1913 / 288 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 06 Dec 1913 18:00:01 GMT) scan diff

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183. Sißung vom 5. Dezember 1913, Miltags 12 Uhr. (Bericht Lon Wolffs Telégraphis@em Burcau.)

Ueber den Anfang der Sißung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden. A

Zur Verhandlung steht die Interpellation der Abge- ordneten Albrecht (Soz.) und Genossen, betreffend die Arbeits - losigkeit.

Abg. Silberschmidt (Soz.) in seiner Nede fortfahrend : Die Zahk der Eigentumsvergehen sinkt in der Zeit der steigenden Konjunktur und der geringeren Arbeitslosigkeit. Ebenso ist die Bewegung der (Fhe- schließungen und der Säuglingssterblichkeit, und ebenso au verhält es sih mit der Geburtenverhinderung. Ich erinnere nur an die Publi- kation des Oberverwaltungsgerichtsrats a. D. von Horn, des Sohnes des bekannten ebemaligen Oberpräsidenten, über diesen Gegenstand. Cr: Ny L f 7 » pIno T oftÇ: 1th or mam t In Breslau haben meine Freunde eine Feststellung darüber gemacht, wie die Wuirkung der Arxbeitslosigkeit auf das Gemüt ist. Dabei hat man gefunden, daß der eine sh mit Selbstmordgedanken trug, eimn anderer hatte die feste Absicht, einzubréchen. Schwermut, Trubsal, Aufknüpfen und wie die Bezeichnungen des Seelenzustandes sonst lauteten, das ist das Ergebnis. Die Freude, mitzuarbeiten an der Kultur, liegt danieder. Wo kommt da der Mut her, mit dem man behauptet, daß die Arbeitslbsenversicherung demoralisierend auf die Arbeiter wirken würde. Wer so etwas behauptet, hat keine Ahnung, was das Volk in solchen Zeiten für- Gefühle durhlebt. Es ist nur zum Teil richtig, daß das Bürgertum an der Einführung der Arbeits lófenverficherung kein Interesse habe. ‘Denken Sie an- alle die Kreise, dio ein Interesse daran haben, daß die Kaufkraft des Volkes nicht finkt. Die Kreise mit dem entgegengeseßten Interesse sind nur eine dünne Oberschicht, die ihre literarische Vertretung in der „Arbeitgebcr- zeitung“ findet. Diese spricht freilih von Faulenzerprämien und be- streitet das Bedürfnis für den Wahnwibß der Arbeitslosenversicherung;: fic spricht von der demoralisierenden Wirkung und der Shwächung des VBerantwortlichkeitsgefühls. Wie wenig wissen diese Kreise von dem Streben des Volkes, micht abhängig zu sein von den Wohltaten anderer. Der Arbeiter, der mitgeholfen hat, Deutschland groß zu machen, verdient eine bessere Beurteilung. Das bloße freie Sptel der Kräfte zehrt an den Wurzeln der Volkskraft. Staatlicbe und tfommünale Bauten müssen tebt beshleuntgt werden, und de Meicbs- regierung soll den Staaten und Gemeinden dabei behilflich sein. Die deutsche Negierung sollte dem Beispiele der bayerishen MRe- gierung folgen, die den Städten durch Barmittel bei der Unterstüßung der Arbeitslosen zur Seite steht. Auch sollte die Negierung dafür sorgen, daß die Söhne unseres Vaterlandes zu den Arbeiten des Staates mit herangezogen werden, und daß nicht ausländische Arbeiter die einheimischen verdrängen. Die Herabseßung der Zölle auf Lebens- mittél müssen wir dringend fordern, dadurch würde die Not wesentlich gemildert werden. Den Städten allein ist es kaum möglich, die Frage der Arbeitslosenversicherung in zufriedenstellender Weise zu lösen: der Staat muß hier eingreifen. Der Auffassung, daß die Arbeitslosen in der Negel arbeits\cheu sind, müssen wir entschieden entgegentreten. Die Gewerkschaften haben sih dur ihre Arbeitslosenunterstüßung ein aroßes Verdienst erworben; sie haben Tausende von Arbeitern vor Demoralisierung bewahrt. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ hat ausgerechnet, daß eine Milliarde jährlich für Armengelder und Korrektionsanstalten ausgegeben wird. Diese Summe sollte man lieber den Arbeitslofen zukommen lassen, denn dann würde man Geld ausgeben für werbende Zwecke, die der Erhaltung der Volkskraft Deutschlands dienen. England und Dänemark sind in dieser Be- ziehung {on weiter. England gibt jährlich Millionen für Unter stüßung der Arbeitslofen aus. Da sollte doch Deutschland nicht zurück- stehen. Wir stehen mit unserer Forderung der Einführung der Ar- beitslosenversiherung nicht allein. Der MNeichsverein liberaler Ar- beiter und Angestellter hat in seinem Programm dieselbe Forderung aufgestellt. Er verlangt, daß die Versicherung auf Gegenseitigkeit beruhen müsse. Wie stellt sich eigentlih die Reichsregierung zu der im Januar beschlossenen Resolution? Wir würden uns freuen, wenn i die Reichóregierung prinzipiell mit der Einführung der Arbeits- losenverfierung einverstanden erklären würde. Ale übrigen Fragen wie z. V. die Kontrollmittel usw. könnten einstweilen ausge\chaltet werden. Darüber wird man sich schon leicht einigen. Die Behauptung der „Kölnischen Zeitung“, daß wir die Frage der Arbeitslosenver sicherung agitatoris{ch ausnußen wollen, müssen wir auf das schärfste zu- ruweisen. Wir wollen den Arbeitslosen helfen ohne Unterschied de1 pelitishen Ueberzeuoung. Wir hoffen, daß wir darin die übeunwiegende Mehrheit des Reichstages hinter uns haben. Wir erwarten zuver- sichtlich, daß die Millionen Arbeiter, die sehnsüchtig der Lösung dieser Frage harren, nit enttäusht werden.

Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern Dr. Delbrüdck :

Meine Herren! Der Herr Vorredner hat in seinen sehr ein- gehenden Darlegungen so ziemlich alle Gebiete meines weit ver- zweigten Ressorts berührt und behandelt. Jch werde mi bemühen, seinen Ausführungen zu folgen, soweit das möglich ist, ohne die Zeit dieses hohen Hauses allzulange in Anspruch zu nehmen.

Die Frage der Bekänipfung der Arbeitslostgkeit und ihrér unerfreulihen und bedenklichen Begleitersheinungen gehört zu den ungelösten Problemen, welche die wirtshaftliche und industrielle Entwicklung der modernen Kulturstaaten gezeitigt hat: ungelöst, nicht weil es uns an Verständnis und an gutem Willen fehlte, sondern ungelöst wegen der in der Sache liegenden Schwierigkeiten, ungelöst, weil sie nach unserer Auffassung bisher zur Lösung nicht reif geworden ist. Mit Necht hat der Herr Vor- redner darauf hingewiesen, baß dieses Problem feit beinahe einem Menschenalter die söffentliGe Diskussion beschäftigt. Praxis und Theorie, Parlamente und Stadtvertretungen zerbrehen sih den Kopf, wie man der Arbeitslosfigkeit zu Leibe gehen fann. Seit 20 Jahren erörtern wir hier im Neicßstag die Frage, ob es möglich ist, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen dur Maß- nahmen der Geseggebung oder Maßnahmen der Verwaltung von seiten des - Reichs, der Bundesstaaten und der Kommunen, und den Schlußstein aller der Forderungen , die im Laufe der Jahrzehnte in dieser Beziehung aufgestellt sind, bildet die ja wiederholt und heute erneut von uns geforderte allgemeine Arbeitslosenversiherung für das Deutsche Net, die sämtliche gewerblichen und landwirtschaftlichen Arbeiter umfassen soll. Jede der großen Krisen, die wir im Laufe der leßten zwei Fahr- ¿chnte gehabt haben im Anfang der 90er Jahre des vorigen Fahr- hunderts, im Anfang und in der Mitte des leßten Jahrzehnts —, haben hier im Reichstage eingehende Erörterungen über diese Frage ausgelôft, und als in diesem Sommer sich die ersten Anzeichen ciner \{chwäher werdenden Konjunktur zeigten, waren auch. bereits alle An- hänger dieser Frage in Theorie und Praxis auf den Schanzen zu sehen, um zu intensiverem Arbeiten an der Lösung dieses Problems anzuspornen.

Die augenblickliche Konjunktur ist es au, die den Anlaß zu der heute zur Erörterung stehenden Interpellation gegeben hat, die ih wohl in zwei Teile zerlegen kann, infofern sie einmal eine Reihe nicht genannter, aber von dem Herrn Vorredner näher detaillierter Maßnahmen fordert, die ih zusammenfassen möchte unter dem Be- griff der Notstandsmaßnahmen, d. h. Maßnahmen, die in erster Linie

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‘darauf berechnet. sind, die Mißstände, die sih mit der augenblicklichen ungünstigen Lage des Arbeitsmarktes zeigen, zu beseitigen, während die Interpellation imzweiten Teil den Entwurf eines Gesetzes verlangt, welches eine Arbeitslosenversicherung für alle Arbeiter und Angestellten geben soll. Der Herr Vorredner hat sih ia seinen Ausführungen fehr eingehend mit den Gründen, der Bedeutung und der vorauéfichtlihen Entwicklung der augenblicklichen Konjunktur beschäftigt, und unbedingt mit Recht, insoweit es ihm darauf ankam, die Notwendigkeit eines unmittelbaren Eingreifens des Reichs, die Notwendigkeit von Notstandsarbeiten zu begründen. Wenn man aber dazu kommen sollte, die augenblickliche Konjunktur zum Ausgangspunkte der Forderung zu machen, über- stürzt das noch ungelöste Problem der Arbeitslöfenversicherung in die Praxis umzuseßen, so würde man damit nah meiner Ansicht zu weit gehen und doh die Schwierigkeiten verkennen, die in der Sache liegen.

Ich folg? aber zunähst dem Herrn Vorrêdner, indem ih auch meinerseits mit einigen Worten auf die Lage des Arbeits- marktes und auf die allgemeine Konjunktur eingehe. Meine Herren- ein klares Bild über die- Verbältnisse des Arbeitsmarktes zu gewinnen, ist für uns überaus \chwer. Es fehlen uns die Unterlagen, um eine zuverlässige Arbeitslosenstatistik, um ein klares Bild von der Lage des Arbeitêmarktes zu gewinnen. Ich habe alles das, was mir in dieser Beziehung zur Versügung stand, in einem Hest vereinigt in Ihre Hände gelargen lassen. Ih weerde in Ihrem ..und in «meinem Interesse so wenig wie wöglih Zahlen zilieren. Ih hoffe, daß diejenigen, die ein Interesse daran haben, meine Ausführungen zu kontrolliéren, \päter dieses Heft zur Hand nehmen, das rein sahlih eine Zusammenstellung dessen enthält, was dem Statistishen Amt und anderen Behörden zur Ver- fügung stand. Falls etwa einige von Ihnen diefes Heft schon in die Hand genommen haben sollten, so finden Sie zunächst Nachweisungen über den Arbeitsmarkt, den Beschäftigungsgrad, die Atrbeitslosfigkeit na den Zählungen der Gewerkschaften. Die Zählungen der Gewerkschaften bilden eines der Mittel, vermöge dessen uns es möglih wird, wenigstens Teile des Arbeitsmarktes zu übersehen. Diese Zählungen der Gewerkschaften geben aber kein ridtiges Bild von der Lage des Arbeitsmarktes, nicht weil fie unzuverlässig sind, sondern ih halte fie um deswillen' für ungeeignet, ein flares Bild zu schaffen, weil sie ja immer nur die Arbeitslosen ‘einzelner Gewerkschaften umfassen, wcil sie niht umfassen die ungleich größere Menge der nicht organisierten Arbeiter. Sie geben kein ganz richtiges Bild, weil die Gewerkschaften erstens die Zahlung etner Arbeitslofenunterstüßung abhängig machen von der Zurücklegung einer Karenzzeit, weil die einzelnen Gewerk- schaften die Zahlung einer Arbeitslosenunterstüßung zeitlich in ganz verschiedenen Grenzen einshränken, und weil die niht mehr Unter- stützten in den gezählten Arbeitslosen oft niht mehr enthalten find.

Ich stelle das hier fest, niht um eine Kritik an diesen Statistiken zu üben das ist nit der Zweck meiner Ausführungen —, sondern lediglich um festzustellen, daß fie unvollständig find und ein klares Bild über dle Lage des Arbeitsmarktes nicht bieten, sondern höchstens ein Hilfsmittel sind, sich ein \olckes Bild mit Hilfe auch noch anderer Mittel einigermaßen zu s{afen.

Wenn Sie nun die erste Tabelle nachsehen, die“ fh dort findet, fo sind die Arbeitslosen vom Hundert sämtlicher Gewerkschaftsmitglieder berehnet, und zwar finden Sie dort den Durchschnitt der Arbeitslofigkeit in den einzelnen Monaten der Jahre aufgeführt, zunähst den DurGschnitt der Fahre 1907 bis 12: dann die einzelnen Jahre von 3 bis 13. Wenn Ste dte Zaßken des Jahres 19183 anfchen und Sie nehmen den Monat IAUUAar, [0 werden Sie finden, daß die Beschäftigungslosenziffer des Monats Januar 1913 ungünstiger war, als die des Monats Januar im Durch- shnitt der Fahre 1907 bis 12. Immerhin ist es aber nur eine Differenz von 0,4%, und Sie werden, wenn Sie den Oktober, bis zu dem unsere Statistiken abgerechnet sind, in derselben Weise ver- gleichen, finden, daß die Beschäftigungslosenziffer des Oktober 1913 genau um 1% ungünstiger ist, als die Oktoberbeshäftigung im Durch- schnitt der Jahre 1907 bis 12, d. h. Sie haben das Bild ciner leicht weihhenden Konjunktur.

Wenn Sie Seite 2 der Nahweisung ansehen, so {find hier gezählt dite Arbeitslosen vom Hundert sämtlicher Gewerk- shaftsmitglieder nah Gewerbegrupven. Hier stehen mir nur das hängt mit der Entwicklung dieser Statistik zusammen die Zahlen von .1912 und 13 zur Verfügung. Hier finden Sie, wenn Sie, um wieder den Monat Oktober beraus- zugreifen, die Zahlen durhsehen, zunächst, daß auch hier {ih cine leise Abschwähung des Beschäfligungsgrades gegenüber dem Vorjahre ergibt. Ste finden aber ferner, daß das Maß der Be- \häftigungslosigkeit in den verschiedenen Gewerbegruppen ein außer- ordentlich verschiedenes ist, daß hier stellenweise die Beschäftigungs- losigkeit noch unter dem Durchschnitt liegt, an anderen Stellen die Beschäftigungslosigkeit weit über den Durchschnitt hinausgeht. Ste finden z. B., daß beim Baugewerbe die Beschäftigungélosigkeit im Januar des Jahres 1913 betragen hat 12,5, während. fie im Januar des Jahres 1912 nur 12,0 betragen hat, während sie im Oktober {ih beltef auf 8,1 bezw: 5,2. Ich halte diese Zahlen nicht für rihtig, bemerke ih ausdrücklich —, ich nehme an, daß die Beschäftigungslosig- keit im Baugewerbe vielleicht {on stärker gewesen ist, als hier an- gegeben ist; bemerke aber dazu, daß das daher kommt, daß dieser Statistik lediglih zugrunde liegen die Zahlen des Hirsh-Dunkerschen Gewerkvoercins, da die übrigen Gewerks{aften im Baugewérbe eine Arbeitslosenunterstützung blsher niht eingeführt haben. Ste sehen, wie unsicher, unklar und s{hwierig es ist, auf Grund der vorliegenden Statistik ein richtiges Bild sich zu machen.

Wenn Sie dann die Nachweisung auf Seite 3 in die Hand nehmen, auch hier handelt es fich um die Verwendung desselben Zahlen- materials, um die Berehnungen der Gewerkschaften —, so werden Sie finden, daß der Grad der Bescäftigungslosigkeit in den ver- schiedenen Landeêteilen ebenfo verschieden ist, wie in den verschiedenen Gewerbegruppen. Sie werden finden, daß die Beschäftigungslosigkeit am größten ist in Berlin und Brandenburg, demnächst in dem Bezirk Schleëwig-Holstein mit den beiden Mecklenburg, dem Fürstentum Lübeck und den Hansestädten Lübeck und Hamburg, ferner im rechts- rheinischen Bayern, d. h. also in denjenigen Arbeitsgebieten, in denen die großen Städte Berlin, Hamburg, München und Nürnberg liegen. Sie werden aber umgekehrt au finden, daß in einem großen Teil dieser Gebiete auch heute noch der Beschäftigungsgrad weit günstiger liegt, als der Durchschnitt des Reiches.

Eine andere Möglichkeit, um ein Bild von dem Grade der Be- schäftigung zu finden, bieten die Ziffern der Krankenkassen,

Man kann aus dem Steigen und Fallen der Zahl der Krankenkassen- mitglieder ein ziemlih zuverlässiges Bild von dem Steigen und Fallen der angebotenen Arbeitsgelegenheit gewinnen. Aber au dtese Zahlen geben nux einen Ausschnitt aus dem ganzen Bilde; denn nicht alle Krankenkassen berichten für diese Zwecke, sondern die Zahlen, die Sie in Ihren Händen haben, stammen aus den Berichten von ein Secstel aller Krankenkassen, die etwa 40 9% aller Mitglieder um- fassen, und zwar umfassen sie, im Gegensatz zu den Gewerkschaften au eine große Anzahl ungelernter Arbeiter, während bei den Ge. werkscaften die Zahl der gelernten Arbeiter wohl in der Negel über. wiegen wird. i

Wenn Ste nun die Statistik der Krankenkassen zugrunde legen, fo werden Sie, wenn Sie wiederum die Jahre von 1905 bis 1913 ansehen und mit dem Dur(schnitt 1905 bis 1912 vergleichen, finden, daß das Jahr 1913 fn bezug auf die gúnstige Lage des Arbeitsmarkteg alle vorhergehenden Fahre von 1905 an übertrifft, mit Ausnahme der Monate seit der Mitte des Jahres, so weit es fih um die männlichen Arbeiter handelt. Hier hat man auch für die leßte Hälfte des Jahres 1913 das Bild ciner leiht weichenden Konjunktur, während umat- kehrt ih komme naher darauf zurück bezügli der weiblichen Arbeiter nah der Zählung der Krankenkassen für das Jahr 1913 den Anschein erweckt, als wenn die Arbeitsgelegenheit günstiger gewesen wäre als in allen fcüherea Jahren; die, Zahlen für das Jahr 1913 lassen an sich auf eine stetgende Beschästigungemöglichkeit \{ließen. Ich werde auf diese Zablèn naher zurückkommen. (Zuruf von den Sozialdemokraten: Sie steigen äber dauernd !) Ja, wenn ih das vorherfagen darf: ih glaube der Grund ist ein anderer. Man kann auf Grund anderer Wahrnehmungen feststellen, daß in Zeiten der weichenden Konjunktur die Zahlen. der weiblihen Stellenangebote wachsen, was ja an sich mit dieser Statistik im Widerspruch steben winde. Jch {ließe daraus, daß wahrshetnlich in der Zeit der weichenden Konjunktur das Angebot - weiblicher - Kräfte regelmäßig wächst. Ih sehe also in diesen Zahlen nicht ein Zeichen dafür, daß die Konjunktur sih gebessert habe, sondern ih sehe“ auch in diefen Zahlen den Nachweis für ein geringes Abflauen der Konjunktur.

Die dritte Möglichkeit, in die Lage des Arbeitsmarktes elnzu- dringen, bieten die Zählungen der Arkeitsnahweise. Hier liegt uns das Material von rund 800 Arbeitsnahwcisen vor. Das find natürlich auch nicht annähernd alle: denn wir haben, foviel ich weiß, über 2000 Arbeitsnahweise. Auch diese Zahlen ergeben im wesentlihen dasselbe, was die übrigen Zahlen {hon ergeben haben. Auch hier liegt das Jahr 1912 am besten; aber das Jahr 1913 lieat noch günstiger als das Jahr 1908, günstiger als das Jahr 1909, abgesehen von den weiblihen Personen, die durhweg den Durchschnitt erheblih überschreiten. Wenn Sie si dieses Material noch einmal vor Augen halten, so finden Ste niht mehr, als daß wir im Beginn einer leiht weihenden Konjunktur stehen. Dte Statistik läßt an sich einen allgemeinen Notstand nicht erkennen, wobei ih ohne weiteres anerkenne, daß in einzelnen Gewerbszweigen und an einzelnen Orten die Verhältnisse ziemlich unerfreulih liegen kênnen und auch liegen müssen. Ich komme nachher darauf zurück. Meine Herren, ih bin bei dieser Statistik etwas länger geblieben; ih werde nachher auf die Gründe eingehen. Jch habe aber, um das Bild zu vervollständigen, in derm in Ihren Händen befindlichen Heft auch alles zusammenstellen lassen, was das „Neich8arbeitsblatt“ bis jeßt über die Lage des Arbeits markts in den einzelnen Industrien gebraht hat. Ich habe auch meinerseits eine Umfrage bei der Industrie veranstaltet, um etn mög- list zuverlässiges Bild zu gewinnen.

Che ich zu den Ergebnissen der Umfrage bei ter Industrie über-

gehe, mödte ih aber nit unterlassen, darauf hinzuweisen was ja der Herr Vorredner auch getan hat, allerdings, um andere Schlüsse daraus zu ziehen als ich —, daß unter normalen Verhältnissen Deuts- land in erheblicher Zahl ausländische Arbeiter bes{äfttgt. Nach der Berufs- ¿ählung vom Jahre 1907 haben wir in Deutschland an Ausländern beschäftigt in der Landwirtschaft, Gärtnerei, Tierzubt, Forstwi tshaft und Fischerei 279 940 Köpfe, in der Industrie eins{ließliß Bergbau und Baugewerbe 440 800 Köpfe, im Handel und Verkehr 45 205 Köpfe, im häuslichen Dienste rund 9000 und im Haushalte der Herr- schaît etwa 24 798, alfo rund 800000 Menschen. Diese Zahlen haben fi, soweit wir das aus Teilstalistiken entnehmen können, tim Laufe der Jahre wenig verändert. Was aber das Interessante an der Statistik ist, ist, daß nit nur die östlihe Landwirtschaft, sondern auch die Industrie Ausländer braucht, daß die Zahlen der industric- tätigen Ausländer im Laufe der Jahre viel mehr gewachsen sind als die Zahlen der von der Landwirtschaft gebrauchten Arbeiter. (Sehr richtig! rehts.) Was ferner bei der Beschäftigung der Ausländer interessant ist, ist, daß nit etwa Ostelbien allein an der Beschäftigung der Ausländer beteiligt ist, sondern daß fowohl die Landwirtschaft als die Industrie beinahe im ganzen deutschen Vaterlande Ausländer beschäftigt. (Sehr richtig ! recht8s.) Das Maß des Bedürfnisses der Béschäftigung von Aus- ländern ist natürlich auch hier örtlih und nach Betrieben verschieden. Es gibt gewisse Betriebe, für die inländische Arbeiter kaum noch zu bekommen sind. Dahin gehört die Landwirtschaft; au beisptel8- weise im Tiefbau wird es nicht immer leiht, einheimishe Arbeiter zu beschäftigen, selbst wenn man es möchte, wie {ch aus cigener Erfahrung bei dem Bau des Kaiser Wilhelm-Kanals weiß. Es gibt aber auch industrielle Gebiete, die ohne diese Aus- länder gar nicht weiter existicren können. Dahin rechne i in ‘erster Linie Oberschlesien, das einen erhebliGen Prozentsaß aus- ländisher Arbeiter im Bergbau und tin der Industrie bes(äftigt und niht in der Lage sein würde, seine bisherige Förderung aufrecht zu erhalten, wenn ihm diese Arbeiter niht zur Versügung stünden. Da- nah ist es also unrichtig, wenn der Herr Vorredner gemeint hat, daß diese fremden Arbeiter von uns aus\{ließlich ins Land gezogen würden, um die Löhne zu drücken, sondern sie sind allmählih, mag das er- freulih oder unerfreulich sein, ein Bedürfnis für unsere Volkswirt- haft geworden und ergänzen jebenfalls das Bild über das Maß der Arbeitslosigkeit dahin, daß zweifellos feststeht, daß wir für bestimmte Gewerbebetriebe und für bestimmte Gegenden tn normalen Zeiten überhaupt niht so viel Arbeiter haben, wie notwendig sind, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Nun möchte ih zurückommen auf die Umfrage, die ih bet der Industrie veranstaltet habe. Auch diese Ermitilungen geben selbstverständlich kein vollständiges Bild, sie können au nur ergänzend hinzutreten zu dem, was ich eben vorgetragen habe. Denn die Verhältnisse liegen natürlich felbst in den- selben Erwerbsgruppen örtlich außerordentlich manigfaltig, sieliegen verz

chieden în den einzelnen Branchen. derselben Erwerbägruppe, und selbslverständllch sind die Urteile, auf denen ih meine Ausführungen aufgebaut habe, auch individuell . beeinflußt. Ste werden also nit als allgemein gültig angésehen werden können, fie geben aber, ver- glihen mit all den anderen Merkmalen, die mir zur Verfügung standen, do ein ziemli zutreffendes Gefamtbild.

Wenn man si etnen Ucberblick über die Lage der Konjunktur versdhafen will, so muß man sich zunächst daran erinnern, daß der Ausgangspunkt .der augenblicklihen S{wierigkeiten in der wirtschaft- liden Lage der hohe Geldstand ist (sehr richtig! links), der hohe Gelbdstand nit allein, wie er sich im Inlande entroickelt hat, sondern der hohe Geldstand, wie er unter dem Einfluß der Balkanwirren und der ganzen internationalen Lage entstanden ist. Wenn man nun ferner berüdsihtigt, daß der Baumarkt an sih {hon unter dem Einfluß einer Holhkonjunktur und des damit zusammenhängenden Geldstandes in erster Linie zu kleiden hat, wenn man berüsihtigt, daß unser Bau- markt {on notleidénd war zur Zeit des Aufstiegs zur Hechkunjunktur seit 1909, wenn man berücksihtigt, daß die nah unten gehende Welle der Konjunktur im Jahre 1907/08 nicht ausgereiht hat, um den Bau- markt wieder în normale Bähnen zu bringen, \o bedarf es keines besonderen Scharffinns, um sih darüber klar zu fein, daß die Ver- hältnisse tm Baumarkt. allerdings ziemlich unerfreulih liegen müssen. Und, meine Herren, der Baumarkt pflegt ja in der Regel eine Reihe anderer Industrien nachteilig zu beeinflussen (sehr richtig !), die Stein-, Ziegel-, Zement-, die Eisenfabrikation, soweit sie für den Bau dient, bis zur Möbel-, Glas-, Tapetenindustrie, den Malern, Schlofsereien usw. In allen diesen Judustrien ist zweifellos ein gewisser Tiefstand festzustellen.

Auch bei der Textilindustrie liegen die Verhältnisse nicht so, wie sie erwünscht sein würden (sehr ritig!), obwohl ja diese etwas kom- ylizierte und weit verästelte Industrie eigentlich ‘niemals in ihren sämtlichen Branchen einen gleihea Stand hat. Das hängt mit der Mode und mit allen möglichen anderen Dingen zusammen. Während ein Zweig gut steht, geht es in einem anderen Zweige {lecht. Alles in allem ist es aber wohl richtig, wenn man im großen und ganzen

, in der Textilindustrie eine weihende Konjunktur annimmt, obwohl,

soweit ih habe feststellen können, Arbeiterentlafsungen in erheblihem Umfange bis jeßt niht vorgekommen sind.

Ferner und das deckt sich auch mit dem \latistischen Matertal, das ih vorhin vorgetragen habe ist die Lage noch ungünstig bei gewissen Teilen der Maschinenindustrie, ebenso teilweise bei der Her- stellung elektrotehnisWer Erzeugnisse und bei der Paplerindustrie. Dagegen kann man von einer unbedingt günstigen Situation reden bei der Lederindustrie, bei der Sptelwarenindustrie da mögen aber Saisoneinflüsse mitspiclen —, im großen und ganzen auch bet der chemis@en Industrie, beim Bekleidungsgewerbe, bei der optischen Induitrie, bei den Werften und den Waggonfabriken.

Was unsere beiden großen Nohbstoffindustrien betrifft, so wird man bezüglih der K ohle feststellen können, daß hier die Konjunktur im Laufe des Jahres noch steigend gewesen und bis beute geblieben ist in Dberschlesien, daß sie gut gewesen ist im Saarrevier, daß sie aus besonderen lokalen Gründen minder günstig gewesen ist im Aachener Revier und daß das Ruhrrevier jedenfalls genötigt gewesen ist, In leßter Zeit die Beteiligungsziffern wieder in Kraft treten zu lassen. Man wird auch noch mit einer gewts\sen Zurü&haltung des Bedarfs bis zum nächsten Frühjahr zu rechnen haben. Was die Eisenindustrie betrifft, so hat auc diese Industrie noch bis zum Oktober dieses Jahres Nekordziffern gehabt. Aber au hier mat fih allmählich ein abs{chwächender Einfluß geltend, zweifellos mit in erster Linie als Folge der ungünstigen Lage des Baumarktes ; kleinere Hütten haben Betriebseins{hränkungen vorgenommen und au bei großen Werken t die Abnahme der Konjunktur fühlbar geworden. Alfo au hier dasselbe Bild: keine scharfe Krisis, kein allgemeiner Notstand, ohne daß tndessen örtliße Schwierigkeiten und Scchwierig- keiten in einzelnen Betriebsgruppen ausgeschlossen sind.

Nun knüpft \sich daran, wenn man die Lage des Arbeitsmarktes unter dem Gesichtspunkte der Konjunktur beurteilen will, namentli im Beginn des Winters, wo die Arbeitslosigkeit an sich immer am slärkslen ist, die Frage: stehen wir denn vor einer Verschärfung dieser Depression, in der wir uns augenblicklich befinden, vor einer Vergrößerung der Schwierigkeiteiten, denen wir uns gegenüber- sehen? Diese Frage is natürlich sehr \chwer zu beant- worten, und ih werde mich hüten zu provhezeien. Mein Kollege, der Herr Staatssekretär des Reichsshazamtes, hat neulich hier gesagt: vielleiht stehen wir am Rande eines Tales. Und ih gehe noch etwas weiter, meine Herren, und sage: wie breit, wie tief und wie lang das Talk sein wird, wissen wir nit (Heiterkeit), und ih bin nicht in der Lage, hier mit voller Bestimmtheit zu sagen, ob diejenigen recht haben, die mir mitgeteilt haben, es handele sich nit um eine Krisis, sondern um etn allmählihes Sinken der Preise; man nehme allgemein an, daß diese niedrige Konjunkturwelle langsam und ohne Störungen verlaufen und daß die Situation im ganzen erträglih bleiben werde. Es läßt sich ja nit in Abrede stellen, daß die vorhin von mir erörterten Verhältnisse auf dem Geldmarkt, von denen man niht weiß, wie sie sh entwickeln werden und ob und wann sie sh zum Bessern wenden werden, eine gewisse Vorsicht in der Beurteilung der Konjunktur geboten erscheinen lassen. Auf der anderen Seite aber darf man nicht vergessen, daß die Vorgänge der leizten beiden Jahre, die Vorgänge auf dem internationalen Geldmarkte, an der Börse, das Bestreben der zentralen Notenbanken, ihren Status zu verbessern, das Bemühen der großen Privatbanken, ihre Liquidität zu erhöhen, alles in allem {hon einen reinigenden Einfluß auêgeübt haben, sodaß wir wohl annehmen können, daß Handel undIndustrie in einer gewissen Festigung, einer gewissen Ruhe und mit einem ge- wissen Bewußtsein der kommenden Gefahr den Dingen entgegen- treten und darum wahrscheinlich eine größere Widerstandsfähtgkeit besißen, als das unter anderen Umständen der Fall sein würde und früher der Fall gewesen ist.

Günsflig beeinflußt wird das Urteil über die Konjunktur aber auch durch einen Vorgang, den, glaube ih, auch der Herr Staats- sekretär des Reichsshaßamts neulich \chon berührt hat, nämli dur die Tatsache, daß ünsere Ausfuhr im laufenden Jahre eine ganz enorme Zunahme erfahren hat. Die“ Einfuhr des laufenden Jahres zeigt im Vergleich mit dem Vorjahre für den Zeitraum Januar bis September eine Steigerung um 114,7 Millionen das sind 1,4 0/9 —, die Ausfuhr aber eine Zunahme um 1026 Millionen Mark oder etwa 16 9%. Unter diéfer Milliarde sind etwa 270 bis 280 Millionen Mark, welche die landwirts{haftlihen und Mülleret-

produkte sowie andere nicht eigentlich industrielle Produkte betreffen, sodaß für die eigentlichen Indbustricerzeugnisse eine Steigerung von fund 750 Millionen Mark übrig bleibt. Die Zahlen für Oktober 1913 lassen erkennen, daß die Entwicklurg der Einfuhr sowohl wie der Ausführ weiter im Steigen geblieben ist.

Wenn man nun berüdsihtigt, daß diese Wertsteigerung nicht einzelne Erwerbsgruppen, sondern beinahe unsere ganze Industrie betrifft, fo wird man wohl annehmen dürfen, daß der ausländishe Markt noch aufnahmefähig ist, und daran die Hoffnung knüpfen können, daß die Befürchtungen, die man gegenüber der weihenden Konjunktur äußerte, nicht in vollem Umfange in Erfüllung gehen werden.

Ich möchte dabei darauf hinweisen, daß die Statistik über den Arbeitsmarkt des Auslandes, die \ih ebenfalls in dem mehbr° erwähnten statistishen Material befindet, und auf die ih, um Sie niht mit zu viel Zahlen zu belästigen, nlcht weiter eingehen will, hier au erkennen läßt, daß, wenn die Zahlen richtig sind sie sind mit unseren nicht unbedingt vergleichbar in England und ta Frank- reich die Konjunktur undedingt gut, der innere Markt au noch stark ist, und nur in Belgien bezw. den Niederländen sch, am Arbeits- markt gemessen, cin gewisses Weichen der Konjunktur bemerkbar macht.

Aus alledem ergibt si, daß jedenfalls derzeit von einer empfind- lihen Krisis, von einer allgemeinen Notlage auf dem Arbeitsmarlkt nit die Rede sein kann, und daß wir uns. wohl der Hoffnung hin- geben können, daß ohne ein unmittelbares Eingreifen des Neiches die nächstbeteiligten Faktoren in der Lage sein werden, über die Schwierigkeiten der Situation hinwegzukommen, wobei ih nur bei- läufig bemerken möchte, daß eine Reihe von den Notstandsmaßnahmen, die der Herr Vorredner empfohlen hat, nah meinèr Ansicht kaum geeignet fein würden, die Erfolge zu erzielen, die er wünscht. Jch rechne dahin vor allen Dingen sein Verlangen, eine Aenderung unserer Wirtschaftsp olitik eintreten zu lassen. Das Ziel unserer Wirt- schaftspolitik ist eine Stärkung des inneren Marktes gewesen, und das bedeutet auch eine Stärkung des. Arbeitsmarktes. (Sehr richtig !) Wenn Sie- speziell den Stand der Arbeitslosigkeit im Laufe des leßten Jahrzehnt bei uns mit dem Stande der Arbeitslosigkeit in anderen Ländern, ganz \peziell aber in dem freihändkerishen England, vergleidhen, so werden Sie finden, daß die Verhältnisse des Arbeitsmarktes bei uns günstiger liegen und gelegen haben als irgendwo anders. (Sehr rihtig! Zuruf von den Sozialdemokraten : Augenblicklih nit!) Augenblicklich nit! Aber das hängt damit zusammen wenn ih das in Parenthese bemerken darf —, daß es ih bei den letzten Krisen um internationale Krisen handelte, während es si, soweit ih das heute übersehen kann, augenblicklich nur um die Folgen einer internationalen Versteifung des Geldmarktes handelt, die aus Gründen, auf die ih hier niht eingehen will, auf Deuts{land stärker wirkt als auf die anderen Staaten. Meine Herren, ih habe {on bei früheren Gelegenheiten es ist ja nicht das erste Mal, daß ich über die Arbeitslosigkeit \sprehe darauf hingewiesen, und es ist in der Presse oft bestätigt worden, daß gerade unsere Wirtshaftspolitik vom Standpunkte unseres Arbeitsmarktes nicht bekämpst werden sollte, sondern daß es im Interesse der Arbeiter liegt, wenn diese Wirtschaftspolitik aufrechterhalten wird (sehr richtig! rechts, Widerspruch links), die- unseren inneren Markt gestärkt und vor allen Dingen unserem Arbeitsmarkte immer ein außerordentli günstiges Gepräge gegeben hat. (Widerspru bei den Sozial- demokraten.) JIch will auf die Einzelheiten dieser Frage nicht weiter eingeben.

Der Zweck dessen, was ih hier zu erörtern hatte, war ja nur, festzustellen, inwieweit wir vor etner „Verschärften*“ Kcisis stehen, wte es in der Interpellation der Herren von der äußersten Linken heißt; und ich glaube, daß ich diese Auffassung widerlegt habe. (Wider- spruch bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das hindert uns nun selbstverständlih nit, uns iroßdem mit der Frage der Arbeitslosenversiherung der weiten Frage, die die Herren aufgeworfen haben eingehend zu be- schäftigen. Es enthebt uns diese Fesistellurng nicht der Verpflichtung zu prüfen, was Theorie und Praxis im Inlande und im Auslande auf diesem Gebiete inzwischen geleislet haben, und ob alle diese Be- strebungen inzwischen tatsählich das Problem fo weit gefördert haben, daß wir an seine Lösung herangehen könnten; denn das möchte id ausdrüdcklich feststellen: ih erkenne unbedingt an, daß das Problem der Arbeitslosigkeit und ihrer Folgen sehr ernst ist, ein Problem, an dem kein Staatsmann, kein Volkswirt vorbeigehen sollte, ganz abgesehen von dem Mitleide, das jeder natürli veranlagte Mensch mit allen denen empfindet, die den Unbilden etner Arbettslosigkeit ausgeseßt sind. Meine Herren, ih habe das alles miterlebt, und ih werde diesen Eindruck nicht vergessen. (Bravo!)

Was nun das Problem der Arbeitslos igkeit betrifft, fo hat man vor einiger Zeit darauf hingewiesen, daß es ein uraltes set. Schon zu Zelten des Perikles, zu den Zeiten des alten Roms hätte es Arbeitslosigkeit gegeben, und deswegen müsse man sich mit der Sache abfinden; die einzige Möglichkeit, hier zu helfen, set, daß man günstige Arbeitsgelegenheiten shaffe. Diejenigen, die das. geschrieben haben, haben das allerdings niht in dem Sinne gemeint wie der Herr Vorredner, daß wir unsere Wirtschaftspolilik abbauen follten, sondern in dem Sinne, daß wir auf den bewährten Bahnen der bisherigen Wirtschaftspolitik fortfahren sollten. Zweifellos liegt ja in diesen Ausführungen etwas richtiges. Es ist ohne Zweifel richtig, daß der Staat viele Mittel hat,. die wirtschaftliGßen Verbältnifse des Landrs und damit auch den Arbeitsmarkt in etnem guten Zustande zu er- halten; aber, meine Herren, darüber kommen wir doch nicht hinweg, daß wir Krisen nicht in der Hand haben, und daß die Arbeits- losigkeit nur dann bedrohlih und s{chwierig wird, wenn wir uns latsählih vor und in großen wirts{haftlidhen Krisen befinden. Es ist aber auch unrichtig, wenn man behauptet, daß die Arbeits- losigkeit heute dasselbe Problem wäre wie zu Zeiten des Perikles. Die Arbeitslosigkeit, so wie sie heute vorliegt, ist zweifellos ein Pro- dukt unserer modernen industriellen und wirtschaftlißen Entwicklung. (Sehr richtig!) Sie hat innethalb der leßten 40 Jahre zwei Phasen durhgemacht, die sehr interessant sind. Die Freizügig- keit und dle Entwicklung zum Großbetrieb haben zweifel- los die Gefahren der Arbeittkosigkeit gesteigert, insofern sie die Zusammenballung von Arbeitermassen an bestimmten IJndustriezentren gefördert haben. Aber die Organisationen haben inzwischen das freie Spiel der Kräfte vont Arbeltsämarkt längst ausgeschaltet, der Arbeitsmarkt wird jet künstlich beeinflußt von den

Organisationen sowohl der Arbeitgeber wie der Ar liegt die'Eigentümlihkeit dex Arbeitslofigkeit, die wir zu befämpfe haben. Darin liegt auch ih werde darauf später zurückommen meiner Ansiht nach der Weg gewicfen, auf dem man wenigstens zu einem Teil der Schwierigkeiten der Arbeitslosigkeit wird Herr werdèn i können. t Nun, meine Herren, jedenfalls ist die Arbeitslosigkeit in ihrer jeßigen Form zum ersten Male in ihrem vollen Umfange erst in den siébziger und ahtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an uns her- angetreten. Die Kommunen standen da vor einer schwierigen Aufgabe, weil fie mit einer lange nit fo vollendet organisierten Armenpflege wie heute genötigt waren, so gut und so shlecht sie konnten, den Folgen der Arbeitslosigkeit Herr zu werden. Deshalb haben \fich nun der Natur der Dinge nah neben der theoretishen und akademts{chen Erörterung in Vereinen und in den Parlamenten auc die unmittelbar Beteiligten- nämlich die Kommunen und die Arbeiter, daran begeben, auf dem Wege der Selbsthilfe hier eine Besserung zu \chafffen. Daraus habén ih die Zustände entwicke-lt, von denen der Herr Vorredner sehr ein- gehend gesprochen hat, und auf die ih jegt noch mit cinigen Worten eingehen muß, weil ich nicht in allen Punkten seine Betrahtungén hierüber als richtig anerkennen kann.

Meine Herren, die Arbeitslosenunterstüßung der Gewerkshaftén ist zweifellos eine anerkennenswerte Leistung, jedenfalls die wirksamste von allen, die bisher in dieser Beziehung getroffen sind. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Aber es ist {on einmal darauf hin- gewiesen, daß die Gewerkschaften andauernden Krisen gegenüber doch würden die Segel streihen müssen. Es ist aber au zu berüsihtigen, daß die Gewerkschaften und darin liegt die Hauptshwierigkeit den nichtorganisierten, also den weitaus größeren, Teil unserer Arbeitershaft und den wahrscheinli auch minder gutsituierten Teil unserer Arbeitershaft der Natur der Dinge nah nicht erfassen köanen. Daneben liegen freillch in der gewerksaftlihen Arbeitslosenunterstüßung zweifellos Vorteile, auf die ich besonders hinweisen möchte und welche die staatlich-organisierte Zwangsarbeitslosenversiherung niemals haben kann. Die Gewerk- schaften sind bei der Uebersehbarkeit der Verhältnisse, in denen fie flehen, ihrer ganzen Organisation nach noch in der Lage, zu kontrollieren, wer arbeitslos ist und wer nicht arbeitslos ist. Die Gewerkschaften find aber au, weil sie keinen Rechtsanspruch geben, in der Lage, ihre Mittel wirtshaftlih zu verwalten. Auch das ift ein Vorzug, der etner größeren staatlihen Organisation jebenfalls in dem Maße nicht innewohnen würde. Die Beschränkung der gewerk- \haftlihen Unterstüßung auf einen kleinen Kreis der Arbeiterschaft hat aber demnächst die Kommunen auf den Plan gerufen. Daraus hat sich das Genter System entwickelt. Die Kommunen sind dazu übergegangen, einmal die Widerstandsfähigleit der Gewerkschaften durch Zuschüsse zu steigern, und sie haben andererseits versucht, die Versicherung der nitorganisierten Arbeiter in irgend einer anderen Weise in die Wege zu leiten. Teilweise hat man versucht, die niht- organisierten Arbeiter zum Sparen anzuhalten, ihre Sparkassenbücher gesperrt bis zu dem Moment, wo der Fall der Arbeitslosigkeit ge- geben war, und den Inhabern dieser gesperrten Guthaben in derselben Weise Zuschüsse gegeben wie den Mitgliedern der Gewerkschaften. Diese Verfuche haben versagt, das kann man wohl mit voller Sicher- heit behaupten, und tnfolgedessen sind die Kommunen dazu über- gegangen, freiwillige Versicherungskassen einzurichten. Auch diese Ver- suche, die übrigens nur in geringem Umfang gemaht worden sind, haben bis jeßt zu einem wirksamen Erfolg nicht geführt. Soviel ih weiß, haben wir in Deutschland nahezu 20 Städte, - die auf Grund des Genter Systems eine Arbeitslosenfürjorge eingerichtet haben. Dazu treten noch 3, 4 Städte d. h. von diesen 4 fallen zwei auch in die ersie Kategorie —, die Versicherungskassen eingeridtet haben- Dieses Eintreten der Städte hat natürlich erheblihe- Vorteile. Es hat eine Vermehrung der verfügbaren Mittel gebracht, die aber, wie ih son bemerkt habe, in der Hauptsache nur den organisierten Arbeitern zu gute gekommen find. Es hat aber au einen grund- säßlihen Mangel, der darin besteht, daß dur die Unterstüßungen der Kommunen Fonds der Gewerkschaften frei werden, welche nah ihrem eigenen Geständnis Kampforganisationen \ind. (Widerspruch und Zuruf von den Sozialdemokraten: Es wird noch derselbe Betrag gewährt !) Gewiß wird derselbe Betrag gewährt, wie vorher: aber die Lage einer Gewerkschaft, die einen ständigen Zusuß bekommt, ist doch in der Zeit, wo sie diesen Zuschuß bekommt, günstiger als ohne diefen Zuschuß, (sehr rihtig! und Heiterkeit rechts) und es ist festzustellen, daß es in der Tat grundsäßzliche Bedenken hat, derartige Zuschüsse aus öffentlihen Mitteln an Berufevereine zu geben, die sih selbst als Kampforganisationen bezeichnen (sehr wahr! rets), die, wenn nit dem politischen, so doch dem wirtschaftlichen Kampfe dienen.

Meine Herren, das is auch das Hauptbedenken, das ih gegen den Ausbau ciner Neichsversiherung im Anschluß an die Gewerkschaften habe. (Hört, hört! bei den Sozialdemokraten. Sehr richtig! rechts.) Dieses Bedenken steigert sich für den Fall ciner obligatorischen Versicherung des Reichs dadur noh erheblich, daß sie, wenn es nicht gelingt, die Nihtorganisierten in angemessener Weise zu fassen, tat- fächlich als Kgalitionézwang wirken muß. (Zuruf von den Soztal- demokraten: Schrecklih!) Das wäre allerdings na meinen Be- griffen s{recklich; denn ih stehe auf dem Standpunkt, daß es trt absolutem Widerspruch mit den Grundsäßen steht, auf denen unser ganzes Staats- und Wirtschaftsleben aufgebaut ist, daß man den Einzelnen zwingt, um exlstieren zu können, in eine bestimmte Organisation eintreten zu müssen. (Sehr richtig! im Zentrum. Zuruf von den Sozialdemokraten: Zwangsinnung.) Meine Herren, über die Frage der Zwangsinnung wollen wir uns nicht unterhalten. Ich für meine Person bin sehr im Zwetfel, ob das einer unserer glücklichsten Organisationen |st. (Hört, hört! und Helterkeit links.) |

Meine Herren, nun hat diese Entwicklung der Dinge dahin ge- führt, daß man verlangt hat, man möge wenigstens so weit gehen, daß man für die Städte oder für einzelne Städte in irgend einer Form die Grundlage zu einer Zwangsversicherung {hafft. Ih halte auch diese Frage noch nicht für reif. Eine solhe Lösung bat zweifellos das eine Bedenken, daß, wenn man in einzelnen großen Städten, und niht überall gleihmäßig die Verhältnisse der Arbeiter- {aft dur die Einführung einer obligatorischen Arbeitslosenver=: sicherung verbesserl, ein Zusammenströmen dee Arbeiterschaft gerade in diefen Städten erfolgt, d. h. daß man einmal die - Landfluht befördert und andererseits den Arbeilsmarkt