Die Kon- servativen wollen eine Handelspolitik in Kürassierstiefeln. Die Schneidigkeit hat uns aber gerade Kanada gegenüber zu Mißerfolgen eführt und dort den Zollzuschlag bervorgerufen. Wenn auch ein iberales Blatt für ein Spezialinteresse eine Schädigung zugestanden vat, so würde doch die liberale Presse auf die Frage, ob sie dieses Sejeß ablehne und damit unsere Handelsbeziehungen erschüttern wolle, Antwort micht schuldig bleiben; sie würde für den Zollfrieden und cht für den Zollkrieg eintreten. Die Mittel der Konservativen nnten nur die verhängnisvollsten Folgen herbeiführen. Möge die egierung fih nicht von den Konservativen führen lassen, sondern den Abschluß eines neuen Handelsvertrages erstreben. Ießt liegt dieses Provisorium ebensogut im deutschen Interesse wie im englischen. Heffentlich gelingt es auch in England, diese Ueberzeugung zu ver- breiten, daß wir zu einem definitiven Handelsvertrag kommen müssen.

Abg. Hoesch (dkons.): Dex Staatssekretär bat mich nicht ganz richtig verstanden. Eine Kampfaridrohung würde entschieden bessere (Crfolge haben; wenn der Vertrag mit Kanada jederzeit nah zwei Monaten gefündigt werden fann, jo verstehe ich nit recht, wie man uns einen {weren Vorwurf daraus macht, wenn wir endlich einmal daran erinnern, daß es nit so endlos weitergehen fann wie jeßt. Wir scllen immer erst am 1. Dezember beschließen, was vom 1. Januar

hen wi adurh sind wir in eine schwierige Lage gebracht.

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Negierung auf das Anwachseu der Weizenaus- Gewicht legt, so liegt doch darin für uns eine Waffe, um bessere Handelsverträge zu ermöglihen. Daß unserseits Weizen eingeführt werden muß auf absehbare Zeit, darüber sind wir uns genau so klar wie die anderen Herren, aber dem kolossalen Anwachsen unserer Ginfuhr von Nobstoffen müßte auch die Ausfuhr unserer Fabrikate entspreden, das ist aber niht der Fall. Von unseren Berechtigungen in den britishen Kolonien wird Stück für Stück abgebröcelt. Cin Provisorium, das nicht durch Geseßgebung und Vertrag festgelegt wird, ist eine furchibare Waffe in der Hand derjenigen, die es nit so gewissenhaft meinen, wie Deutfchland es immer getan hat. Wir konnen uns damit nicht zufrieden geben; natürli kann nit in at Tage ein Handelsvertrag zustande gebracht werden, aber wir wollen zum Ausdru bringen, daß auf einen definitiven Handelsvertrag hin- gewirkt werden muß.

_ Abg. Berns ein (Soz.): Was soll nach der Ablehnung geschehen? (Zuruf von rechts: Wie stellen Sie sh vor, wenn der Etat abgelehnt wird?) Das ist doch gänz etwas anderes. Hier handelt es ich um unser Verhältnis zu einem Weltreih. Man {eint hier, weni aud der Ausdruck nit gefallen ist, eine Politik der gepanzerten Faust treiben zu wollen. Mit einer Drohung kommt man aber hier nit weiter, Wir sehen in allen Händelsverträgen eiten Kulturförts{ritt. Wix haben das Provisorium mit England gewählt, weil England mit seinen eigenen Kolonien Schwierigkeiten hat. Wir müssen auc be-

jie ja nichts anderes wünschen, als daß wir mit der ganzen Welt im

denten, daß schließlich auch die englische Verfassung ein Provisorium

ift, sie ist nit kodifizierk, fie is lebendig und în \tändiger Entwicks lung begriffen. Mit demiProvisorium sind wir bisher gut gefahren. Was durch eine Drohung herauskommt, das hat uns ja der Zollkrieg mit Kanada gelehrt. Wenn wir diesen Vertrag ohne Rücksicht auf die Folgen kündigen, dann wird doch die Ginfuhr von Weizen, den wir so notwendig brauchen, auf unabsehbare Zeit erschwert und das Brot verteuert. Wer sagt,. daß hier im Sinne des Grafen Kant gehandelt wird, der tut dem Grafen doch bitter Unrecht. Er hätte gariz ficher in anderer Weise über diese Dinge gesprochen.

Damit schließt die erste Beratung. i

Jn zweiter Lesung wird der Text des Gesezes ohne Dis- fussion unverändert gegen die Stimmen der Deutschkonser- vativen angenommen.

Es folgt die erste Beratung des Gesepenit- murtes Uber die. Wiederousnaghme eines Disziplinarverfahrens.

Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Jnnern Dr. Delbrüdck:

Meine Herren! Der Entwurf eines Gesehes über die Wiede aufnahme eines Difziplinarverfah rens bedeutet die Erfüllung einer Zusage, die ih dem hohen Hause bei Beratung des Kolonialbeamtengeseßes im Namen des Herrn Reichskanzlers zu machen die Ehre hatte. Die Vorlegung des Entwurfs hat sich länger verzögert, als ih gewünscht hätte. Die juristischen Schwierigkeiten, die der Lösung dieser Aufgabe entgegenstanden, waren verhältnismäßig groß, wie ich das schon im April dieses Jahres dem hohen Hause vor- getragen habe. Grundsäßlihe Bedenken gegen den Entwurf haben die verbündeten Regierungen nicht gehabt. Im Gegenteil, wir sind von der Ueberzeugung durchdrungen, daß es dem modernen Rechts empfinden entspricht, wenn man einem zu Unrecht disziplinierten Be- amten die Möglichkeit bietet, seine verleßte Ehre wiederherzustellen.

Auch finanzielle Schwierigkeiten haben sich der Verwirklichung dieses Cntwurfs nicht entgegenstel[t. Das förmliche Disziplinarver- fahren gegen Neichsbeamte kommt, wie ih hier ausdrüdlih fest- stellen möchte, erfreulicherweise verhältnismäßig sehr selten zur Durch- führung. Ein Ueberblick über die Tätigkeit der für die Reichsbeamten bestehenden 30 Disziplinarkammern zeigt, daß bei ihnen in dem letzte: Jahrzehnt von 1903 bis 1912 förmliche Disziplinarverfahren anhängig waren gegen 17 höhere, 119 mittlere und 84 Unterbeamte, zusammen also in 10 Jahren gegen 220 Reichsbeamte, oder 22 im Jahresdurcl schnitt. Von diesen 220 Disziplinarfachen sind 121 in die Berufungs- instanz gelangt, aber nux 31 Berufungen, also 3 im Jahresdurch- \chnitt, haben mit einer Abänderung der erstinftanzlihen Entscheidung geendigt. Meine Herren, Sie können aus diesen Zahlen entnehmen, daß die Fälle, in denen von dem jeßt Ihnen vorgelegten Geseßentwurf Gebrauch gemacht werden wird, außerordentlih selten sein werden, sodaß also aus der Annahme dieses Geseßentwurfs eine nennenswecte Belastung der Neichskasse {G nit ergeben wird.

Was nun den Geseßentwurf selbst betrifft, so zerfällt er, von einigen Einzelheiten abgesehen, in drei Abschnitte. Der erste Ab- schnitt erörtert die Vorausseßungen, unter denen eine Wiederaufnabme des Verfahrens eintreten kann; der zweite Abschnitt erörtert die Formen, in denen sih ein Wiederaufnahmeverfahren vollziehen oll, und der dritte Abschnitt handelt von der Schadloshaltung eines rehabilitierten Beamten. Die beiden ersten Abschnitte {ließen si eng an die Bestimmungen der Strafprozeßordnung an. Strafver- fahren und Disziplinarverfahren haben ja eine große Reihe von Aehn- lichkeiten, und das Difziplinarreht pflegt in vielen Verfahrens bestimmungen direkt auf die Strafprozeßordnung Bezug zu nehmen. Abweichungen sind nur insofern vorhanden, als es die Besonderhbeiten des Beamtenrechts erfordern. Es mußten also beispielsweise die Voi ausseßungen, unter denen ein Wiederaufnahmeverfahren eintreten kann, etwas weiter als im Strafreht gefaßt werden, aus dem einfachen Grunde, weil das Beamtenrecht nicht so scharf umrissene Tatbestands- merkmale kennt wie das Strafrecht. Auf der anderen. Seite mußten die Vorausseßungen der Wiederaufnahme gegenüber dem Strafrecbt eingeschränkt werden, weil es feinen Sinn haben würde, einen Be- amten zu rehabilitieren, der seit seiner disziplinaren Verurteilung, inzwischen durch Vorkommnisse, die mit dieser nichts zu tun haben, unwürdig geworden ist, Beamter zu sein.

Abweichend von den für das Strafreht geltenden Vorschriften ist aber im Entwurf die Frage der Schadloshaltun g ge regelt. Meine Herren, wir hatten hier zwei Wege. Wir konnte! einfnal cine völlige Schadloshaltung des Beamten durch eine Geld- zahlung in der Art in Aussicht nehmen, wie es für unschuldig Ver- urteilte durch das Geseß vom 20, Mai 1898 vorgesehen ist. Oder wir konnten eine Wiedereinseßung des Beamten in seine Beamtenstellung in Aussiht nehmen. Den ersten Weg der vollständigen Schadloshaltung sind ein bayerisches Gesebß, ein württembergishes Geseß und ein österreihisher Geseßentwurf ge- gangen. Den anderen Weg der Wiedereinsebung in die Beamten- stellung haben nah eingehenden Erwägungen die verbündeten Re- gierungen vorgezogen und beschlossen, ihn in der Form zu empfehlen, die der Geseßentwurf des Näheren ergibt. Der Weg der Schadlos- haltung hat den Vorteil für den Beamten, paß er eine vollständige bare Entschädigung für alle die Nachteile enthält, die ihm aus einer zu Unrecht erfolgten disziplinarishen Bestrafung erwachsen sind. Er hat aber für den Beamten den Nachteil, daß er in seine Beamten- stellung niht wieder eingeseßt und dementsprehend seine Beamten- chre, die ja durch die disziplinarishe Bestrafung geschädigt ist, nicht wieder hergestellt wird. Der zweite Weg, den wir Ihnen vorschlagen, hat den Vorteil, daß der Beamte, selbst wenn er in seltenen Fällen

eine volle Schadloshaltung im Sinne des Geseßes vom 20. Mat 1898 nit erhalten sollte, doch wieder Beamter wird und damit die vermögensrechtliche Folge cintritt, daß ihm ein Wartegeld in Höße von drei Vierteln seines Gehalts gezahlt wird bis zu dem Augen- blick, wo er im Reichsdienst wieder verwendet werden kann, und zwar nicht etwa bloß von dem Zeitpunkt der Entscheidung im Wiederauf- nahmeverfahren, sondern von dem Zeitpunkt der Rechtskraft des ersten, inzwischen aufgehobenen, Disziplinarurteils. Es kann sein, daß der von uns vorgeschlagene Weg unter Umständen dem Beamten eine volle Schadloshaltung in Geld nicht gewährt. Jn der Regel wird aber nach unserer Auffassung das von uns vorgeschlagene Verfahren auch in materieller Hinsicht für den Beamten vorteilhafter sein, weil ex nicht genötigt ift, sih denjenigen Verdienst auf die Entschädigung an- reGnen zu lassen, den er in der Zwischenzeit gehabt hat oder \{uld- haft unterlassen hat, \sich zu verschaffen. Der Vorteil für den Be- amten liegt ferner darin, daß er bei der von: uns vorgeshlagènen Nege- lung jedes besonderen. Verfahrens über die Höhe der ihm zu gewähren=-

den Entschädigung überhoben und nicht genötigt ist, Buch und Nechs

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hung zu führen über das, was er in der Zwischenzeit verdient hat. Dos wichtigste aber für uns ist, daß bei diefem Verfahren, was nach meiner Ueberzeugung in der Mehrzahl der Fälle zum Vorteil des Beamten auch in materieller Beziebung sein wird, auch scine ange- tastete Beamtenehre wiederhergestellt wird.

Deswegen, meine Herren, sind wir den zweiten Weg gegangen, von dem wir überzeugt sind, daß er den Besonderheiten' des Beamten- rechts entspricht, daß er eine langwierige, umständliche, für alle Be- teiligten unangenehme, gerihtlihe Erörterung über die Höbe der Ent: schädigung ein für alle mal aus\chließt, von vornherein möglichst klare Verhältnisse schafft und, wie ih vorhin schon sagte, auch dem Beamten die Möglichkeit gibt, seine geshädigte Beamtenehre wiederherzustellen.

Ich habe die Hoffnung, daß Sie sich diesen wichtigen Erwägungen nicht verschließen werden und dem Entwurf, so wie wir ihn vorgelegt haben, Ihre Zustimmung erteilen werden. (Bravo!)

Abg. Landsberg (Soz.): Gegen den Grundgedanken des Ge- seßes wird niemand etwas einzuwenden haben. Denn es ist selbst- verständlich, wenn ein rechtskräftiges Urteil sich als fals herausstellt, muß die Möglichkeit der Aufhebung gegeben sein. Der vorliegende Ge- seßentwurf, der ja recht lange auf sih warten ließ, hat fich als ‘inc schwere, aber nicht glücklihe Geburt erwiesen. Unser Beamtengeseßz 1st überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Es widerspricht dem modernen «Fechtéempfinden, daß im Aufsichtswege Strafen erlassen werden kön- nen. Aehnlich ist es mit den geheimen Personalakten und dem Aus- \pionieren der politischen Gesinnung eines Beamten. Die verbündeten ¿Regierungen hätten auch daran denken tönnen, die Zusammenseßung der Disziplinarkammern zu ändern. Die Frage ist {on \pruchreif ge- worden, und die Beamten haben auch diesen Wunsch bereits zum Aus- druck gebracht und bitten ferner, daß ein Teil der Kammern auf Grund von Wahlen der Beamten gebildet werden foll. Die Wiederaufnahme des Verfahrens soll nur dann erfolgen, wenn auf (Fntfernung aus dem Amte erkannt worden ist. Wir halten es aber für dringend notwen- dig, daß auch cin Wiederaufnahmeverfahren stattfindet, wenn es fich um Warnungen, Verweise und. Geldstrafen handelt. Dem Beamten,

mit einer boben Geldftrafe im Wege des Disziplinarverfahrens be- worden i, muß die Möglichkeit gegeben werden, dagegen ein ederaufnahmeverfahren zu beantragen, zumal doch recht hohe Geld- strafen verhängt werden können. Das Marimum soll sogar ein Mo-

natsgehalt betragen. Hier muß unter allen Umständen eine Aenderung eintreten. Der Staatssekretär hat uns mitgeteilt, daß das Disziplinar- verfahren im wesentlihen nach den Vorschriften der Strafprozeßord- nung gestaltet werden soll. Die Strafprozeßordnung ist aber in diesem Falle kein besonders gutes Vorbild; der Teil der Strafprozeßordnung, insbesondere der § 404, der die vorliegende Materie behandelt, gehört nicht zu threm besten Teil. Die Strafprozeßordnung verfolgt das Prinzip, daß möglichst wenig Urteile im Wege des Wiederaufnahme- verfahrens aufgehoben werden, damit die Autorität der Geseße nicht er- schüttert wird. Die Wiederaufnahme des Verfahrens wird dadurch künst- lich ershwert. Dagegen müssen wir auf das entschiedenste Protest er- heben. Ich bedauere, daß der Staatssekretär nicht den Ehrgeiz gehabt hat, die Bestimmungen der Strafprozeßordnung auf dem Gebiete des Liederaufnahmeverfahrens zu reformieren. Auch die finanzielle Ne- gelung, die uns von den verbündeten Negierungen vorgeschlagen wird, erfreut Nch meines Beifalls durchaus nicht... Ebenso ist es ungerecht- fertigt, wenn ein Beamter, der zu Unrecht aus dem Dienste entlassen worden 1, niht wieder voll in seine Stellung eingeseßt wird. Wenn man gegen dieje Forderung einwendet, daß man ja nit wissen könne, ob der Vetreffende noch dienstfähig fei, so kann man ja diesen Fall cusdrudlih von der Wiedereinseßung ausnehmen. Es ift auch nich1 riblig, dem Beamten nur 4 des Gehaltes auszubezahlen, das thm während seiner Amtszeit zugestanden haben würde. Er muß im Falle ciner Freisprehung im Wiederaufnahmeverfahren Anspruch auf die Vezuge in vollem Umfange haben, die ihm beim Verbleiben im Dienst gewahrt worden wären. Der Anspruch hierauf muß, wenn der Beamte inzwischen verstorben ist, ungekürzt auch auf seine Hinterbliebenen übergehen. Wenn diese nach der Vorlage nur Anspru auf die Hin- Os von dem Zeitpunkt des Ablebens an haben sollen, so würde das eich das volle Gehalt des Beamten, solange er lebt, ein- sach einstecken. Das ist ein ganz unmögliher Standpunkt. Ganz be- jonders [chlimm ist es mit der Bestimmung, daß: der Entschädigungs- an}pruh eines im Wiederaufnahmeverfahren freigesprohenen Beamten an die Kasse eines Bundesstaates auf das Reich übergehen soll, soweit diejer Anspruch durch den, vom Reich gezahlten Betrag ausgeglichen wird. Ich beantrage, die Vorlage einer Kommission von 21 Mitgliedern zu uberweisen, und hoffe, daß es dieser Kommission gelingen wird, die Vorlage in wesentlichen Punkten noch zu verbessern. ; ; Z Abg. Bolz (Zentr.): Die Vorlage bringt einen begrüßenswerten ¿errt Wir find aber der Meinung, daß in wesentlichen Dingen das Beamtenrecht noch einer weiteren Reform bedarf. Vor allen Dingen müßten die Personalakten von Zeit zu Zeit einmal ordentlich gereinigt werden. Es it ja bei vielen Beamten, z. B. des Post- und Eisenbahnwesens, bei den vielen vorhandenen Vorschriften kaum tuöglid, ohne Anstoß durzukommen. Da muß ihnen wenigstens die oglihkeit zustehen, die Personalakten einzusehen, damit sie wissen, was gegen he vorliegt. Jn weitem Umfange kann ih mi mit der Kritik des Vorredners an der Vorlage einverstanden erklären. Die Éleinen Ordnungsstrafen dürften in den Personalakten nicht geführt werden. Das, was den Beamten, die na einer Strafversetzung im Wiede ‘aufnahmeverfahren freigesprohen werden, dur die Vorlage zugebilligt wird, ist wohl das Mindeste, was man ihnen gewähren muß. SL Ut auch die Frage zu prüfen, ob nit einem Beamten, der im Wiederaufnahmeverfahren nicht nur seine Freisprechung erreicht, \on- vern dem es gelingt, feine Unschuld nachzuweisen, eine angemessene Gnfkschadigung zuzubilligen wäre. Es würde auch zu prüfen sein, ob mcht die Ansprüche des Beamten in vollem Umfange auf seine Hinterbliebenen übergehen sollen. Im Zusammenhang mit dieser ¿tage muß auch einmal die Disziplinargewalt gegenüber den Neichs- tagsbeamten geregelt werden. - Es heißt in den Bestimmungen: Die Neihstagsbeamten haben Rechte und Pflichten der MNeichóbeamten, und dann weiter, daß die Anstellung dur den NReichstagspräsidenten erfolgt. Bestritten is die Frage, ob die Neichstagsbeamten auf Grund der Bestimmung dieses Paragraphen mittelbare Neichsbeamte lind, und ob der Neichtagspräsident die einzige und oberste Aufsichts- vehorde ist. Wenn das richtig ist, und das wird wobl im allgemeinen der Anschauung des Neichstages entsprechen, dann ist der Neichstags- präsident befugt, die ganze Disziplinargewalt auszuüben. Dann ent- steht die Frage, wie ein Disziplinarverfahren, das der MNeichstags- prästdent anordnet, durchzuführen ist. Wen soll der Neichstags- prâsident als Untersuhungsbeamten bestellen? Besondere Bedeutung baben diese Fragen dann, wenn die Legislaturperiode geschlossen ist, wenn der Reichstag aufgelöst ist, wenn innerhalb der Legislaturperiode ine Session geschlossen ist, und wenn dann niemand da ist, der die Geschäfte wahrnimmt. Jch {ließe mi dem Antrag auf Kom- missionsberatung an. j Abg. Dr. Thoma (nl.):: Der Schwerpunkt der Vorlage liegt darin, daß. sie mit dem bisherigen Zustande des Disziplinarrechts auf- raumen will, daß bisher den Beamten im Disziplinarverfahren ledig- lih das Rechtsmittel der Berufung zusteht und weiter nichts. Der Entwurf will ein neues Nechtsmittel einführen, indem er das Nechts- mittel der Wiederaufnahme des Verfahrens und in diesem ein weiteres Mechtsmittel, das Nechtsmittel der Beschwerde, einführen will, Diese Vestimmungen lehnen sih an an Bestimmuügen der Meichsstrafprozeß- ortnung über das Wiederaufnahmeverfahren, die aus den Kreisen der Praktiker und Theoretiker ziemlih angefochten sind. Die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahxens ist bes{ränkt auf die Disziplinarstrafe, die Entfernung aus dem Amte oder auf die Dienstentlassuna. Nach dem Meichsbeamtengeseß können aber au Ordnungsstrafen, Verwar: nungen und Geldstrafe und beide verbunden, verhängt werden. Es ware zu erwägen, ob das Wiederaufnahmeverfahren nicht auch auf diese Fälle auszudehnen is. Der Entwurf beschränkt ferner die Zu- Jussigkeit des Wiederausnahmeverfahrens insofern, als er dieses Ver-

fahren nit zulassen will, wenn der Beamte G außerdem eines Ver- gchens s{uldig gemacht hat, das den Verlust seines Amtes nach sich zieht, und wenn er sich durch sein Verhalten des Amtes nicht als wurdig erwiesen hat. Es handelt sih doch hier darum, einen objektiv falsben Spruch zu beseitigen. Der Entwurf {eint davon auszugeben, daß mit der Beendigung des Verfahrens der Mann völlig erledigt sei. Die vorgeschlagene Regelung der Cntschädigung eines zu Unrecht VBerurteilten scheint auch mir vollständig ungenügend geregelt zu sein. Der Beamte muß, soweit möglich, shadlos gehalten werden. Diese volle Entschädigung muß auch um den Preis gewährt werden, daß es zu einem Prozeß mit dem Fiskus kommt, und daß eine großere finanzielle Belastung dadur entsteht. Jst ein des Dienstes ent- lassener Reichstagsbeamter nah seinem Tode im Wiederaufnahmc- verfahren freigesprochen worden, dann darf seinen Angehörigen nicht erst vom Todestage ab eine Entschädigung gewährt werden. Außer- dem muß die Entschädigung auch für solhe Schäden eintreten, die nicht direkt in Geld auszudrücken sind. Erfolgt bei Strafverseßungen hinterher eine Freisprehung, so müßten auch die Umzugskosten und andere Schäden erseßt werden. Auch wir wünschen eine organische Neform des Neichsbeamtenrechts,- eine bessere Zusammenseßung der Disziplinarkammern. Dem Antrage auf Ueberweisung der Vorlage an eine Kommission von 21 Mitgliedern \{ließen wir uns an. Abg. Liesching (fortshr. Volksp.): Auch wir bedauern, daß uné dieser Entwurf so \pät vorgelegt worden ist; so groß können doc

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die Schwierigkeiten niht gewesen sein. Höchstens können diese bei der Frage der Gntschädigung hervorgetreten sein. Der Entwurf fommt den Wünschen des Reichstages nur hinsihtlih des Wieder- ausnahmeverfahrens nah. Viel wichtiger für den Beamten ist die #F10ge, ob ihm eine gewisse Kontrolle über den Inhalt seiner Per- sonalakten gewährt wird. Diese Ungewißheit und Unsicherheit ver- dirbt dem Beamten seine Karriere. Wir müssen versuchen, in dieses Geseß einen ähnlichen Paragraphen wie den § 10 des Kolonial- bceamtengeseßes hineinzubringen. Sollte es möglich sein, auch gleich- ¿citig die Frage des Koalitionsrechtes der Beamten zu erörtern, dann werden wir nichts dagegen einzuwenden haben. Jedoch halten wir es nicht für opportun, jeßt eine völlige Neuordnung des Beamten- geseßes zu verlanaen, da dann die unaufschiebbaren Reformen sonst leiden könnten. Notwendig ist es aber auch, daß die Beamten dagegen Verufung einlegen können, wenn ihnen die Dienstaltersvorrückung vorenthalten wird. Hier i} das neueste Beamtengeseß für Elsaß- Lothringen vorbildlih, wonach die Dienstaltersvorrückung nur dur den Disziplinarhof verhindert werden kann. Notwendig ist ferner, daß die betreffenden Beamten, wenn sie wieder in ihr Amt eingeseßt verden, nicht mit demselben Gehalt wieder anfangen, sondern das auch erhalten, was thnen zustehen würde, wenn sie nicht in das Berfahren verwickelt worden wären. Gerade dadur kann eine große Schädigung nicht nux für sie, sondern auch für ihre Familien ver- bindert werden.

Abg. Dr. von Veit (dkons.): Auch wir erkennen ein Recht der Beamten auf Wiederaufnahme an. Dies entspricht ganz dem heutigen Rechtsempfinden. Wir sind der Ansicht, daß es vollkommen genügt, wenn ein-Wiederaufnahmeverfahren nur dann zulässig ist, wenn es sih um Entfernung aus dem Amte handelt. Was die Höhe der (Entschädigung betrifft, so halten wir die Vorlage für eine glückliche Lösung dieser Frage. Es ist vollkommen gerecht, daß dem im Wieder- aufnahmeverfahren freigesprochenen Beamten ein Viertel seines Ge- haltes entzogen wird. Man muß doch dabei bedenken, daß der Beamte in der Zwischenzeit reihlih Gelegenheit hat, sich anderweitige (Fin- nahmequellen zu verschaffen. Unser Reichsbeamtengeseß darf nux in- soweit eine Aenderung erfahren, als die Aenderung die Beamten- disziplin nicht - erschüttert. Wir wünschen, daß die Vorlage an die Kommission verwiesen wird, und hoffen, daß die Kommission etwas Vernünftiges und Brauchbares zustande bringt zum Heile unserer Be- amten und des Neiches.

Abg. Dr. Liebkneccht (Soz.): Es ist ungerecht, daß der zu Unrecht Verurteilte für die Zwischenzeit keine Entschädigung erhält. Wenn z. B. einmal jemand 15 Jahre aus dem Amt entfernt wird und erst nah dem 15. Jahre im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens frei- gesprochen wird, so würde er für die ganze Zeit keinen Pfennig er- balten. Das ijt im hohen Grade ungerecht, und hier muß Abhilfc geschaffen werden. Eine Verschlehterung in dem Entwurf ist aud darin zu erbliden, daß er das Wiederaufnahmeverfahren nur dann zu- lassen will, wenn jeder Schuldverdacht aus dem Wege geräumt ist, und wenn Tatfachen vorliegen, die geeignet erscheinen, zu einer Freisprechung des Disziplinierten zu führen. Diese Bestimmung is nit der gel- tenden Strafprozeßordnung, sondern der viel drakonischeren Militär- strafgeseßordnung entnommen. Auch hier wünschen wir eine Aen- derung. Die Notwendigkeit der Ausdehnung des Wiederaufnahmever- fahrens ist geaeben. Die ganze juristische Literatur beschäftigt sich da- mit. Diese Vorlage bringt gegenüber den Bestimmungen der Straf- prozeßordnung eine wesentlihe Verschlechterung. Das Wiederauf- nahmeverfahren muß nicht ershwert, sondern erleichtert werden. Jn diesem Sinne hoffe ich, die Kommission arbeiten zu sehen, und Daß dann immer noch etwas Brauchbares herauskommen wird.

Die Vorlage geht an eine Komanission von 21 Mitgliedern.

Es folgen Berichte der Petitionskommission.

Die Petition des. früheren Gerbereibesißers Brehm, PoBred, auf U

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auf Gewährung von Rechts\chuß und Nechtshilfe soll nah dem Antrag der Kommission dem Jreichsfanzler für eine Neubearbeitung der einschlägigen Gesebße als Material überwiesen werden. Ein Antrag der Sozialdemokraten geht auf Ueberweisung der Petition zur Berücksichtigung, soweit eine Er höhung der für unschuldig erlittene Freiheitsstrafe gezahlten (Fntscha: digung gefordert wird.

Abg. Thiele (Soz.) gibt eine ausführliche Darstellung der Lei- densgeschichte des Petenten, der wegen Brandstiftung zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist und 4 Jahre davon abgesessen hat, dann aber im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen, aber durch die Vor gänge, die mit dem Brande in Verbindung standen, vollständig ruiniert worden sei und naher nur einc ganz unzulänglihe Entschädigung für die unschuldig erlittene Haft erhalten babe. Die Entschädigung wan lediglih auf der Basis des Verdienstes eines Gerbergesellen mit etwa 16 M für die Woche bemessen worden, während das Besiktum des Pe- tenten tatfächlih auf 350 000 Æ geschäßt wurde. Der Redner führte im einzelnen aus, daß in dem ganzen Gerichtsverfahren eine Neibe von Mißgriffen vorgekommen sei.

__ Abg. von Graefe- Güstrow (kon\.): Die Kommission hat einmütig diesen traurigen Vorfall bedauert, und wenn es eine Mög ichkeit gäbe, diesem Manne nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so wäre es ihm wohl zu gönnen. Leider tehen wir aber dazu feinen Weg.

_, Abg. Dr. Neumann-Hofer (fortshr. Volksp.): IG mödte Ste troßdem bitten. dem Antrag Thiele zuzustimmen. Mit dem Kommisstonsantrag is dem Manne in keiner Weise gebolfen: die Vregierung wird schon einen Weg finden, um das Unrecht einigermaßen zu mildern. i

Der Kommissionsantrag wird mit dem Antrag der Sozialdemo fralen angenommen.

Hierauf wird Vertagung beschlossen.

Schluß 614 Uhr. Nächste Sibung Dienstag, 2 Uhr pünktlich. (Kurze Anfragen; Interpellation Arnstadt wegen eventueller Hinausschiebung des Jnkrafttretens der Dienst botenversicherung; Abstimmung über Wahlprüfungen: erste Beratung des Etats für 1914.) Der Präsident teilt mit, daß in Aussicht genommen ist, hierbei nur die Reden der Staats sekretäre und evtl, die Rede des Reichskanzlers zu hören.

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Literatur,

Bon der Geschichte der römischen Kaiser, die der Professor an der Heidelberger Univ?rsität Alfred von Domaszewskt in zwei stattlihen Bänd?n dargest-Ut hat, ist nach kurzer Frist die 2. Auflage erschienen (Verlag von Quelle u. Meyer, geb: 18 A). Das Werk ift die Frucht langjähiiuer. tiefgebender geschGich1licher Forschungen und muß als wissenschaftl:Ge Arbeit grcßen Stils be- wertet werden, obwohl es fich niht an den engen Kreis d.r Fach- Fehn, sondern an die gebildeten deutschen Leser überhaupt wendet. Das Interesse gerade an dieser Geschichtéevoce ift durchaus erklärlich. Sagt doch der Verfasser mit Net: „Ohne die Kaiserzeit wäre die Kultur der Antike für uns ebenso versunke1, wie die Kultur, die einst am Euphrat und am Nil geblüht hat. Ihre dauernde Wirtung hat die Antike nur in ten Formen geübt, die sie in der Kaiser- zeit gewonnen. So führt der Weg auch zu der cinztá \{öpferl!s{chen Periode des griechischen Altertums nur über die Kaifer- zeit.” Denkt man nameotlich an die tiefen Einflüsse, die das römische Imperium aus Eigenem auch auf das Rechts- und Staats- leben der folgenden Kulturépcchen bis in die Gegenwart auêgeübt hat, so kann man den Aateil verstehen, den au unsere Zeit an der Kaiser- zeit Noms nimmt, und daß es sie treibt, den Uisachen immer wieder nachzugehen, die zum Zusawmenbruch jenes in vieler Hinsicht unver- gleihlichen Staatöwesens führten. Erfreut sich so der in dem vor: liegenden Werk wissenschaftlih verarbeit.te Stoff des allgemeinen Interesses, so hat Domas\ewtkt es auch verstanden, die Ergebnisse seiner Forshung in eine Form zu kleiden, die sle dem aztbildeten Laien niht nur zugänglih, sondern auch in hohem Grade reizvoll macht, ohne daß der wissenshafilihe Charakter des Werkes dadurch irgendwte beeinträhtigt wurde. So darf man fich des Erfolges dieser „Geschichte der römischen Kaiser" als eines vollberehiigten freuen Und der neuen Auflage einen noch erweitcrten Leserkreis wünschen. Das Werk ist um so danfenswerter, als es die klaffende Lücke in Vommwsens „NRömischer Geschichte“ ausfült. Wenn wir auch ntcht genauer darüber unterrichtet sind, wie dieser große Forscher über die Ursachen des Unterganges des römischen Staates g-daht hat, so hat er dech gelegentlich in einer akademischen Rede die ganze Kaiserzeit eine Periode der Stagnation genannt, einen Sumpf, der in seiner eigenen Fäulnis verkam. Inzwischen hat sich in der Bes wertung des Imperiums eine Wandlung vollzogen, die man grund- fäglih nennen mödte. Man hat erkannt, daß die Etnheit und Sicherheit des römischen Reiches erst eine Schöpfung der Kaiser war und daß das unvergleihlihe Weltreiß unter den Antoninen fogar etwas wie eine Kultureinheit besoß. Man konnte \ich ferner der Einsicht nicht verschließen, daß die Provinzen, obwobl Rom ein aus- beutender Kolonialstaat blieb, unter dem Imperium eine kulturell glüdldhe Seit durchmachten, unter einer geordneten Regierung, die die Eigenart der eroberten Provinzen zu \chonen wußte. Domaszewski vertritt durchaus dieje neuere Auffassung und er betont sie. so naGdrüdli%, taß es dem Referenten eint, er gehe darin gelegentlih zu weit. In der Einleitung fübrt er auh kurz die Ursachen {m Zusammenhange an, die nah seiner An- sicht den Zusammenbruch des Römischen Weltreihs herbe'geführt haben: Den Mangel nationaler Einheit, der bet dem stetig wachsenden Umfana des Imperiums verhängnisvoll werden mußte, die Anhäufung des Besiß-s in wenigen Händen, die Wehrverfassung, die mit thren Söldnerheeren den Kern dcs römischen Volkes der Waffen entwöhnte und ihn entmannte, und endlih den Einfluß des aufsteigenden Shristen- tums, das „den Blick felbst der Denkenden t1übte für die wahr2 Be- stimmung des Menschen, auf der Erde, für die er geshaffen, 2rwoeck und Inhalt des Daseins zu suchen.“ Der Schreiber dieser Zeilen hâtte gewünscht, daß in der Gesamtdarstellung diese Leitgedanken noch schärfer zum Ausdrack gekommen und öfter auf Grund der Tatsachen beleuhtet und bewertet worden wären. Es wäre in dieser Hinsicht

tum unter der Fäulnis, der es in Rom begegnete, den in ihm ruben- den asketishen Zug überstark auszubilden veranlaßt trourde. Das kultur- und fittengeschi{htlide Moment tritt überhaupt in der Darstellung hinter der Schilderung der fkricgerisGßen und politischen Greignisse stark zurüd, was gerade in dieser Epoche als Mangel empfunden wird. Im übrigen verdient die Darstellung ter aroßen Politik alle Anerkennung ; sie ist plastifch, gedrängt, möglihst ers{öpfend und doc nicht mit Einzelheiten überladen. Die Bewertung einzelner Tatsachen und Charaktere wird selbstverständl'ch hier und da auf Widerspruch stoßen ; darauf einzugehen verbietet der Zweck dieser Zeilen, die ledig- lih die Aufmerksamkeit erneut auf das wertvolle Bach lenken wollen. Nur eine Charakteristik, die dem Neferenten besonders aufgefallen ift, sei kurz erwähnt. Domaszewskti erscheint Claudius, dieses Trug- bild eines Herrslers, noch abstoßender als selbs der cfffen- bare Wahnsinn eines Caligula. Und doch war Claudius nur ein willens\{chwacer, beschränkter Mensch mit Ansäßen zu gutem Wollen, ein Mensch, der unter anderen Verhältntfsen wahrscheinli ein harmloser kleiner Stubengelehrter geworden wäre, und Caligula der Typ eines wahnsinnigen Verbrechers Gewiß war Claudius als Herrscher eine lächerlihe, unmöglihe Figur, manche seiner Anord- nungen zeigen aber doch Einsicht und gute Absichten: von Caligula kennt man aber nichts als Kundgebungen eines entmens{chten, an ter Grenze des Wahusinns hintaumelnden, oder in ibm versinkenden Ent- arteten. Dies nebenbei. Erwähnt sei nech, daß ‘die Darstellung Domaszewskis die ganze Epoche vom Tode Câsa1s bis auf Diocletian umfaßt und daß das Werk, tür dessen würdige Auëstaitung der Verlag ausaiebig gesorgt hat, mit 8 Kartenbeilagen und einer Ynzahl Porträts, Nachbildungen antikë plastischer Bildnisse, auêgestattet ist.

Der Verlag von Bong und Co. hat die Sammlung feiner „Schön-Bücherei*® um einen neuen Band, der das „No kok o“ schildert, vermehrt. Rudolf Pechel hat in ihm aus Briefen, Memoiren und Tagebüchern eine Menge carakteristischer Schilderungen mit Ges(ick zusammengestellt, aus denen der Leser ein gutes Bild von dem Leben und Treiben der „GesellsWaft" im galanten Zeitalter empfängt, von threr graziósen Spielerei, der bunten, vers{nörfelten Ausftasfierung threr zur Ktivolität neigenden Lebensführung. Der Schilderung des Gesellschaftelebens in Frankrei, dem Uassishen Laud des NRokoko, ist natürliG der breiteste Naum gewährt. Vexsailles und Paris bieten bier der Brernpunkt, aber auch andere Stätten lernt man kennen, in denen die Menschen zu Spielern auf jenen Bühnen der Eitelkeit ges{Wult und vorgebildet wurden. In das bunte, leichtfertiae Treiben ragt düster die Guillotine, die die tändelnden, faden Akteure zum Schweigen bzingt. Weitere Abschnitte schildern das meist barmlkosere, aber ats Nachahmung auch blutleere Leben an einigen deutshen Höfea jener Zeit. Felix Poppen- berg bat aïs guter Kenner des NRokofo zu der Urkundensammlung eine

Einleitung gefchrieben, in der der Zeitharakter treffend getennzeldnet

wird. Sein etwas preziöfer, kraufer Stil paßt sih dem Skoff gut an. Das mit zeitgenossishen Bildern ges{müdckte Buch kostet 2 4.

Im Verlaoe von Spemann in Stuttgart ist eine Swchrift von Dr. Paul Meißner „Der Praktikus“ erschienen (geb. 2,70 „). Es ist in der Tat ein praktisches Büchlein, das über taufenderlei Fragen des täglihen Lebens gute NRatschläge zu geben vciß, und wer siè befolgt, wird sich mandhen Mißgriff und Verdruß ersparen. Der Verfasser verfolgt den Tageslauf eines vraktishen Mannes in seinen einzelnen Phasen und zeigt, welche verschiedenen. aus reiher Erfahrung gewonnenen Maßnabmen und GSemwcbn- beiten das Leben erleichtern und angenchmer geltaltea können. So wird der Leser mit der ganzen Häuslikeit des „praktishen Mannes“ bis in alle Einzelbeitn ibrer Einrichtung vertraut gemaGt; mit seinem Schlaf. und Badener seinem Speise- und Arbeitszimmer; er folgt ibm auf dem Woge in seinen Beruf, lernt sein Benehmen im Beruf, anf Besuch. deim Etnkauf, in der Geselligkeit, bei Neisen und beè anderen Vergnügengra kennen. Die vielen kleinen Fragen, die da im Laufe des Tages am den modernen Menschen herantreten, findet der Leïer in an Form praktis beantwortet: wenn es ih datei aus of um

[eiten bandelt, so fann doch gerade die ridtize oder falihe Beband«

lung solcher Kleinigkeiten das äußere &ben abi erlei&tetn odee

z. B. auch nachdrücklicher darauf hinzuweisen gewesen, wie das CGhristen--

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