1896 / 29 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 01 Feb 1896 18:00:01 GMT) scan diff

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a fundheitsamt herausgegebene Gesundheitsbüchlein in größeren

engen auch im Lande verbreitet und zu diesem Zweck weniger weit-

läufig und billiger hergestellt werden möchte. Ja jeder Familie sollte

es vorhanden fein. Jn Amerika, in England find ähnliche Bücher in ungeheueren Massen verbreitet, ; S

Direktor des Kaiserlichen Gesundheitsamts Dr. Köhler ist für diese Anregung sehr dankbar. Eigentlich sei aber die große Ausgabe {hon so zusammengedrängt, daß man sie kaum noch weiter zusammen- drängen könne, und auch der Preis sei {on sehr gering und dürfte den Meisten ershwingbar sein; er betrage bei 20 Exemplaren 80 3. Redner wolle gern erwägen, ob eine kleinere und billigere Ausgabe eten möglich sei oder ob es sich mehr empfehle, Einzelausgaben herzustellen, wie sie über die Cholera M rauogegenen worden seten und über die Tuberkulose herausgegeben werden follten.

Abg. Wurm (Soz.): Wir siud auch mit dem Buch sehr zu- frieden, wünschen aber nur, daß es billiger, niht daß es an Umfang geringer herau8aegeben würde; eventuell brauhte man niht so gutes Papier. Wünschenswerther aber wäre, daß die in dem Buch aufgestellten Grundsäße auch überall unsere sonstige Geseßgebung durchdrängen. Das Büchlein schreibt das Minimum an Luftraum für menschlihe Wohnungen, an Nahrung füc den Menschen u. f. w. genau vor; möchte dech auch die Reihs-Finanzverwaltung dafür forgen, daß die arbeitende Bevölkerung Löhne erhält, welche ihr ermöglichen, diesen Vorschriften nachzukommen. Herr Rettich : hat eine Schauer- eshihte von den Bakterien im Getreide erzählt. Noch viel schauer- Liber ist es um die deutsche Butter bestellt. In einem Gramm deut- scher Butter sind 40 Millionen Bakterien gefunden worden, in einem Gramm Margarine nur 2—3 Millionen. Vamit wird also nichts be- wiesen. Viel besser wäre es, das Bäckereigesei dränge endlich durch, dann würde uns mit diesen Bakterien niht mehr bange gemacht werden können. Redner bedauert, daß das Faiferlihe Gesundheitsamt lediglich eine berathende und begutahtende Behörde sei; seine Fraktion holte die Forderung aufrecht, daß diese Behörde zu einer exekutiven um- gestaltet werden müsse. Der Partikulariömus der Einzelstaaten habe einfa zurückzutreten. Er bezeichnet ferncr ein Gesetz, betreffend die Feststellung der Vorkenntnisse der zur Kontrole der ReichsgesePe auf dem Nahrungêmittelgebiete berufenen Beamten als eine dringende Nothwendigkeit. Die Beamten der politischen Polizei seien do dazu absolut nicht geeignet. Wolle man die Geseße durhführen, so müsse man besondere selbstständige Gesundheitsbeamte haben. Die russi|ckchen Roßhaare und Schweineborsten würden erst am Orte des Verbrauchs nur mangelhaft detinfizirt und gäben zur Verbreitung von Seuchen Veranlassung; Vorschriften, welhe die Ansteckungsgefahr beseitigten, bevor das Produkt in die Hände der Arbeiter komme, seien ebenfalls dringend erforderli. i j | i

Direktor des Kaiserlihen Gesundheitsamts Dr. Köhler: Von Neichéwegen ist auf dem Gebiet der Ueberwachung der Nahrungs- mittelgeseze doch schon recht viel geschehen. Jeder praktische Arzt muß heute dargethan haben, daß er sich ausreihende Kenntnisse in der Hygiene angeeignet hat. Ferner bestehen einheitlihe Vorschriften über die Vorbildung und Prüfung der Nahrzngsmittel-Cemiker in allen Bundesstaaten. In Zukunft werden also die berufenen Be- hörden und Beamten über ein außsreihendes Maß von tehuischeu Kenntnissen verfügen. Der Mißstand wegen der importierten Roß- haare und Sc{weineborsten ist uns lange bekannt, und unfere Be- mühungen in dieser Beziehung reihen bis 1884 zurück. Die vor- geschlagenen Anordnungen scheiterten an der Behauptung, daß das Material durh die Desinfektionen minderwerthig werde, Neuerdings ift wieder Material über die Frage eingefordert worden, und neue Erwägungen werden angestellt werden. Daß eine Desinfektion an der Grenze durchzuführen gelingen werde, ist fehr unwahrscheinlih.

Vbg. Rettich (dkons.): Daß sich der Abg. Rickert des ausländischen Getreides liebevoll annehmen würde, war scelbstverständlih. Die Thatsache aber, daß diese eingeführten Getreidesorten sehr stark bakterienhaltig sind, hat er nicht aus der Welt {hafen können. Viele Autoritäten auf dem bakteriologishen Gebiet behaupten, daß die beim Baden entwickelte Hiße zur Vertilgung der Bakteriea nit ausreiche. Die Frage bedarf aljo in der Wissenschaft doch nochy der völligen Klärung, bevor man über die Satte urtheilt.

Abg. Förster - Neustettin fragt, ob das Seuchengeseß wieder zur Vorlage kommen werde.

Staatssekretär des Jnnern, Staats-Minister Dr. von Boetticher:

Das Seuchengeseß, dessen Durhberathung sih in der vorletzten Session zu meinem Bedauern nicht ermöglichen ließ, wird in dieser Seffion nicht vorgelegt werden, weil die Sihung fo belastet ist, daß man nicht darauf rechnen kann, daß ein so \{chwerwiegendes Gesetz noh zu verabschieden sein wird. Jrzwischen ist aber der Gedanke für das Reich, ein Seuchengeseß zu erlassen, niht aufgegeben.

Das Kapitel wird bewilligt.

Beim Kapitel „Patentamt“ wünscht

Abg. Dr. Hammacher, daß eine Stellenvermehrung eintrete, behufs scnellerer mtetuna der Termine sür die Entscheidung der Patent- fstreitigkeiten. Ferner fragt er, ob eine Denkschrift über das Waaren- zeichengeseß zu erwarten sei.

Staatssekretär des Jnnern, Staats-Minister Dr. von Boetticher:

Die Hoffnung, die der Herr Vorredner hegt, wird sich erfüllen. Wenn die Denkschrift dem Reichstag bisher noch nit zugegangen ift, so liegt das daran, daß sie bei mir auch noch nicht eingegangen ift, und das hat seinen Grund darin, daß ein Wechsel des Präsidiums im Patentamt eingetreten is, wodurch die Sache si verzögert hat. Ih hôre aber, daß das Reichsamt des Innern in einigen Tagen die Denkschrift erhalten wird, und dann wird es auch nicht lange dauern, bis dem Reicd,stag die Sache vorgelcgt wer- den wird.

Was die organisfatorishe Aenderung anbetrifft, von der der Herr Vorredner gesprochen hat, fo sind mir biéher Klagen üter Berzôge- rung in der Anseßzung der Termine nicht zugegangen. Ih würde bereit sein, sofern das Bedürfniß sich berauéstellt, eine Stellenvermehrung eintreten zu lassen oder eine organisatorishe Veränderung vorzunehmen. Aber der Herr Vorredner wird es au natürlich finden, daß ih über diese Frage zunächst den Präsidenten des Patentamts höre; denn ih würde jedenfalls ohne eine folche Jnformation, wie er sie mir geben kann, außer ftande fein, mi meritorisch über die Sache zu äußern.

Das Kapitel wird genehmigt. Beim Kapitel „Reichs - Versicherungsamt“ fordert s

Abg. Molkenbuhr (Soz.) die Vorlegung einer Reform des Unfallversicherungsgeseßes, die hon seit \ünf Jahren versprochen sei und immer in fkurzem vorgelegt werden folle, aber bis heute noch - nicht erschienen sei. Redner geht dann auf die Ergebnisse der Berussgenossenshaften cin und bemängelt es, daß die Verleßten nicht immer die volle Rente erhielten, die ihnen zustehe. Die Norddeutsche Holzberufsgenossen\chaft entziehe die Rente zum theil den Personen, welhe eine Heilanstalt früher verlassen haben, als es die Aerzte gestatten. Von der Anstalt in Neurahnsdorf werde selten jemand freiwillig entlassen; und wer gegen den Willen der Berufsgenossenschaft gehe, dem werde die Rente getürzt. Redncr bemängelt ferner, daß die Arbeiterkolonnen, welche das Löschen und Laden von Schiffen besorgten, vom Reichs- Versicerungéamt nicht mehr als Arbeiter, sondern als selbständige Unternehmer betrachtet würden, also im Falle der Verunglückun keine Rente erhielten. Der Abg. Gawp, fährt Redner fort, hat \i darüber beschwert, daß das Reichs- Versicherungéamt ten landwirth- s{aftlichen Berufsgenossenschaften Unfallverhütungsverschristen auf- zwingen will. Da hätte toh die Landwirthschaft selbst etwas thun müssen; aber es sind bei 12 Millionen versicherter Perfonen im

ahre 1892 ganze 4 M, 1893 33 M und 1894 56,20 4 ausgegeben ep trndeew die Zahl der Unfälle bei der Landwirthschaft sich stetig vermehrt. Die Unfälle sind nit zumeist auf Trunkenheit zurüdck- zuführen, denn es find unter den 32000 Verunglückten nicht weniger als §000 Frauen und Kinder. Da sind die Unfallverhütungsvorschriften

dringend nothwendig. : :

Abg. Stadthagen (Soz.) beschwert si ebenfalls über die Behandlung Verunglückter in den Heilanstalten. Nur in einem Falle habe das E GN En Gern ams zu Gunsten eines Arbeiters entschieden, der nicht in der Anstalt bleiben wollte, wo die Arbeiter faft wie im Zuchthaus behandelt würden. Das Schieds- gericht der Berufögenossenschaft, fährt er fort, hatte dem Arbeiter die Rente gekürzt, weil er die Anstalt verlassen hatte. Aus Neu- rahnsdorf sind Leute entsprungen; sie wollen lieber auf jeden Nenten- anspruch verzichten als die Quälerei aushalten. Es hat den Anschein, als ob es da noh viel schlimmer is als in dem Brauweiler Arbeitshaus. Die Arbeiter wünschen, daß diese Mißstände beseitigt werden, denn es is so weit getommen, daß die Ar- beiter, die Gläubiger der Berufsgenofsenschaft, jeßt in der Macht ihrer Schuldner sind. Durh die Rechtsprechung wird das kleine Wenig, welches den Arbeitern zugewiesen ist, fortwährend verkleinert und geschmälert. Ih bedauere, daß der Präsident des Reichs - Versicberungsamts, zu dem die Arbeiter volles Vertrauen haben, diesem Uebelstand nicht abhelfen kann. Gr hat sich mit vollem Herzen bemüht, für die Arbeiter thätig zu sein im Gegensaß zu einem banausischen Beamtenthum; aber die Berufsgenossenschaften drängen das Reichs - Versicherungsamt auf die alten Wege, sodaß don sogar gedruckte Formulare für die Abweisung von Ansprüchen benutzt werden; die juristishen Formalien machen fich {hon wieder recht breit. Die Verhältnisse sind stärker als der gute Wille des Präsidenten des Amts. Wir wünschen die Vorlegung der Novelle, um denjenigen Männern, welche seine Gesinnung theilen, in ihren Bestrebungen zu helfen. Wer Schaden anrichtet, muß für den vollen Erfaß tes Schadens sorgen. Das geschieht durch die Unfallversicherung nicht; selbst da, wo der Unternehmer fahrlässig und straffällig gehan- delt hat, ist der Arbeiter nur auf die gescßlihe Rente angewiesen und hat kein Recht auf vollen Schadenersay. Das Neichsamt des Innern würde sh den Dank weiter Kreise verdienen, wenn es cine Novelle zur Unfallversicherung vorlegen würde; wenn sie au noch so s{chlecht ist, wir haben die Gelegenheit, fie zu verbessern. Die Unfallberufs- genossenschaften maßen sih Rechte an, welche sie niht haben. Einige Berufégenossenschaften verlangen bei der Einreichung der Berufung die Beifügung des Bescheids der Genossenschaft und nehmen dadur dem Arbeiter tas einzige Altenstück, über welches er verfügt, aus der Hand. Man zwingt uns, die einzelnen Fälle zu erörtern, während wir doeh besser die Zeit zur Berathung der Novelle vermenden könnten. Ich bitte alfo den Herrn Staatssekretär, die Novelle s{hleunigst vorzulegen. Wenn ich die Politik der Besheit, der ih sonst fern stehe, empfehlen wollte, könnte ih nur rathen: Legen Sie die Novelle nicht vor, denn die Unzufriedenheit wächft dadurch stetig.

Staatssekretär des Jnnern, Staats-Minister Dr. von Boetticher:

Meíne Herren! Bei fo später Stunde nur ein Wort, und ih kann mich um fo mehr auf ein \solhes beschränken, als ja der wesentliche Jnhalt der Vorträge der Herren Vorredner sich mit Entscheidungen und Beschlüssen des Reicht-Versicherung8amts befaßte, die nah dem Gefe, da das Neich3 - Versicherungsamt s\ouverän ist, einer Anfechtung kaum unterzogen werden können. Ich habe nur auf die gegen mich crhobene Klage zu antworten, daß eine Novelle zum Unfall- versiherungégescß dem Reichstage noch nicht vorgelegt ist. Jh meine, ih hâtte mih neulich {on deutlich genug darüber ausgesprochen, woran dies liegt, und der Herr Vorredner, der ja sogar die Novelle voa 1894 in der Hand gehabt, sollte doch wissen, daß es niht meine Schuld ift, wenn diese Novelle noch nit weiter gediehen ift als bis an den Bundesrath. Jch habe ausgeführt, daß der Anstand einfa darin liegt, daß man die Jdee einer fundamentalen Umgestaltung unserer gesammten Arbeiterversicherung in die Diskussion geworfen hat, und Sie werden mir zugeben, daß, wenn eine solhe Frage einmal auf- geworfen wird, es zweckmäßig ift, sie zum Austrag zu bringen, bevor (Zuruf bei den Sozialdemokraten) gewiß, man kann ein so umfassendes Geseh, wie es die Novelle zur Unfallversiherungs- geseßgebung darstellt, kaum in einem Moment magen, in welchem man vor die Frage gestellt wird, ob niht eine totale Umge- staltung des Versicherungswesens vorzunehmen sein möchte. So liegt die Sache, und ich bin es jedenfalls niht, der den weiteren Fortgang der Novelle verhindert; im Gegentheil, ich werde mich um so mehr freuen, je früher sie verabschiedet wird, zumal auch ih der Meinung bin, daß unsere Unfallgesezgebung der Korrektur bedarf. Uebrigens wird es immer Leute geben, die mit den richter- lichen Entscheidungen der leßten Instanz nicht einverstanden sind, so- daß wir auch in Zakunft damit werden rechnen müssen, daß wir von den Herren Sozialdemokraten auch nah der Verabschiedung der Novelle Klagen über die verfehlte Anwendung der Gesetze vernehmen.

Abg. Freiherr von Stumm (Rp.): Ob die Novelle eist dann vorgelegt werden soll, wenn die Frage der Reorganisation entschieden fein wird, ist auch mir zweifelhaft. Jch glaube, man könnte auch jeyt mit einer Novelle zur Beseitigung von Üebelständen vorgehen, das halte i für einen durchführbaren Versuh. Eine Novelle im Sinne des Herrn Stadthagen wird doch niht Besserung shaffen; nach ihm ist fie eigentlih überflüssig. Er bewegt sich in Widersprücken: er tadelt die Recbisprehuna des Reichs-Versicherungsamts und lobt danebcn den Herrn Präsidenten desfelben, er beklagt aber, daß die Berufsgenossenschaften ihn beeinflufsen. Was haben diese für einen Einfluß auf das Reich?-Versicherungéamt ? Die Kürzung der Rente, weil der Atbeiter niht in einer Anstalt hat aushalten wollen, ist ¿u Gunften des Arbeiters entshieden; dazu brauGßt man alfo keine Novelle. Die Errichtung von Heilanftalten und Er- holungsanstalten halte ih für sehr rihtig; der Reichstag wird sich uicht dagegen erklären, daß die Arbeiter gezwungen werden müssen, in folche Anstalten zu gehen, um die Heilung zu vollziehen, damit diese niht durch den Leichtsinn der Arbeiter verhindert wird. Getadelt wird die Rechtsprechung in Bezug auf Bruchshäden ; es bandelt sich dabei aber wehr um eine Krankheit, niht um einen eigentlichen Betriebéunfall, sonst müßte man ja jedem Arbeiter, der niht mehr a:beiten fann, obne daß ein Unfall vorliegt, eine Rente geben.

Abg. Dr. Hitze (Zentr.): Die Frage der systematischen Zusammen- legung aller Arbeiterverficherungen muß allerdings zuerst entschieden werden. Aber ich glaube kaum, daß das Reichsamt des Innern sich dazu entschließen wird. Da sollte man dann die Novelle zur Unfall- versicherung ebenso {nell vorlegen wie die Revision der Invaliden- versicherung. Die Berufsgenofsenschaften müssen zur Heilung des Verleyten das Recht haben, die Verunglückten in Heilanstalten unter- zubringen. Dieses Recht wird auch manchmal mißbraucht, aber die Schuld liegt nicht immer bei den Berufsgenossenschaften, jondern manchmal an den Aerzten. Es sollte den Arbeitern das Necht ge- geben werden, gegen solhe Entscheidung der Berufsgenossenschaften Beschwerde einzulegen. Ich möchte dagegen den Wunsch aus- A vou einer Ausdehnung der Unfallversicherung vorläufig

usehen.

Abg Singe r (Soz.) : DerStaatssekretär von Boetticher könnte ih den Angriffen entziehen, die er als gegen sich persönlich gerichtet be- trachtet, wenn er dafür sorgen würde, daß der Präsident des Reichs- Verficherungsamts als Kommissar der verbündeten Regierungen hier anwefend wäre, was hier hon mehrfach verlangt worden is. Unsere Anklagen wegen der Novelle zur Unfallversicherung richten si nicht

gegen den Staatsfekretär , sondern gegen das Verhalten des Bundes-

raths. So gut man auf anderen Gebieten Nothgeseße mat, so gut könnte man auch hier durch ein Nothgeseß die dringendsten Uebel- stände beseitigen. Demgegenüber follte man nit immer mit der Ant- wort kommen: Wir erwägen die Dinge. Auch ich halte, wie der Vorredner, die Novelle zur Unfallversiherung für dringend nothwendig. Darin stimme ih nicht mit ihm überein, daß die Ausdehnung der ÜUnfallversicherung zurückgestellt werden foll. Wenn der Wille vor- handen gewesen wäre, wäre auch der Weg gefunden worden. Daß Freiherr von Stumm und seine Gesinnungsgenossen den Klagen, die meine Freunde vorgebraht haben, fein williges Ohr leihen, ift felbstverständlih, aber die Arbeiter werden unseren Ausführungen durchaus zustimmen. Gegen Heilanstalten hat sich der Abg. Stadthagen nicht erklärt; er hat \sih nur dagegen erklärt, daß der Verunglückte mit sich machen lassen müsse, was die Berufs- genossenshaft will. Die Vertrauensärzte der Berufsgenossenschaften sind zu sehr von den leßteren abhängig, als daß sie die Interessen der Arbeiter wahrnehmen follten. Die Arbeiter sollten daher ihre Vertrauensärzte befragen können.

Abg. Freiherr von Stumm (Rp.): Herr Stadthagen bat ih gegen die zwangsweise Unterbringung der Arbeiter in Heilanstalten ausgesprohen. Da'*giebt es nur Ein Mittel: lassen Sie die Arbeiter mit zahlen, dann haben Sie auch Arbeitervertreter nah dem Muster der Knappschaftskassen. Die Vertrauensärzte werden in dubio immer auf die Seite der Arbeiter treten und niht auf die Seite der Berufsgenofsenschaften.

Abg. Stadthagen (Soz.): Was ih bekämpft habe, war, daß die Arbeiter gezwungen werden, sich anderen Aerzten als ihren Vertrauensärzten anzuvertrauen und Heilanstalten, die in der Macht der Berufêgenossenscaften stehen, aufzusuchen. Nur in Einem Fall ist Remedur eingetreten.

Abg. von Kardorff (Np.): Wie kann man annehmen, daß die Vertrauensärzte abhängig von den Berufsgenossenschaften seien? Die geringe Besoldung, die sie von ihnen erhalten, fällt doh nit sehr ins Gewicht gegen ibre sonstige Praxis. Man kann also annehmen, daß sie unpartetish ihr Urtheil abgeben nah bestem Wissen und Ge- wissen. Als Landrath habe ih auch darin einige Erfahrung.

Die Ausgaben werden bewilligt.

Beim Kapitel „Kanalamt“ dankt

__ Abg. Dr. Lingens (Zentr.) für die Seelsorge, die für die Ar- beiter am Kanal eingerihtet war, und empfiehlt, die Seelsorge für die ständigen Arbeiter und für die Schiffsmannschaft , welche den Kanal passiert, einzurihten. Für die evangelische Kirche in Holtenau sei von Sr. Majestät {on ein Beitrag gestiftet worden. Viel- leiht wäre cs zweckmäßig, für eine fkatholishe. Kirhe dem Bischof von Osnabrück in Brunsbüttel oder Holtenau ein Grund- stück zur Verfügung zu stellen. Í

Staatssekretär des Jnnern, Staats - Minister D1. von Boetticher:

Es freut mich, daß ter Herr Verredner die Bemühungen der Kanalverwaltung um die Seelsorge anerkannt hat; daß aber ihr Interesse nun, nachdem der Bau fertig gestellt ist, soweit gehen kann, daß aus den Mitteln oder aus den Ländereien, die das Kanalamt zu verwalten hat, zum Bau von Kirchen etwas hergegeben wird, das möchte ih nicht so ohne weiteres annehmen. Es i} allerdings ri&tig mein Ressort ist dabei zwar nicht betheiligt gewesen —, daß Seine Majestät der Kaiser für den Bau einer Kirhe in Holtenau eine Zu- wendung, foviel ih weiß, aus dem Allerhöchsten Dispositiontfends bei der Preußischen General-Staatskafse bewilligt hat. Jch balte cine folche Zuwendung, auch wenn ein ähnliches katholis{es Unternehmen sih hervorthun sollte, niht für ausgeschlossen ; aber ih glaube kaum, daß wir dem Wunsche des Herrn Vorredners würden Rechnung tragen können, daß der Grund und Beden zum Bau einer Kirche von seiten der Kanalverwaltung abgegeben wird. Jch übersehe auch nit, ob wir dazu das erforderliche Terrain zu unserer Verfügung haben.

Abg. Jebsen (nl.): Die deutshen Rheder haben niemals daran gedacht, ihre Schiffe niht dur den Kanal fahren zu lassen, um damit eine Pression auf den Reichstag zu üben, wie cs Herr von Boetticher neulih angedeutet hat. Der Grund liegt allein darin, daß der Tarif zu bo ift, nur die Fahrt von Hamburg hat einen Vortheil von dem Tarif; 50 bis 60 °/@ aller Schiffe geben deshalb von Hamburg durch den Kanal. Aber die gewöhnlichen Nord- Dstseeschiffe können ihn nicht benußen. (Redner sucht dies zahlenmäßig zu beweisen.) Die Ersparung von einem Tage für die bis höchstens nah Dover fahrenden Schiffe für die weiterfahrenden is die Er- sparung noch viel kleiner wiegt für diese die Lasten nicht auf, welche ihnen die Kanalpassage auferlegt. Zu den Tarifen kommen noch die Lootsen- und Klarierungekosten, z. B. für cin Schiff von 600 Tons 400 4, während die Ersparniß höchstens 300 „6 beträgt. Der Tarif muß herabgeseßt werden, sonst wird ter Kanal nicht benutzt; also empfiehlt sich Ermäßigung auch im Interesse der Reichs8- finanzen.

Staatssckretär des Jnnern, Staats - Minister Dr. von Boetticher:

Meine Herren! Die Frage des Tarifs des Nord-Ostsee-Kanals wird uns noch einmal ex officio beschäftigen, wenn entweder der bestehende vorläufige Tarif zur Genehmigung des Reichstags vorgelegt wird, oder wenn in Abänderung der Vorschrift des Kanalgeseßes noch auf einen weiteren Zeitraum für den Bundesrath die Befugniß in Anspruch genommen werden soll, die Tarifsäße auch in Zukunft zu bestimmen. Ich glaube deshalb heute niht eingehender auf die Tariffrage mich einlassen zu sollen. Nur das will ich wiederholen, was ich neulich {on angedeutet babe, daß, als wir den provisorischen Tarif aufstellten, wir sorgfältige Untersuchungen darüber angestellt haben, wie sich der Vortheil für die Schiffe, die den Kanal künftig benußen, gegenüber den Kosten, die ibnen von - der Umfahrt um Skagen erwachsen, stellt. Jch habe allerdings aus der Erfahrung heraus, die wir seit ter Eröffnung des Kanals gemacht haben, den Eindruck, als ob wir doch vielleiht etwas zu hoh gegangen wären (hört, hört !), und ih halte cs nit für ausgeschlossen, daß bei weiteren Erfahrungen eine Herabsetzung des Tarifs vorgeshlagen werden wird. Es wird nicht mchr sebr lange dauern, bis der Reichstag mit der Frage beschäftigt werden wird, und ih möchte deshalb beute nicht weiter auf die Sache eingehen. Im übrigen möchte ih mich nur gegen die Annahme verwahren, als ob ich meinerseits den Rhedern hâtte einen Vorwurf darüber machen wollen, daß fie den Karal in der Hoffnung, daß tann der Tarif herabgeseßt werden wird, meiden ; das habe ih nit gethan, und ich kann hinzufügen, daß ih es dem Rheder und ein Rheder is auch ein auf Gewinn arbeitender Mann nicht verdenke, wenn er seine Schiffe niht dur den Kanal fahren läßt, nahdem er zu der Ueberzeugung gekommen ift, daß, wenn er zunächst noch eine Zeit lang den Verkehrsvortheil, der ihm geboten wird, meidet, ec eine größere Aussicht hat, später diesen Verkeh s- vortheil zu einem billigeren Saße genießen zu können.

(Schluß in tex Zweiten Beilage.)

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: Zweite Beilage zum Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischen Staats-Anzeiger.

Berlin, Sonnabend, den 1. Februar

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Das Kapitel wird bewilligt, desgleichen die ersten Titel des Extraordinariums. ei der Ausgabe für Aus\chmückung des Reichstags- gebäudes hat die Kommission folgende Resolution vorgeschlagen : „als Grundsaß auszusprehen, daß vom Etatsjahr 1897/98 ab Fonds, welche die Ausshmückung des Reichstagsgebäudes betreffen, in dem Etat für den Reichstag und nicht, wie bisher, im Etat des Reichsamts des Jnnern zur Einstellung gelangen.“ Die Resolution wird angenommen, ebenso ohne Debatte die übrigen einmaligen Ausgaben und shließlich auch die Einnahmen. Schluß nah 53/4 Uhr. Nächste Sn Sonnabend 1 Uhr. U g zur Konvention über den internationalen rachtenverkehr und Fortseßung der Etatsberathung.)

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 9. Sißung vom 31. Januar 1896.

Ueber den Beginn der Sißung isst gestern berichtet worden.

Die erste und des Gesezentwurfs, be- treffend das Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen, wird fortgeseßt.

Abg. Freiherr von Heereman (Zentr.): Meine Fraktion gönnt den Lehrern von Herzen eine Verbesserung ihrer Stellung. Ih gehe dabei vielleiht noch weiter als manche von den Lehrern felbst; denn ih vindiziere ihnen eine sehr hohe Stellung und stelle sie nit auf die Siufe eines gewöhnlichen Staatsbeamten; sie haben einen hohen und heiligen Beruf. Sie follen die Stelle der Eltern vertreten und die Kinder erziehen als brave Menschen und Staatsbürger. Jch hoffe, daß die Kommission die prinzipiellen Bedenken abs{chwächen wird, welche gegen die Vorlage \prehen. Ich stehe vollständig auf dem Standpunkt des Herrn von Heydebrand. Ih sage mit ihm: wir können, wenn im Kultus-Ministeriuum der Wille vorhanden ist, ein utes Schulgeseß machen. Wir können ein auf christlicher Grundlage erubhendes Schulgeseß machen. Wenn wir es jeßt nicht machen, dann können wir es niemals machen. Wenn das nit geschieht, dann muß ih die Bedenken vortragen gegen die stüdckweise Negelung des Unterrihtswesens:; es geht dabei wie mit dem Bündel von Stäben. Me kann man sie niht zerbrehen, wohl aber einzeln. Die Besoldung und Pensionierung der Lehrer foll geregelt werden, aber wer stellt die Lehrer an? Wo bleiben die Nechte der Eltern und der Kirhen? Die Millionen, die hinter uns stehen, sind darin unserer Meinung. Sie können die Schule niht mehr schädigen, als wenn Sie dieselbe zu einer Abrichtungs- anstalt mahen. Nach der Verfassung steht den Gemeinden das Recht auf die Schule zu. Aber jeßt läßt man die Gemeinden nit einmal einen Wunsch aussprechen, wen sie als Lehrer haben möchten. Das ist eine falshe Richtung, die ih für nachtheilig halte. Der Staat hat nicht die Aufgabe, zu lehren; er hat dazu nicht den Beruf und die Möglichkeit, er muß andere Kräfte dazu heranziehen. Wenn die Verpflichtung der Eltern, die Kinder zu erziehen, auf die Schule übergeht, so folgt daraus, daß die Staatsaufsicht verpflichtet ist, auf die Wünsche der Eltern Rücksiht zu nehmen ; sonst ist der Schulzwang etwas Unerträglihes und die höchste Tyrannei. Das sind die leßten Konsequenzen der Staatsshule. Ohne sittlihen Neligions- unterricht. giebt es keine Erziehung. Alles, was bloß auf das Wissen geht, ist nur Abrichtung. Für die Erziehung muß die Kirche zu- gezogen werden. Das trifft auch für die evangelishe Kirche zu. Uber wenn man solche Forderungen aufstellt, dann glaubt man gleich, die Schule ‘wird von der Kirche unterdrückt. Die Kirhe will aber nur von ihrem RNecht Gebrauch mahen. Der Falk’s{We Schul- erlaß, der der Kirhe jedes Reht auf die Schule ab- spricht, wird auch jeßt noch vom Kultus - Ministerium aufrecht erhalten. Daher die Entrüstung der Katholiken gegen diese Schulbureaukratie. Wir sind dahin gekommen, daß der Staat ideale Güter auffrißt, die mehr werth find als der Staat selbs. Wir werden uns mit dem Kultus-Minister bei anderer Gelegenheit über diese Frage noch einmal gründlich unterhalten. Jh verstehe es nit, weshalb niht der Kultus-Minister die werbende Kraft der Kirche heranzieht, aber niht in einem Verhältniß der Unterordnung, sondern als gleihberechtigten Faktor. Wohin follen wir kommen, wenn die Jugend nicht religiös erzogen wird? Glauben Sie, daß durch die Polizei die Umsturzbestrebungen aufgehalten werden können? Nur durch christlichße Erziehung kann der Zins der Halt gegeben werden, daß sie sih fern halte von allen Umsturzideen. Wo foll das Gefühl für Necht, für Genügsamkeit, für Treue gegen den Staat und die Anerkennung der Gesetze bleiben, wenn wir nicht eine religiöse Erziehung haben? It es möglich, in einem christlichen Staat zu sagen, daß der MReligionsunterriht im Auftrag des Staates ertheilt wird? Das ist eine Verwirrung, die \sich in die Gemüther eingeshlichen hat. Unter diesen Verbältnissen kann ih der Kultusverwaltung eine Vorlage nicht geben, welche die Lehrer besoldet und pensioniert, aber über die Organisation der Schule nichts ent- hält. Jch bin gern bereit, den Lehrern und Gemeinden zu helfen ; wenn es geht, mit Umgehung dér prinzipiellen Bedenken eine Ver- ständigung über die Vorlage zu stande zu bringen, so will ih dazu bereit fein.

Minifter der geistlichen Angelegenheiten D. Dr. Bos \ e:

Meine Herren! Die {önen Worte und die Anerkennung für den hohen Beruf der Lehrer, die der Herr Abg. Freiherr von Heereman zum Eingang seiner Rede ausgesprochen hat, theile i von ganzem Herzen und unterschreibe in dieser Beziehung jedes Wort seiner Rede. Freilich ist das nur eix geringer Theil, in dem wir beide überein- stimmen ; ih muß gestehen, es is mir eine sehr {chmerzliche Erfahrung, die wir bei diesem Geseß machen müssen, daß der Herr Abg. Freiherr von Heereman es für nothwendig gehalten hat, \sich in einen so \hroffen Widerspruch zur gegenwärtigen Kultusverwaltung in Preußen zu stellen. (Zurufe im Zentrum.) Meine Herren, daß mir das \{chmerzlich ift, kann mir niemand verdenken; denn ih habe das Be- wußtsein, daß ih es niht gewesen bin, der irgend etwas gethan hat, um den Gegensaß zu verschärfen, der von manhen Seiten zwishen Kirche und Staat, zwischen katholisher Kirhe und Staat zu shüren gesuht wird; im Gegentheil, ih habe vom ersten Augenblick meiner Thätigkeit in meinem jeßigen Amt hier an dieser Stelle wiederholt ausgesprochen, daß es mein sehnlihster Wunsch ift, zwar prinzipielle Fragen denn Staat und Kirche können in gewissen prinzipiellen Fragen keine volle Ueberein-

Unterrichts- und Medizinal-

stimmung zur Zeit erzielen offen zu lassen, aber doch zu einem friedlihen und versöhnlihen modus vivendi von staatliher Seite die Hand zu bieten, damit auch von firhliher Seite fie ergriffen werde und damit wir im gemeinsamen öffentlichen Interesse das erreihhen, was wir erreihen müssen. Jch habe eine friedlihe und versöhnlihe Politik nah dieser Seite hin verfolgt ; und darauf erhalte ih jeßt die Antwort von feiten des Herrn Abg. Freiherrn von Heereman in dieser Weise!

Nun, meine Herren, ih will glei noch einige Punkte abmachen, um zu zeigen, daß, wie ih glaube, Herr von Heereman doch nicht von ganz zutreffenden Vorausfezungen ausgegangen ist.

Zunächst, meine Herren, was hat wohl der Falke Erlaß vom 18. Januar 1876 mit den Lehrerbesoldungen zu thun? (Sehr wahr! Zurufe.) Gewiß können Sie ihn als eine JIllustration ansehen des Verhältnifses von Staat zur Kirche.

Nun habe ich mich im vorigen Jahre über die Beziehung des Staats zur Kirche ausgesprohen. Der Erlaß stammt aus der Zeit des heißesten Kulturkampfes. Die katholische Kirche und das Zentrum finden in der Ausdrucksweife des Erlasses gewisse Schärfen, die sie verlegen. Materiéll steht die Sache keineswegs so, wie Herr Freiherr von Heereman annimmt, daß dieser Erlaß die kirhlichen Organe von der Schule aus\{lösse, sondern er erkennt ausdrücklich an, daß die Leitung des Religionsunterrihts den Geistlichen zusteht. Ausdrüklich, und gerade das wird darin urgiert. Nun würde i ja sehr gern bereit sein, wenn ih irgend etwas Materielles daran ändern könnte, wenn ih irgend etwas fände, was mit der Verfassung nicht inEinklang steht, die Sache in eine mildere Form zu bringen, wenn die Rechte des Staats dadurch nicht verleßt werden.

Aber, meine Herren, bloß andere Worte zu machen und in der Sache dasselbe zu sagen (Hört! hört! im Zentrum), das, muß ich allerdings sagen, ist doch nicht die Sache des Staats. Jh habe den kirhlihen Organen gegenüber ausgesproßen Sie wissen das auch —, daß wir diesen Erlaß zwar aufrecht erhalten, daß wir ihn aber mit Milde anwenden. Im vorigen Jahre konnten Sie fich darüber beklagen, daß die Herren Bischöfe noch keine Antwort er- halten hatten. Auch darin lag keine Feindseligkeit und noch weniger eine Mißachtung; im Gegentheil, ich war von dem Gedanken aus- gegangen, daß die Nichtbeantwortung damals der freundlihste Weg wäre, und ein freundliherer Weg als eine Ablehnung. (Heiterkeit rechts und links. Unruhe im Zentrum.) Nun, meine Herren, ih habe die Antwort jetzt ertheilt, die Bischöfe haben sich an mi gewandt, und ih habe sie auf diesen Erlaß hingewiesen und habe ihnen gesagt, ih bâte sie, mir nur die Mißstände, die sie im einzelnen fänden, mitzu- theilen; ih sei bereit, sie abzustellen und ich kann Sie versichern, es ist au noh nit eine einzige Beshwerde nah dieser Richtung eingegangen! (Hört! hört! rechts und links.) Ich habe wirklich das Bewußtsein, in dieser Beziehung gethan zu haben, was ich konnte.

Nun, mag auch das gleich hier abgemacht werden, ob- wohl ih nit in die Tiefe der Angriffe eingehen will. Jh will auch hier den Gegensaß nit verschärfen, sondern möchte versöhnen. Aber das kann ih nicht ruhig hingehen lassen, wenn Herr Freiherr von Heereman sagt: die Staatsschule ist eine Abrichtungsanstalt ! (Hört! hört!) Nun, meine Herren, erstens haben wir keine Staats- schule, foudern unsere Schule ist Gemeindeshule in erster Linie! Der Staat hat die Aufficht über die Schule, und die wird und kann er sich nicht nehmen lassen! (Sehr richtig! rechts und links.) Meine Herren, wir nehmen in sehr weitem Umfang die Hilfe der Kirche und der kirhlichen Organe in Anspruch, und wir sind dankbar dafür. Jh stimme ganz mit Herrn Freiherrn von Heereman darin überein: wir können die Kirhe und die Organe der Kirche in der Schule nicht völlig entbehren, wir bedürfen ihrer beim Religionsunterriht; wir haben jeßt garnicht die staatlichen Organe, die das alles machen können. Und wie liegt die Sache, meine Herren ? Ueberall, mit Ausnahme der Provinz Posen und der doppelsprahlihen Distrikte, haben wir fast nur geistliche Lokal-Schulinspektionen und weitüberwiegend geistliche Kreis-Schulinspektionen. (Widerspruh im Zentrum, Bewegung links.) Ja, meine Herren, wenn die Organe der Kirche, die mit vollem Recht darin stehen, das nicht hindern können, daß diese sogenannte Staats- \hule „Abrihtungsanfstalt“ wird, woran liegt denn das? Wir haben das Vertrauen zu ihnen gehabt und haben es noch, und ziehen fie zur Aufficht heran und dann diese Klage, wir wollten die Schule zur Abrichtungsanstalt machen! Nein, meine Herren, wer mich kennt, der weiß, daß ich ein Gegner jeder Drefsur und Ab- rihtung bin.

Meine Herren, wenn Sie fragen: wo bleiben die Nehte der Ge- meinden ? so mache ich darauf aufmerksam: wir haben den besten Willen und den dringenden Wuns, den Gemeinden das Recht der Mitwirkung an der Beseßung der Lehrerstellen zu geben. In der ganzen Monarchie haben wir sie, nur in Westfalen nicht überall. Ih weiß nicht, ob Herr von Heereman das weiß, daß ich in Unterhandlung über diese Frage in Bezug auf den westfälishen Distrikt stehe. Ih hoffe auch dort zu einem für die Mitwirkung der Gemeinden günstigen Ergebniß zu kommen. Die Schwierigkeit ist dort durh die Patronate entstanden. Wenn wir für die Besetzung der Stellen dur den Staat die Gemeinden hören wollen, dann müssen ‘wir sie auch dann hören, wenn die Patronate die Stellen beseßen. Das hat aber immer Schwierigkeiten gemacht, weil die Patronate sagen: das ift ein Ein- griff in unser Recht. (Widerspruh im Zentrum.) Ja, meine Herren, das ist ein Einwand, den ih erwägen muß; ih kann heute noch nicht sagen, zu welcher Entscheidung wir kommen, und ob sih doch nicht noch ein Weg wird finden lassen; aber es is mein dringender Wuns, nicht die Rechte der Gemeinde an der Schule zu kürzen, sondern zu stärken. Darauf will ich hinaus; ih will niht auf die nackte Staats- {ule hinaus, das habe ih nie gewollt, habe auch niemals Anlaß gegeben, das zu glauben.

Nun, meine Herren, die Schärfe, mit der Herr von Heereman ih heute hier gegen die Unterrihtsverwaltung ausgesprochen hat, \@eint mir ein ret charakteristisches Beispiel dafür zu“ sein, wie un- geeignet unsere Zeit ist, um die großen Fragen, die bei einem Schul-

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geseß zur Sprache kommen müssen, hier in friedliher und ver\söhnlicher Weise zu erörtern. (Sehr wahr!) :

Meine Herren, gerade das hat mich überzeugt, daß ich Recht hatte, als ih gestern auf die Bedenken, die ich nah dieser Richtung habe, aufmerksam mate. Meine Herren, ich bin kein Feind des Schulgesezes, bin es nie gewesen; ich würde mich mit Herrn von Tzschoppe freuen, wenn wir ein gutes und zwar auf christlicher Grundlage beruhendes Schulgeseß hätten. Ich bin auch bereit, dazu mitzuwirken, wenn die Bedenken zurütreten, die mich bis jeßt abge- halten haben und haben abhalten müssen, hier mit einem umfassenden Schulgeseßentwurf vor Sie zu treten. Ih bin ja nah dieser Seite gar kein Gegner der Forderung, die hier aufgestellt wird. Aber die erwähnten Bedenken habe ih für jeßt allerdings und sie seinen mir heute nicht nur nicht widerlegt, sondern sie {einen mir recht eigentli illustriert zu sein (sehr richtig! links) nah der Richtung hin, daß» es zur Zeit s{chwerlih richtig wäre, sih in diese großen Kämpfe einzulassen. Wäre das wirklich unserem Lande nüßlich und wer würde s{chließlich zur Seite stehen, darüber lahen und sich die Hände reiben? Die Sozialdemokraten. (Sehr gut! Widerspruch.)

Ich hoffe, wenn wir zunächst dieses Bedürfniß befriedigen, über dessen Dringlichkeit ja gar kein Zweifel sein kann, daß wir dann bei gegenseitigem guten Willen auch auf dem Gebiete der Schule im Wege der Verwaltung zu einer immer weitergehenden Verständigung, zu einer versöhnlichen Haltung untereinander und zu einem Respekt vor- einander kommen werden, der es uns ermögliht, demnächst au ein Schulgeseß zu stande zu bringen und über die wichtigsten Fragen unseres Volks hier in die Diskussion einzutreten; dann, meine Herren, werden wir weiter kommen und damit werden wir weiter kommen, als mit diesen leidenschaftlihen, konfessionellen Kämpfen. Meine Herren, ich will noch auf die Frage eingehen, die auch hier angeregt worden ist: ob es überhaupt nah der Verfassung zu- lässig ist, ein folhes Einzelgeseß zu machen. J weiß, daß früher der verewigtee Abg. Dr. Windthorst dieses verfassungs- mäßige Bedenken, welches gegen ein Einzelgeseß spriht, sehr {arf betonte; er stand aber doch anders als die Herren heute. Er ver- langte wirklich ein allgemeines Unterrichtsgeseß, das niht bloß das Volksshulwesen regulierte, fondern alles, was überhaupt in das Unter- rihtswesen hineingehört, also Gymnasien, Realgymnasien, Universitäten, Technische Hochschulen, Fahschulen und Kleinkinderbewahranstalten, alles von oben bis nah unten. Ja, man kann, wenn man buh- stäblih die Verfassung auslegen will, den Art. 26 in der That so verstehen. Er is aber nach meiner Ueberzeugung fo nicht zu verstehen. Nach den Materialien und der Geschichte der Entftehung der Verfassung, glaube ih, hat man den Schwerpunkt niht darauf gelegt, daß das gesammte Unterrichtswesen dur ein Gesetz geregelt werden soll, sondern darauf, daß es geseßlih geregelt werde. Auf diesem Boden stehe ich au heute, und daraufhin habe ih diese Vorlage gemacht, und ih glaube, daß sie zu vertreten ift. Ich nehme auh an, daß das hohe Haus \{ließlich diesen Boden acceptieren wird, wie es ja eine ganze Reihe von Einzelgesetzen, die das Unterrichtswesen betreffen, bereits acceptiert hat. - Also ih glaube, daß wir uns auf diesem Boden viel eher werden verständigen können.

Ich will auch ganz und gar zugeben, daß es Aufgabe der Schule ist, auh die Rechte der Eltern zu respektieren. Da, wo die Gemeinde die Schule in der Hand hat, wird die Gemeindevertretung in der Hauptsache au in der Lage fein, die Rechte der Eltern der Schule gegenüber wahrzunehmen. Im übrigen ist es Sache der Lehrer, auf die Wünsche der Eltern Rücksicht zu nehmen. Daß wir die Wünsche der Eltern niht unbesehens überall erfüllen können, versteht fich von selbst. Wenn ‘ih die Einwendungen des Freiherrn von Heereman recht verstanden habe, so beziehen fie \sich auf Wünsche der Eltern betreffs der Schulwege und der Schulzeit. (Zurufe aus dem Zentrum.) Aber da können wir niht nach den Wünschen einzelner Eltern in jedem Fall gehen, sondern da müssen gewisse Regeln und Prinzipien- gelten; denn sonst kommen wir zu einer unregelmäßigen Behandlung in den verschiedenen Gemeinden.

Noch eins will ih hinzufügen: Mit Herrn von Heydebrand bin ih vollkommen einverstanden, es ist mein dringliher Wunsh ih glaube, auch Herr Knörcke erwähnte das —, daß die Verhandlungen über die Grundsäße, nah denen die Vertheilung der Staatsbeibilfen aus den Dispositionsfonds und die Bemessung der Leistungsfähigkeit der Gemeinden erfolgen soll, fo bald als möglich zum Abschluß kommen. Wir haben im vorigen Jahre sofort nah S{hluß der Landtagsver- handlungen kommiffarische Berathungen über diese Frage angeknüpft, wir sind damit noch nicht ganz zu Ende, sie sind außerordentlich schwierig; wenn man nach der einen oder anderen Seite etwas Neues macht, zeigen sich immer wieder neue Bedenken. Aber wir hoffen, zu einem gedeihlihen Ende zu kommen, Jhnen demnächst das Ergebniß vorlegen zu können.

Nun ist das Einzige, worauf ih vielleicht noch zu antworten hâtte, der vielbesprohene § 7, wonach dem Lehrer ein rechtlicher Anspruch auf die Gewährung der Alterszulage nicht zufteht. Ih bemerke im voraus: das bedeutet natürliG nit, daß, wenn ein Lehëêr eine Alterszulage einmal bekommen hat, wenn ihm die Benachrichtigung zugegangen ist: von dem und dem Datum ist dein Gehalt auf fo und soviel erhöht, dann noch irgend ein Einwand gemacht werden kann. Dann hat er ein klagbares Recht auf die Alterszulage wie auf sein ganzes Gehalt ; das versteht sih von selbst. Anders is au diese Bestimmung niemals verstanden. Es bedeutct nur, daß, wenn ein Lebrer an die Reihe kommt für eine neue Alterszulage, wenn er in eine neue Dienstaltersstufe einrücken soll, ihm dann, wenn er sich dienstlih shuldbar vernachlässigt hat, diese Zulage unter Umständen foll vorenthalten werden können. Meine Herren, wenn man das nicht thun wollte, wenn man nicht irgend eine Form dafür findet, so würde man die trägen, nahlässigen Kräfte unter den Lehrern geradezu prämiieren, denn sie bekämen natürlich Gehaltserhöhungen ohne weiteres, wenn sie sich auch noch so schlecht halb der Schuleführten. Das iftder Grund gewesen, weéhalb man!

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