1913 / 289 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 08 Dec 1913 18:00:01 GMT) scan diff

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sein Vermögen aufzehren, dann werde ih darüber reten lassen ? Die Gewerkschaften haben im leyten Jahre für die Arbeitslosen bereits die erbeblichsten Opfer bringen müssen, zumal in Berlin. Der englishe Schaykanzler hat bei der Begründung der Arbeitslosen- versicherung. andere. Worte gefunden wie der Minister gestern. Er sagte, Engsand müßte sich s\chämen, taß es der Armut, die aus der Arbeitslosigk-it entsteht, nihi {hon früher abgeholfen hätte. Die konservative Partci l hnt eine Arbeitslosenfürsorge vollends ab, und alle anderen übrigen Parteien begnügen sich mit platonischen Liebes- erflärungen. Wir geben so viele Millionen für unkulturelle Zwette aus, da sollten wir doch wenigstens hier nicht allzu engherzig sein. As unsere Reden hier nicht nur lere Phrasen find, beweist ein Aufruf im „Vorwärts“, der um Unterstützung bittet für die Arbeits- losen zu Weihnochten. Bis jeßt ist {on ein Betrag von 100 000 46 zusammengekommen.

Damit schließt die Besprehung der Jnterpellation.

Es folgt die Jnterpellation der Deutschkonservativen:

„Ist dem Herrn Reichskanzler békannt, daß das am 1. Januar 1914 bevorstehende Jakrafttreten der Bestimmungen über die Krankenverfiherung in der Reichsversiherungs8ordnung, insbesondere die ärztlihe Versorgung der Landkrankenkassen und die Versicherung der Dienstboten, auf große praklishe Schwierigkeiten #ößt, sodaß es wünschenswert erscheint, im Interesse aller Be- teiligten das Inkrafttreten di.ser Bestimmungen noch hinaus- zuschieben Staatssekretär Dr. Delbrü dck erklärt sih bereit, die Jn- terpellation heute zu beantworten. Zur Begründung der Jnterpellation erhält das Wort der Abg. Graf Westarp (dkons.): Die Interpella!ion legt den Finger auf gewisse Schwierigkeiten. Jn allen bürgezlihen Parteten, und auch in der Presse ist faum eine abweichende Pleinung bervor- getreten, berrsht Uebereinstimmung darüber, daß dem Inkrafitreten der Dienstbotenversficherung noch erheb. ihe Schwierigkeiten entgeg!:n- stehen. Jch wil unterlassen, auf die Streitigkeiten zwischen Kr.nken- kassen und Aerzten im gegenwärtigen Augenblicke näher einzugehen. Ich will weder an dem Verhalten der Aerzte noch der Krankenkassen eine Kritik üben. Für die Besprehung der Juterpellation genügt der Hinweis, daß der Aerzteverband am 26. Oktober dieses Jahrs beshlossen hat, daß die Aerzte sih in Verhandlungen mit den öit- lichen Organisattonen der Krankentassen nicht einlassen sollen, bis nit eine günstigere Negelung in den Verträgen mit den Kranken- Tassen für die Aerzte erzielt wind. Kommt es nun am 1. Januar zu tetnem Vertrag zwischen Krankenkassen und Aerzten, so hat die Behörde zwei Möglichkeiten. Sie kann entweder anordnen, daß die Kassen andere Aerzte einzustellen haben. Diese Anordnungen werden kaun ctwas helfen können, oder es ist der Fall möglich, daß die Kranken- Tassen ihren Mitgliedern einen Zuschuß in Höhe von ? zu den Kosten der ärztlihen Behandlung gewähren. Aber alle diese Maß- nahmen können nur ein Provisorlum bedeuten. Es ist dabei zu befürchten, daß überall da, wo diese Anordnungen getroffen werden, die Mit„lieder der Kassen sich nicht an approbierte Aerzte wenden, sondern daß sie zu Kurpfuschern laufen. Auch der Ausweg, daß die Behörden die Aerzte engagieren. ‘wird kaum gangbar séin, denn ebensowenig wie die Krankenkassen Aerzte crhalten werden, werden auch nicht die Behörden Aerzte erhalten können Bei uns îm Often haben“ die allermeisten größeren Güter heute feste Verträge mit ihren Aerzten, so daß dafür vollstärdig gesorgt ist, daß niht nur die Arbeiter. sondecn auch ihre nichtmitarbeitenden Familienangehörigen auf Kosten des Gutes ärztliche Hilfe erhalten. Bis 1. Jänuar haben also diese Mbeiter Anspuuhch auf unentgelt- liche ärztlihe Ver}orgung. Am 1. Januar treten dann die Landkranken- Tassen ins Leben. Dadurch tritt eine niht unwesentlihe V-'schlechte- rung des jeßigen Zustandes ein. Beim Erlaß dir Neichsversiche-rungs- ordnung entitand ja ein lebhafter Streit über die auf un)ere Veran- lassung eingefügte Bestimmung, daß der Gutsbesite: den Befretungçs antrag stellen kann, wenn er die Anspr! ch? an die Kiankenver)orgung auf eigene Kosten übernimmt. Die Linke stellte es damals so tar, a!s ob“dies eine schwere Schädigung der betreffenden Arbeiter bedeute. Hätten wir das 1kiht getan, dann würden, wenn am 1 Januar die neue Ein- richtung ins L.ben tritt, die Vesiger gerad. zu gezwungen sein, nah einer Aushi!fe zu suchen, da ja der Anspruch au? ärztlihe Versorgung dann fort'ällt. So sind die Besitzer dann geradezu gezwungen, diesen Be- freiungsantrag zu tellen, Um allen diefen Schwierigkeiten aus deu Wege zu gehen, bitte ih doh, das Jnkcafttreten dieser Krankenkassen- behandlung hinauszuscieben, um eine Frist zu bekommen für etne Einigung * zwishen Aerzeu und Krankenkassen, wobei ih hoffe, daß beide Teile sich der größten Mäß!gung befleißtgen werden Bei der Dienstbotenv-rsiherung haben wir immer darauf hingewiesen, daß das Vearhältns der Dienstboten ganz be- sondere Eigenheiten aufweist und sch von dem Ver- bältnis der übrigen Versicherten sehr wesentlißch unterscheidet. Charakteristisch bierfür ist die enge häuslih2z Gemeinschaft, die ja {on das Wohnungsverhältnis mit fich bringt. Deshalb muß der Haus- haltungsvorstand und auch die Hausfrau eine gewisse Autorität ausüben. Damit besteht aber au die Verpflihtung tür eine g öß-:re soz'al Fürsorge. Das beweist au, daß die Dienstboten sich in wesentlich günstigeren Gesundheitsberhältnissen befinden. Schon das bishertge Geseß bot die Handhabe der Dient1botenversicerung. Ich erinnere nur an die Abonnementsvereine. Meine politishen Freunde haben bet der Beratung der Neichsversicherungsordnung b. sonderen Wert darauf gelegt, daß diesen Befonderheiten drs Dienstbotenverbältnisses auh in der Einrichtung der Krankenversicherung durch besondere Bestimmungen Rechnung getragen werden solle. Das ist bis zu einem gewissen Grade auch ge'chehen. Wir traten deshalb dafür ein, daß besondere Landkrankenkasfsen auch für die Dienstboten ges{affen wecden sollen. Wir sind deshalb überaus scharf fritisiert wo den. Man hat uns gerade aus diesem Grunde der foztalen Rückständigkeit geztehen. So hat der Abg. Fegter damals gesagt, wir wollten die in den Land- kTrankenfafsen untergebrahten Arbeiter zu Arbeitern zweiter Klasse machen. Das ist absolut nicht der Fall gewesen. Die Ein- richtung der Landkrankenkassen war aber nötig, weil sie den Be- sonder heiten dieses Dienstverhältnisses beffer Nechnung 11ägt. Wir erleben es heute, daß gerade in den Kreisen der Hausfrauen und besonders bei denen, die der fortschrittliden Volkspartet nahbestehen, den Groß Berliner Hausfrauenvereinen, fast dieselben Argumente angeführt werden, die wir damals ins Feld führten. Hoffentlich wird durch Erörterungen darüber nicht der häusliche Friede gestört. Wegen dieser Besonderheiten des Dienstbotenverhältnifses

{find wir dafür eingetreten, daß die Vorstände und Ausschüsse dieser

Landorganisationen niht durch Wahlen gebildet, sondern von den Behörden ernannt werden. Wir wollten die politishe Agitation vom engsten Familtenkreise fernhalten. Deshalb war es notwendig, gerade für diefe Arbeiter eine anders geartete Kontrolle zu s{affen. Ulle diese Forderungen werden ja auch von den Hausfrauenver- einen erhoben. Wir find der Meinung, daß die Dienstboten infolge der besonderen Art ihres Verhältnisses zur Familie Leistungen erhalten müssen, die abweihend find von denen, die den Fabrikarbeitern gewährt werden sollen. Jch voill hier nur historisch erwähnen, daß von vielen Hausfrauen, die sh auch für das sittliche Wohlergehen ihrer Dienstboten verantwortlih fühlen, der Standpunkt vertreten wird, daß. die Wochenhilfe den Dienstboten gegenüber ge- wissermaßen eine Prämie auf die Unsittlichkeit bedeutet. Und nun zeigt sich ganz klar bei der neuen Versicherung, daß tatsächlich das Dienstbotenrisiko ein sehr viel günstigeres ist als das Nisiko bei den übrigen Versicherten, bei den gewerblihen Arbeit: rn. Wir haben die kÉlarsten B ispiele hierfür in G-oß Berlin selbst. Die Stadt Berlin und die Stadt Schöneberg haben die Dienstboten an die allgemeine Ortsfkrarkenkfasse überwiesen, und es werd-n dort Beiträge erboben in der Hôhe von etwa 46 4 und 32 4. Die Orte Friedenau und Wilmers- dorf dagegen haben Landkrankenkassen errichtet für die Dienstboten, und dort werden Säge erboben, die etwa um 20 4 hinter dem von Berlin und um 10 # hinter dem Schöneberger Say zurübleiben. Dch kenne die Verhältnisse sehr genau, und wix können es erlebén,

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daß auf der einen Seite eines Korridors der höbere, auf der anderen Seite der nicdere Saß gezahlt werden muß, da vielfa die Orts- grenzen mitten durch die Häuser gehen. Der Vergleich dieser Säße zeiat aber, daß das Risiko der LTienstbotenversiherung ein schr viel geringeres ift. Der neue Zustand b-deutet nun nihts anderes als daß die Dienstherrschaften mit herangezogen werden für das Risiko bei den gewert lichen Arbei'ern, soweit sie in diesen Orten den höhcren Beitrag z2blen müssen. (Zuruf von den Sozialdemokraten : Die Leistungen sind antere !) - Die Leistungen der Kassen mögen verschieden sein; wenn fie verschieden sind, ‘fo_spricht nch eben darin der ganz rihtige Grundsaß aus, taß die Stellung der Dienstboten eine andere ist, und daß die gesundheitlichen Verhältuisse der Dienstboten eben derart sind, daß niht ohne weileres dieselben Leistungen notwendig sind. Ich habe {on ausacführt, daß die Sozialdemokraten und die Mitalieder der Fortschrittliden Volkspartei, die damals für die Einführung der Landkrankenkassen gestimmt haben, in den Vertretungen der Groß- städte keinen Gebrauch gemacht haben von der Befugnts des Geseßes, Landfkrankenkassen zu gründen. Ste haben damik dazu beigetragen, daß die Dienstboten im Verhältnis stärker belastet werden, als es sonst nôtig gewesen wäre. Gerade weil die Dienstboten ein besseres Risiko bieten, weil da das Krankengeld nit die Nolle spielt, wie bei den Fabr!karbettern, wäre es wohl zu erwägen gewesea, baß die Orts- kranktenfassen fôr die Dienstboten besondere Wochen- und Lohn- festseßungen geiroffen: hätten. (Zuruf bei den Soztaldemg- kraten: Das ist gegen die Vorschrift!) Es ist nicht Vor- schrift, daß sie nach dem _Ortslohn behandelt werden. Was soll nun geschehen? Die Schwterigkeiten, die - ih eben über die Dienstbotenversiherung ausgeführt habe, sind M nicht vor- übergehender Natur; sie liegen in der Natur der Sache selber. Wenn sie beseitigt wérden sollen, so wird man die Frist, um die das Inkrafttreten des Geseßes hinausgeschoben werden soll, dazu benußen müssen, tas G-feg zu ändern. Diese Aenderung wird nicht so fein, daß diese Bestimmungen völlig beseitigt werden. Aber man muß darauf sehen, daß den Besonderheiten des Dienstbotenverhäl1nisses in höherem Maße Nechnung getragen wird. Ich möch!e da hinweisen auf die Bestimmungen über die Möglich- keit, cinen Befretungsantrag zu stellen. Ich glaube, daß wir mit diesem Ventil vielen Haubfrauen helfen werden. Wenn die Hausfrauen hiervon Vebrauch machen, so werden sie es niht aus pekuniären Gründen tun, oder wenn fie cs aus pekuniären Gründen tun, so Éönnten sie fich dabei ganz erheblich verrechnet haben, denn fie übernehmen dadur ein fehr erhebliches Nisiko. Wer von dicsem Befreiungsantrag Gebrauch macht, der tut es aus dem Grunde, daß er das persönliche Fürsorgeverhältnis sich nicht stören lassen will durch die bureaukratishen Einrichtungen der Kassen. Bei Prüfung des Befretungsantrages kann man etwas mehr entaegenkommen. Die Möglichkeit, sich bei privaten Vereinen zu versichern, sollte nach meinem Dafürhalten genügen, um dem Befreiungsantrag statt- zugeben. Nach den jeßigen Vorschriïten wird bekanntlih die Leistungsfäbtgkeit des Antragstellers geprüft. Dabei haben die Groß Berliner Kassen Gr"ndsäße aufgestellt, na denen sie Befreiungsanträge nur zulassen, wenn der Antragsteller ein Einkommen von 4000 Mark oder ein entspreWendes Vermögen nachweisen kann. Das gibt: dem Befreiungsantrag ein unerfreulihes Aussehen ; es feht fo aus, als ob nur der Wohlhabende diesen Vorteil genießen könne. Meines Grachtens würde den Interessen der Kassen und dir Versicerten vollständig Nechnung getraçen werden, wenn man die Möglichkeit zus läßt, daß die Befreiung überall da statthaft ist, wo die Möglichkeit vorliegt, daß die D'enstherrschaft sih cinem Versicherungeverein an- \hliezt. Ich möchte zum Schluß noch eine kurze allgemeine Be- tratung anfügen Die jeßigen Vorgänge sind ziemlich genau eine Wiederholung der Vorgänge, die wir ver einem Jahre bei der An- gestelltenversicherung erlebt haben. Sie enthalten eine ernste Mahnung. Es ist uns vorgeworfen worden, daß ein neuer, Versicherungszweig ohne genügende Vorarbeiten in einer überhasteten Weise ins Leben gerufen worden sei Vielleicht sind wir zu weit gegangen. Bei der Beratung der Neichsversicherun-ordnung ift uns gejagt worden, daß die Versicherurg der landwirtshaftlihen Arbeiter auch di, Versicherung des landwiitschaftlihen Gesindes und ter auf dem Lande angestellten Dienstboten zur Folge haben müsse, weil es zu schwierig sei, die Trennungslinie zwischen diesen zu zichen; diese Schwierigkeiten liegen auf der Hand. Im Zusammenhang damit mußte natürlich auch die Versicherung des stadtishen Gesiudes er- folgen. Das- eine zog das andere nach sich Ießt erlebea wir den Borwurf, daß wir ohne genügende Durcharbeit.ing voreilig gehandelt hätten. Darin liegt doch die ernste Mahnung, daß wir in der Folge '8 uns sehr ernst überlegen follen, ob wir den Gedanken der soztalen Versicherung überspannen dürfen. Gerade derjenige, DEL den Segen der sozialen Ve sicherurg anerkennt, hat das größte Interesse daran, ih davor zu hüten, daß cine Uebertreibung des Gedankens stattfinde.

Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern Dr, Delbrud:

Meine Herren! Die Herren Interpellanten fragetr :

It dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß das am 1. Fanuar 1914 bevorstehende Inkrafttreten der Bestimmungen über die Krankenversicherung in der Neichsversiherungsordnung, tnsbesondere die änztlihe Versorgung der Landkrankenkassen und die Versicherung der Dienstboten auf große praktis@e Schwierigkeiten 6ßt, sodaß es wü: shenswert erscheint, im Interesse aller Beteiligten das Inkraft- treten dieser Bestimmungen noch hinauszusieben ?

Meine Herren! Die Durchführung der Krankenversiherung ist nicht Sache der Neichsleitung, sondern Sache der Landeszentral- behörden. Der Herr Neichskanzler hat fich dementsprechend alsbald nach Publikation der Neichsversicherungsordnung mit den Landeszentralbehörden ins Benehmen gefeßt und angefragt, bis zu welchem Zeitpunkt die Vorbereitungen zur Durchführung der Neichs- verfiherungs8ordnung sicher beendet fein fönnten. Die verbündeten Negierungen waren damals einhellig der Meinung, daß dies bis zum 1. Januar 1914 geschehen könnte, und darauf hin ist der Termin für das Inkrafttreten der Bestimmungen über die Krankenversiherung durch Kaiserliche Verordnung vom 5. Juli 1912 auf den 1. Januar 1914 festgeseßt worden.

Inzwischen ist von keiner der verbündeten Regierungen an mi irgendwelhe Nachricht gelangt, die darauf hätte {ließen lassen könnte, daß der Durchführung der Bestimmungen über die Krankenversiherung bis zu diesen Termin SqMhwierigkeiten entgegenstünden. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Es ist dies au nicht geschehen, als ih vor einigen Wochen mit Ver- tretern sämtliher Bundesregierungen hier persönli über eine Spezial- frage, über die Anwendung des § 370 der Reichsversiherungsordnung, verhandelt habe. Ich habe also nach alledem bis heute annehmen müssen, daß die Landesregierungen in der Lage scin würden, die ihnen obliegenden Verpflichtungen binsihtlich der Durhfühcung der Be- stimmungen der Krankenversicherung bis zu dem genannten Termine durchzuführen. Man sollte doch auch meinen, daß die zur Verfügung stehende Zeit hierzu hingereicht hätte, Seit Verkündigung der Reichs- versicherung8ordnung, seit dem 19. Juli 1911, find etwa 24 Jahre verflossen. (Hört! bört! bei den Sozialdemokraten.) Seit der Publikation der Verordnung über das Inkrafttreten der Vor- schriften über die Krankenversiherung find etwa 14 Yahre ver- flossen. Man sollte doch meinen, daß es in dieser langen Zeit möglih gewesen sein follte, die geseßlichen Bestimmungen zu studieren, auf ihre Konsequenzen hin zu prüfen und die zu threr Dur(führung

zu erlassenden Bestimmungen und zu treffenden Maßnahmen diefen Konsequenzen anzupassen.

Nun, meine Herren, ist es ja allerdings richtig, daß wir in leßter Zeit über die Schwierigkeiten, die sh der Durchführung der Bestim- mungen über die Krankenverfiherung entgegensetzen, viel gehört baben, und zwar namentlih hinsihtlih derjenigen Bestimmungen, die ih auf die Versicherung der Diensiboten beziehen. Ih bin zwar nichf; wie der Herr Abg. Graf Westarp befürhtet, in meinem häuëlichei Frieden gestört worden, aber ih bin doch genötigt gewesen, Inter- pellationen über die RNeich2versiberungsordnung auch folchen Personen gegenüber zu beantworten, die sich sfonst mit Sozialpolitik uicht zu befassen pflegen. (Hetterkeit und sehr gut! links.) Aber alle Aus- führungen au diefer Personen haben mich nicht davon überzeugen können, daß es nicht möglich gewesen sein sollte, die Neichs- versicherungs8ordnung bis zum 1. Januar kommenden Jahres auh in dem in Rede stehenden Punkte durchzuführen, und alle diese Erörterungen haben in mir nicht dtie Auffassung begründen können, daß die Mängel, über tie jett geklagt wird, im Geseg liegen, sondern i bin der Ueberzeugung, daß, wenn diese Mängel aufgetreten sind, fie in der Ausführung des Gefetzes, nit aber im Gesetz selbst ihren Grund haben.

Wenn man nun aber insbesondere, namentli außerhalb dieses bohen Hauses, den Vorwurf erhoben hat, daß die Gesetzgebung - über die Krankenversiherug der Di-nstboten überhastet wäre, so kann ih das nah der historishen Entwicklung dec Dinge beim besten Willen nicht zugeben. Meine Herren, {on bei der Beratung der Novelle zum Krankenversicherungsgeseß vom Jahre 1892 hat man erwogen, ob man die Dienslboten in die Krankenversicherung einbezichen follte. Man hat damals Bedenken getragen, diesen Schritt zu tun; man hat sich darauf beschränkt, den Dienstboten das Recht vorzubehalten, in die Krankenkassen einzutreten, freiwillig sich in den Krankenkassen zu versichern, und man hat sich darauf beschränkt, eine ortsstatutarische Versicherung des ländlichen Gesindeß insoweit zuzulassen, als die in der Landwirtschaft beschäftigten Personen überhaupt dur orts\tatutarische Borschrift einer Gemeinde oder eines weiteren Kommunalverbandes krankenversicherungspflihtig gemacht werden konnten. Aber, meine Herren, bei den Verhandlungen in der Kommission hat {hon damals allseitige Uebereinstimmung dahin geherr|cht, daß wir auf die Dauer um eine allgemeine und umfassendere Regelung der Krankenversiherung der Dienstboten nicht berumkommen können. Dies ist im Kom- missionéberiht ausdrüdcklich festgestelt. Jh bitte dieienigen Herren, die sich dafür interefsieren, die Seite 52 des damaligen Kommisstons- berichts einzusehen.

Metne Herren, die Annahme, die damals bestanden hat, daß an eine Krankenversichérung der Dienstboten auf bretterer Grundlage alsbald werde berangetreten werden müsse, ist durch die spätere Ent- wicklung der Dinge vollständig bestätigt worden. Dies erweisen die Zusammenstellungen, die wir mit der Neichsversiherungsordnung Ihnen vorgelegt häben. " Denn ‘als wir an die Ausarbeitung des Entwurfs zur Neichsversiherung8ordnung gingen, konnten wir ohne weiteres feststellen, daß eine Krankenversicherung der Dienslboten in großen Teilen des- .deutschen Vaterlandes bereits durchgeführt war, sei es auf Grund * ländesgescßliher Bestimmungen, die eine Versicherung der Dienstboten ganz allgemein oder teilweise obligatorisch machten, si es auf Grund der vorhin {on von mtr erwäßnten Möglichkeiten des Krankenversiherungégesez-s in der Fassung der Novelle von 1892. Für ‘das landwirtschaftlihe Gesinde war das der Fall in Sachse, in Hessen, in Shwarzburg-Sondershausen, in Schwarz- burg-Rudolstadt, in Reuß j. L. In den Bundesstaaten Hamburg und Lübeck waren bereits damals in einzelnen Landestétlen sämtliche Dienst- boten versichert; das Gleiche gilt von Teilen der preußlshen Provinz Hessen-Nassau. In anderen Bundesftaaten i das gesamte Gesinde ohne örtlihe Begrenzung seit geraumer Zeit der Krankenversiherung unterworfen. So besteht in Bayern eine gemeindlihe Krankenver- sicherung {on cit tem Jahre 1869 für alles Gesinde. Seit 1892 war es dort auch zulässig, die weitergehende Krankenversiherung nach dem Neichskrankenversiherungêgesez dur s\tatutaris@e Bestimmungen einer Gemeinde auf die Dienstboten zu erstrecken. Von dies:r Be- fugnis haben im ganzen rund 3209/9 der bayerishen Gemeinden Ge- brauch gemaht. Sie können daraus entnehmen, meine Herren, daß {on bisher, und zwar seit langer Zeit, die Wohltaten des Kranken- versicherung3geseßzes in der Fassung der Novelle von 1892 in Bayern etnem großen Teile der Dienstboten zuteil geworden find.

In Württemberg haben auf geseßliher Grundlage \chon biéher 111 Krankenpflegeveisicherungen für sämiliGe Dienstboten be- standen, tavon 47 für einzelne Gemeinden, die übrigen für ganze Oberamtsbezirke oder Teile von solchen. Aehnlich ist es bisher {hon gewesen in Bremen, in Baden, in Braunschweig, in Sachsen- Weimar, in Sachsen-Metningen, in Sachsen-Altenburg, in Sachsen- Coburg und Gotha, in Anhalt und in Reuß ä. L,

Aber auch in Preußen ist das Gesinde s{chon zu eïnem niht un- erbeblihen Teile jeßt bereits verfihert, und zwar das landwirtschaft- lihe Gesinde in allen denjentgen Kreisen und Gemeindeverbänden, die ihrerseits von der Befuguis Gebrau gemackcht haben, die Ber- siherungspfliht der in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigten Personen ortsstatutarisch vorzuschreiben. Es handelt fich dabei um 60 Stadtkreise und um beinahe ein Viertel aller Landkreise, nämli um 133 von insgesamt 489. (Hört, hört! im Zentrum.)

Daß bei dieser Sachlage au die Dienstboten selbst in erhöhten Maße, soweit sie der Versicherungspfliht noch nicht unterlagen, den Wunsch und das Bedürfnis fühlten, der Versiherungépflicht unter- worfen zu werden, liegt in der Natur der Dinge. Aber auch bei einem großen Teile der Herrschaften bestand und besteht auch heute noch zweifellos die Ueberzeugung, daß eine sachgemäße WVer- sorgung der Dienstboten in Krankheitsfällen eigentlich von Tag zu Tage \chwieriger wird. Der Grund tafür liegt in allererster Linie in den Wohnungsverhältnisseu in den großen Städten. Jch kann aus meiner eigenen Erfahrung nur versichern, daß ih oft auch schon bei leihteren Erkrankungen meiner Dienstboten in Ver- legenheit gewesen bin, wie ih die Leute au nur räumlih angemessen und sachgemäß unterbringen soll. (Hört! hört! links.)

Wenn man hiernach anerkennen muß, daß bei der Vorbereitung der Reichsversiherungsordnung bereits ein Bedürfnis für eine all- gemeine Regelung der Versicherungépfliht der Dienstboten nachuewiesen war, fo fragt es fich nur, ob wir hieraus die rihtigen Konsequenzen gezogen baben, ob wir den richtigen Weg gegangen find, um die Dienfst- boten in einer angemessenen Weise zu berücksichtigen. Nun hat der

Herr Graf von Westarp {hon vorhin darauf hingewltesen, welchen,

Weg wir gegangen find, und in wie vorsihtiger Weise gerade seine politischen Freunde mit dazu beigetragen haben, daß in den geseßlichen Bestimmungen allen den bésonderen Verhältnissen, die in den Be- ziehungen der Dienstboten zu ihren Dienstherrschaften bestehen, Rech- nung getragen wurde. Bisher unterliegen die Dienstboten, soweit sie franfenversiherungspflihtig sind, in der Regel der Gemeindekranken- versicherung. Es lag also an si nahe, die Dienstboten grundsäßlih den Landkrankenkassen zu überweisen. Das, meine Herren, ist

/ im Gefeß geshehen; und durch die Ueberweisung der Dienstboten

an die Landkrankenkassen sind im wesentlihen alle die Bedenken herüdcksihtigt, die Herr Graf Westarp vorhin {on einmal im einzelnen ausgeführt hat. Die Ueberweisung an die Landkrankenkassen beseitigt insbesondere die Bedenken, die man daraus hergeleitet hat, daß es unzweckmäßig sei, die Dienstboten einzubeziehen in die Ortskranken- fassen mit ihren Kontrolleuren, mit ihren fremden Aerzten, die in die Gnterna eines Hauses eindringen, dessen Gemeinschaft der Dienstbote angehört. Diese Ueberweisung an die Landkrankenkassen berücksichtigt ferner die Bedenken, die man hergeleitet hat aus der bei der Ver- sorgung in den Ortskrankenkassen herrührenden Notwendigkeit, daß die Dienstboten zu den Organen der Krankenkassen wählen. In den Landkrankenkassen werden bekanntli die Ausschüsse, die aus den Juteressenten gebildet werden, vom Gemeindevorstand ernannt.

Man ist noch wetter gegangen. Man hat, um dke Schwiertig- keiten der eben erörterten Art weiterhin einzuschränken, die Bes stimmung getroffen, daß Arbeitgeber, die nur Dienstboten beschäftigen, nicht verpflihtet sein sollen, eine Wahl in die Organe der Krankenkasse anzunehmen. Es ift - sogar zulässig, für Dienstboten allein Landkrankenkassen zu bilden. Ja, wenn die Beteiligten, wenn die in erster Linie zuständigen Gemeinden von dieser Befugnis keinen Gebrauh gema{ht haben, fo liegt es nicht am Gese, sondern an einer vielleiht nit immer rihtigen und zweck- mißtgen Durchführung des Gesetzes. (Sehr richtig! rechts.)

Nun kann man einwenden, es hätte verhindert werden sollen, daß die Dienstboten au in Ortskrankenkassen versichert sein können, das heißt, es hätten die Landkrankenkassen für die Dienstboten obligatoris gemacht werden müssen. Auch diese Frage haben wir seinerzeit er- wogen. Aber dagegen war doch einzuwenden, daß bereits vielfah in Deutschland die Dienstboten in anderen Krankenkassen versichert waren, daß sich diese Einrichtung nah den dortigen örtlichen Verhält- nissen bewährt hatte, und daß man nit wobl eine Verschlechterung des bestehenden Zustandes bezüglichß dteser Dienstboten eintreten lassen konnte, indem man ihre weitere Versicherung in den anderen Krankenkassen verbot und thre Zuroeisung zu den Landkranken- fassen obligatorisch machte.

Aber auch für den Fall, daß der Dienstbote einer Ortskranken- fasse angehört, ist besonders Vorsorge getroffen worden. Es3 ist be- sonders Vorsorge getroffen zunächst dur die Möglichkeit einer stärkeren und hâäufigeren Krankenhausbehandlung, als das bei den übrigen Versicherungspflichtigen der Fall ist. Wenn man ferner darüber Beschwerde führt, daß die Beiträge, die für die Dienstboten in den Ortskrankenkassen zu zahlen sind, in keinem Verbältnis zu dem guten Risiko stehen, das im allgemeinen die Dienstboten bieten, so fann id) wiederum nur darauf aufmerksam machen, daß man auch Mee der Lage gewesen wäre, diesem Umstande Nehnung zu tragen, insofern der § 384 der Reichsversiherungsordnung ausdrücklich sagt:

Die Sagzung kann die Höhe der Beiträge nah den Erwerkbs-

zweigen und Berufsarten der Versicherten abstufen.

Es bestand also da, wo man es für zweckmäßig hielt, die Dienstboten in den Ortsfkrankenkassen zu versichern, nicht das geringste Bedenken, für die Dienstboten eine besondere Gefahrenk!asse einzuführen, die den be- sonderen Verhältnissen der Dien \stboten, ihrer geringen Erkrankungsgefabr usw. Rechnung trug. Wenn das nicht geschehen ist, wenn von diesen verstän- digen Bestimmungen kein Gebrauch gemacht worden it, dann ist auch das wieder niht eine Schuld des Gesetzes, sondern es ist cine Schuld der- jenigen, die diese geseßliGen Bestimmungen durchzuführen hatten. (Zuruf des Abg. von Gamp. Massaunen : Auf die man keinen Einfluß hat!) Ja, Herr von Gamp, Sie haben darauf so wenig Einfluß wie ih; abcr das nennen wir in Deutschland „Selbstverwaltung“ und das gilt doch im allgemeinen als eine unserer größten und besten Errungenschaften, daß man die Beteiligten in ten Gemeinden, und wo es sonst ist, ihre Angelegenheiten selbs und ohne einen unmittel- baren Einfluß der Regierung durchführen läßt. (Sehr richtig! links.)

Me'ne Herren, jedenfalls bin ih der Ansicht, daß alle die Mängel

die hier montert worden find, soweit sie überhaupt vermieden werden fonnten, hätten vermieden werden können auf Grund des Gesetzes, so wie es jegt ist, und ih vermag nicht recht abzusehen, durch welche Aenderung des Geseßzes etwa eine Besserung der bestehenden Verhältnlsse eintreten lönnte, die nicht die Beteiligten selbst jeßt hon eintreten zu lassen in der Lage sind; denn die einzige Möglich- feit wäre doch nur die, daß wir das Geseß dahin ändern, daß die Dienstboten in Zukunft in den Ortskrankenkassen niht versicheet werden dürfen, sondern daß man sie grundsäglih auf die Landkranken- lassen verweist. Meine Herren, die sozialpolitischen Bedenken, die da- gegen bestehen, das Unsoziale, was in einer derartigen Einrichtung legt (schr richtig! links), die die bestehenden Verhältnisse niht ver- bessert, sondern vershlechtert, habe ih \chon erörtert. Es würde das nd viel s{werer in die Erscheinung treten, wenn wir jeßt nachträg- lih versuchen wollten, ein zur Durchführung reifes Geseyz rückwärts l revidieren. (Sehr richtig! links und im Zentrum.) __ Also, meine Herren, ih erkenne ohne weiteres an, daß die Dur(h- führung des Gesetzes mancherlei Mängel aufweist, ih erkenne ohne weiteres in, daß sie mi etwas enttäusht hat. J hatte mir au die Durch- führung der Dienstbotenversicherung anders gedacht. (Hört, hört ! rechts.) Aber, meine Herren, das liegt niht am Gesetz, sondern das liegt an der Durchführung des Gesetzes. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß die Beteiligten, nachdem ste: diesen Sturm haben über \ich er- chen lassen, si überlegen werden, ob sie nicht noch heute in der Lage sind, das zu bessern, was bei der Durchführung verbessert werden kann. per

Meine Herren, ich vermag ¡ldenfalls keinen durds{lagenden Grund dafür einzusehen, eine Aenderung der Reichsversiherungs- ordnung für die Dienstbotenkrankenversiherung eintreten zu lassen. Damit fällt natürlich auch jede zwingende Veranlassung, den Zeit- punkt des Jnkrafttretens der entsprehenden Bestimmungen über die Kiank nversicherung hinauszuschieben.

s teine Herren, nun hat der Herr Graf von Westarp außerdem fi en Schwierigkeiten gesprochen, die der Durchführung dieser Be- Uumungen insbesondere auf dem platten Lande bet neu einzurihtenden

Krankenkassen entstehen werden oder die enlstehen können dur die wie dec Herr Graf meinte zunächst bestehende Un- möglihkeit, mit den Aerzten zu einem angemessenen Abkommen zu gelangen, eine angemessene Versorgung der Kranken dur die Aerzte herbeizuführen. Meine Herren, ih verkenne feinen Augen- blick, daß hierin Schwierigkeiten liegen, und daß diese Schwierigkeiten sich in denjenigen Landesteilen, in denen die Versicherung neu durh- geführt werden soll, stärker bemerkbar machen werden als in den- jenigen Teilen Deutschlands, in denen die Krankenversiherung auch der Dienstboten und der in der Landwirtschaft beschäftigten . Personen bereits besteht. Aber, meine Herren, ih habe nit den Eindruck, daß wir die Verhältnisse hier bessern würden, wenn wir jeßt die Durchs führung der Bestimmungen suspendierten; denn zu einer Aenderung der geseßlihen Bestimmungen würden wir nach meiner Auffasjung in allernähster Zeit dech nicht kommen können, und einen Ausgleich zwischen Aerzten und Kassen würden wir dadur, daß wir die Frist verlängern, nit beshleunigen, sondern wahrschcinlih verzögern. (Sehr richtig! links und im Zentrum.)

Meine Herren, im übrigen bitte ih Sie, es mir zu erlassen, auf die Frage der ärztlichen Versorgung der Kassen heute näher cinzu- gehen, und zwar aus folgenden Gründen. Wir sind uns beim Erlaß der Versicherungsordnung, bei den Beratungen hier im Hause nah [langen Erörterungen und mantherlet Versuchen, zu einer ander- weiten Lösung zu kommen, darüber einig gewesen, daß man die Nege- lung der Beziehungen zwish:n Aerzten und Kassen der freien Ver- einbarung der beiden Beteiligten überlassen solle. Wir waren uns ferner darüber einig, daß cs nicht einmal zweckmäßig sein würde, Be- stimmungen über \chiedsgerihtlihe Ginrihtungen zu treffen, die im Falle einer nicht eintretenden Vereinbarung im Falle von Stretlig- keiten die erforderlihen Entsheidungen bezw. Berordnungen siczer- stellen follten, sondern wir haben angenommen, daß solche Schiedsgerichte fich auch bilden können ohne eine geseßliche Vorschrift, sobald nur die beiten streitenden Parteten dar- über einig find, daß sie sch an ein Schied?geriht wenden und den Entscheidungen dieses Schicdegerihts unterwerfen wollen. Daran etwas zu ändern, sind wir im Laufe der nächsten 3 oder 4 Monate nicht in der Lage, sondern wir müssen nun auf dem einmal beschrittenen Wege weitergehen und abwarten, wie ih die Streitig- keiten zwischen den Aerzten und den Krankenkassen {lichten werden. Ich habe au die Hoffnung nicht aufgegeben, daß es noch rechtzeitig zu einer Einigung kommt. Jh würde aber nicht glauben, daß wir eine derartige Einigung fördern, wenn wir beute materiell in diese Frage einträten. Wir würden damit nur die Streitpunkte ver- chärfen. Wir würden hier im Hause, auch selbst wenn das nicht beabsichtigt ist, eine Parteinahme für die eine. oder andere Partei herbeiführen, und damit würden wir Oel ins Heuer gießen, statt die Wogen zu glätten. (Sehr richtig ! links.) Also ih bitte auch Sie, über die Aerztefrage heute so wenig wie möglih zu sprehen. Ich werde Ihnen bei der Beratung meines Etats nah Neujahr Rede und Antwort stehen und kann im übrigen nur wiederholen, daß ih, so \{chmerzlich mir die Schwierig- keiten sind, die sich nah Lage der Verhältnisse sowohl für die Ver- sichcrung der Dienstboten, als für die Durhführung der Versicherung der Landarbeiter in den Landkrankenkassen durch die gespannten Be- ziehungen zwishen Aerzten und Kassen augenblicklich ergeben, mich do nit bereit exflären kann, das Inkrafttreten dieser Bestimmungen hinauszuschieben oder gar eine Aenderung des Gesetzes in Aussicht zu nehmen. (Lebhafter Beifall im Zentrum und links.)

Auf Antrag des Grafen Westarp findet eine Besprechung der Interpellation statt.

__ Abg. Giebel (Soz.): Wenn sich die konservative Partei mit sozialen Dingen beschäftigt, dann tut sie es nur, um der Entwidtlung Steine in den Weg zu werfen. Wir haben ja auch eine ganze Neibe unangenehmer (Srfahrungen machen müssen. Das beweisen ja unsere vielen Initiativanträge. Aber wenn es zu einer Revision kommen jollte, dann müßten noch ganz andere Fragen in den Bereich gezogen verden, so die Herabseßung der Altersgrenze und die Sicherstellung der Selbstverwaltung gegenüber Eingriffen der Behörde. Wir können aber troßdem nicht der Ansicht beipflichten, daß die Reichstagsmehrheit durch Verabschiedung der Netchsversicherungöordnung \{lechte Arbeit ge- macht hat. Die Nechte hat ja selbst 1912 in der Wahlbewegung dieses Geseß als eine Glanzleistung bezeichnet. Die Hinausschiebung des JZnkrafttretens soll im Juteresse aller Beteiligfken liegen. Aber gerade die jeßt von der Versicherung erfaßten Kreise befinden si in einer besonders hilfsbedürftigen Lage. Der Großgrundbesiß wünscht die Hin- aus|chiebung nur im eigenen Interesse, und da gibt diesem die Oppo- sttion einiger. Damen einen willkommenen Anlaß für eine derartige Znterpellation. Von einer Aufsciebung des einmal besclossenen Termins des Inkrafttretens des Gesetzes durch einen Akt des Bundes- rats kann überhaupt nicht mehr die Rede sein. Es handelt sich hier um ein öffentlich feststehendes Geseß, und dieses Geseß kann nux wie- derum dur ein Geseß unter Beobachtung des verfassungsre{tlichen Weges auch nur zeitweise außer Kraft geseßt werden. Dem Inter- pellanten stimme 1ch darin bei, daß dic Frage der Aerzteversorgung außerordentlih shrvierig geworden ift. Aber diese s{wierige Lage, die augenblicklih besteht, würde nicht beseitigt werden durch ein Hingus- \chieben des Termins für das Inkrafttreten des Geseßes, Daß die Landkrankenkassen imstande sind, die Aerztefrage zu lösen, wie es den Ur- hebern dieser Institution vorge|chwebt hat, kann wobl beute nit mebr für richtig gelten. Die Aerzteversorgung der ländlichen Arbeiter dur die Herren Gutsbesißer ist außerst mangelhaft. Wie \{leckcht es dami bestellt ist, beweisen die verschiedenen Artikel in dem Verbandsorgan der Hausangestellten Deutschlands. Man entrüstet si jeßt über das Maß der Leistungen, das den Dienstboten gewährt werden soll. Aber diese Entrüstung, die in Zeitungsartikeln von Hausfrauen: zum Aus druck kommt, scheint mir do sehr von interessierten Kreisen auszu- gehen. Namentlich die in Berlin erzeugte Entrüstung scheint mir den Ausgangspunkt zu haben in dem Berliner Abonnementsverein. Man sagt, die Entrüstung der Hausfrauen gegen die Dienstbotenversicherung gehe soweit, daß viele Hausfrauen bei Einführung dieser Versicherung thre Dienstboten entlassen wollen. Ich glaube aber, darauf können es die Dienstboten ruhig ankommen lassen. So s{limm wird es {on nicht werden. Um so mehr bestand die Verpflichtung, bier durch reichs- geseßliche Vorschriften einzugreifen. Die Dienstboten füblen si nicht sowohl als Mitglieder der Hausgemeinschaft denn als abbängige, auf Lohnarbeit angewiesene Personen, die denn auch keineswegs in der VHausgemeinschaft immer wohblgeborgen sind. Daß Dienstherrschaften die Versorgung des Dienstboten auch dann übernommen hätten, wo er über 6 Wochen krank war, ist immer eine sebr seltene Erscheinung ge- wesen; meistens stehen die kranken Dienstbot:n nah diesen 6 Wochen hilflos auf der Straße. Sehr viele von den Damen, die sich jeßt über die große Ausgabe für die Dienstbotenkrankenversiherung entrüsten, geben für Puß und ähnlihe Scnurrpfeifereien das Vielfache aus. Eine Entlastung der kleineren Haushalte ist auf anderem Wege schr wohl mögli, nämlich durch eine Aenderung der bisherigen Zoll- und Steuer- politik, die für eine fünfköpfige Familie allein den jährlichen Lebens- unterhalt um 300 verteuert; dann werden wir aber die Herren Interpellanten, wenn es sih um eine entsprechende Gestaltung unseres zolltarifs und unserer Handelsverträge handelt, nicht an unserer Seite

sehen. Auch der Einwand, daß die Klassen- und Interessenkämpfe durch

diese Versicherung in die Familien bhineingetragen werden, erscheint un- berechtigt, denn vielfa hat man in den Städten die Dienstboten nicht nur nit von der Teilnahme an der Wahl zu den Ortskrankenkässen= vorständen abgehalten, sondern sie direft dazu veranlaßt und ihnen sogar bezeichnet, für welche Listen sie stimmen sollten. Uns ist jedenfalls ganz unmöglich, an Bestrebungen, wie fie bei den Konservativen zutage ge- treten find, uns zu beteiligen. Die Landarbeiter und die Dienstboten haben fast 30 Jahre lang auf diese Berücksichtigung warten müssen, sie find jahrzehntelang s{lechter gestellt gewesen als die übrige Arbeiter- schaft. Wir werden dafür forgen, daß sie dieses sozialen Fortschrittes nicht wieder beraubt werden.

Abg. Beer - Arnsberg (Zentr.): Die Ausführungen meines Vorredners werden, hoffe ih, die Ueberzeugung geben, daß Ihre (nah rets) Interpellation doch gewissermaßen verfehit ist. Der Vorredner hat si etwas darüber aufgeregt, daß die Dienstboten bei den Wahlen ¿u den Organen der Krankenkasse nit sozialdemokratisch acwählt haben ; und Menschenkinder, die derartig vernünftig sind, die muß man zweifel= los der Krankenversicherung untecstellen. Lassen Sie ruhig die Dienst- boten in den Krankenkassen, im besonderen au in den Ortskranken=- kassen. Sie können zum guten Teile mitwirken, daß bei den Wablen au die nit sozialdemokcatischen Elemente in jenen Städten, wo bis jeßt die Sozialdemokraten geherrscht haben, in genügendem Maße zur Geltung Tommen. Die Interpellation \pricht von den ärztlichen S{hwierigkeiten, denen besonders die K. ankenkassen unteiworfen sind, weil die Aerzte nit geneigt sind, j-t unter Bedingungen mit den Krankenkassen ab- zuïchli-ßen, die diese für zweckmáßig halten. Jh glaube, daß die Landkrankenkassen weniger Schwierigkeiten bekommen werden wte die in den Städten, daß aber die Versicherten selbst auf dem Lande mehr zu leiden haben werden als die Versicherten in den Städten. . Det Versicherte bekommt dann zwei Drittel des Krankengeldes unh muß \sih selbst die nöttge ärztliche Hilfe verschaffen, was in der Stadt jedenfalls viel leihter ist, Die Hinausschiebung des Infrafttretens der Neicbsversicherungsordnung könnte nur durch ein Netchsgeses geschehen. Jh glaube nicht, daß in diesem hohen Haufe jemand geneigt fein wird, die Reichs= regierung aufzufordern, einen folhen Gesetzentwurf vorzulegen. Daß besondere Schwierigkeiten vo-liegen, fann ih nicht finden, darin stimme ih den Ausführungen des Staatssekcetärs zu. Es ist draußen im Lande eine erregte Stimmung in weiten Kreisea der Hausfrauen gegen die Einführung der Krankenversicherung für die Vienstboten |chlech!hin vorhanden. Wenn man die Stimmen der Presse mit in Nücksicht zicht, besonders auch einen großen Teil der liberalen Presse, so müßte die Aufregung in den Kretsen der Hausfrauen derart stark! fein, daß manchem Ehemann oangst und bange werden könnte. Aber ih glaube, wenn die Hausfrauen in genügender Weise über die Dienstbotenversiherung aufgeklärt werden, wozu die Ausführungen des Staatssekretärs beitrazen können, dann wird sih die Erregung legen. Denn die neuea Vorschriften * {ließen ja die Haftpflicht der Vienstherrshaft aus. Diese Haft- pfliht kann unter Umständen fehr weitgehend sein; sie kann für die Herrschaften eine sehr unangenehme Verpflihtung gegenüber den Dienstboten werden. Doß diejenigen, die für keinen Dienst- boten zu sorgen brauchen, weil sie nit das Unglück gehabt haben, daß ein Dienstbote in ibrem Dierste einen Unfall gehabt hat mit folgenderx langwieriger Krankheit, die Bestimmurg?n hart finden, ist begreiflich. Es ist hier gerade wie bei der Feuervbersicherung. Wem noch niemals das Haus abgebrannt ist, der empfindet die Beiträge für die Feuer- versicherung auch unangenehm. Es wird ferner darauf hingewiesen, daß die Dienstbotenprämien in keinem Verhältnis zum Risiko ständen. Der Staatssekretär hat jedoch hon darauf hingewiesen, daß die Neichs- versiherung8ordnung Spielraum genug gibt, um die Beiträge zur Versicherung mit dem Risiko in Einklang zu bringen. Man brauchte auch in Berlin die Beiträge nicht so hoh anzusezen. Nun sagt man in den Protestversammlungen der Damen, die Dienstboten würden durch das Abonnement bei den Krankenhäusern genügend ge\chüßt. Jch bezweifle aber do, daß diese Borforge bisher cine genügende gewesen ist. Ich habe jahrelang einer Bolkerechtsauskunftsstelle vorgestanden und dort in einer ganzen Reihe von Fällen erlebt, daß es in Deutsch- land Herrschaften genug gibt, die den Dienstboten nicht einmal das gewähren, was jeder Mensch gewähren müßte, wenn er nur ein bißhen Mitleid hat. Man macht. ja das Strafgeseßbuch auch nicht für die guten Elementé, sondern für die Gesetesverletzer. Die Neichóv rsiherung2ordnung ist auch nit geschaffen worden zur Strafe für die guten Dienstherrshaften, sondern zur Strafe sür die, die ihre Dienstboten nicht genügend versorgt haben. Ich will nicht empfehlen, daß die Herrschaften zu sehr von dem § 84 der Neichs- versiherungsordnung Gebrauch machen, der ihnen das Recht gibt, den Befretungsantrag zu stellen. Das kann unter Umständen den Herr- schaften jehr gefährlich werden. Es ist {on darauf hingewiesen worden, daß în einer ganzen Anzahl von Bundesstaaten die Dienjit- botenversiherung bisher bestand, und daß kraft ortsstatutaris{er Bestimmungen auch die Krankenversiherung für landwirtschaftliche Arbeiter vielfach besteht. Da möchte ih darauf hinweisen, daß sehr viele Dienstboten, die nebenher auch im gewerblichen Leben tätig sind, wie beim Bäker, beim Schankwirt, die meisten bei den Kleingewerbe- treibenden dort {on der Versicherung unterliegen. Bei den Land- wirten trifft das zum großen Teil au zu. Es bleibt nur ein fehr Tleiner Teil der Bevölkerung noch übrig, dem die Bezablung der Beiträge für die Diensiboten wirklich \{chwer wird. Es ist also meines Erachtens s{chon aus dem einfahen Grunde, daß man ein Gefeß, das vor 27 Jahren erlassen ist und in drei Wochen in Kraft treten joll, niht jeßt außer Kraft setzen kann, nicht angängig, decn Zeits- punkt für die Inkraftsezung hinauszuschieben.

Hierauf wird Vertagung beantragt.

Ab. Se y.da (Pole) zur Geshäftsordnung: Würde dieser Antrag ang?:nommen, so würde der Bericht der Wablprüfongékommission nicht mehr zur Verhandl1:1g kommen. Ich würde das jehr bedauern, denn der Gegenstand ist seit Monaten spruchreif und würde aller Vor- ausficht nah keine lange Verhandlung notwendig machen. Troßzdent will ich mit Nücksicht auf die Geschäftslage des Hau]es der Ver:agung nicht widersprehen, \prehe aber die Erwartung aus, da dieser Gegenstand als erster Punkt auf die Tagesordnung vom Dienstag oder Mittwod nächster Woche gesetzt wird. Ih erwarte von der Lovalität der Parteren dieses Hauses, daß sie diese unsere Bitte unter- 1tügen.

_Aba. Dr. Arendt (Np.): Ih möthte meinerseits den Wunsch aussprechen, daß die beute vértagte Diskussion noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt werde. Ih möchte die Interpellation befür- worten. Die Angelegenheit, die die polnische Fraktion besprochen wissen möchte, ist keine so besonders dringende.

Abg. Graf Westarp (dkons.): Ih möchte mih dem Wunsche des Abg. Dr. Arendt anschließen. In bezug auf den Wunsch der polnischen Fraktion meine ih, wir müssen doch endlich in die Etats» beratung eintreten.

Abg. Erzberger (Zentr.): Ih bin dasür, daß wir den Wahl“ prüfungsberiht am Vittwoh als ersten Gegenstand erledigen. Die dringendste Aufgabe des Reichstages ist, dafür zu sorgen, daß das Haus ordnungsmäßig besetzt ist.

Abg. Molkenbuhr (Soz.) {ließt s|ch dem Wunsch des Abg. Erzberger an. i

Da von der linken Seite Zweifel an der Beschlußfähigkeit des Hauses erhoben werden, stellt der Präsident ohne weiteres fest, daß das Haus nicht beschlußfähig ist, und beraumt die nächste Sizung an auf Dienstag, den 9. Dezember, 2 Uhr pünktlih mit der Tagesordnung: Kurze Anfragen und Etat.

Schluß nah 3 Uhr.