1913 / 288 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 06 Dec 1913 18:00:01 GMT) scan diff

E E T R N E

E E S Ln E E T R

en Städten wbite beeinflußt (fehr richtig! - rets),

“Und das ist für mih der Hauptgrund gewesen, weshalb ih mich auch

heute noh nit ents{ließen kann, eine derartige Maßnahme zu unter- stügen. Unter diesen Verhältnissen ist es außerordentlich verständlich Und begreiflich, wenn man sagt: ja, wenn diese Einrichtungen unzu- reichend sind, warum bringt das Reih nit eine allgemeine obli- gatorische Versicherung aller Arbeiter und Angestell!en?

Ich will auf die Frage nicht eingehen, ob die Ausschaltung der Selbsthilfe, einen Einwand, den der Herr Vorredner so leiden- schaftlih bekämpft hat, oder die Ausscaltung der Selbstverantwortlich- Feit eine Erwägung wäre, über die man nit in irgendwelher Form hinwegkommen könnte. Zweifellos ist es ein Unterschied, ob jemand aus freier Entschließung heraus fär si und seine Zukunft sorgt oder ob er vom Staate dazu gezwungen wird und andere mit ihm die Lasten tragen. Jedenfalls ist es eine Shwterigkeit, die wir mit den un3 bisher zur Verfügung stehenden Mitteln der Statistik und anderen Hilfsmitteln nit überwinden können.

Vorher mötte ih aber noch einen anderen Punkt erwähnen. Es ist eine Schwierigkeit, deren man sehr {wer Herr werden wird, nämlich festzustellen, wann der Versicherungsfall gegeben ist (sehr richtig! rechts), weil es sfih chließlich tatsählih um ein Ereignis handelt, das nit ganz ohne den Willen des betreffenden Versicherungspflichtigen eintreten kann, wenn auch nit einzutreten brauht, und ih bin der Ansicht, daß aus diesem Grunde die Tendenz zur Simulation, d. h. die Tendenz, etne gewollte zu einer ungewollten Arbeitslosigkett zu stempeln, sehr stark sein wird, und daß fh hier Shwterigkeiten ergeben, die die Kassen, wenn wir zu einer folhen Institution über- haupt kommen sollten, außerordentlich \{chwer belasten. (Zuruf bei den Sozialdemokraten: Krankenversiherung !) Meine Herren, Kranken- versiheruyg ist etwas ganz anderes. Die Calsahe, daß ein Mensch krank wird, kann unbestrilten und zwelfellos ganz objeftiv festgestellt werden. Die Tatsache feststellen aber, ob jemand ohne sein Ver- schulden arbeitslos ist odec nicht, ist üßeraus. s{wierig. (Zuruf links: Simulation!) Die Bezeichnung Simulation war vielleicht nidt glüdcklih. Ich meine die BVorspiegelung etner ungewollten Arbeitslofigkeit in Fällen, wo tatsächlich eine gewollte Arbettélosigkeit vorliegt, d. h. in Fällen, in denen jemand, wenn er fich darum

_ bemüht hätte, Arbeit gefunden hätte, oder die Arbeit, die man

ihm angeboten, nit übernommen hat; denn von 100 Arbeiten, die man elnem Arbeilslosen anbietet, wird er 99 zurückmweisen, weil sie ihm aus irgend einem Grunde niht passen. (Widerspruch bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, ih habe meine Erfahrungen, und ih mache den Arbeitern zum Teil daraus gar keinen Vorwurf. Es ist klar, daß ein Tapezierer nicht in der Lage ist, Erdarbeiten zu machen, daß ein Mann, der Jnnenarbeiter {s, niht bei Kälte die Sctebekarre in die Hände nehmen will und kann.

Eine weitere Schwierigkeit liegt aber in der Frage der Lasien- verteilung und zwar mit Nüclsicht darauf, daß das Maß der Arbeite» losigkeit in den vershiedenen Erwerbsgruppen und den verschiedenen Landesteilen ein ganz verschiedenes ist, daß häufig nur bestimmte Er- werbsgruppen von der Arbeitslosigkeit ergriffen find, andere aber fret davon find, wie z B. die Landwirts@aft, die immer Arbeitermangel hat, und die man darum beim besten Willen nit zu einer derartigen Versicherung heranziehen kann, während man umgekehrt die Landwirtschaft nicht auss{ließen kann- wenn man nicht die Landfluht ncch über das bisherige Maß hinaus wieder vermehren will.

Und dann, meine Herren, nech ein Moment, auf das ih Hin- weisen möchte. Wir find bis jeyt speziell in Deutschland und jedenfalls in Deutschland viel mehr als in anderen Ländern ge- wöhnt, daß die tndustciellen Betriebe auch in den Zeiten des Nieder- gangs soweit wie irgend möglich ihre Leute, namentli die gelernten Arbeiter, haltcn, daß ße die Betriebe nit s{ließen, sondern nur eine Verkürzung der Arbeitszeit eintreten lassen, daß sie Feiershihßten ein- treten lassen. Das find Zustände, die ih aus elhischen, wirtschaft- lichen und sozialpolitishen Gründen für überaus nüglich und not- wendig halt-. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) Die Ge- fahr ist nun sehr groß. daß ein Unternehmer, der zu einer folhen Ver- ficherung erheblihe Beiträge zu zahlen hat, in dem AÄugenblick, wo der Vetrieb unrentabel wird, den Betrieb {ließt und sagt: nun geht hin und laßt euch cure Arbeitslosenunterstügung auszaklen !

Zu allen solchen Eventualitäten, die ih hier nit vertiefen will, kommt eine dritte Schwierigkeit, nämlih daß man ein sol&es Unter- nehmen zurzeit nicht finanzieren kann. Wir find absolut auvßer- slande, zu übersehen, zu welhen Konsequenzen eine allgemeine obliga- torisch2 Arbeitslosenversicherung führen würde. Jedenfalls find wir dazu so lange außerstande, a!s wir n{Gt über eine bessere Statistik verfügen. bin im Eingange meiner Ausführungen des- wegen so in das Detail der- Statistiken hineingegangen, um an der Dand dieser unvolllommenen Statistik nachzuweisen, daß man auf folchen Grundlagen nit Entlslüße fassen kann, wie fie die Herren von der Linken heute von uns verlangen, und daß, che wir an dte Löfung dieser Aufgabe überhaupt herantreten, eine Statistik gesGaffen werden muß, die uns annähernd die Unterlage gibt für die Be- urteilung der Konsequenzen cines solWen Ent’clusses.

Dazu tritt nun aber, was den gegenwärtigen Augenbli betrifft, noch ein weiteres Moment. Ich halte cs für ausgeschlossen, daß wir an eine allgemeine Arbeitslofsenversiherung herantreten, bevor überhaupt die Neichsverfiherungsordnurg mit ihren erheblichen neucn Lasten wirksam geworden ist. (Sehr richtig! rechts.) Ich halte es für ausges{lessen, daß wir so hohe Lasten, deren Umfang wir gar nit übersehen fönnen, dem Lande auferlegen, solange Landwirtschaft, Handel, Handwerk und Industrie die Lasien, die ihnen die Ver- fiherungëordnung auferlegt ich 1inöhte sagen —, noch nicht verdaut haben. Wir müssen erst wissen, wie diese neuesie Last der sozialen Gesetzgebung auf das Volk und auf unsere wirtschaftlichen Verhält- nisse wirkt, che wir überhaupt daran denkcn können, mit neuen Lasten an das Land heranzutreten. Dazu kommt, daß wir vor etnem Jahre die Angestelltenver sicherung in Kraft gefeßt haken, cine Versicherung, die nit nur den Unternehmer, sondern auch den Angestellten felbst erbeblih belastet, und deren Wirkungen wir doch abwarten müssen, ehe wir nun auGß noŸH elne Arbcitslosenversicherung für Angestellte, die ja zweifellos erheblide Beiträge verlangen würde, einführen können. i

Dann kommt ein kleßtes. Jh Halte etne terartige, weit aus« sehende und großziligige Arbeitslosenfürforge auch #9 lange ' für aus- ges{lossen, als wtr nicht ein entwickeltes, organischz miteinarder ver- bundenes Neß von Arbeitsnahweisen haben (sehr richtig! bef

ten Nationalliberalen. Zurufe von ten Sozialdemokraten: Ste lehnen ja die Grundlagen dafür ab!), die in der Weise zentralisiert find, daß sie den Arbeitsmarkt übersehen können, daß sie wiülkürlihe Be- einflufsungen des Arbeitsmarktes verhindern können, und daß sie Angebot und Nachfrage, namentli in Zeiten der Krisen, angemessen ausgleichèn können.

Nun ist mir zugerufen worden, ih hätte die Grundlagen für eine derartige Einrihtung bisher abgelehnt. Meine Herren, das ist nit rihtig. Ih glaube heute noch, daß in dem Stellenvermittlergesetz die Grundlagen für eine allmählihe Herausarbeitung einer Zentral- instanz für unsere Arbeitsnahweise gegeben find. In England bat man allerdings, um die Arbeitskosenversiherung durch- führen zu Fönnen, sofort einen allgemeinen bureaukratis{ organisierten Arbeitznahweis von Staats roegen organisiert. Aber England stand hier sehr viel einfaheren Verhältnissen gegenüber als wir. Denn ih glaube, kein Land der Welt verfügt über eine so große Zahl zum Teil vorzügli arbeitender Arbeitsnahweise wie Deutsch- land; die Schwierigkeit liegt nur darin, daß diese Arbeitsnachweise teils in den Händen der Arbeitgeber, teils in den Händen der Arbeitnehmer, teils in den Händen von Kommunen und von gemeinnüßigen Vereinen liegen. Aber ih halte die Ent- widcklung für zu weit vorgeschritten, als daß man in der Lage wäre, diese an {G gesunden, lebenskräftigen Gebilde zu zertrümmern, um sie dur eine bureaukratische Organisation zu ersetzen, die nebenbei gesagt wahrscheinlich sehr viel Geld kosten werde. Fch halte es für richtiger, daß man den Versuch mat und die Ansäße und der gute Wille dazu sind überall vorhanden —, es zu einem gemeins{chafiliGßen Zusammenarbeiten und zu ciner zentralen Spitze zu bringen. Jh bin der Meinung, daß die Handhaben, die uns das Stellenvermittlergesez gibt, vorerst jedenfalls ausreichen werden, um diese Organisation durchzuführen. Was späterhin not- wendig ist, darüber brauchen wir uns heute niht den Kopf zu zer- brechen.

Um meinen guten Willen auf diesem Gebiete etwas zu betätigen, habe ch auch die Etatsposition für die Unter- stüßung der Arbeitsnahweise um 20000 #4 erhöht mit der ausgesprochenen Absicht, sie in einer anderen Weise als früher zu verwenden, nämli für besondere von den Verbänden nachzuwetsende Verwendung#zwecke zu verbraulen. Jh nehme an, daß die Bundes- staaten in diesem Punkte dem Beispiel des Neichs folgen werden.

Fh möchte im Anschluß daran nech bemerken, daß ich auc), und zwar bereits bevor die Interpellation hier eingegangen war, Vorsorge getroffen habe, taß die Arbeitsmarktstatistik verbessert wird. Dle Verhandlungen in dieser Hinsicht s{weben. Ich babe also auch auf diesem Gebiete das getan, was nach meiner Ansicht notwendig war, um die Mängel, die ich autdrücklih anerkenne, aus der Welt zu \chaffen.

IYH möchte aber meine beutigen Ausführungen niht s{ließen, ohne Sie noh zu biiten, mit mir cinen kurzen Blick auf das Ausland zu werfen. Wenn man den Ausführungen des Herrn Vor- redners nit mit einer gewissen Sachkunde gefolgt wäre, hätten sie den Eindruck erwecken können, als wenn uns das Ausland auf dem Gebiete der Arbeitslosenversiherung erheblich über wäre. Meine Herren, auch im Auslande ist man über das Stadium der Versuße noch nicht heraus. (Zuruf von ten Sozialdemokraten.) Ja, Deutschland in der Welt voran. Wir sind auf fozial- politisGem Gebiete bisher immer voran gewesen. (Hört! hört!) Ich gebe zu, daß England zahlenmäßig in allerneuster Zeit uns hin- fihlih cines Teils der Versicherungsgesezgebung etwas voraus ist. Troßdem aber können wir uns mit unserea Leistungen auf diesem Gebiet immer noch sehen lassen. (Sehr richtig!) Und England hat, was ich ausdrücklich bemerken möchte, keine Angestelltenversiße- rung eingeführt.

Ic komme also auf das Ausland zurück. Es gibt nur wenige Länder, die eine Urbeitslosenversiherung auf der Grundlage einer geseßlichen Regelung eingeführt haben. Das find nur Großbritannien, Norwegen und Dänemark. Von diesen Lndern hat nur Großbritannien den Versuch einer Zwangsversiherung gemaht, aber diese Zwangs- versiherung in Großbritannien umfaßt nur gewiße Gewerbe, nämli alle Lohnarbeiter über 16 Jahre im Baugewerbe, Maschinenbau, Scifff3- und Wagenbau, in der Eisengicßerei und Säge- müllerei. Ale übrigen“ Berufe sind v2rwiesen auf die Ver- sicherung der Berufsvereine, die allerdinas, soweit ih übersehen fann, ebenso wie die obligatorische Verßcherung, eine staat- lige Unterstüßung bekommen. Der Zwangsversihherung in England unterliegen aber von 14 Millionen Arbeitern nur 25 Milltonen und von diesen 2,5 Millionea find 63 9% gelernte Arbeiter. Aus alledem ergibt fh, daß England mit anerkennens- wotertem Mute hier einen großen Versu gemacht hat, der aber noch lange niht die Lösung der Dinge bedeutet, der noch lange nit eine Einrichtung schafft, von der man annehmen kann, daß fie einer großen Krisis standhält. Wir wollen einmal abwarten, - wie die Ergebnisse diescr Einrichtung sh in einigen Jahren gestaltet haben.

Das zweite Land, das seine ArbeitslosenversiWherung gefeßlih eguliert hat, ist Norwegen. Hier ist die Sache wiederum auf den Berufsyereinen aufgebaut, und zwar find bei 0,4 Millionen Lohnarbeitern beteiligt 27000 Mann an der Versicherung in 17 Arbelter- und 2 Angestelltenkassen.

Am cinfachsten haben sch die Verbälinisse in Dänemark ent- wickelt. Aber au hier ist die Versicherung . auf den Berufsvereinen aufgebaut, und zwar sind hier von # Million Lohnarbeitern dur die Berufsvereine 111787 Mitglieder versichert. Das ist alles auch ieder eine verhältnismäßig geringe Summe, mit der Gesamtzahl verglichen.

Auf den \{chweizer Kanton Neuenburg will ih nit weiter eingehen. Hier handelt es fich um den Entwurf zu einer kleinen Oraanisation für die Uhrmacher und Arbeiter der Kleinmechanik.

Nun kommt die viel tinteressantere Kategorie der Auslands- staaten, tie cine freiwillige Arbeitslosenversicherung von Arbeiterveretnen mit böffentlicher Subvention, aber ohne geseßliche" Negelung eingeführt haben. Hter handelt es h um Luxemburg, Frankreich, die Niederlande, Belgien und uin einige Kantone der Shweiz. Dies find nun sehr bescheidene Nersuce. Sn Luxemburg sind an dieser Versicherung beteiligt 300 Mitglieder von 8 Vereinen. In Frankreich find die Zahlen außerordentli gering, auß n den Niederlanden find ße nit - fehr viel böher, und hlerzu tritt nun noch die

Schweiz, die öffentliÿe freiwillige Arkeilglosenversicherungs-

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tafsen eingeriäitel fal a J Kantonen, Hker handelt es si u 1214 und 636 Mitglieder. Also wenn mansih dieses Bilb betrachtet, so kommt man zweifellos

zu dem Ergebnis, daß au das Ausland aus dem Studieren und aus dem Probieren noh nit heraus ist, sondern daß das Ausland auc nur Versuche gemacht hat, shüchterne Versuche, die niht annähernd den Anforderungen entsprechen, die man an eine wirksame und durch-

ifende Arbeitslosenversicherung stellen muß. E Ta mit diesem Bilde, das ih von den Verhältnissen des Auslands

n babe, slimmen überein die Verhandlungen der Inter- G E ee cinigurg tur Beklmpfungbér Arbeittlofig, keit, die auf ihrem legten Kongreß zwar als das erstrebenswerte Ideal die allgemeine Zwangsversicherung durch das Reich, durch den Staat hin« gestellt hat, aber ausdrücklich erklärt hat, in Angriff genommen könne eine solche Versicherung erst werden, wenn eine brauchbare Arbeitz3- losenstatistik und eine einwandsfreie Organisation der Atbeitsnach- weise vorhanden set, - Also diefe Herren, die in Gent, losgelöst von besonderen wirtschaftlihen utD- volitishen Beziehungen, diese Frage geprüft Haben, sind ungefähr zu demn. Len Ergebnis gekommen wie ih: daß die Verhältnisse in Deutschland zurz-it jedenfalls für eine Arbeitslosenversicherung nit reif sein würden. l 7

Meine Herren, ich möchte hiermit {ließen und môchte 198 uts gebnis meiner Ausführungen, die zu meinem Bedauern länger @edautas, haben, als .id in Îhrenm Interesse gehofft habe, nochmals kurz 5 sammenfassen. Erstens: eine alle Angestellten und Arbeiter umfassende reichsgeseylihe Arbeitslosenversiherung ist jedenfalls zurzeit nit spruchreif und nit durchführbar. Zweitens: selbst wenn sich die bestehenden grundsäglihen und praktishen Bedenken gegen ihre Dur{hführbaikeit überwinden lassen sollten, ist an fie nichk 44 denken, solange nicht Handel und Industrie, Handwerk und Land- wirtschaft die dur die Versicherungsordnung thnen auferlegten neuen Lasten verarbeitet haben und sich die Wirkungen diefer Lasten über- sehen lassen. Drittens: Was zunächst geschehen muß, ist eine Ver- vollkommnung unserer Arbeitsmarktstatistik und ein sahgemäßer Aus- bau unserer Arbeitsnahwelse. Jn dieser Beziehung, meine Herren, sind die erforderlichen Anordnungen von mir bereits getroffen, und ih werde dafür sorgen, daß alles geschieht, was nah meiner Ansicht notwendig ist oder der Sache förderlih sein kann. (Beifall rechts. Zuruf von den Soztaldemokraten: Jst das alles ?)

findet die Besprechung der Jnterpellation statt. |

Abg. Giesberts (Zentr.): So dankenswert die leßten Zu- Mes des Staatssekretärs waren, so wenig haben wohl seine ganzen lusführungen den Erwartungen entsprochen. Die Frage der Be- kämpfung der Arbeitslosigkeit und der Verschaffung von Arbeitsstätten ist zweifellos eine so wichtige, daß ihr kein moderner Stägi dauernd aus dem Wege gehen kann. Diese Frage muß genau fo gelöst iverden wie die, Fürsorge zu schaffen für die Kranken und Invaliden. g Schwierigkeiten sind hier verhältnismäßig größer als bei der Kranken-, Unfall- und Invalidenfürsorge. Darin gebe ih dem Staatssekretär recht. Aber diese Schwierigkeiten dürfen nicht dazu führen, sich da- hinter zu vershanzen und nichts zu tun. Die Schwierigkeiten müßen eben überwunden werden. Eins darf ih wohl feststellen, daß wohl die meisten die Arbeitslosenfrage niht mehr als eine solche der Vagabott- den und Faulenzer betrahten. Man hat dem Zentrum vorgeworfen, daß es sich früher einmal gegen eine Arbeitslosenfürsorge ausgesprochen hat. Damals handelte es sih aber nur'um die Frage der Fürforge für die Wanderarbeiter. Die Arbeitslosenfrage ist in den leßten 10 Jahren außerordentlih fortschrittlih behandelt worden. Sie hat die stete Aufmerksamkeit aller derer erfordert, die im ganzen Wirtschaftsleben eine Rolle spielen. Ganz besonders die christlichen Gewerkschaften haben sih mit dieser Frage beschäftigt. Jch erinnere auch an den Berein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Also die Frage ist im Fluß und wird nit mehr zum Stillstand kommen. Man muß aber auch die Art der Arbeitslosigkeit im Auge behalten. Es gibt eine Reihe von Menschen, die niht Lohnarbeiter sind. Es gibt auch cine Arbeitslosigkeit durch Stellenwecsel. Ebenso müßte man der Arbeits- losigkeit im Saisongewerbe zuleibe gehen. Hier ließen sich vielleicht g?2- schliche Bestimmungen einführen, die es ermöglichen, daß die Satjon- arbeiter nah Beendigung der einen Arbeit leiht zu anderen Grwerbs- zweigen übergehen können. Erinnern möchte ih noch an die große Arbeitslosigkeit, die infolge der schlechten Lage des Baumarktes her- vorgerufen worden ist. Hier macht sich allerdings hon eine Besserung bemerkbar. In ciner ganzen Meihe von Städten, wo vor drei bis vier Jahren noch 10 % der Wohnungen leer \tanden, ist dieser Saß auf 1 bis 14 % zurückgegangen. Beachtenswert ist auch, sich die Frage vorzulegen, wieviel Charakterwert ‘des Menschen dur die Arbeits- losigkeit verloren geht. Wir tun alles, um den Bildungsgrad des Arbeiters zu heben. Da muß dann auch gesucht werden, daß er seinem Bildungsgrade nah immer Beschäftigung findet. Wie sehr der Wunsch nach Arbeit in ‘den Arbeitern vorhanden ist, das kann man z. B. in Göln sehen. Dort werden die Herren, die seit Jahren die Arbeits- losenpflege leiten, schr gern über die Qualität der Arbeitslosen Aus- funft geben. Da wird gern die Auskunft gegeben werden, daß die Leute alles tun, um Arbeit zu erlangen, daß sie fogar unter Umständen sih weit verschicken lassen und auf. den Unterstüßungswohnsiß ver- zichten. Um der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, gibt es zwei Wege, Der vornehmste ist die Arbeitsvermittlung, und wenn diese nicht mog- lih ist, die Arbeitslosenversiherung. Wir werden nicht darum herum kommen, von Staats wegen einzugreifen, um auf unsere Produktions» verhältnisse regelnd hinzuwirken. Sie dürfen sih nicht anarchistis{ entwickeln. Das zeigen ja die Maßnahmen der Syndikate und Kar- telle, die darauf hinauslaufen, eine gewisse Regelung hierin vorzuneh- men. Auch der Regelung des Arbeitsmarktes muß Aufmerksamkeit zugewandt werden. Wir stehen im Zeichen einer weihenden Kon- junktur, Wir müssen uns da fragen, ob unsere Vertretung 1m Aus- lande und in der Diplomatie so geeignet und so gestaltet ift, daß sie das Augenmerk darauf richtet, daß unsere Exportindustrie niht so {wer leidet, indem man ihr die Möglichkeit gibt, bei herannahenden Krisen die ausstehenden Forderungen einzutreiben und neue Absaß=- gebiete aufzusuhen. Das sind einige Vorschläge, die auch {hon von anderen gemaht worden sind. Ganz besonders möchte ih die Vor- \ch{läae der internationalen Vereinigung zur Bekämpfung der Arbeits- losigkeit empfehlen. Mit der Bewilligung außerordentliher Mittel für Notstandsarbeiten ist es nicht getan. Die Projekte müssen meist erst ausaearbeitet werden, wodurch viel Zeit verloren geht. Hier ift eine weit ausshauende Tätigkeit am Plaße. Die wichtigste Frage bleibt aber immer die- der Arbeitsvermittlung. Sie darf man nicht ohne weiteres in die Hände von Gemeinden oder Gemeindevertretungen legen, Diese haben nicht das nötige Verständnis dafür. Sie haben nur die Mittel zu bewilligen, sie zu finanzieren. Die Arbeitsnach- weise müssen miteinander in Verbindung stehen. Es ist deshalb nötig, hierfür eine Zentralstelle zu schaffen. Der charitativen Mitwirkung wird man bei der Linderung der Arbeitsnot und bei der Unter- stüßung der Arbeitslosen niht entbehren können. Das mens{liche Leben läßt sih niht so shematisieren; aber eins möchte ih ausdrüd- lich im Interesse der unvershuldeten Arbeitslosen hervorheben, daß man diesen die Unterstüßung nicht als Armenunterstüßung ibt mit allen den Nachteilen, die dadurh in thren poli- isen Rechten herbeigeführt werden. Selbsthilfe, hilfe und die Hilfe der Gerneinden müssen kombiniert twerden.

(Fortseßung in der Zroeilen Beilage.)

aid V Std nba fd a f dai Mint

Auf Antrag des Abgeordneten Molkenbuhr (Sos.)

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich

(Fortseßung aus der Ersten Beilage.)

Der fozialdemokratishe Vorschlag, den Gewerkschaften die Ver- waltung der Mittel der YArbeitslosenversiherung zu über- eben, erscheint mir niht nur bedenklih, fondern auch undurch- E rbar. Die Gewerkschaften müßten dann ja do eine Sicherstellung des Vermögens leisten, eine Kontrolle zulassen. Es könnte die ganze Selbständigkeit der Organisation leiden, wenn sie solhe öffentlich- rechtlichen Dinge auszuführen hätte, Die Sache ist außerordentli {chwierig, und 1ch möchte niht ohne weiteres Ja sagen. Dagegen tönnten fehr wobl. bestimmte NMichtlinien aufgestellt werden, na denen im Lande die Versuche der Arbeitslosenversicherung fortgeseßt werden könnten. Das Vorbild von Bayern und Württemberg ist außerordent- lih dankenêwert. Die Stadt Cöln hat sich auf diesem Gebiete \{on sehr nüßlich betätigt. Jedenfalls könnten allgemeine Vorschriften er- lassen und ein Druck von oben ausgeübt werden. - Die Hauptsache ift, taß überhaupt etwas geschieht. Ein Reichszuschuß erscheint mir zu- nächst nicht am Plaße. Es handelt sich hier um eine Aufgabe der (Finzelstaaten und Gemeinden. Allerdings haben manche von diesen si Va scharf gegen eine kommunale Arbeitslosenversiherung ausgesprocen. Infere Gemeinden sollten nicht so engherzig sein. Dasselbe gilt von den Einzelstaaten. Namentlich das . stolze Preußen sollte einmal das tun, was Bayern bisher schon getan hat. Die Städte, die bereits vorgegangen sind, verdienen unsere vollste Anerkennung und Aufmunte- rung. Was \ch{ließlich den Wunsch des Abg. Silbershmidt anbetrifft, die Frage einer Kommission zur Prüfung zu überweisen, so könnte man diesem Wunsche sehr {nell Rechnung tragen, wenn die sozialdemokra- tische Partei einen Jnitiativantrag oder Geseßentwurf einbrächte, der ciner Kommission überwiesen werden könnte. Wir würden gern daran mitarbeiten. : : Abg, Dr. Quar ck- Coburg (nl.): Es gibt wohl niemanden in diesem Hause, der dem Problem der Arbeitslosenversicherung nicht Teilnahme und Aufmerksamkeit zuwendete. Es handelt si hier in der Tat um eine brennendê offene Wunde unseres Wirtschaftélebens. LWäh- rend nun die einen wünschen, daß diese Versicherung als Schlußstein der retsgeseklihen Arbeiterversiherung eingefügt werde, werden auf der andten Seite Stimmen laut, die von der Uferlosigkeit unserer Sozial- politik sprehen. Jch meine, daß die Nücksicht auf die Belastungsmög- lichteit der Allgemeinheit und die Konkurrenzfähigkeit- der Industrie zurüctreten muß. Es if Pflicht, das Risiko dérjenigen Gristenzen, die dem wirtshaftliben Kampfe \{hußlos und mit- tellos ‘ausgeliefert sind nah Möglichkeit einzuschränken. Daß die Arbeitslosennot Schuld der Arbeiter sei, kann heute niemand mehr behaupten. Es ift auch ohne weiteres zuzugeben, daß die Maß- nahmen, die hier getroffen werden können, niht in das Gebiet der Wokhltätigkeit oder gar der Armenpflege gelegt werden dürfen. Da- für hat die Allgemeinheit ein viel zu großes Interesse an der Er- baltung eines gesunden, [eistungsfähigen Arbeiterstandes. Um vor- übergebende Erscheinungen handelt es sich mcht. Die wichtigste Auf- gabe ift, ihren Ursachen nachzugehen. Von einem non possumus dürfen wir hier nit sprehen. Auch ih bin der Meinung, daß Vor- beugungsmaßregeln rechtzeitig eingeführt werden müssen. Falsh wäre es, unsere Wirtschaftspolitik für die Arbeitslosigkeit verantwortlich ¿l machen. Es ift auch niht Schuld unseres sogenannten fkapitalisti- hen Systems, e gewisse Branchen im Winter oder zu anderen ZBetkett E nab der Mpde oder der Saison mit Arbeitseins{hcänkungen vorgehen, Unerfreulih is es, daß wir mehr als 800 000 ausländische Arbeiter im Lande habe, daß fast 4 % unserer Arbeitsstätten mit fremden Arbeitern beseßt sind und daß au in Zeiten der Depression Der Zuzug ausländischer Arbeiter niht abnimmt. “Heute hat sich dieser Zuzug gleichmäßig auch auf die inländische Industrie ausgedehnt. Gleichzeitig muß beachtet werden, daß das platte Land unter Zuzug von den Städten zu leiden hat. Es fehlt niht sowohl an Arbeits- gelegenheit, als an ciner ausgleichenden Arbeitsverteilung. Das licgt gleihmäßig an dem ungenügenden Ausbau der Arbeitsnahweise wie ander fortschreitendèn Differenzierung unserer Arbeiterwelt. Jch glaube nicht, wie der Begründer der Interpellation, daß es der Zndustrie auf diesem Gebiete an Nächstenlicbe gefehlt hat. Die Großstädte verschlingen die Zuwanderer und verstärken bei Krisen das Heer der Arbeitslosen. 1895 hatte bei der damaligen Krise in Stuttgart noch nicht die Hälfte der dortigen Arbeiter ihren Unter- stüßungswohnsiß in der Stadt. Wir können nur wünschen, daß auf dem Gebiete der inneren Kolonisation auch die Hilfe des Reiches mit Nat und Tat nicht ausbleiben, daß die Versuche zur Urbarmachung der Moore -vom MNeiche aus e1frige Förderung finden mögen. Ver- sicherungstechnische Grundlagen für eine Arbeitslosenversicherung zu finden, 1st bei der mangelnden Statistik noch außerordentli \{chwer. Wir bedauern dies, wir bedauern ebenso, daß aus den Erklärungen des Staatssekretärs so wenig Positives für die Zukunft herausklang; das liegt aber weniger an dem Mangel an WohlwolUen, als an der Schwere des Problems. Bei dieser Sachlage darf auch die ver- änderte Stellungnahme der Interpellanten nicht übersehen werden; früher verwiesen Sie den Gedanken der staatlihen Fürsorge in das Traumland; jeßt soll das Reich es aber do machen. Einer NReichs- arbeitslosenversiherung stehen ganz erheblihe Bedenken, auch abgesehen von den versiherungstechnishen Grundlagen, entgegen. 1908 bemaß der Abg. Molkenbuhr die daraus entstehende Last auf 220 Millionen, andere rechnen mit 300 Millionen. Jch halte es für überaus bedenk- lich, bei den heutigen Verhältnissen die sozialen Lasten auch nur um cin Drittel dieser Summe zu steigern. Nachdem wir in der Sozial- politik soviel vorangegangen sind, können wir auf diesem Gebiete mal England vorangehen lassen und dessen Erfahrungen benußen. Es sind viele Fragen zu lösen, wer z. B. der Empfänger der Leistungen ist, was verschuldete und unyershuldete Arbeitslosigkeit ist, ob die Ver- siherungssumme ausgezahlt werden soll oder nicht, wte ein Mißbrauch verhindert wird usw. Wie kaun es ferner gelingen, Beiträge der Unternehmer zu bekommen, ohne befürhten zu müssen, daß diesen die Lust \{windet, die Krisen der Arbeitslosigteit mit thren Arbeitern durchzufechten. Die Arbeitgeber werden dann die Fürsorge für ihre Arbetter auf die Allgemeinheit abwälzen wollen. Wie foll man der Ungerechtigkeit begegnen, daß das Land Beiträge zahlt und troßdem noch weniger Aussicht hat, scinen eigenen Bedarf an Arbeitern zu decken, da die Attraktion der Städte durch die Arbeitslosenfürsorge sicherlih noch steigen wird. Niemand kann Klarheit \{chaffen, wie es mit der Annahmepflicht für zugewiescne Arbeit gehalten werden soll, die doch ein Korrelat für die Versicherung sein muß. Es würde ferner ein neuer großer Behördenapparat erforderli werden, der ohne Ein- mishung in die wirtshaftlihen Kämpfe nicht würde auskommen können. Alle diese Bedenken sprechen ' gegen dic Arbeitslosenversice- rung von Neichswegen. Aber cs würde doch dankbar zu begrüßen sein, wenn das Reich den Kommunen mit Rat und Tat helfen wollte. Zu- nas ware c Sache der Kommunen und der Organisationen, auf diesem Gebiete zu helfen. Wir unterstüßen den Organisationsgedanken soweit wie möglich- und würden auch der Einführung der Nechts- fähigkeit der Berufsyereine zustimmen. Ucebrig bleibt immer noch die Fürsorge für bie unorganisierten Arbeiter, namentlih die unge- lernken und die Saisonarbeiter. Da könnte nur der Zwang helfen; den Kommunen müßte von Neichs8wegen die Ermächtigung gegeben werden, einen Sparzwang oder Versicherungszwang einzurichten, Vor allem müssen Vorbeugunaßmaßnahmen getroffen werden. Das System der, Arbeitsnachweise' muß ausgebaut werden, und dabei darf in den Arbeitênächweisen nit der Bureaukratismus herrsen. Erforderlich ijt auch eine Fürsorge für die Wanderarmen durh Schaffung cines

Zweite Beilage

Berlin, Sonnabend, den 6. Dezember

E S I E C E S L E E A BEE L Fa E UIZA TELLZ E E

Nepes von Wanderarbeitsstätten. _Ghenso müßte man versuchen, Arbeits\{heue auf eine böbere Stufe der Arbeitswilligkeit zu heben. Die Beschränkung der Zahl der ungelernten Arbeiter is eine Ehren- pflicht des Staates. Wichtig ist ferner die rechtzeitige Bergeoung und die rechtzeitige Deckung des Bedarfs für den Staat. Es wird immer wieder geklagt, daß die Cisenbahnverwaltung gerade bei finkender Konjunktur mit Aufträgen zurückhält. Daß die Kommunen bei den heutigen Geldverhältnissen und ihrer \chweren Zinsenlast Not- standsarbeiten vornehmen sollen, ist eine barte Zumutung. Das Neich tann auf dem Gebiete der großen Politik Maßnahmen treffen durch eine weitausfchauende Exportpolitik, durch langfristige Handelsver- träge und überhaupt dur eine aktive Auslandépolitik. Eine gute allgemeine Politik ift überhaupt die Vorausseßung ciner vernünftigen und weisen Sozialpolitik, Hoffentlih wird es dem heißen Bemühen aller gelingen, Besserung zu \affen. i _ Abg. Weinhausen (fortshr. Volksp.): Meine politischen ¿reunde halten die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit für eine soztal- politische, volkswirtschaftlihe und fultureile Pflicht. Wir begrüßen mit Genugtuung jeden prafktishen Versu, der gemacht wird, um diesem Uebel abzuhelfen. Insbesondere begrüßen wir die erheblichen Geldmittel, die von den Fachorganisationen jahraus jahrein für die Bekämpfung der Arkeitslosigkeit aufgebraht werden. Auch die entsprechenden Versuche der Gemeinden erkennen wir dankbar an. Jh weiß sehr wohl, daß diese Versuche sehr verschieden bewertet werden. Yber bei dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Zustande muß man auch jedes kleine Mittel, das die Arbeitsnot einshränkt, freudig willkommen beißen. Wir begrüßen au, daß die Regierung in leßter Zeit prafttisch eingreift, wie es in Bayern und Württemberg geschehen ist. Selbfst- verständlich sind wir nicht grundsäßlihe Gegner einer Reichsarbeits- losenversiherung. Schon nah unserer politifchen Vergangenheit wäre dies unmoglih. Jst es doch einer der Unseren gewesen, Sonne- mann, der zuerst den Gedanken der Arbeitslosenversicherung vertreten hat. Wir lehnen alle die tôrihten Einwände ab, die gegen diese Ver- sicherung vorgebraht worden sind. Daß der, welcher arbeiten will auch immer Arbeit findet, ist nicht richtig. Auch der Einwand ist nicht ernst zu nehmen, daß die Versicherung den Anreiz zur Faul- hett und Bequemlichkeit gibt. Auch können wix es nicht für richtig halten, daß die einzelnen Städte niht vorgehen könnten, weil fonft Honigtlöpse. geschaffen werden, wo die Arbeitslosen zusammenströmen. Diese Honigtopftheorie können wir niht mitmahen. Wenn wir auch grundsäßlih der Arbeitslosenversiherung sympathisch gegenüber- stehen, jo können wir uns aber doch nit den Schwierigkeiten ver- schließen, die der praktishen Durchführung gegenüberstehen. Wir glauben, daß wir der Sache einen besseren Dienst leisten, wenn wir die Schwierigkeiten offen zugeben, als wenn wir sie leugnen. Wir sehen eine große Schwierigkeit schon in der Arbeitslosenzählung. Auch die Aufbringung der Mittel ist \{chwierig. Die Arbeitslosen selbst haben ja keine Gelder, und den Ärbeitgebern allein die aanze Last aufzubürden, das geht doch nicht an. Zurzeit hat das Reich selbst nicht die Mittel dafür; es bleibt {ließlich nur übrig die Auf- bringung durch die Kassen der Fachvereine mit Zuschüssen des Reiches. Dann aber tritt auch sofort ein Kontrollrebt des Reiches in Wirk- samkeit, wodurch die Selbständigkeit der Kassen tangiert wird. Von anderen Mitteln zum Zweck ist die Aufbringung dur die Kassen mit Zuschüssen der Kommunen in den Vordergrund getreten, Melativ am meisten bewährt hat fih das Genter System. Daß es nur die Orga- nisterten berüdfihtigt und also indirekt den Koalitionszwang aus- übt, würde mih nicht abshrecken; viel bedenklicher erscheint mir der Umstand, daß die am \chlechtesten bezahlten Arbeiter dabei auch am wenigsten bekommen. Immerhin sollten die Leistungen dieses Systems mehr als bisher gewürdigt werden. Auch die Bestrebungen des Ver- eins für innere Kolonifation unterstüßen wir; aber diese Erperimente bleiben dech immer nur cin Tropfen auf cinen beißen Stein. Vor allem is cin Neichêgeseß zur Regelung der Arbeitsvermittlung er- forderlih; wir können nit warten, bis die privaten Bestrebungen zur Vereinigung der Arbeitsnahweise ihr Ziel erreiht haben. Die Schwierigkeiten zur Feststellung der unvershuldeten Arbeitslosigkeit sollten auch nicht übershäßt werden. Der Staatssekretär hat die Arbeiislosenversicherung zurückgestellt, aber uns wenigstens die Hoff- nung gelassen, daß die erste Vorausseßung, die Regelung des Arbeits- nachweises, ernsthaft in die Tat umgeseßt werden soll. Wir wollen gern diesen oder jenen Weg mitgehen, der sih als gangbar erweist, um aus dem jeßigen Zustand berauszukommen. Die Schwierigkeiten sind tatsächlih dazu da, um überwunden zu werden. Wir würden danach auch mit der Einseßung einer Kommission einverstanden sein, die vielleicht in das Baugewerbe mit seiner ständigen großen Arbeits- losigkeit, vielleiht auch in ein Gewerbe mit geringer Arbeitslosigkeit hinübergriffe. Bei der heutigen Jnteressenlosigkeit der Frage gegen- über darf es nicht bleiben. Wir müssen wieder an der Spitze der Sozialpolitik spazieren.

Abg. Graf von Carmer-Zieserwiß (dkons.): Die heutè uns vorliegende Interpellation können wir in einer ganzen Neihe von Säßen, die sie enthält, unterstüßen. Jch nenne gleich den ersten Ab- saß, den können wir vollständig billigen; ebenfo au den zweiten Saß in dem leßten Absaß. Wir können uns nur da nicht damit einver- standen erklären, wo die Einführung einer alle Arbeiter und Ange- stellte umfassenden reihhsgeseßlihen Arbeitslosenversicherung verlangt wird. Besonders ist anzuerkennen, däß die Arbeitslosigkeit, wie wir sie jeßt haben, und wie sie sih in ihren Begleiterscheinungen jeßt ge- zeigt hat, sŒwere Schäden mit sich bringt, nit nur mit Rücksicht auf das materielle Elend der Arbeitslosen und threr Familien, sondern auchG wegen der moralisben Schäden, die dem Arbeiter dadurch zugefügt werden. Aus diesem Grunde sind wir gern bereit, mitzuarbeiten an der Milderung dieser Schäden; alles zu tun, um den \{limmen Folgen der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Meiner Ansicht nah scheiden zwei Kategorien - vorweg aus bei der Besprehung der Arbeits- losigkeit. Es sind dies einmal dic, die infolge von Streiks und von Aussperrungen arbeitslos geworden sind. Die zweite Kategorie ist die der Arbeits\heuen. Es ist ganz klar, daß die erste Kategorie aus- scheiden muß, denn diejenigen sind ja im wirtschaftlichen Kampf arbeitsles geworden dur die Anwendung der Kampfmittel, die in den wirtshaftlihen Kämpfen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer angewendet werden. Und was die zweite Kategorie dex Arbeits\heuen betrifft, die sind ja lange nit so zablreich, wie man sich das vorstellt. Wenn diese aber da sind, dann i} kein Mittel besser, als das Arbeits» haus, wo die wirklich Arbeits\ceuen, die Landstreiher und Vaga- bunden, meiner Ansicht nah hingehören, um wieder an eine geregelte Tätigkeit gewöhnt zu werden. Wenn wir nun eine weitgebende Arbeitslosigkeit haben, so ist es ganz gewiß nit der Mangel an Arbeitsgelegenheit in unserem deutshen Vaterlande. Der Herr Staatssekretär hat das große uns gelieferte Material erwähnt. Zu meinem großen Bedauern ift es mir beute crst kurz vor der Sißung zugänglich geworden, sodaß ih mich nicht babe oriêntieren können. J muß mich also begnügen mit den Zahlen, die iG mir notiert habe, und die sich beziehen auf die Arbeitslosenzählung vom Jahre 1895. Diese Zahlen sind aber ganz lebrrei, weil sie sih niht nur beziehen auf die Angehörigen der Gewerkschaften, sondern auf sämtliche Arbeiter. Da waren im Juli bei der Zählung 180 000 arbeitslose Arbeiter und im Dezember 350 000 Arbeiter, das bedeutet etwa 1,8 bezw. 3,4 % sämtlicher Arbeiter. Inzwischen is die Bevölkerungszahl fortge- \hrîitton, und die Arbeltskosigkeit ist vielleiht jebt arößer als 34 % der Arbeiter; wenn wir etwa 1% der ganzen Bevölkerung annehmen, so würden wir vielleiht 600000 bis 650 000 Arbeitslose fifiden.-

Preußi hen Staatsanzeiget. 2

An Arbeitsgelegenheit aber fehlt es doch niht in Deutschland. “Der Fehler liegt darin, daß in einem Teil des Deutschen Reiches. in den großen Stadten cine außergewöhnlihe Ansammlung von Arbeitskräften vorhanden ist, während anderseits auf dem platten Lande, in den Éleineren und mittleren Städten ein großer Arbeitermangel \chon seit langen Jahren berrsht. Es is traurig, daß der Zug in die-Gröoß= stadt, der die Bevölkerung des Landes con jeit Jahren dahin bringt, immer wieder stärker geworden ift. Es i ja nachzuweisen, wen man die Vermehrung der Großstädte über 100 000 Einwohnern “in den leßten Jahren verfolgt, im Jahre 1875 hatten wir nur 12-Großck- städte, im Jahre 1910 war die“ Zahl auf 48, also auf das vierfade gestiegen. Während im Jahre 1875 jeder zwanzigste Mensch in Deutsland in einer Greßstadt lebte, trifft dies im Jahre 1910 auf jeden fünften (Finwohner zu. Die Gründe sind ziemli klar. Die jungen Leute auf dem Lande versprechen sih in der Großstadt mehr Vergnügen, mehr Freiheit, sie wollen sih dem Elternhause entziehen. Darum geht die Jugend in die Großstadt und leider jei es gejagt

- tommt sie oft nah kurzer Zeit verlumpt und- verelendet roteder. Dann kommen sie reumütig zurück, aber ihre ne, Kraft haben sie in der Großstadt verpufft. Da hat die Bevölkerung der kleinen Städte und: auch auf dem platten Lande einen {weren Stand, wenn die Jugend, die dort mit Mühe und mit Kosten aufgezogen worden ist, dann in die Großstadt geht. Einer. der Vorredner hat gémeint, es herrsche auf dem Lande jeßt auch Arbeitslosigkeit. Für einen Nach- weis dieser Behauptung wäre ih außerordentlih dankbar. Auf dem Lande herrscht gerade ein Mangel an ledigem Gesinde, an Mägden und Knechten. Der Großgrundbesiß, der mit verheirateten Leuten rechnet, ist da gar nmicht so s{limm „daran, wie- der kleinere Besiß. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß der kleinere els viel für die Versorgung des Landes mit Fleisch leiste. Gerade diejer aber leidet unter dem Mangel an ledigen Arbeitskräften. Ganz gewiß hat jeder das Recht auf Arbeit, uud zwar auf lohnende Arbeit, aber wenn jemand, der eine lohnende Arbeit hat, diese Arbeit aufgibt ohne. irgênd- welchen Zwang, wenn er fortgeht, ohne sih zu vergewissern, ob er an einem neuen Ort lohnende Arbeit findet, fo hat er fih- die Not selbst zuzuschreiben. Wenn sie nun kommen und sagen, wir. haben die Arbeitslosenversicherung, dann wollen sie damit diese Verantwortung, die der Arbeiter hat, dem Staate aufbürden. Dann müssen sie ciu noch einen Schritt weiter gehen, und darauf hat der Abg. Gothein im Jahre 1908 auch mit Recht hingewiesen: Wenn der Staat die Berantwortung haben soll, daß der Betreffende Arbeit bekommt, dann muß er au die Möglichkeit haben, diejenigen an ein&-Stellé- zun \chicken, wo es Arbeit gibt. Nicht bloß ich, sondern wie \chon-éx- vähnt, auch die Herren . von der Linken stehen ja auf diesem Stand- punkt. Dann müßte aber das rc glgigre gech A werden. Das werden Sie wahrscheinlich niht wollen. as ift einer der arundlegenden Faktoren, warum meine Freunde diefen Vorschlag ‘bé- kämpfen. Es ist gesagt worden, roir stehen nicht mehr an der Spibe der Sozialpolitik, aber wir haben nah den großen Wohlfahrtsgeseßèn die wir geschaffen häben, doch wohl tas Recht zu sagen, daß wir now immer an der Spiße der Nationen marschieren. - Durch die An- gestelltenversicherung sind doch \chon wieder ganz E Lasten den Arbeitgebern aufgebürdet worden. Die Interpellation verlangt eine Versicherung für alle Arbeiter und Angestellten. Das ist eine Ungercchtigkett, wenn man sich die kleinen selbständigen Eristenzen ansieht. Diese sind absolut nicht besser gestellt, oft fogar noch viel \ch{lechter. An diese soll überhaupt nmcht gedacht werden, sondern ‘sie jollen auch noch mit zu den Lasten beitragen. Wenn überbaupt eine Arbeitslosenversiherung möglih wäre, dann wäre sie nur mögli: auf dem Gebiete der Kommunen, da weder der Staat, noch das Reich dazu in der Lage sind. Jh bin sehr gern bereit, mitzuarbeiten an - der Linderung der Schädigungen und der Nachteile, die dur die Arbeits- losigkeit entstanden sind. Aber man E zwei Punkte herausheben. &s muß einmal von langer Hand her für lobnende Arbeit... gesorgt werden. Ich meine, daß die Arbeit aber. niht in aller Geshwindig- keit gefunden werten darf. Jch weise ganz besonders auf die Oe ländereien und deren Kultur hin. Ganz besonders ist es ja sconin der Nähe von Berlin geschehen, dck man Arbeitslose dorthin gebrat bat, um sie auf dem. Lande wieder heimish zu machen. Geräde dieje Ansiedlung auf Dedländereien hat auch ein großes wirts{chaftlich Interesse durch Schaffung neuen Kulturlandes. So hat sih z: B. Charlottenburg entschlossen, diese ländlichen Kolonien zu unterstüßen. Dadurch werden die Armenlasten der großen Städte herabgedrüdt. Der andere Punkt betrifft die Arbeitsnachweise. Wir haben-ja den Arbeitsnachweisverband, der das ganze Reih umspannt. Aber hier fehlt noch manches. Erfreulich ift, daß die neuesten Provinzialver- bände hier mit gutem Beispiel vorangehen. Gehen wir in* dieser Weise vor, dann können wir der Not der Arbeitslosigkeit steuern. Daran wollen wir mitarbeiten, aber die Versicherung Cafen wir nicht für cinen gangbaren Weg.

Abg. Warmut h (Np.): Maßregeln gegen die Arbeitslosigkeit sind nötig, und auch wir wollen daran mitwirken. Es darf aber nit vergessen werden, daß die Arbeitslosigkeit eine ständig wiederkehrende Gr\cheinung ist. Alle Maßnahmen, die zur Lösung dieses Problems vorges{blagen sind, stoßen auf große Schwierigkeiten. So muß mak doch unterscheiden zwischen unversculdeter und selbstvershuldetèr. Ar- beitslosigkeit. Jemand, der ohne Grund aus seinem Arbeitsverhältnis herausgeht, darf doch nit wie jemand bebandelt werden,der {uldlos arbeitslos geworden ift. Es geht nit an, daß Leute, die nicht arbeiten wollen, auf Kosten anderer einen großen Teil des- Jahres unterstüßt werden. Zu bedenken ift auch, daß eine Reibe von Arbeitern ‘zurzeit der Hocbfonzunktur in die Großistadt geht und dann später arbeitslos wird. Da darf man doc, wenn si z. B. auf dem Lande wiéder lobe nende Arbeit findet, den Betreffenden nicht unterstüßen, damit er abz warten kann, bis fi wieder eine Ho&konjunktur einstellt. Einéë antere Frage von besonderer Wichtigkeit ist auch die, wie die streikenden Ar- beiter behandelt werden sollen. Die Sozialdemokraten meinen ja ohne weiteres, sie müßten unterstüßt und wie Arbeitslose behandelt werden, die unversbuldet um ihre Arbeit gekommen sind. Auch al die Bauarbeiter muß man denken und an die Saisonarbeiter. Diess arbeiten gewöhnli nur einen Teil des Jahres und sind vielfach.ih anderen Berufen beschäftigt. Wenn nun in einem solchen threr Nebenberufe gestreikt wird, wie sind sie dann zu behandeln? Alle diefe Fragen muß man genau im Auge behalten. Die Sozialdemokratie ‘ist ja nit nur heute, sondern auch schon früher mit Wärme für diè Ar- beitslosen eingetreten. Wenn diese Wärme wirklich echt ist, warum gibt dann die Sozialdemokratie nur den zehnten Teil ihrer Ginnahmen zur Linderung der Not der Arbeitslosen aus? Aber die Gewerk schaftèi sind ja in exster Linie Kampforganisationen, und man- will ‘vêrbhindêtn, daß sie ihre Mittel für andere als Kampfeszwecke anwenden, Wir können doch unmögli die Axbeitslosen unterstüßen, nur um den Gewerk- schaften, die offen staatsfeindlich sind, eine Last abzunehmen: I weiss da auf einen Artikel des „Vorwärts“ hin, in dem ausgeführt wird, daß die Linderung der Arbeitslosigkeit nicht so sehr durch humanitäre und soziale Gründe bedingt ist, sondern um das Proletariat fähia zu machen, die Kampfe zu fühxen, die es seinem Ziele näherbrinaen. Von ster Entscheidung ist aber die Frage, woher die Mittel für eine allgëmetine Arbeitslosonversicherung genommen werden sollen. Die Beiträge ber Arbeitgeber würden si auf 30 Millionen belaufen, der Staatszusct auf 10 Millionen, und es fragt \sih doc, ob man den Unternebinétr eine solche ‘ardße neue Belastung auferlegen sol. Kann denn bie Fn dustrie wirklich eine solche Last tragen, wo do unsere Exportindusttie eine so starke Konkurrenz der überscischen Länder auszubalten bd