1896 / 39 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 13 Feb 1896 18:00:01 GMT) scan diff

Gefahren für die Sittlichkeit und könnte vielleicht dahin in Aussicht genommen werden, daß Personen, gegen welche Thatsachen vorliegen, welche sie in sittliher Beziehung zur Annahme oder Beaufsichtigung oder zur Vermittlung der Beschäftigung von Arbeiterinnen ungeeignet erscheinen lassen, die Befugniß zu dieser Thätigkeit zu entziehen ‘ift. Es würde das im Ans{hluß an den § 106 der Gewerbeordnung ge- \chchen können. Die Ausdehnung der Vorschriften über die Arbeits- zeit auf die Werkstätten nah § 154 kann durch Kaiserliche Ver- ordnung \chon jeßt jederzeit in Angriff genommen werden, und in dieser Beziehung sind au bereits kommissarische Verhandlungen zwischen dem Reichsamt des Innern und dem Handels-Ministerium

eingeleitet. Meine Herrren, ich glaube für sämmtliche verbündeten Regie-

rungen versicherx zu können, daß sie bemüht sein werden, und zwar eifrig bemüht, an der Hebung der \chweren Mißstände, die auf diesem Gebiet vorliegen, mitzuwirken ; aber ih darf auch ihre Ueberzeugung aussprechen, daß die volle Beseitigung dieser Mißstände nur dann zu erhoffen ist, wenn au der Arbeitgeber ih der Pfliht bewußt wird, die er dem Arbeitnehmer gegenüber zu erfüllen hat. (Sehr richtig! auf allen Seiten.) Nur bei einer Mitwirkung aller derjenigen, welche Arbeiter in diesen Branchen beschäftigen, läßt sich die Her- stellung menshenwürdiger Zustände erhoffen. (Lebhafter Beifall.)

ages Antrag des Abg. Dr. Hiße (Zentr.) tritt das Haus in die Besprechung der Jnterpellation ein. :

Präsident Freiherr von Buol bemerkt, daß der inzwischen ver- theilte, vom L agg angekündigte Antrag als folcher niht mit ur Diskussion stehe. i i

/ Abg. Ne Hiße (Zentr.): Der Augenblick für die Interpellation ist, wenn auch vielleiht unbewußt, sehr glülih gewählt. Ich bin dankbar, weil die Interpellation die Erklärung des Staatssekretärs veranlaßt hat. Namentlih dankbar aber bin ih für die program- matishe Einleitung der Rede des Interpellanten; ih denke dabei an die Zeit, wo Herr Oechelhäuser unsere sozialpolitishen Bestrebungen unterstüßte. Es hat sich gezeigt, daß das Gefühl, als wenn der Eifer für Sozialpolitik im Erkalten ist, ein falshes war. Der Interpellant bemängelt die Langsamkeit, mit der man vor- geht und fährt fort: es könnte allerdings mehr ges{hehen, namentli au bezüglih der Ausdehnung der Fabrikinspektion. Es besteht wohl Einstimmigkeit, daß die Erhebungen sür diese Branche yor- genommen werden müssen. Jh habe das fon bei meinem Antrage erörtert, und auch Abg. Bebel hat das verlangt bei dem Etat für die Kommission für Arbeiterstatistik. Die Bestimmung der Gewerbe- ordnung, daß die Aufsicht sich nicht erstreckt auf Werkstätten, in denen nur die Familienangehörigen de E werden, müßte beseitigt werden. Es besteht in dieser Hausindustrie niht ein Arbeits- vertrag zwishen Mann und Frau oder den Eltern und den Kindern, sondern zwischen dem Arbeitgeber der Konfektionsindustrie und den zusammenarbeitenden Familienmitgliedern. Es müßte hier- bei die Fabrikaufsiht niht bloß den Beamten anvertraut werden, fondern für alle Industriezentren wie Berlin u. s. w. müßten Privat- personen herangezogen werden, es müßten fi für die Bezirke be- sondere Schußcomités bilden; es würde ein Arbeitsnachweis einzu- richtén sein, es müßte für entsprehende Wohnungen gesorgt werden. Es. giebt gewiß Damen genug, welche sih diesem gemeinnüßigen Dienst widmen werden. Die Hauptshwierigkeit liegt in dem Ueber- angebot der Kräfte, welches zu den niedrigen Löhnen geführt hat. Die Aufgabe wird darin liegen, vor Zuzug zu warnen und ihn zurüdckzuhalten. Personen, die in Berlin keine Beschäftigung finden Fönnen in der Konfektion, sollten in anderen Arbeiten, nament- li in der Haushaltung ausgebildet und im Gesindedienst untergebraht werden. Die vollständige Beseitigung der Haus-

industrie hat der Staatssekretär für unmöglich gehalten; das würde do wohl zu weit gehen. Daß au Frauen und Töchter der Beamten und der höheren Stände sih diesem Gewerbe als Neben- Frauen zuwenden, bedaure ih. Aber es giebt auh viele

rauen, die auf diese Arbeit angewiesen sind; diesen ann man die Hausarbeit nicht verbieten. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag is in England {hon üblich. Im Berggeseß ist auch ein \riftliher Vertrag vorgeschrieben. Die Arbeitgeber, welche sich Unsittlichkeiten gegen Arbeiterinnen zu Schulden kommen lassen, müssen unter dieselbe Strafe gestellt werden, wie der Vormund, der ch gegen sein Mündel vergeht. Bei den Untersuchungen, welche in usficht genommen sind, muß das Material möglichst vertieft und ergänzt werden durch mündliche Vernehmungen, welche immer neue Anregungen geben. Jh möchte hoffen, daß die Erwägungen bald zum Abschluß kommen. i : : Ab. Schall (dkons.): Wir sind erfreut, daß wir Gelegenheit haben, unsere warme Theilnahme zu bezeugen für die schlechte Lage der Arbeiterinnen in der Wäsche- und Konfektionsbranche. Daß die Interpellation zusammenfällt mit der Bewegung, die durch die Arbeiterinnen hindurchgeht, ist von Bedeutsamkeit. Die Arbeiterinnen werden daraus die Ueberzeugung gewinnen, daß hier die wärmste Theilnahme für die Sozialreform besteht; auch wir von der. kon- servativen Seite wollen alles thun, um zuzbesseren Zuständen zu ge- langen. Es sind gewisse Zweifel an unserer Liebe und unserem Eifer für die Sozialreform aufgetauht, das is aber durhaus un- berehtigt. Seit drei Jahren gehöre ih dem Hause an und habe bei den Konservativen immer die wärmste Theilnahme für diese Dinge efunden. Die Enquôête von 1887 hat Schlaglichter auf die Üebelstände fallen. lassen, namentlich auch auf die sittlichen Mißstände; wir fönnen nicht allein die Lohnverhältnisse dafür verantwortlih machen, aber die Hauptursahe bilden e do, daß die Arbeiterinnen den Versuhungen unter- iegen, die niht bloß außerhalb, sondern auch in den Werkstätten an sie herantreten. Soll doch der Inhaber einer bekannten Kon- fektionsfirma seinen Arbeiterinnen gesagt haben, fie seien jung und hübsch und könnten ja auf die Straße gehen. Der Strike ist aus- ebrohen in Berlin und hat sih ausgedehnt auf andere Städte. Der trike ist immer ein Kriegszustand; die armen Arbeiterinnen werden die Opfer der Agitatoren und Verführer sein, welhe sich in die Be- wegung einmishen und ihnen die paar ersparten Groschen abnehmen. Wir stehen auf dem Boden praktisher Sozialreform und freuen uns, daß die Regierungen in dieser musterhaften Weise vorgegangen sind, fodaß wir noch von keinem anderen Staat der zivilisierten Welt ühßer- troffen sind. Auf welhem Wege \ih eine Verbesserung herbeiführen lassen wird, das wird weiterer ÜUntersuhung bedürfen. Wir “Alle werden, soviel an uns ist, dafür sorgen, daß die l Wat: zu einem Ergebniß führt, welches sich zu geseßgeberishen Maßnahmen verdichtet. Aber damit wird nichr alles erreiht werden. Die Nothlage der Arbeiterinnen i} eine Folge der Geseßgebung der leßten dreißig Fahre, der unbeschränkten Gewerbefretheit, welhe die Schleuder- und Ramschbazare hervorgerufen hat. Denn wer läßt die billige Waare mahen? Die Bazare, die sh noch mit einem „goldenen“ Namen \{chmüdcken, obgleih sie die Ueberschrift haben müßten: Billig und \{chlecht. Wir müßten wieder zum Befähigungs- nahweis zurückkehren und Ordnung in das Schneidergewerbe hinein- bringen. Nicht bloß die staatlichen Fabrikinspektoren, vielleiht auch weibliche, sondern au Privatpersonen werden mithelfen müssen, damit eine wirkflihe Patronage stattfindet. Es müssen überall christliche und sittlihe Gruudsäße walten. Wenn im „Vorwärts“ stebt, daß die Sittlichkeit und Moral nicht auf religiösem Grunde beruht fo ift das eine Umkehrung der Weltordnung. Wir wollen das Leben auf- bauen auf dem Boden des Christenthums. Wir können schon gute Früchté aufweisen, die Sozialdemokraten niht. Einer der Herren von jener Seite ‘hat fih lustig gemacht und gesagt, ih hätte eine Nach- mittagspredigt gehalten, Das schadet Ihnen Aa Sie hören wohl ohnehin selten eine Predigt. Wenn es Ihnen in den Kram paßt, dann zitieren Sie auch einmal ein Bibelwort. Wenn ein evangelishéèr Geistlicher ein Bibelwoort gebraucht, dann gerathen

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Sie aus dem Häushen und dann heißt es im „Vorwärts“, man hâtte eine Kapuzinade des „Duellpfaffen“ Schall im Reichötag zu hôren bekommen. Auh das an anderèr Stelle gesprohene Wort „morituri te salutant“, das aus dem Zusammenhang geriffen wurde, wurde mißdeutet, obgleih es do nur bedeutet, daß diejenigen, die für Kaiser und Reich zu sterben bereit {ind, den Kaiser begrüßen. Ob es geschmackvoll war von dem Abg. Bueb, bei derselben Gelegenheit au mich und meine Rede zu Flora Gaß in Beziehung zu bringen, überlasse ih dem Urtheil des Hauses. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen den bid i Maurer anhängte, der mit der Genossin Friedrich; der Mutter von fünf kleinen Kindern, sih-aus dem Staube emacht hat, und der, als im „Vorwärts“ nach seiner Adresse ge- fragt wurde, sich darüber beshwerte, da er do die Genossin Fries nur von dem Ehejoh befreit habe, das zu tragen einer enossin unwürdig sei, und der die Genossen {ließlich Spießbürger nannte, weil sie sich darüber entrüsteten, daß er ozialdemokratishe Grund- säße in die Praxis überseßt habe. Wir freuen uns, daß wir aufs neue vor eine praktische Frage gestellt sind. Wir haben ein warmes Herz für die Nothleidenden. Wir wollen alles thun, was auf geseß- eberishem Wege geschehen kann, um diesen jurigen Mädchen zu einer esseren Zukunft zu verhelfen. : S :

Abg. Fischer (Soz.): Die sozialpolitishe Vergangenheit der Nationalliberalen is doch eigentlich kein Befähigungsnachweis für die Stellung einer solhen Interpellation. Wenn eîne folche Lohn- bewegung entsteht, dann fließt das Bürgerthum vor Rührung über, und es erscheint auch ein Kommissar der Regierung; es wird sogar eine Enquête veranstaltet. Aber [s bleibt alles beim Alten, höchstens kommt die Polizei und löst die ohnkommission als politi- \hen Verein auf. Um die Enquête in der Wäschefabrikation und Konfektion hat s{ch neun Jahre lang niemand gekümmert, troßdem die Verhältnisse doch bekannt genug sind; jeßt kommt man auf diese Dinge zurück. Alle Bestimmungen, welche jeßt ein Vorgehen hindern zu Gunsten der Arbeiter, sind gegen unsere Stimmen angenommen worden. Mir kommt es so vor, als ob der Fuchs Thränen vergießt über die sozialen Gefahren für die armen Gänse. Die Fabrikinspektoren führen an, daß die Konfektionsarbeiterinnen vielfa zur Prostitution

reifen müssen, um leben zu können, denn sie find nur 4—s5 Monate im Babe beschäftigt. Gegen diese Mißstände helfen die Redensarten von den warmen Herzen u. |. w. niht. Wir müssen dahin wirken durch die Gesetzgebung, daß die Arbeiter gestärkt werden in ihrem Koalitions- ret; aber die ganze Geseßgebung is nur darauf ausgegangen, die Arbeitgeber gegenüber den Arbeitern zu stärken. Es wird direkt be- hauptet, daß die Berliner Konfektion nur deéhalb fo stark konkurrieren fann, weil sie die billige Arbeit der Prostituierten benuße. Die Beamten, namentlich die unteren Gisenbahnbeamten, sind nicht genügend bezahlt, sodaß ihre Kinder und Frauen sih der Konfektion zuwenden. Der Staat sollte seine soziale Pflicht erfüllen und dafür sorgen, daß die Beamten ein moralish gutes Familienleben führen können. Als der Fall Heintze bekannt wurde, als die Heinze erklärt hatte, daß sie zur Dirne werden mußte, weil sie troß der größten Anstrengungen nur 4—5 4 wöentlih verdienen konnte, da kam man mit einem Geseß, welches für die armen Opfer der Verhältnisse Prügel und Lattenarrest brate. Auh Herr von Hammerstein ist ein Opfer der sozialen Verhältnisse geworden; sein Fall tien nicht

egen mich. Die Beaufsichtigung der Werkstätten und M line ist dringend nothwendig, aber auch auf dem platten Lande; die Pfarrer Wagner und Wittenberg haben ja festgestellt, wie tief die Sittlichkeit der Arbeiter auf dem Lande gesunken ist! Wenn die Interpellanten mit ihren Anträgen etwas erreichen wollen, dann müssen sie dafür sorgen, daß der Bundesrath ein Land- wehrtempo aufgiebt; er läßt ja alle Anregungen, die wir bei der Etatsberathung vorbringen, unberücksichtigt. Mit gutem Grunde ; denn gerade die Fraktion der Interpellanten war es, welche vor einigen Fahren rief : Nur etwas mehr Ruhe! Jch bedaure, daß Herr Möller nit mehr im Hause ist; er würde der berufene Vertreter der Inter- pellation gewesen sein. Das Märchen von der Harmonie der Arbeiter und Arbeitgeber in der Eisenindustrie ist auch wieder vorgetragen worden. Man braucht nur die Wahlproteste aus dem Kohlenrevier zu lesen, um die Wirklichkeit zu erkennen. In England werden die deutshen, in Deutschland die englishen Arbeiter als Muster ange- führt; immer sind die fremden Arbeiter die guten und die ein- heimishen Arbeiter die frehen und unbotmäßigen. Daß- in den sozialdemokratishen Druckereien u. #. w. Nachtarbeit, Akkord- arbeit u. #. w. vorkommt, ist richtig; aber innerhalb des Rahmens der bürgerlichen Gesellschaft is es nicht anders möglich. Deshalb wollen wir den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zerbrehen und in sozialem Geist umgestalten. Alle Anträge, welche Sie jeßt stellen, fönnen nit durhgeführt werden, wenn Sie niht den Arbeitern das freie Koalitionsrecht geben. Im Kanton Zürich, in dem Staat New- PeS sind Geseße gegen die Hausindustrie erlassen, die hier in

eutschland Entseßen hervorrufen würden. Die Hausindustrie-Werk- stätten sind die Brutstätten für ansteckende Krankheiten und über- ragen ih dur die gefertigten Kleidungsstücke auf andere Kreife, deshalb sollte die bürgerliche Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse einschreiten. Aber die wird nicht dagegen einschreiten, weil sie fih nah dem Wort des Fürsten Bismarck richtet, daß die Hauptsache sei, Millionäre zu zühten. Dazu ist die Konfektion besonders geeignet. Ein Unternehmerherz muß {ih ja freuen über den Aufschwung, den der Export genommen hat, lediglich infolge der shrankenlosen Ausbeutung der Arbeiterinnen, die so groß ist, daß alle Parteien dagegen auftreten ; nur diejenigen, welhe sonst alle bösen Dinge auf den Einfluß des Fudenthums zurückführen, verhalten \sih wie der steinerne Gast. Das liegt daran, daß die Zwischeameister keine Juden, fondern meist Christen, ja zu 909%/% ausgesprochene Antisemiten sind. Man sollte die vier Forderungen der Arbeiter erfüllen. Wenn wir uns qu! das einlassen, was Herr von Boetticher als Programm auf- gestellt hat, dann werden wir alt und grau, ehe ctwas geschieht. Dem Bundesrath sind doch die in der Enquête festgestellten Thatsachen auch schon seit 9 Jahren bekannt, und er hat nichts gethan, trogdem er zum Einschreiten aufgefordert wurde. Im vorigen Jahre haben die Konfektionsarbeiter nicht einmal eine Antwort erhalten. Freilich bei Liebesgaben für die Junker bekommen die Herren vom Bundes- rath flinkere Beine, als wenn es \sih um die armen Näherinnen und die {windsühtigen Schneider handelt. Diese haben ja auch feine Gelegenheit, bei Jagdpartien ihre fozialen Interessen zu ver- treten. Wenn die bürgerliche Gesellschaft dên Arbeitern nicht hilft, dann werden sie eben warten müssen, bis fie hier eine aus\s{hlag- gebende Rolle spielen. E

Abg. Rickert (fr. Vg.): Ih weiß nicht, warum der Vor- redner so zornig geworden ist; es handelt sih darum, daß etwas ge- schieht, was eigentlih im Interesse der Arbeiter liegt. Da sollte der Vorredner sich doch freuen. Die Uebelstände verkennen wir ebenso- wenig wie die Regierung; wir sind bereit zur Mitwirkung bei Gesetzen, welche den Uebelständen abhelfen. Ich hätte gewünscht, daß die De- batte nit so den Eindruck gemacht hätte, als ob die Verhältnisse all- gemein so s{lecht seien. Cin Vorstand eines Vereins, dessen Mit- glieder 20 000 Arbeiterinnen beschäftigen, behauptet, daß die Schil- derungen nicht überall zutreffend sind, namentli in Bezug auf die Höhe der Löhne. Wir haben doch keine Ursache, unsere Zustände chwärzer zu malen, als sie wirklih sind. Ich wünsche, daß endlich einmal der auch heute wieder angeregte Befähigungsnachweis ge- geben würde. Die Handwerker wären die ersten, welche seine Ab- \{affung fordern würden. Eine Vervollkommnung der tehnishen Ausbildung if dringend wünschenswerth, aber sie kann auch auf andere Weise erreiht werden. Qualitätsarbeiterinnen erhalten auch bessere Löhne; die Jammerlöhne erhalten die, welche nicht viel leisten fönnen. Der Vorredner hat auf das Werk des Pastors Wittenberg hingewiesen. Sollte auch nur ein Theil der Anklagen dieses Buches adt sein, so müßte eingeschritten werden. Ich wünsche, daß eine Enquête gemacht wird. Der Abg. Schall hat von seinem warmen

erzen gesprohen. Das kostet niht viel; aber es gilt, praktische

orshläge zu machen. Wenn der Antrag Heyl und Genossen be- rathèn wird, dann können wir die einzelnen Fragen besprehen. Bet dem nächsten Gegenstand der Tagesordnung haben Sie eine Gelegen-

heit, Ihr warmes Herz zu bethätigen, Herr Schall, da können :

Sie den Arbeiterinnen das Recht geben, ihre Intere} 2 in

zu vertreten. Ich möchte an den preußishen Hande L Ministerien Frage rihten. In Hessen is weibliche Fabrikinspektoren angestellt worden. Das ist von großer Bedeutung. Wäre es nicht mögli daß, der Handels-Minister sh diesem Vorgang und dem Beispiele des Auslandes anschließt und sich zur Anstellung weiblicher Fabrik, inspektoren bequemt ?

Minister für Handel und Gewerbe Freiherr von Berlepsh:

Die Interpellation richtete die Frage an die verbündeten Res» gierungen,

welche geseßgeberishen Maßnahmen dieselben zum Schuß für Ge-

sundheit und Sittlichkeit und gegen Ausbeutung dieser Arbeiterinnen

dur das Trucksystem zu ergreifen beabsichtigen. Die Begründung, welche bieser Interpellation zu theil geworden ift, und die Reden, die aus diesem Hause zu dieser Interpellation gehalten sind, haben weit über den Rahmen der hier gestellten Frage hinaus si bewegt, und ih darf wohl annehmen, daß der eigentliche Zweck der Inter- pellation darin gesucht und auch gefunden worden ist, daß ein Verdikt des Reichstags über die Situation der in den Konfektions- und Wäsche, geschäften Berlins beschäftigten Arbeiterinnen abgegeben und ein Appell an das Gewissen .derjenigen gerihtet werden sollte, die do, zum größten Theil wenigstens nicht durchaus, aber zum großen Theil —, in der Lage sind, diesen Zuständen Abhilfe zu verschaffen, Fh meine, auch von diesem Standpunkt aus kann die Regierung nur dankbar dafür sein, daß die Interpellation hier eingebraht worden ift,

Nun, meine Herren, liegt meiner Auffassung nah die Sache so, daß die Gesetzgebung auf diesem Gebiet allerdings noch manches thun kann; aber sie wird {chwerlich in der Lage sein, den tiefsten Gründen der Lage der genannten Arbeiterinnen beizuklommen. Wenn man das alles abstreift, was an wenigen wichtigen, an nebensäclihen, auch von politishen Momenten heute zu dieser Frage gesagt worden ist, so, glaube ih, wird man die Gründe, die für die Zustände, die wir be- sprechen, vorliegen, finden: erstens in einem überreihen Angebot weib- licher Arbeitskräfte, zweitens in dem System der Zwischenmeister und drittens in dem Umstande, daß es sih wesentlih um Hausarbeit und nit um Fabrikarbeit handelt. Nun kann man dur die Geseß- gebung, wie sie augenblicklich liegt, ja auch manches erreichen, aber wesentlich doch nur da, wo Fabrikarbeit stattfindet. Wir haben die, Bestimmungen des § 120 a und folgende, die bestimmte Vorschriften über die Einrichtungen geben, die die Unternehmer ver- pflichtet sind, in den Betrieben im Interesse der Gesundheit, des Lebens und der Sittlichkeit ihrer Arbeiter zu treffen. Diese Bestim- mungen können Anwendung finden, sobald es sich um vorhandene Betriebsstätten handelt. Es kann weiter, wie der Herr Staatssekretär von Boetticher bereits bemerkt hat und das soll demnächst gesehen der § 154 der Gewerbeordnung in Anwendung gebracht werden, der die Ausdehnung der Bestimmungen über die Arbeitszeit der jugendlichen Arbeiter und Frauen auf die Werkstätten vorsieht da müssen aber Werkstätten vorhanden sein! Hier aber, wo die Sache fo liegt, daß eine greße Zahl von weiblihen Arbeitern nicht in Werkstätten, sondern in der Hausindustrie beshäftigt sind, kann die Geseßgebung, wie sie augenblicklih liegt, diesen Uebelständen niht zu Hilfe kommen. Es wird sich also fragen, ob die Gesegebung noch weiter gehen kann, ob sie Vorschriften auf Einhaltung der Arbeitszeit bei der Hausarbeit treffen kann, und ob sie in der Lage ist, diese eventuelle geseßliche Bestimmung auch zu kontrolieren. Das sind. Fragen, die zunächst jedenfalls einer sehr gründlihen Untersuchung unterzogen werden müssen. Ich bedaure auc, daß diese Untersuhung nicht früher geschehen ist. Zu entshul- digen ist es nur dur den Umstand, daß die Kommission für Arbeiter- statistik bis jeßt mit sehr dringenden sonstigen Arbeiten fo beschäftigt war, daß sie dazu noch niht hat gelangen können, und die Behörden und Ministerien nicht in der Lage sind, mit ihren Arbeitskräften die Aufgaben zu bewältigen, die die Gewerbeordnung ibnen zu erledigen giebt. Es war das ja auch der Zweck, der mit der Begründung der Arbeiterstatistiks - Kommission erreiht werden sollte,- daß eine Stelle aus\{ließlich mit den Erhebungen beauftragt würde, die zu erledigen die Kräfte der Behörden niht ausreichen, für die sie vielleiht auch nicht immer die geeigneten Organe zur Seite haben.

Also, meine Herren, die Arbeiten der Kommission werden uns Auskunft darüber verschaffen, ob und in welher Form die Gefeß gebung auf die Hausindustrie übertragen werden kann; auch über di Frage der Betriebswerkstätten. Ich \tehe niht an, in diese Beziehung, meine Herren, doch einen wesentli} abweichenden Standpunkt von dem zu nehmen, den der sozialdemokratishe Herr Vorredner eingenommen hat, nah dessen Auffassung die Hausarbeit in diesen Branchen unbedingt untersagt und aus der Welt geschafft werden muß. Ich bin der Meinung, daß, wenn man -zu diesem Schritt überginge, man auf einer Seite nicht viel helfen, auf der andern Seite ganz außerordentlich viel schaden würde. Ich glaube nit, daß es richtig und zutreffend ist, daß man jeder Frau, die einige übrigenStunden hat, es untersagen \oll, Arbeiten zu machen, die einen Beitrag zum Lebens- ünterhalt ihrer Familie erbringen. Mir scheint das eine grundfäßlich unmögliche Forderung zu sein, die nebenbei wie ih überzeugt bin auch an den Thatsachen absolut scheitern wird.

Nun, meine Herren, möchte ih, da der Herr Abg. Rickert mich ganz besonders darauf hingewiesen hat, noch einige Worte über die Kontrolen sagen, die bei der uns beshäftigenden Frage recht wichtig sind: über die Frage der Inspektion durch s\taatlihe Organe. Man hat geglaubt, das Moment der Einführung weiblicher Fabrikinspektoren für den vorliegenden Fall für besonders wichtig halten zu sollen. Man kann hierüber verschiedener Meinung sein; daß aber, wenn wir weiblihe Inspektoren an Stelle der männlichen hätten, in derselben Zahl, mit denselben Funktionen, dann an den bestehenden Verhältnissen vermuthlich auch nicht eine Spur anders wäre, davon bin ich. ganz überzeugt. Ich glaube, man befindet sih in einem Irrthum, wenn man meint, daß die Frau als Fabrikinspektor unter gewissen Verhältnissen besser wirken kann als ein Mann. Meines Erachtens ist das eine Frage der Zweckmäßigkeik. Grundsäglih verhalte ih mich gegen keine Maßregel abweisend, von der ih glaube, daß sie dem Arbeitershuß zu gute kommt. Für mi) ist die Frage, ob ein Mann oder eine Frau das Amt eines Fahrik- inspektors verschen soll, wesentlih eine Frage der Zweckmäßigkeit.

Nun hat man mih auf die Erfahrungen verwiesen, die man anderwärts gemaht hat. Meine Herren, in unserem engeren Vaterland hat man bisher noch gar keine Erfahrungen mit weiblihen Fabrikinspektoren gemacht, sondern bis jeßt sind, soviel mir bekannt ist, erst in einem Bundesftaat, ih glaube, zwei Stellen weib- licher Fabrikinspektoren in Ausficht genommen. Man wird also dort

t

| erst seine Grfahrungen machen müssen. Es is mir auch nicht be-

(annt, 0b die Großherzoglih hessishe Regierung und der hessische andtag die Absicht haben, diesen weiblihen Fabrikinspektoren dieselben Aufgaben zu geben, wie sie iu der Gewerbe-Ordnung den Fabrik- inspektoren übertragen sind.

Meine Herren, die Erfahrungen, die man im Auslande mit der Sache gemacht hat, sprehen doch niht ganz unbedingt für die Ein- fährung von weiblichen Fabrikinspektoren. Die amerikanischen Ver- hältnisse bin ih nit in der Lage genügend zu übersehen, aber aus der Thatsache, daß es bis jeßt nicht mehr als 28 solcher weiblicher Fabrikinspektoren ich glaube, diese Zahl ist enannt worden giebt, geht meiner Meinung nah nit deutlich hervor, daß man in Amerika bereits gute Er- fahrungen damit gemacht habe. In England, meine Herren, bin ih ju der Lage, die Verhältnisse besser zu übersehen. JIch habe gerade zum Studium dieser Frage und anderer Fragen der Fabrikinspektion cine Kommission nach England geschickt, bestehend aus einem Beamten meines Ressorts und zwei Gewerbe-Aufsichtsbeamten, welche die Auf- gabe hatten, sie gründlih zu studieren, und ich bin nah einem mir yorliegenden Bericht doch zu der Ansicht gekommen, daß der Ver- su als ein geglückter niht angesehen werden kann. Ich will mi darüber in Einzelheiten nicht verlieren, aber eins kann ih ohne weiteres auch England gegenüber als s{lagendes Argument versichern. Jn der englischen Textilindustrie werden vielleicht 4- bis 500 000 weibliche Arbeiter beschäftigt. Vier weibliche Fabrikinspektoren erfüllen die Aufgabe, und von deren Thätigkeit sind Sie überzeugt, daß sie eine Besserung der Verhältnisse der einzelnen Textilarbeiterinnen herbeiführen könnte. Bier weibliche Fabrikinspektoren gegen etwa ¿ Million Arbeiterinnen ! Ya kann doch von einer Wirkung nicht die Rede sein. Also von einer guten Erfahrung, die man in England auf diesem Gebiete gemacht haben soll, kann man siherlich niht sprehen, und ich bin auch auf Grund anderer Thatsachen, die zu meiner Kenntniß gekommen sind, der Meinung, daß der Erfolg nicht sehr groß ist.

Aber au abgesehen von den Erfahrungen in anderen Ländern, glaube ih, daß verschiedene Momente dagegen fprehen, weibliche Fabrikinspektoren mit denselben Funktionen zu betrauen, wie sie in der Gewerbeordnung vorgesehen sind. Der Gewerbeaufsihtsbeamte hat erstens die Aufgabe, den tehnischen Betrieb zu beobachten, zu beurtheilen, ob die Einrichtungen, die zum Schuß der Arbeiter im technischen Einn in der Fabrik getroffen sind, hinreichen oder nicht. Weibliche Fabrikinspektoren heute zu finden, die diese Verhältnisse rihtig be- urtheilen können, ift s{chwer; wir haben sie niht. Man müßte also doh wenigstens jahrelarg warten, bis man einen Stamm weiblicher Fabrikinspektoren oder Aspirantinnen heranbildete, und dann hätte man noch nicht einmal die Sicherheit, ob man sie im einzelnen Falle

| verwenden kann. Man nähme die Verantwortung auf \ich, auf- Ï zumuntern zum Ergreifen eines Berufs, ohne die nöthige Sicherheit } geben zu können, daß nachher die Verwendung folgt. Bei i den männlichen Fabrikinspektoren liegt die Sache anders. Die Ÿ nehmen wir aus den Baumeistern, aus den Maschineningenieuren, ÿ aus den Chemikern oder anderen Berufsarten, wo sie Be- schäftigung finden, auch wenn fie nicht Fabrikinspektoren werden. Auch die zweite Seite der Aufgaben der Gewerbeinspektoren, nämlich Ï die, eine Vermittelungstellung zwischen dem Arbeitgeber und dem

Arbeitnehmer einzunehmen, is meines Erachtens ein Mann besser zu erfüllen in der Lage als eine Frau. Eins gebe ich Ihnen zu: ih glaube au, daß es Fälle giebt, wo in Fabriken beshäftigte Frauen hre Angelegenheiten und die sie bedrückenden Sorgen, namentli, venn sie sittlicher Art sind, lieber einer Frau als einem Mann an- vertrauen. (Sehr richtig! links.)

Derartige Mittheilungen werden sie viel leichter und viel besser außerhalb als innerhalb der Fabrikräume bekommen. Wenn der Inspektor zum Jnspizieren in die Fabrik kommt und dort herum-

Ï geht, ist es gar nit zu erwarten, daß die einzelne Arbeiterin zu dem N weiblichen Inspektor, den Sie ins Auge gefaßt haben, heraustritt E und ihm sagt: dies und jenes ist ein Mißstand und muß abgestellt S werden, Nein, meine Herren, das kann wirkli} nach meiner E Auffassung nur außerhalb der Fabrik geschehen, nur in H der Wohnung oder auf dem Wege von der Fabrik h in die Wohnung. Und wenn zu diesem Zweck, in geshickter Weise j Frauen herangezogen und zu Vertrauensperfonen, zu Vermittlerinnen } ¡wischen den Aufsichtsbeamten und den Arbeiterinnen gemacht werden-

erscheint mir die Forderung vernünftig, und ih bin zu dem Versuch bereit, in diesem Sinne Jhre Wünsche zu erfüllen. n Das ist aber etwas ganz Anderes, als wenn man weibliche Fabrik- inspektoren anstellt. Ich glaube, aus manchen Ausführungen der Herren, namentlich auch aus den Ausführungen des Herrn Professors Hiße, herausgehört zu haben, daß er {ih diesem Gedanken au zu- neigt. Er hat sih ja auch viel von der freiwilligen Hilfe in dieser Veziehung versprohen. Und ih glaube in der That, daß in dieser Beziehung die freiwillige Hilfe sehr viel leisten kann, freiwillige Hilfe, die\ih dem Fabrikinspektor mit ihren Mittheilungen zur Verfügung stellt, ihn aufmerksam macht auf dieses und jenes, was nicht richtig, nicht qut ist, und was geändert wérden muß. Meine Herren, ih habe absolut keine Abneigung gegen eine Mitwirkung weibliher Elemente in diefen Fragen; ich halte es aber für unrichtig, sie in die Stellung eines Fabrikinspektors zu bringen. i Ich will in dieser Beziehung nur darauf aufmerksam machen, daß wir dann in vielen Fabriken zwei Gewerbe-Aufsichtsbeamte haben Men denn wir haben. keine Fabrik, wenigstens nur fehr wenige- ug auss{chließli Frauen thätig sind, in den meisten Fällen werden uh Männer beschäftigt sein. Wir werden immer Männer brauchen g o0r der Beurtheilung der Maschinen, ihrer Gefährlichkeit und U icher Dinge; also entbehren können wir fie nie. Mir erscheint es u bedenklih, den vielen inspizierenden Beamten einen neuen hinzu- Aden : dem männlihen Gewerbeinspektor, dem Beauftragten der j viogenossenschaft, dem Kesselrevisor. Jh bin überzeugt davon, R R nicht im Interesse unserer weiblihen Arbeiter handeln würden, Bi wir die Fabrifauffiht wie sie die Gewerbeordnung will, E übertragen würden. Wohl aber gebe ih zu, daß es schr"zwedck- des ist, wenn der Fabrikinspektor in seiner Fürsorge für die Ar- bedie E die er haben foll und muß, fich des weiblihen Elements nl, namentlih außerhalb der Fabrik; dort kann es wirklich nüß- sein und helfen. vagen ist, wie bereits gesagt, von meinem Standpunkt aus keine gefaßt E Frage von anderer Stelle wird sie vielleicht fo auf- Sis W! von meinem Standpunkt ist die Frage, ob Mann oder als Fabrikinspektor besser sei, keine prinzipielle Frage, sondern

eine Frage der Zweckmäßigkeit, und wenn man mir die Beweise führt, daß meine Auffassungen unrichtig sind, wenn man mir ‘beweist, daß ih die Einrichtung weiblicher Fabrikinspektoren do empfiehlt, und ih mi diesen Beweisen fügen muß, dann bin ih gern bereit, von meinem Standpunkte zurückzutreten, sonst aber nit.

Nun, meine Herren, komme ich nochmals kurz auf die Haupt- frage zurüd, die die Debatte stellt. Jch glaube, wie gesagt, nit, daß die Gefeßgebung uns aus der Kalamität, wie sie hier vorliegt, wenn sie auh Manches bessern kann, wird retten können. Es ift von allen Seiten betont worden, daß wesentlich die Großunternehmer diejenigen find, die mitwirken müssen, um die Verhältnisse zu verbessern.

Ich darf es doch nicht unterlassen, zu bemerken, daß sie allein wenig erreihen können. Der Herr Abg. Riert hat gesagt, er glaube do, man müsse sehr vorsihtig bei der Beurtheilung dieser Dinge sein; es liege nit Alles so klar, wie man glaube, und darin hat er wohl Recht. Wenn er aber Bemerkungen einiger Fabrikanten hier vorgetragen hat, nach denen die Arbeitslöhne der bei ihnen beschäftigten Arbeiter niht \o gering seien, wie man sie allgemein scildere, \o glaube ih, daß das die Sache nicht trifft, denn diese Arbeiterinnen sind Fabrikarbeiterinnen. (Zwischenruf links.) Ja, ih glaube do, man kann nicht sagen „zum theil"; denn er hat uns gesagt, die be- treffenden Herren theilen mit, daß die bei ihnen beschäftigten Näherinnen so viel, der Bügler so viel und andere so viel bekommen. Da muß ih an- nehmen, daß es sich hier nur um die von den betreffenden Unter- nehmern in ihren eigenen Betriebs\stätten beshäftigten Arbeiterinnen handelt. Das ist ja das Leidige an der Frage, daß der größere und der shlimmere Theil der uns hier beshäftigenden Frage die Arbeiterinnen betrifft, die niht in den großen Betriebs\tätten der Unternehmer, sondern in den kleineren Werkstätten der Zwischenmeister und in der Hausindustrie beschäftigt sind. Jett liegt die Sache ja do so, daß der Zwischenmeister eine ganz bedeutende Rolle spielt. Ich glaube, man wird die Zahl der in Berlin und den Vororten vorhandenen Zwischenmeister niht zu hoh mit etwa 9- bis 10 000 veranschlagen. Das sind diejenigen Personen, die den großen Konfektionären die Ge- äfte vermitteln, und ih bin nach Lage der Entwickelung dieser Industrie zweifelhaft, ob es möglich sein wird, dies System des Zwischenunternehmers zu verlassen die Untersuchung, die angestellt werden sfoll, wird ja mehr Licht verbreiten. Ein Uebelstand liegt jedenfalls in diesem Zwischenmeistersystem, daß nämlich der Großunternehmer sagt: ja, was wollt ihr denn von mir? Ich zahle meinem Zwischenmeister ganz anständige Löhne; wie der nun die Andern, die er beshäftigt, bezahlt, das geht mich gar nihts an. Ich kfontrahiere überhaupt nur mit diesem Zwischenmeister. Dem Zwischen- meister is nun nicht beizukommen. Der Großunternehmer kümmert sich nicht darum, in welchem Verhältniß er die Leute lohnt, und fo \chiebt einer die Schuld der Situation auf den andern, und es ift sehr shwer, die Stelle ausfindig zu machen, von der man sagen kann, daß sie in ungerechtfertigter Weise die Löhne der Arbeiter drückt. Es giebt ja zweifellos eine ganze Anzahl Großunternehmer, die \ofort bereit find, höhere Löhne zu zahlen, als fie heute zahlen; es giebt ja gewiß auch eine ganze Anzahl Zwischenmeister, die dazu bereit find, aber der Uebelstand liegt hier daran, daß es gar nicht hilft, wenn drei, vier oder fünf fich bereit er- erklären, die Löhne zu erhöhen, wenn die anderen nicht mitthun. Gerade so ist es mit den Zwischenmeistern. Nach. meiner vorläufigen Meinung ich muß mir ein definitives Urtheil vorbehalten giebt es in der Sache kein anderes Mittel, als daß die Großunternehmer sich untereinander bei hohen Konventionalstrafen verpflichten, keinem Zwischenmeister Arbeit zu geben, der \ich seinerseits niht verpflichtet, einen bestimmten Prozentsaß des “ihm gezahlten Preises als Lohn seinen Arbeitern zu geben. Ob das ausführbar ist und wie, kann ich beute nicht sagen. Bis jeßt aber glaube ih, ist das der einzige Weg, der nah Lage der Dinge gegenüber der Lohnfrage überhaupt gangbar ist. Und wenn man zu der Ueberzeugung kommt, daß dieser Weg richtig und ausführbar is, dann ällerdings muß meines Erachtens mit vollem Druck darauf hingearbeitet werden, daß die Großunternehmer und Zwischenmeister {ih einer solhen Vereinharung fügen, nicht bloß die wenigen gut Gesinnten, sondern die große Mehrheit. Ein geseßlihes Mittel, das zu erzielen, steht uns zur Zeit niht zur Hand. Aber ih bin der An- sicht, daß, wenn die öffentlihe Meinung, ebenso wie heute der Reichs- tag, ih über die Frage ausspricht, ein solcher Druck auf die Unter- nehmer niht ohne Wirkung bleibt. Wir haben es {hon oft erlebt, daß lediglich die Stimmung der öffentlihen Meinung dem Strike zum Siege verholfen hat, in Fällen, wo der Strike ebens begründet war, wie er es in diesem Falle meines Erachtens ist. Deshalb glaube i, daß die heutige Besprehung der Interpellation, die die Herren uns gebracht haben, von außerordentlihem Nutzen sein wird. Ich meine, daß die Aussprache des Reichstags in allen seinen Parteien dazu führen wird, auh außerhalb dieses Hauses die öffent- lie Meinung dahin zu gestalten, daß sie auf das entschiecdenste dafür eintritt, daß die Unternehmer fich bereit erklären, Mittel und Wege zu suchen und sich gegenseitig zu solhen Mitteln ‘und Wegen zu ver- pflihten, um den Nothständen, die so kraß zu Tage liegen, abzuhelfen. Und ih ziehe niht nur aus meiner Stellung überhaupt, sondern au aus der Behandlung, die diese Frage im Reichstag gefunden hat, die Legitimation, einen moralischen Druck, soweit ih dazu in der Lage bin, in der von mir geschilderten Nichtung auszuüben. (Bravo !)

_ Abg. Zimmermann (Ref.-P.): Befremdlih i} ès, daß Herr Fischer den Nationalliberalen Vorwürfe machte; es follte doch über einen] befehrten Sünder mehr Freude herrshen, als über einen Ge- reten. Die Nationalliberalen gehören doch- zu den Bekehrten. Die manhesterlihen Nationalliberalen sind die Lehrmeister der Sozial- demokraten gewesen. Die manchestierlihen Ideen hätten aber keinen Eindruck gemacht, wenn wir niht mitten im deutshen Lande einen fremden Stamm hätten, der im Widerspruch \teht zum deutshen Geiste; diefer Stamm hat die Green M, Die lieben Mitbürger (tilGer Konfession haben die s{limmsten Uebelstände auf dem Gebiet der Konfektion herbeigeführt. Aus Dresden lese ich, daß die Firmen Levy, Samter, Levyfohn alle Vereinbarungen abgelehnt haben. Wie kommt es denn, daß die sozialdemokratishe Presse so wimmelt von , Anzeigen der billigen Bazare? Die billigen Läden werden den Arbeitern empfohlen ; aber diese Geschäfte sind es, die den Lohn drücken, Diese Geschäfte tehen in guten Beziehungen zu der Sozialdemokratie. Da muß man ch erinnern an Engels, der gemeint hat : Wenn der Kapitalismus den reakftionären Mittelstand vernichtet, dann thut er seine Pflicht, mag er nun beschnitten sein oder niht, mag er semitisch oder arisch fein. Alle Parteien sind einig, daß etwas geshehen muß, aber von den Sozialdemokraten hat man keinen Vorschlag gehört, als den Umsturz der Gesellshaftsordnung, und dabei hat die Partei einen genauen Kenner der Konfektion in Herrn Singer. Mit den Betriebswerkstätten

in ihre Hände zu bekommen. Der Kampf gegen die Zwischenmeister wird nicht vermieden werden können. Der größte Theil dieserZwischenmeister ist E Anhänger der Sozialdemokratie. Die Hausindustrie muß mit in den Bereich der Arbeitershußgesezgebung gezogen werden. Das müßte langsam und s{onend gesehen, damit es nicht mehr Unheil als Nußen hat. Allerdings werden die Unter- nehmer dabei ihre Pflicht thun müssen; aber an die jüdischen Unternehmer wird die Mahnung wohl vergeblih ergehen; sie wer- den kein christlihes Gefühl haben. Ich möchte dabei Verwahrung dagegen einlegen, daß allein die Sozialdemokratie die besten Arbeits- bedingungen schaffen will. Was geschaffen worden, ist ohne oder gegen die Stimmen der Sozialdemokraten geschaffen. Wenn die

rbeiterinnen pes bloß auf die Sozialdemokraten verlassen, dann find sie verlassen. Däs Judenthum ist eine Zerseßung der selbstständigen Elemente, deshalb besteht ein Zusammenhang mit der Sozialdemokratie. Durch die Zerseßung wird ihnen ja das Material für ihre Massenbewegung zugeführt. Deshalb wollen fie keine Versöhnung, sondern die Revolution.

Abg. Freiherr von M! Jch könnte mich damit begnügen, was der Minister von Berlepsch dargelegt hat : daß die weiblihen Fabrikinspektoren ihre Thätigkeit aißerbatb der Fabrik ausüben follen. Unser Antrag spricht mehr als unsere Interpellation dafür, daß die beklagten Mißstände dur die Geseßgebung - beseitigt werden können. Im Namen der Interpellanten danke ih dem Staatssekretär, daß er ihre Vorschläge so wohlwollend aufgenommen hat. Wir sind darüber einig, daß eine neue Enquête nicht mehx nothwendig ist; davon wird sih auch Herr Rikert überzeugen. Wir müssen geseßgeberische Maßregeln sofort ergreifen. Durch die Betriebswerkstättten werden die Arbeiterinnen niht ers der Sozialdemokratie zugeführt werden, das weiß Jeder, der sih über die sozialdemokratishen Versammlungen unterrihtet hat. Aus der d end geht hervor, daß die Damenarbeit in Düsseldorf so stark gewesen ist, daß die Löhne um 20—30 9°/g heruntergegangen sind, und zwar ist die Arbeit niht angenommen, um den Lebensunterhalt zu gewinnen, fondern um dem Luxus und der Pußsuht zu fröhnen. Die Damen, welhe unsere Berhand- lungen lesen, sollten daran denken, daß sie durch diese Arbeit den armen Näherinnen Konkurrenz machen. Die Unterbeamten der Privat- bahnen werden fo s{chlecht bezahlt, daß ihre Frauen und Kinder {ih an dieser Arbeit betheiligen. Wir wollen die Enquête aiht anregen, weil wir das Material genügend haben. Wir wünschen, daß der Antrag thunlichst bald angenommen wird. Wenn Herr Fischer sich rühmte, daß er die Arbeitershußgesezgebung abgelehnt hat, so hat er vergessen, daß diese Geseße nit gedient haben für die Hausindustrie. Auf diese sollen die Bestimmungen niht ausgedehnt werden. Der Strike wird den Arbeitern nichts helfen; dadurch kann dem Arbeit- geberstand niht imponiert werden. Ueber das Schweizer Arbeiter- sekretariat habe ih mich unterrihtet durch Mittheilungen eines Schweizer Gelehrten. Auf dem sozialistishen Kongreß in Bern ist die Verstaatlichung der Produktionsmittel in einem Antrage verworfen worden, und es ist dabei festgestellt worden, daß 8009/6 der Schweizer Sozialisten Kapitalisten sind, welche ihre eigenen Genossen ausbeuten, besonders die Bâer u. \. w.

Abg. Fischer (Soz.) sucht die Vorwürfe gegen die Sozial- demokratie zurückzuweisen und stellt wieder die Behauptung auf, daß die Sozialreform ohne die Sozialdemokratie nicht gekommen wäre. Es sei komish, daß man jegt wieder die soziale Fahne s{chwinge, nachdem man mehrere Jahre hinter einander zur Ruhe gemahnt babe: Die weiblihen Inspektoren hätten sih bewährt, und sie würden \ih auc in Berlin bewähren, wo es fich um sittlihe Beziehungen handele.

Abg. Dr. Hitze (Zentr. ): Die Sozialdemokraten haben recht oft geredet, aber warum haben Sie denn nicht auf die Enquête von 1887 zurückgegriffen? Mit Neden allein ist es niht gemacht.

Nach einigen persönlichen Bemerkungen wird die Dis- kussion geschlossen.

Damit ist die Juterpellation erledigt. Schluß 51, Uhr. Nächste Sißung Donnerstag 1 Uhr. (Etat des Auswärtigen Amts.)

würde es den Sozialdemokraten erleihtert werden, die spenmeiter

Nr. 7 der „Veröffentlihungen des KaiserlihenGesund- heitsamts“, vom 12. bed ua hat folgenden Inhalt: Gesund- heits\tand und Gang der Volkskrankheiten. Zeitweilige Maßregeln gegen anstedende Krankheiten. Desgl. gegen Pest. Gesetzgebung u. s. w. (Preußen.) Physikatsprüfung. (Hamburg). Arzneitaxe Berichtigung). (Frankreih.) Seesanitätspolizei-Reglement. (Numänien.) Nahrungsmittel und Getränke, (Sa Gang der Thierseuchen im Deutschen Reich, Januar. Desgl. in Ungarn. 4. Vierteljahr. Zeitweilige Maßregeln gegen Thierseuhen. (Preuß. Neg.-Bez. Stettin, Hildesheim, Desterreih). Verhandlungen von geseßgebenden Körperschaften, Vereinen, Kongrefsen u, \. w. (Preußen). Staatshaushalts-Etat 1896/97, (Rußland.) Jennerfeier. Ge- schenkliste. Wochentabelle über die Sterbefälle in deutshen Orten mit 40000 und mehr Einwohnern. Desgl. in größeren Städten des Auslandes. Erkrankungen in Krankenhäusern deutsher Groß- städte. Desgl. in deutschen Stadt- und Landbezirken. Witterung.

Statistik und Volks8wirthschaft.

Groß- und Kleingrundbesiß und die gegenwärtige Agrarkrisis in Veutshland.

Der dur seine Forshungen auf dem Gebiet der deutschen Agrarstatistik ebenso wie durch sein warmes Interesse und Ver- ständniß für die deutshe Landwirthschaft rühmlih bekannte National- ökonom Professor J. Conrad in e hat ih neuerdings veranlaßt geschen, besonders scharf die Verschiedenheit der Stellung des Großgrundbesißes einerseits und des Kleingrundbesißes andererseits zur gegenwärtigen Agrarkrisfis in Deutschland zu betonen. Erster Supplementband zum Handwörterbu}ch der Staatswissenschaften. Artikel: „Agrarkrisis . in Deutschland“.) Er hat dabei den Begriff „Gutsbesißer“ dem Begriff „Bauer“ ohne nähere Definition gegenübergestellt, im allgemeinen aber begreift er unter ersteren, wie es scheint, die Inhaber von Landwirthschafts- betrieben von 100 ha und darüber also die in seinen bisher agrar- statistishen Studien über die Oftprovinzen früher als „Großgrund- besiver“ bezeichneten Landwirthe —, während er unter Bauern alle Betriebsinhaber unter 100 ha versteht, also hier von der früher von ihm bezüglih der Ostprovinzen für nöthig gehaltenen Unterscheidung zwischen den „eigentlichen Bauern“ von 10 bis 100 ha und den Kleinbesißern unter 10 ha absieht. Es ist ‘dies besonders hervor- zuheben, weil die in Nachstehendem wiedergegebenen Ausführungen Conrad’s, namentlich bezüglih der „eigentlihen Bauern“ in obigem Sinne und bezüglich der industriearmen, minder bevölkerten Gebiete der Ostprovinzen, manchen berehtigten Einwendungen begegnen dürften, wenn auch troßdem das Urtheil gerade dieses National- öfonomen Anspru auf volle Würdigung seitens der Praktiker zu R ein Recht hat.

, er Hauptgrund der Krisis: der Rückgang der Getreideprei in Verbindung mit dem Schwinden der Woll-, Spiritus- e e M LLNr, U U Conrad {on einen Anhalt, weshalb der auer weniger gelitten habe als der große Grundbefißer. Der Schwerpunkt der bäuerlihen Produktion liege ganz besonders heute in der Aufzu t von Vieh, welhe im großen Ganzen péaktisher Durchführung immer noch entsprehende Rentabilität zeige. Dazu komme, daß die Erhöhung der Löhne, noch verstärkt durch die Kosten der sozialpolitishen Gesehgebung, wiederum in weit f\tärkerem Maße den Großgrundbesig als den kleinen treffe. Je „größer der rozentsaÿ sei, den der Bauer mit feiner Familie von der nöthigen Arbeits Cn selbst a bestreiten vermöge, um so weniger werde er durch die Lohnverhältnisse, die Arbeiter- noth. berührt. Schließlich seien für den „kleinen, Es Mann“ alle Lebensbedürfnisse in den leßten beiden Dezennien billiger geworden, während der Unterhalt der „gebildeten Klasse“ mit thren geistigen