1896 / 107 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 05 May 1896 18:00:01 GMT) scan diff

ie Blöße zu decken suhe, wohnt der Regierung wirkli nicht bei; dazu läge hier auch gar keine Veranlafsung vor.

Der Herr Abg. Lenzmann hat zwar mit großer Gntschiedenheit Hehauptet, der Art. 31 der Reichsverfassung sei verlegt. Aber alle Deduktionen, die er hier vorgenommen hat, bezogen sich nit auf ‘Art. 31 der Reichsverfassung, sondern auf die Verleßung einzelner Bestimmungen der Strafprozeßordnung, und der Herr Abgeordnete ist da in den Fehler - verfallen, vor welhem ih {hon vorhin das Hohe Haus zu warnen mir erlaubte, daß man nicht die beiden Fragen, die hier in Betraht kommen und die eine ganz verschiedene Behandlung verlangen, verwechseln möge, die Fragen nämlich: liegen die Boraussezungen des Art. 31 der Verfassung vor und liegen die Vorausseßungen vor, nah welchen auf Grund der Strafprozeßordnung die Staatsanwalt-

schaft einzutreten berechtigt war. Die erste Frage zu prüfen, sind Sie auf Grund der Verfassung befugt und jeßt in der Lage. Die ¿weite Frage zu prüfen, dazu fehlt Ihnen, meine Herren, augenblicklich das vollständige Material, und wenn Sie dennoh in eine Prüfung der Frage eintreten wollten, so würden Sie nach meiner Meinung auf Grund ungenügender thatsächliher Unterlagen vorgehen, und würden überdies vorgehen, ohne die Würdigung des Sachverhalts dur die zuständigen Instanzen abzuwarten. Das if der Fehler, den ih dem Herrn Abg. Lenzmann vorwerfe. :

Ich muß aber, da er nach der Seite der Strafprozeß- ordnung einige Ausführungen gemaht hat, die geeignet sind, die hier in Betracht kommenden Beamten zu belasten, und die ferner geeignet find, auf den Standpunkt der Regierung ein falsches Licht zu werfen, doch einige seiner Behauptungen hier noch kurz beleuchten.

Der Herr Abgeordnete hat ausführlih dargelegt, daß keines der vier Delikte, die hier in Frage kommen könnten und bezüglich deren der Vertreter der Regierung, wie er sagte, es dahingestellt gelaffen

habe, welhes die Veranlassung der Verhaftung sei, daß bezüglich aller vier Delikte die Vorausseßungen nicht vorgelegen hätten, die die Verhaftung rechtfertigen. Ih habe nach dieser Richtung, wenn ih mich recht erinnere, mih vollständig klar ausgesprochen; ih habe gesagt: in der Thatsache, daß der Herr Abg. Bueb die mit Beschlag belegten Sachen der Gewalt der zuständigen Behörde entzog, liegt die Verletzung des §& 137 des Strafgeseßbuhs. Jch habe mich nur auf diese Strafthat berufen, um die Verhaftung zu. begründen, und es konnte nach dieser Richtung, glaube ih, bei dem Herrn Abg. Lenzmann gar kein Zweifel bestehen.

Der Herr Abgeordnete sagt: ja, wenn alles Uebrige auc -richtig wäre, in dieser Beseitigung der Drulkschriften liegt do keine Ver- dunkelung des Thatbestandes, und eine solche Verdunkelung sei die Voraus\etzung, wenn der Beamte mit der Beschlagnahme vorzugehen beabsihtigt. Meine Herren, von Verdunkelung spriht das Gesetz niht; das Gesey sagt im § 112 der Strafyro?-ßordnung folgender- maßen :

Wenn Thatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ift, daß der Thäter Spuren der That vernichten wolle, das ift alfo einer der Gründe, aus denen der Staatsanwalt berechtigt ift, die Verhaftung zu veranlassen, wenn Thatsachen vorliegen, nah welcher der Thäter Spuren der That bei Seite zu schaffen, ver- dächtig ist.

Nun, meine Herren, was hat der Herr Abg. Bueb hier be- __seitigt? Er hat die Ballen bei Seite geschafft, die von der

Staatsanwaltschaft mit Beschlag belegt worden waren. Sind denn diese Ballen, die vorher in der Wohnung waren und später nit mehr, keine Spuren der That? Jh meine, dieser Wortlaut des Gesetzes, den der Herr Abgeordnete Lenzmann nicht an- geführt hatte, hat die Staatsanwaltschaft durchaus zu threm Vor- gehen berechtigt.

Der Herr Abgeordnete sagt dann: Eine Beschlagnahme ift nicht erfolgt, der Herr Abg. Bueb bestreitet, daß irgend eine dahin gehende Aeußerung von seiten der die Beshlagnahme vollziehenden Beamten erfolgt sei, das Wort des Herrn Abg. Bueb ftehe ihm höher als die Ausfage der Polizeibeamten. Er hat dann einige Ausführungen über die Haltung der elsaß-lothringishen Beamten hinzugefügt, die nah meiner Meinung nicht zur Sache gehören, die ih daher nit weiter erörtern will, die ich aber als niht berechtigt zurüdweise.

Nun, meine Herren, der Herr Abg. Bueb hat, wie der Herr Abg. Lenzmann und der Herr Interpellant gesagt haben, bestritten, daß eine Beschlagnahme erfolgt ift. Jch will die Ueberzeugung des Herrn Bueb von der Richtigkeit seiner Angabe durhaus nicht bean- standen; er kann fih ja indessen doch geirrt haben. Mir liegt das amtliche Protokoll vor, welhes niht von einem Beamten in Straß- burg, wie ‘der Herr Abg. Lenzmann sagte, sondern von dem aus- führenden Polizeibeamten und niht an einem späteren Tage, sondern am 2%., am Tage der Beschlagnahme niedergeschrieben worden ift. Darin heißt es:

Es werden bei Herrn Bueb zirka 16 000 Exemplare „Zur

Gemeinderathswahl“ beshlagnahmt mit der Unterschrift des Beamten. Nun, diese seine amtliche \{rift- lihe Erklärung hat der Beamte am Tage der Beschlagnahme der zuständigen Behörde vorgelegt, und er hat gleichzeitig, wie die Behörde berihtet, mündli erklärt, daß die Beschlagnahme vollzogen worden sei, Solchen Umständen gegenüber unternimmt der Herr Abgeordnete zu behaupten, diese Angaben seien durchaus unglaubwürdig. Er glaubt nur dem Herrn Abg. Bueb. Nun if ja möglich, daß Herr Bueb irrthümlih meint, die Beschlagnahme sei niht vollzogen. Jch lasse das dahingestellt; ich will die Wahrheitsliebe des Herrn Bueb durchaus nit in Zweifel ziehen, solche Irrthümer sind denkbar. Aber angesihts der mündlichen, an demselben Tage erfolgten Erklärung des Beamten, angesichts dieser \{hriftlihen Feftstelung der Thatsache, daß die Beschlagnahme erfolgt is, glaube ih, kann billigerweise der Regierung nicht zugemuthet werden, die Sahe irgendwie in Zweifel zu ziehen. (Zuruf bei den Sozialdemokraten.) Ih habe nur gesprochen von der Beschlagnahme der Ballen, die in-der Wohnung des Herrn Abg. Bueb sich befunden haben, von dem Bruche dieser Beschlagnahme und von der Erklärung des Polizet- beamten, daß er diese Beschlagnahme vollzogen habe weiter habe -ih nihts gefagt.

Der Herr Abg. Lenzmann hat dann weiter gesagt : es ist ja keine ordnungsmäßige Beschlagnahme vollzogen worden, die Erklärung allein, es werde das und das mit Beschlag belegt, genüge niht, es müsse eine ausdrücklihe Form dazu kommen, und diese Form sei durch das Geseß vorgeschrieben, sie sei aber hier nicht beobachtet worden. Meine Herren, die Strafprozeßordnung hat, allerdings nit als

unbedingt verpfli®tend, sondern als instruktionel, um Verwesëlungen zu verhüten, vorgesehen, daß der Regel nah eiae Aufzeichnung ftattfinden soll. Aber wenn der Herr Abg. Lenzmann über diese Bestimmungen hinweg, auf die fich zu berufen er selbft niht gewagt hat, sich auf ein Erkenntniß des Reichsgerihts beruft, wona un- bedingt eine solche Bezeichnung nothwendig sei, so muß ih die Richtig- keit dieser seiner Bezugnahme bestreiten. Mir liegt ein Erkenntniß des Reichsgerihts vom Vierten Strafsenat vom 12. Juni 1888 vor, in dem ausdrücklich in den Gründen anerkannt wird, daß es einer der-. artigen Bezeichnung nicht bedarf, um die Beschlagnahme rechtsgültig zu machen, sondern, daß es nur zweifelfrei festgestellt sein müsse, daß die Absicht des ausführenden Beamten dahin gehe, die Beshlagnahme vorzunehmen.

Dies ift geschehen, und deshalb ift der Herr Abgeordnete nicht berechtigt, die Vollziehung der Beschlagnahme zu bezweifeln.

Der Herr Abgeordnete hat gesagt: „man erkennt, daß die Be- \({lagnahme nit stattgefunden hat, daraus, daß die Polizei nicht die rihterliße Bestätigung nachgesußt hat“. Ob die Beschlagnahme aufrecht erhalten ift, weiß ich nit. Nach dieser Richtung hin habe ih Erörterungen nicht voraussehen können, aber diese Annahme des Herrn Ab- geordneten ift wieder juristisch nicht zutreffend. In dem vorliegenden Falle bedurfte es der richterlihen Bestätigung nicht, denn die Bescylag- nahme war vollzogen mit Zustimmung und in Anwesenheit des Eigen- thümers der Sache die \chriftliche Erklärung liegt vor —, und nah §' 98 der Strafprozeßordnung is der Staatsanwalt in diesem Falle nicht gehalten, die: Bestätigung des Richters nachzusuchen. Aus der fraglihen Thatsache kann also Herr Lenzmann auch nichts herleiten.

Der Herr Abgeordnete fragt: weshalb wurde Bueb wieder frei- gelassen? Das zeigt uns auch, daß man nur die Absicht hatte, aus anderen Gründen die Verhaftung vorzunehmen, aber niht aus der Rücksicht, die ih hier vorgetragen habe. Die Sache ist sehr einfach: der Grund der Verhaftung war, daß Thatsachen vorlagen, die die Annahme rechtfertigen, Herr Bueb würde Spuren der That beseitigen. Nachdem diese Besorgniß dadur erledigt war, daß das verschwundene Material wieder in die Hand der Polizei gelangt war, lag natürlich keine Veranlassung mehr vor, die Verhaftung aufrecht zu erhalten. Jm Gegentheil, die Staatsanwaltschaft war verpflichtet, den Verhafteten wieder freizulassen. Also auc daraus ist nach meiner Meinung nichts herzuleiten.

Ich führe das Alles nur an, um Ihnen zu zeigen, wie doch die fo sier vorgetragenen Ausführungen des Herrn Abg. Lenzmann auch eine Beleuchtung von anderer Seite zulassen, und wie mißlich es ift, in einer Frage, die —- ich wiederhole das zunächst der Beurthei- lung der Instanzaufsichtsbehörde unterzogen werden - muß, jeßt unter Prâäjudizierung dieses Urtheils hier im Hause ein Urtheil zu fällen. Ich meinerseits lehne es ab, ein abschließendes Urtheil über die Sache auszusprehen; ob die Beamten in Einzelheiten niht korrekt gehandelt haben, das lasse ih dahingestellt; ih kann es von hier aus niht würdigen. Ist es der Fall, dann wird zweifellos von seiten der Aufsichtsbehörde die im Geseß vorgesehene Nemedur eintreten. Ich habe aber bis jegt keine Veranlassung, eine Meinung gegen die betheiligten Beamten auszusprehen. Jch bin im Gegentheil noch immer der Ansicht auch nach Allem, woas hier vorgebracht is —, daß in der Sache vorgegangen ift unter vollem Respekt gegen die Gesetze und unter Beobachtung der Vorschriften, die die Beamten zu beobahten hatten. Und wenn Herr Lenzmann es für nöthig hielt, hier an die Regierungen noch den Appell zu richten, sie sollten für die Beobachtung der Gesetze doch Sorge tragen und gerade in Elsaß-Lothringen nicht ein \{lechtes Beispiel aufkommen lassen, indem sie über die Versehen der Beamten so leiht hinweggehen, fo bestreite ih ihm die Berechtigung zu diesem Appell. Wir sind ver- pflihtet und auch gewillt, die Gesehe aufrecht zu erhalten, und wenn Herr Lenzmann zu einem Appell wegen Achtung der Geseße auf Grund des vorliegenden Materials sich veranlaßt sehen wollte, so wäre der Appell nah meiner Meinung richtiger an die Adresse des Herrn Abg. Bueb gerichtet gewêsen.

Abg. Dr. Lieber (Zentr.): Wir wollen die dem Reichstag verliehene Immunität niht um ein Jota verkümmern lassen ; denn tua res agitur, paries cum proximus ardet. Der Staatssekretär hält fich bezüglih der Beschlagnahme an die Berichte der Behörden, aber nah unseren Erfahrungen kann er uns nicht zumuthen , daß wir ihm ohne weiteres folgen. Mindestens müssen wir sagen: non liquet, Die Verfassung ist mindestens mittelbar verleßt worden. Die Ver- haftun mus an sich gerechtfertigt werden. Fluchtverdacht liegt nicht vor. È sollte die Möglichkeit vorliegen, daß die Spuren der That verwisht würden. Herr Bueb hat sih als Verfasser und Verbreiter des Wahlflugblatts bekannt; nah diesem Zugeständniß war es nicht mehr möglich, die Spuren der That zu verwischen. ie Verhaftung war geseßzwidrig und daher einem Reichstags-Abgeordneten gegen- über eine Verfassungsverleßzung, Wir müssen unfer lebhaftes Bedauern und unseren iderspruch aussprechen. Ich wundere mich, daß Herr Lenzmann den zweiten Theil der Interpellation so anz verworfen hat. Soll denn der R über die Verhütung füntti er Fälle der Verfassungsverleßung garnichts sagen? Mit den Einzelregierungen haben wir nicht zu verhandeln; wir haben als ein- zigen, verantwortlihen Beamten den Reichskanzler vor uns, der ver- anlafsen muß, daß die Beamten der Einzelstaaten bestraft werden. Das muß ih ausdrücklich gegenüber der Antwort des Staatssekretärs feststellen. Der Leßtere hat gemeint, es fehle dem Reichstag das Material zur Beurtheilung der Frage; ih hätte erwartet, daß er wenigstens dem Reichstag das Material in Aussicht gestellt hätte; ih behalte mir mit meinen Freunden das weitere in dieser Sache vor.

Abg. Rickert (fr. Bag): Ich schließe mich dem Vorredner an; der Reichstag darf \sih bei der Erklärung des Staatssekretärs nicht beruhigen. Die Stelle des Flugblattes über die Armuth, die eine Schande set, soll ein strafbares Vergehen enthalten. Das Volk wird

* das nicht verftehen.

Abg. Freiherr von Stumm (Rp.): Die Verfassung muß allen Abgeordneten gegenüber beobachtet werden. Für mich ift die Frage der Beschlagnahme entsheidend. Wenn die Aussage des Herrn Bueb dem amtlihen Bericht entgegensteht, dann kann ih diesem leßteren gegenüber keine andere Darstellung anerkennen, selbst wenn fie von einem Reichstagsabgeordneten ausgeht. Die schriftliche Grklärung eines vereideten Beamten is von größerer Bedeutung als die Erklärung eines Betheiligten. Man hätte also zunächst abwarten müssen, wie dieses Mißverständniß fich aufklärt. Wenn die Sache von allen juriftishen Tifteleien und reen Motiven losgelö\st wird, so steht sle so: Das Flugblatt i} beshlagnahmt worden, und nah wenigen Stunden sind die elNlagnahmen Ballen vershwunden. Darin liegt eine Beseitigung der Spuren. Ob das Vorgehen der Polizei und Staats- anwaltshaft zweckmäßig war, das ist eine andere Frage. Wenn ein Nicht-Reichstags-Abgeordneter auf Grund dieser Thatumstände hätte verhaftet werden können, warum soll ein Reichstags-Abgeordneter frei ausgehezn? Es ist als die Aufgabe des Reichstages agene worden, seine Würde zu wahren. In dubio ift das rihtig. Aber in Bezug auf die eiguag der Geseße sollten die Reichstags-Abgeordneten dem Volke wit einem guten Beispiele Vorangenen, Wenn Herr Lenzmann die Beleidigung des Reichstags mit Majestätsbeleidigungen

lih; denn das Strafgesebuh ftellt die beiden Din E glei ; auf die monarchische dhe ih mich nit zu be- rufen. Die Abgeordneten, welhe nah Art. 32 der Verfassung zu Unrecht hier sißen, welche eigentlih nicht MreRiEE sind, hier zu \ißen, können fich nit auf die Neichsverfafsung berufen. Die Sozialdemokratie breitet sich in Elsaß - Lothringen unter dem Suge, der deutschen Verwaltung immer mehr aus; zur französishen Zeit war sie voll- sndig unbekannt. Ich muß dagegen protestieren, daß hier im Hause E “ammg der Versuch ema wird, die Autorität der Behörden erabzusetzen.

Abg. Bueb (Soz.): Am 25. April Nachmittags wollte ih mi zur Kreis-Direktion begeben, um die polizeilihe Kolportageerlaubnt für die übrig gebliebenen, niht der Zeitung beigelegten Flugblätter zu erhalten. ch wurde von einem Schußmann angehalten, fügte mich feinen Anweisungen und blieb zu Hause, bis der Kriminal- Kommissar kam. Jch gestand, daß die Beilage der Flugblätter bei der

Feilung von mir herrühre. Von einer Beschlagnahme und von einem

rafbaren Jnhalt der Flugblätter war dabei gar keine Rede, sondern nur von der Kolportage. Ich erklärte, daß die noch vorhandenen Flugblätter nit eher vertheilt werden würden, als bis die Genehmi- gung ertheilt worden sei. 1893 wurden aus Basel eingesandte Flug- lätter von der Staatsanwaltschaft in Verwahrung genommen, bis die Genehmigung zur Verbreitung erfolgt sei; dasselbe glaubte ich, sollte jeßt wieder geshehen; ich wollte aber diesmal die Flugblätter niht in die Verwahrung der Behörden geben. Jh weigerte mich, mein Eigenthum herauszugeben; hätte der Kommissar sie beshlagnabmt, dann hâtte er sie doch niht als mein Eigenthum gelten lassen, dann hâtte ich doch auh nicht die Kolporta eertaubniß für mein strafbares Flugblatt nachgesucht. Bei dem Vorgeseßten des Kriminal-Kommissarius habe ih die Genehmigung nahgesucht. Um 2 Uhr war der Kriminal - Kommissar in meiner Wobnun: Ich wandte mich um 4 Uhr an den M E und er theilte mir nit mit, e die Beschlagnahme erfolgt sei, sondern daß ih mi nach Colmar begeben müsse. Jch erwiderte dem Kriminal-Kommissar, daß ih deshalb nach Colmar reisen würde; troßdem spra er wiederum nicht von der Beschlagnahme. Es is mir so viel beshlag- nahmt worden, aber noch niemals hat man mir das Vertrauen geschenkt, beshlagnahmte Dinge mir zu überlassen. Nach meiner Verhaftung sandte ih zwei Telegramme ab, in welchen ih die Ursache der Ver- haftung als unbekannt bezeihnete; warum sagte man mir denn nicht den rund der Verhaftung? Die Telegramme wurden niht ab- gesandt, troßdem ih sie bezahlt hatte; am A Tage wutden mir die vier Gründe der Verhaftung angegeben. In dem Proto- koll, welches der Staatsanwalt aufgenommen hat, habe ih aus- drücklih bestritten, daß mir von der Beschlagnahme etwas bekannt war. Ich werde jeßt den Weg, den Herr Lenzmann mir angerathen hat, einshlagen und Beschwerde gegen die Verhaftung erheben. Ih bedauere, daß meine Perfon Anlaß zu dieser Debatte gegeben hat, aber zur Kennzeihnung der Zustände in Elsaß-Lothringen war die Interpellation nothwendig.

Staatssekretär des Neichs-Justizamts, N ieber ding:

Meine Herren, es freut mih, daß der Herr Abg. Bueb am Schlusse seiner Ausführungen in Aussicht gestellt hat, er wolle den Weg zur Klarstellung der Sache wählen, den ih mir erlaubte, von Anfang an als den rihtigen zu bezeihnen : den Weg, den das Gesetz vorsieht, den Weg der Beschwerdeführung an die höhere Instanz. Auf diesem Wege wird auch der Widerspru, der unbestreitbar ¿wischen den amtlichen Berichten und den Erklärungen des Herrn Abg. Bueb besteht, authentisch sich aufklären lassen. Erst nah Aufklärung des Widerspruchs wird sich auch ein gerechtes, ob- jektives Urtheil in der Sache selbs fällen lassen. Hier im Hause kann der Widerspruchß nicht aufgeklärt werden, und weil dies unmöglich if, kann nach meiner Meinung hier im Hause in der Sache ein objektives Urtheil nit abgegeben werden. Jh will deshalb auch meinerseits auf alle hier berührten thatsählihen Vor- gänge niht nohmals eingehen.

Nur einige wenige Bemerkungen des Herrn Abg. Bueb möchte ih berühren, weil sie geeignet sind, das Verhalten der Staatsanwalt- schaft als ein niht ganz einwandfreies und konsequentes hinzustellen, und weil sie vielleiht auch mit dazu beitragen könnten, noch- mehr Zweifel an der Richtigkeit der amtlichen Mittheilungen zu erregen, als zu meinem Bedauern jeßt {on im Hause vorhanden sind, Der Herr Abgeordnete hat gesagt: er hätte sich an den Herrn Polizei-Präsidenten gewendet wegen der Genehmigung zur Kolportage, da habe der Polizei-Präsident wegen der Beschlagnahme mit ihm garnicht gesprochen, obgleih die Beschlagnahme einige Zeit vorher nah amtlier Behauptung erfolgt sein solle; wenn in der That die Beschlagnahme ftattgefunden habe, hätte der Polizei-Präsident dies wissen müssen. Ja, darin irrt der Herr Abgeordnete. Der Polizei- Präsident brauchte von der Sache nihts zu wissen ; - denn diejenigen Beamten, die die Beschlagnahme zu vollziehen hatten, handelten nicht im Auftrage des Polizei-Präsidenten, sondern ohne dessen Mit- wirkung und Vermittlung im Auftrage des Staatsanwalts.

Der Herr Abg. Bueb hat dann gesagt: ja, man hätte doch die Drucksachen bei ihm gelassen und das sei doch auffallend. Ja, meine Herren, man hat sie bei ihm gelassen, weil der Herr Ab- geordnete erklärt hatte, fie ftänden zur Verfügung der Polizei, man Fönnte fie jeden Augenblick abholen, er würde niht darüber verfügen. (Zuruf.) Der Herr Abgeordnete scheint das zu bestreiten. Nun, ih lasse es meinerseits dahingestellt; ih erkläre nur, was aus dem Bericht der Beamten für uns sich ergiebt —, wenn das darin Ent- haltene richtig ift, dann i} allerdings die Thatsache, daß man die Drucksachen nicht gleich mitgenommen hat, erklärlih; würde es un- richtig sein, dann würde die längere Zurücklassung der Drucksachen allerdings unerklärlich ersheinen müssen.

Ich muß dann noch mit einem Wort zurückommen auf die Aus- führungen des Herrn Dr. Lieber, weil bet diesen Ausführungen ein Mißverständniß obgewaltet hat. Der Herr Abgeordnete hat es so dargestellt, als hätte ich in der Weise deduziert: es läge lediglih ein Vergehen gegen § 131 des Strafgeseßbuhs vor; um einer Ver- dunkelung des durch § 131 gedeckten Thatbestandes vorzubeugen, set die Beschlagnahme nothwendig geworden und nah Verfügung des Staatsanwalts ausgeführt worden. Nein, meine Herren, das ift ein Irrthum, fo habe ih nit deduziert, ih habe Folgendes ausgeführt : die Verhaftung sei erfolgt, nahdem ein Vergehen gegen den § 137 des Strafgeseybuhs konstatiert war, nah welhem die Beseitigung der mit Beschlag belegten Drucksachen ftrafbar ist. Die Beseitigung der Drucksachen war unbestritten erst im Laufe des Nachmittags des- jenigen Tages, an dem die Verhaftung vor sih ging, erfolgt. Darnach kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Verhaftung innerhalb

auf die gleihe Stufe stellt, so ift das bei cinem D yerwutider- nnung brau

. der Zeit, die durch die Verfassung vorgesehen ist, erfolgt war. Die

Verhaftung erfolgte aber, weil man zu besorgen hatte, daß die Ballen, die mit Beschlag belegt und vorläufig beseitigt waren, vollständig bei Seite geschaft werden würden, und wie sich nahher aus dem Ver- halten des Herrn Bueb ergab, war diese Besorgniß vom Standpunkt der betheiligten Beamten doch auch nicht unbegründet. Für den Thatbeftand des Vergehens aus § 137 des Strafgeseybuhs waren

allerdings die beshlagnahmten Sachen ein wesentliGes Moment und fonnten deshalb zweifellos unter den Spuren der That -mit- verftanden werden; wenn deshalb die berechtigt war, anzunehmen, es würden, falls die Verhaftung unter- bliebe, Spuren der That beseitigt werden, die zum Thatbestand des Vergehens aus § 137 gehörten, so war sie, das ift durhaus logish, dagegen ist kein Einwand zu erheben, auch befugt, zur Verhütung dieser Gefahr die Verhaftung zu bewirken. Müssen Sie das aber zu- geben, dann find sowohl die Bestimmungen der Strafprozeßordnung als au diejenigen der Reichsverfassung beahtet worden. Die gegen- theiligen Ausführungen des Herrn Dr. Lieber lassen \sich nur darauf stüßen, daß er immer zurückgeht auf die Verleßung des § 131, den ih in meinen Ausführungen zur Begründung der vorgenommenen Verhaftung überhaupt niht erwähnt habe.

Abg. Lenzmann: Ich habe nicht die Majestätsbeleidigungen der Beleidigung des Reichstags Degen, Mein demokratif es Gefühl verlangt aber, daß die Verleßer der Majestät der Volksvertretung au gestraft werden. Den Sozialdemokraten gegenüber habe ih oft die War as ausgesprochen, pf sie bei Angriffen egen Beamte vor- sihtig/ cin follten. Wenn ih [arf gesprohen habe, so habe ih die persönliche Ueberzeugung von dem falschen Verfahren des Beamten ge- habt. Daß der Polizei-Präsident keine Kenntniß von der Beschlag- nahme, die bei dem Reichstagsabgeordneten Bueb erfolgt war, haben wollte, glaube ih nicht. Dann ente er sehr gleihgültig sein gegen solhe Vorkommnisse. Der Staatssekretär hält daran fest, daß es ih um die Verhütung der Beseitigung der Spuren eines Vergehens han- delte, während das Vergehen s{hon zugestanden war. Der Richter hat die Beschlagnahme vorzunehmen, niht Polizei und Staats- anwalt. Der Reichstag muß hierzu energish Stellung nehmen.

Abg. Bebel (Soz.): Erst nachdem wir volle Aufklärung von

unserem Kollegen erhalten hatten, sind wir mit der A letvellatión vorgegangen. Auf die Ausfagen eines Beamten auf seinen Diensteid hin legen die Gerichte nicht mehr den Werth wie früher. Der Herr Staatssekretär hätte erkennen müssen, daß große Widersprüche “fu den beiderseitigen Ausfagen vorliegen; er hätte seine Erklärung auf- shieven müssen, bis er beide Theile gehört hatte. Der Staatssekretär hat sih aber lediglih auf die Berichte der Beamten berufen. Bei den Beamten, welche eine ungeseglihe Handlung begehen, findet der Nicter niemals die bôse Absicht, die bei dem einem Geseß zuwider- handelnden Arbeiter ohne weiteres vorausgeseßt wird. Mit dieser Debatte is die Sache noch nit abgemacht. .Wir werden unter- suchen, welhe anderen Schritte noech zu thun sind, um die Rechts- verlezung zu sühnen. as Bueb wird die ihm gerathenen Schritte thun, und wenn die Anklage gegen die Beamten nicht erhoben wird, dann werden wir an den Reichstag mit einem Antrag kommen. __ Abg. Dr. Lieber: Es handelt sich jeßt nur noch um den Bruch der Beschlagnahme, und auch dieses Vergehen ist festgestellt, denn Herr Bueb hat dem Kriminal-Kommissar gesagt: Jch habe die Drucksachen weggebraht, weil ih sie für mein Eigenthum halte. Danach war also die Verhaftung gar niht mehr gere{ht- fertigt. Wenn aber eine Beschlagnahme überhaupt nicht vorlag, dann konnte auch ein Bruch derselben niht erfolgen. Nach dem Grund- lauf in dubio pro reo muß also um fo eher der Art. 31 der Ver- faffung in Anwendung kommen.

Staatssekretär des Reichs-Justizamts Nieberding:

Der Herr Abg. Dr. Lieber hat mir entgegengehalten, daß ih bei meinen leßten Ausführungen abermals um einen Schritt zurück- gewichen sei (sehr richtig! links); er hatte vorhin {hon eine Bemerkung gemacht, die hervorhob, ih sei von meinen erften Erklärungen zurüdck- gewihen. Auf diese Bemerkungen bin ih nit eingegangen, weil ih die Verhandlungen des Hauses dur nebensächliche Dinge nicht aufhalten wollte; wenn der Herr Abgeordnete aber jeßt auf diese Vorhaltung zurückkommt und sie dadurch noch verschärft, daß er behauptet, ih sei zum zweiten Male zurückgewichen, so muß ih doh erklären, daß ich im Verlauf meiner leßten Ausführungen nihts Anderes gesagt habe, als dasjenige, was ich von Anfang vertreten habe. Ich habe von Anfang an zur Rechtfertigung der Verhaftung mich nur auf den § 137 Strafgeseßbuchs, auf die Beseitigung der mit Beschlag belegten Sachen gestüßt, und wenn der Herr Abg. Dr. Lieber annimmt, ih habe dies zu Anfang meiner Ausführungen nicht gethan, so hat diese irrthümlihe Meinung nicht in meinen Aus- führungen gelegen, sondern auf einem Mißverständniß seinerseits. Ob nun in der That eine amtliche Beshlagnahme und somit auch ein Bruh der amtlihen Beschlagnahme stattgefunden hat, was der Herr Abg. Dr, Lieber jeßt ledigli auf Grund der Ausführungen des in der Sahe do nicht unbetheiligten Herrn Abg. Bueb bestreitet, das wird hier im Hause überhaupt niht entschieden werden können, es wird in maßgebender Weise ers vor Gericht festgestellt werden, wenn auf Grund des § 137 des Strafgeseßbuchs der Staatsanwalt Anklage erhoben haben wird; dieses Haus ift über die That- und Rechtsfrage in diesem Punkte zu entscheiden überhaupt nicht kompetent.

Damit schließt die Besprehung der Jnterpellation.

Es folgt die erste Berathung des Geseßentwurfs, L den Abgabentarif für den Kaiser-Wilhelm-

anal.

Abg. Dr. Hammacher (nl.): Die Einnahmen aus den Kanal-

d oidges find so gering gewesen, daß sie nit einmal die Verwaltungs- often deckten. Auch als internationale Verkehrs\traße hat der Nord-

winnen, so muß der Tarif abgestuft werden nah der Größe der Schiffe. Cs muß danach gestrebt werden, eine mälige Herabseßung der Tarife herbeizuführen. "a aber jeßt noch niht zu übersehen ist, wie die Tarife grnatE werden müssen, so wird es am zweckmäßigsten sein, die gesetzliche egulierung noch einige Jahre hinauszushieben. Redner bittet um weiteres ftatiftisches Material und empfiehlt, eine s{nellere Durch- fahrt durch den Kanal zu gestatten. Geheimer Ober-Re ah das im Reichsamt des Jnnern von

Oftsee-Kanal bisher eine sehr geringe Bedeutung. Soll er diese fe

Jonquiòres stellt fest, daß das \tatistische Material erweitert sei

und daß eine {hnellere Durchfahrt schon jeßt ftattfinde.

___ Abg. Molkenbuhr oz.) hält eine Regelung des Tarifs

im pieNe der kleinen Schiffe für nothwendig, niht für große iffe solle eine Ermäßigung der Abgaben eintreten. Die höheren

Abgaben würden erhoben weges der großen tosispierigen Anlagen,

pon en aber die kleinen Schiffe keinen vollen Gebrauh machen

nnten,

Geheimer Ober-Regierungs-Rath von Jonquidöres erklärt, daß die Kleinschiffahrt mit dem Tarif zufrieden sei; es fehle eben der Verkehr der großen Schiffe.

Abg. Dr. Graf Udo zu Stolberg Ê: kons.) widerspriht der Ermäßigung der Tarife für die größeren iffe, weil dadurch den ohnehin bedrängten kleinen iffern Schwierigkeiten bereitet würden.

Abg. Dr. Hammacher: Wenn die Tari nit herabgeseßt werden, können die großen Schiffe den Kanal niht benußen. Deshalb ist eine allgemeine Herabseßung der Tarife nothwendig.

Eine Kommissionsberathung wird nit beliebt.

Schluß 5 Uhr. Nächste Sißung Dienstag 1 Uhr. (Zweite

Berathung des Margarinegeseßes.)

e

Staatsanwaltschaft

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 62. Sizung vom 4. Mai 1896.

Auf der Tagesordnung steht die Berathung des Antrags der Abgg. Dr, Frufe und E aen (nl.): 5 e Staalsregierung zu ersuhen, in kürzester Frist den langer Zeit in Aussicht gestellten Gelepeatiours dhe Lie Dei: zinalreform vorzulegen, welcher insbesondere das Verhältniß der Kreisphysiker dahin e daß dieselben, unter Beschrbutun ihrer Privatpraxis und entsprechender Erhöhung ihres als pensions- E E Cg E Maße als bisher den er gerichtlihen Medizin u Ö s heitspflege sich widmen können. 0 ua a ind a

Abg. Dr. Kruse: Die Nothwendigkeit einer Medizinalre orm if von der Staatsregierung wiederholt anerkannt worden ; eiter low ist bis heute so gut wie nihts geschehen, und die Regierung trägt allein die Verantwortung für die aus dieser Verzögerung ent- ringen bedenklichen Folgen. Eine Enquête über die Neben- einnahmen der Physiker und eine neue Verordnung über die Prüfung der Physikatskandidaten ist das einzige greifbare Resultat der leßten 20 Jahre. Im Jahre 1885 hat uns der Minister für die nächste Session eine Vorlage in Aussicht gestellt. Und noch immer ist niht genug für die öffentlihe Gesundheit geschehen. Damals sollte der Entwurf bereits fertig sein, und jeßt heißt es: es werden die Grundzüge für einen Entwurf aufgestellt. Es scheint, als ob in den Zwischenzeiten zwischen den Sessionen der Entwurf paragraphen- weise wieder abgewickelt sei. Bei der Angelegenheit der Alexianer hat es erst eines großen Skandals bedurft, um die Regierung zum Einschreiten zu veranlafsen. Die Schwierigkeit einer Medizinalreform ist durch das jahrelange Zögern nur noch erhöht worden. Es scheint, daß man warten will, bis die Zustände unerträglih sind. oder eine Katastrophe, z. B. bei einer Cholera, kommt. Die Lage der Physiker bedarf der Verbesserung, und ebenso muß die Frage der Vorbildung, der praktishen Vorbildung derselben gelöst werden. Der Physikus muß in die Lage gesest werden, den größten Theil seiner Zeit nicht der Privatpraxis, sondern dem öffentlichen Gesundheitsdienst zu widmen. Der Physikus kann si mit den großen Fortschritten auf hygienishem Gebiete der Ie Zeit nicht vertraut genug machen, wenn er nur gelegentlih außer alb feiner Privatpraxis sich damit beschäftigen kann, und doch kann er seinem Amt ohne eingehende Kenntniß dieser Dinge niht vollauf genügen. Redner führt einige Beispiele von Nerná@: lässigung hygienischer Anforderungen bei Schulbauten, bei Bekämpfung ansteckender Krankheiten 2. an, um die Nothwendigkeit einer schleunigen Reform darzuthun, bleibt aber in seinen einzelnen Ausführungen auf der Tribüne unverständlih. Die Befugniß der Physiker zur Junitiative für Maßregeln im Interesse der öffentlihen Gesundheitspflege müsse erweitert, die Privatpraxis derselben beschränkt werden. Kein Geld sei besser verwendet als das, was für die öffentliche Gesundheitspflege ausgegeben werde. Er bitte um einftimmige Annahme des Antrags.

Ministerial-Direktor Dr. von Barth: Der Herr Minister be- dauert sehr, dur eine dringlihe anderweitige amtli e Abhaltung ver- hindert zu fein, sih zu einer Frage zu äußern, die ihm sehr am Herzen liegt und die seit langer Zeit den Sena seiner weitesten Sorge bildet. Soll in dem Antrag der Wunsch liegen, daß die bereits in Angriff genommene Medizinalreform fort eseßt werde, so würde die Staatsregierung dagegen nichts einzuwenden bibens foll aber darin eine Anregung liegen, so ist sie cigentlih überflüssig, und es würde ih vom taktishen Standpunkt aus vielleiht empfehlen, eine motivierte Tagesordnung vorzuschlagen. Die Tendenz des Antrages, wenigstens in feinen Eingangsworten, is der Regierung durchaus nicht unbequem. Es mus auf diesem Gebiete etwas geschehen; es fragt sch nur, wie, as ift „eigentlich Medizinalreform? Manche Tageszeitung würde wahrscheinlich die Antwort auf diese Frage schuldig bleiben. Die Reform zerfällt in zwei Theile: in die Reorganisation des ärzt- lihen Standes und in die e tas im engeren Sinne. Der erfte Theik ift seinem Endziele sehr nahe geführt dur die Errichtung der Aerztekammern, die sih vortrefflich bewährt haben und denen seine Anerkennung auszusprehen der Herr Minister mih beauftragt hat, und durch die neuerlihe Errichtung des Aerztekammerausschusses, der ein Mittelglied zwischen dem Medizinal-Minister und den einzelnen Aerztekammern bilden foll. Dieser Aus\chuß wird sih mit einer Vor- lage über die Errichtung ärztliher Ehrengerichte, Aerztekafsen und der Bewilligung des Umlagerehts an die Aerztekammern zu befassen haben, und wir hoffen, {on in der nächsten Session Jhnen eine ent- sprechende Vorlage machen zu können. Das ist do nicht zu untershäten, aber wir sind damit noch nit zu Ende, es soll Baustein zu Baustein i werden zu einer umfassenden allgemeinen ärztlihen Standesordnung. Daß der zweite Theil der Reform nit so shnell vorwärts gekommen ift, liegt daran, daß die Materie eine sehr shwierige ist und deshalb sehr behutsam in Angriff genommen werden muß. Ih muß aber der tendenziösen Mythe und Legende entgegentreten, als ob der Herr Tan Ster ein Gegner der Reform wäre, weil sie Geld kostet.

ir haben die Grundzüge für eine Medizinalreform aufgestellt und au dem Herrn Finanz-Minister mitgetheilt. Er war weit entfernt zu jagen, daß ihm die Sache zu theuer sei. Es ist selbstverständlich, daß er die einzelnen Positionen unter die Lupe genommen hat, aber die Diskussion hat si erftreckt über das Reformprojekt selber, und da hat der Finanz-Minister aus dem reihen Schaß seiner Er- fahrungen Erwägungen angestellt, welche so bedeutsam waren, daß sie der Kultus-Minister zu prüfen alle Veranlassung hatte. an kann in diefer diffizilen Sache nicht vorsichtig genug sein. Nach meiner Meinung if der Hauptaccent niht auf die Besoldungs- frage der Kreisphysiker zu legen. Bei einer allgemeinen Aufbesserung der Beamtengehälter werden die Kreisphysiker gewiß [niht vergessen werden, dafür bürgen die Fürsorge des Medizinal-Ministers und der Gerechtigkeitsfinn des Finanz-Ministers. Uebrigens trifft das Stich- wort von den 900 M nicht zu. Kein Kreisphysikus hat unter 2000 M4 Einnahme; ih sage niht, daß das genug wäre, aber Viele haben mehr, Einige 10000 A und mehr. Eine Ausgleihung wäre nothwendig, und sie würde sich mit der Reform von selbst entwickeln. Die Hauptsahe is, daß den Physikern eine andere Zuständigkeit gegeben, ihre Initiative erweitert wird. Dem Punkte der Privatpraris der Physiker lege -ih keinen entsheidenden Werth bei. Die Schwierigkeit liegt überhaupt nicht in der Abgrenzung der Zuständigkeit der Lokal-Medizinalbeamten. Eine Reform in dieser Beziehung ift A zwar besonders \hwierig, aber die Hauptschwierigkeit liegt bei den mittleren Behörden, den Bezirksregierungen. Hier müssen wir Wandel schaffen, da die De enn gen chon überlastet sind. Die Reform in dieser D st flüssig, feste Beschlüsse sind noh nicht gefaßt. Vielleicht ommen wir zur Schaffung eines besonderen Gesundheitsraths e jeden Bezirk. Dem Vorredner fehlt es zur Beurtheilung aller unserer Absichten an der nöthigen Information. Die Psychiatrie ift längst Gegenstand der Prüfung für die Physiker gele, neuerdings ist nur besonders darauf hingewiesen worden. Wir haben die Hände niht in den Schoß gelegt, sondern durch verschiedene Verordnungen eingegriffen, z. B. für die Aufnahme und Unterbringung der Geistes- kranken, den Bau von Krankenhäusern, für die Apotheken 2c. Rechnen Sie dazu noch die Dn Polt und andere Projekte, so können wir ohne Ruhmredigkeit sagen, daß wir fast über unsere Kräfte ge- arbeitet haben. Hoffentlih gelingt es uns, die Reform auch weiter zum Segen des Vaterlandes durchzuführen.

Abg. e a fons ) on namens seiner Freunde dem Antrage zu und weist auf die großen wirthschaftlihen Verluste hin welche dur die Cholera in Hamburg herbeigeführt seien. Gerade bei den gesteigerten Verkehrsverhältnissen der Neuzeit sei die Verbreitun anftelender Krankheiten erleihtert, und der Staat habe dádürd größere Verpflichtungen, den Epidemien entgegenzutreten, zumal noch eine neue Epidemie, die Influenza, hinzugekommen sei, ie segens- reich graues tagt var wirken könnten, fige der Rückgang der Sterblichkeit infolge Kindbettfiebers nah Erlaß der T eieelti Verordnung. Im Kampfe mit einer Epidemie werde der Medizinal- Minister zwar mit einem reihen Stabe von Offizieren, aber ohne

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Armee dastehen, denn das für die Mentlige i peitspf p 2 vorhandene Soual sei nicht ausreichend. or igkeiten zurückzuschrecken, entsprehe nicht der preußishen Tradition. Es

komme nur darauf m zu erhoffenden Erfolg die e

an, o uitandas Opfer entspräcen. Er möchte dem Minister den danken nahe legen, Aerzte zu Gewerberäthen zu ernennen, um die bygienischen Verhältnis in der Industrie von Sachverständigen klar- egen zu lassen.

Finanz-Minister Dr. Miquel:

Meine Herren! Ih möchte mit einer persönlichen Bemerkung anfangen. Jch danke dem verehrten Herrn Vertreter des Herrn Kultus-Ministers, daß er es über sich genommen hat, den gegen die Finanzverwaltung geshleuderten, durch die ganze Presse verbreiteten, einfach aus der Luft gegriffenen Behauptungen, daß die Medizinalreform an der Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit des zeitigen Finanz-Ministers gescheitert sei, entgegenzutreten. Meine Herren, wenn mir, der ih in der öffentlichen Gesundheitspflege theoretisch und praktis seit 30 Jahren thätig bin und ih glaube, es is auch nicht so unbekannt, daß ih in dieser Beziehung mit unter den ersten und entschiedensten Vorkämpfern für die ôöffentlihe Gesundheitspflege gestanden habe irgend ein Journalist oder politischer Gegner Kurzsichtigkeit, Eng- herzigkeit, Unwissenheit vorwirft, so kann das mir nur ein Lächeln abgewinnen, ohne daß ih die geringste Veranlassung hätte, mi da- gegen zu vertheidigen. (Sehr gut! rets.)

Meine Herren, der Herr Vertreter des Medizinal-Ministeriums hat hon hervorgehoben, daß eine gründliche Regelung der Medizinal- reform und der öffentlihen Gesundheitspflege nicht entfernt allein eine Gehaltsfrage der Physiker it. Leider muß man ja die Erfahrung genug machen, daß die größten und wichtigsten Fragen heute vielfa auf Gehaltöfragen der Betheiligten reduziert werden und alles Andere in den Hintergrund tritt (sehr richtig! rechts) es findet jeder Stand irgend einen Vertreter. Dann wird die ganze Frage leiht eine Frage der Regulierung der Gehalte.

Aber das führt mich keineswegs dazu, diese Gehaltsfrage als eine niht in Betracht kommende zu bezeihnen. Wenn auch die Erklärungen, die vom Herrn Regierungsvertreter des Kultus-Ministeriums bereits in Beziehung auf die Bezüge der Physiker gegeben sind, durchaus zutreffend sind, und wenn es sich keineswegs bloß um einen Bezug von nur 90 A bei den Physikern handelt, so is doch anzuerkennen, daß in vielen Kreisen und Bezirken wenigstens die Physiker in keiner Weise genügend bonoriert sind, keine genügenden Bezüge haben für die Aufgaben, die ihnen gestellt sind, und daß sie durch diese allzu geringen Bezüge, da sie doch sonst auf den Erwerb angewiesen sind, thren öffentlihen Aufgaben in zu größem Maße ent- zogen werden.

Ich gebe au zu, daß wohl zu erwarten is bei der im Großen und Ganzen so sehr uneigennüßigen und humanen Thätigkeit des ganzen Aerztestandes, was ih hier ausdrücklich anerkenne, wo das Streben der Aerzte keineswegs wesentlid auf Erwerb geht, sondern sie durch die Liebe zu ihrem Berufe und zur Menschheit |ch mehr bewegen lassen als andere Klassen es liegt dies auch in ihrem Beruf, daß eine Erhöhung. der Bezüge der Physiker, selbst wenn man ihnen die Privatpraxis läßt, allerdings gute Folgen haben würde. Aber das wird mir auch jeder Kenner der Sache zugeben, daß ein beliebter und hervorragender Arzt oft garnicht im stande ist, ohne geseßliche Schranke seine Privat- praxis beliebig zu vermindern, daß er gewissermaßen gezwungen wird durch das Publikum, der Privatpraxis sih mehr hinzugeben, als das mit dem öffentlihen Interesse des Physikats vereinbar ift.

Meine Herren, ih erkenne also durchaus an, daß diese Frage recht bedeutungslos ist; aber das Schwergewicht der ganzen Sache, mit der wir es hier zu thun haben, liegt doch nit entfernt in der bloßen Besoldungs8änderung der Physikatsbeamten.

Meine Herren, mir is immer die Schwierigkeit der Frage auf diesem Gebiete erschienen, daß es nach meiner Meinung nie zu vollem Ziel führen könnte, wenn man die Medizinalverwaltung und ihre Organe isoliert von der allgemeinen Staats- und Kommunal- verwaltung. Ich erblicke das Wesen einer durhgreifenden Medizinal- reform darin, daß die Vertreter der medizinischen Wissen- haft und der öffentlihen Gesundheitspflege organisch ein- gegliedert werden in die Kommunalverwaltungen der Ge- meinden, der Kreise, der Provinzen und auch in die allgemeine Staats- verwaltung. So lange der mit dieser Aufgabe vorzugsweise Betraute außerhalb der eigentlihen positiven Thätigkeit auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege fteht, so lange er nur verhindern, verbieten, aufmerksam machen kann, aber selbs nihts Positives schaffen, daher nicht wirken, mit den bêrufenen Organen nicht thätig sein kann, die allein die positive Schaffenskraft besißen —: so lange werden wir nah meiner individuellen Meinung cine durhgreifende Reform, was wir auch zum theil und schrittweise thun mögen, nit erreihen. Meine Herren, ih habe als Bürgermeister in Frankfurt mi bemüht ih glaube, wir waren die ersten einen hervorragenden Arzt direkt in die Stadtverwaltung hineinzuziehen. Er war kein Beamter, der öffentlich polizeiliche Funktionen auszuüben hatte, aber er verwaltete mit, er saß im Squlkollegium, er wurde im Magistrat gehört, er saß in den Verwaltungen, in den verschiedenen Hospitälern und sanitären Junstituten, er lernte seiner- seits verwalten, und die übrigen Mitglieder der Kollegien lernten ihrerseits die tehnisch - medizinishen Fragen shäyen. Er gab nah allen Richtungen hin Anregung, und er wirkt heute noh segenöreih. Ich habe mich früher auf den Städtetagen, wo ih theilnahm, und sonft immer bemüht, auf meine Kollegen dahin zu wirken, daß sie diesem Vorgang folgen, und bin erstaunt, daß selb eine Stadt, wie Berlin, foviel ich weiß, heute diese Einrihtung noch nicht besißt. (Rufe: Doch!) Meine Herren, ähnlih müßte ih führe dies nur beispiels- weise an nah meiner Meinung die Stellung des Physikus au zu - den Kreisausshüfsen sein. Der Vhysikus müßte über diese Fragen im Kreisaus\{chuß seine Ansichten entwickeln, das Interesse und Vér- ftändniß der verwaltenden Organe nah den betreffenden Seiten hinlenken, die Art und Weise, wie Mängeln abgeholfen werden könne, bezeichnen, selbstverwalten, mitlernen, auch auf dem noch viel schwierigeren Gebiet des ländlichen Sanitätswesens, selbstverständlih auch hinsichtlih der Bedeutung der Kosten, die daraus entstehen; denn nichts is unbe- grenzter wie die öffentlihe Gesundheitspflege und Medizinalpolizei; sie ist geseßlih unbegrenzt, sie ist thatsählich unbegrenzt. Wer darin wirken und dekretieren will, der muß die gesammten sozialen und wirth- schaftlichen Zuftände kennen und vor allem die finanziellen Mittel, -

die in gegebener Zeit zur Disposition ftehen, der muß mitten im