1896 / 297 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 15 Dec 1896 18:00:01 GMT) scan diff

will ih gerade Aen der Zier erei der Sache dem Angeklagten „Lieber die zwei Instanzen geben. Beim letzten Punkt kann ich mi Unter keinen Umständen entshließen, für die Eins, ränkung des Wieder- -aufnahmeverfahrens einzutreten. Jeder Vertheidiger weiß, in wie wenig Fällen es heute gelingt, die Wiederaufnahme durchzusetzen. Heute foll die Unschuld des Angeklagten dargelegt werden. Fh meine, man sollte beim Wiederaufnahmeverfahren, bei der Ent- fchädigung Suldig Verurtheilter niht zu hohe Forderungen stellen. - Man sagt in Regierungskreisen: die Volks\eele empört fi dagegen. Ih mcine, die Volksseele spricht sich mehr dagegen aus, wenn eine unmotivierte Verurtheilung, als wenn eine unmottivierte Freisprehung erfolgt. Die dritte Lesung wird nur eine Beerdigungs- feier für die Vorlage sein. Die Forderung nah der Berufung wird im Volke niht \{chwäher, fondern stärker werden, und endlich wird die Regierung sih doch entschließen müssen, die Berufung ohne eine Verschlehterung der ersten Justanz einzuführen,

Abg. Lenzmann (fr. Vp.): Ih muß leider auch annehmen, daß die Vorlage scheitern wird, trogdem ih noch hoffen möchte, da noch in leßter Stunde eine Verständigung erfolgen möge. Deshalb müssen wir bis zum leßten Augenblick versuchen, die Vorlage zu stande zu bringen. Ich Mee nur in meinem eigenen Namen; ich befürhte sogar, daß meine politishen Freunde mir widersprehen wer- den, daß ih vielleiht den Beifall von der Seite erhalte, an deren Beifall mir sonst wenig gelegen ist. Aber felbst auf die Gefahr hin, als Reaktionär vershrien ¿zu werden, muß ih meine Ueberzeugung vertreten, weil mir die Sache zu heilig ist. Sollte es denn so schwer werden, cine Verständigung zu finden in einer Sache, an welher so lange gearbeitet wird ? Sollte sich bei einer ver- ständigen Volksvertretung und einer verständigen Regierung nicht ein Weg der Verständigung finden? Jch war stets der erste Nufer im Streit, wenn es \ch um die Berufung und die Entschädigung der Justizopfer handelte; ih kann es nicht begreifen, daß man das Zustandekommen verhindern will, bloß um Necht zu behalten. Jch kann es nicht begreifen, daß die Regierung aus rein finanziellen Gründen das Geseß scheitern lassen wird. Die Gestaltung der ersten Justanz, des Wiederaufnahmeverfahrens und der Ent- schädigung sind die drei Hauptfragen. Alles Andere, glaube ih, wird von den verbündeten Regterungen angenommen werden. Ich bin ein großer Gegner des Zeugnißzwangs, dieser geistigen Tortur, die auf un- moralishem Wege die Wahrbeit erforschen will ; aber dieser Zeugniß- zwang ift nicht fo shlimm, daß ih deswegen die Borlage fceitern lassen möchte, denn beim Scheitern derselben bleibt der Zeugnißzwang bestehen. Man fagt, es ist eines Volksvertreters unwürdig, umzus fallen. Durch eine solche Redewendung wird nit ein einziger un- [uldig Verurtheilter entshädigt. Die Verantwortung der Ne- gierung zuzuschieben, ist auchß cin \{chræächlicher Trost für die un- [huldig Verurtheilten. Die Berufung darf nicht in derselben Atmo- sphâre durchgeführt werden. Jch will sie dieser Atmosphäre entrücken an die Dber. Lande8gerihte. Warum hat das Zentcum diese Frage nicht in der zweiten Lesung angeregt ? Man scheint neue Streitpunkte hervor- zusuchen, um nur das Geseß zum Scheitern zu bringen! Um die Frage, ob drei oder fünf Richter, wird sich der Streit hauptsächlich drehen. Ich bin neugierig, ob die Vertreter dec verbündeten Negie-

rungen ein „Unannehmbar“ aussprechzen. Ih. muß allerdings mit der

traurigen Möglichkeit rechnen, und deshalb richte ih an die ver- bündeten Negierungen und an den Reichstag den Appell, die Sache nochmals zu prüfen. J für meine Person bin kein begcisterter An- hänger des Fünf-Richter-Kollegiums; unter Umständen ist mir ein aufmerksames Drei-Männer-Gericht lieber als ein zerstreutes Fünf- Männer-Gericht. Bei der Annahme eines Drei-Richter-Kollegiums bleibt die Berufung und das Fünf-Männer-Kollegium noch immer offen. Aber dieser Verichlehterung der ersten Jnstanz, wenn es cine solche ist, ftehen mannigfache Verbesserungen gegenüber. Die Gründe der verbündeten MNegierungen wegen der kleinen Landgerichte und wegen des Geldpunktes sind allerdings auch nit durhschlagend. Denn durch die Ablehnung der Vorlage wird ja das Verhältniß bei den kleinen Landgerichten au niht ge- bessert. Ich veistehe es aber niht, wie demjenigen, der

den Grund der Geldkosten anführt, niht die Schamröthe ins Ge- |

ficht steigt. Jst es denn mit unferer deutschen Nation schon soweit gekommen, daß die Finanz-Minister sämmtlicher Bundesstaaten sich dem cinen allmächtigen preußischen Finanz-Minister unterordnen ? Klang es nit wie Spott und Hohn, als der sächsishe Vertreter auf die 200000 A Kosten für Sachsen hinwies? Das wäre ebenso unmoralisch, als wenn ein Mann mit 10000 (A Einkommen ih weigert, 10 Z zur Erfüllung einer sittlihen Pflicht auszugeben. Wo Milliarden ausgegeben werden für Zwecke der Zerstörung, follen nit einige tausend Mark vorhanden sein, um die Säulen der Gerechtig- keit, auf denen die Reiche beruhen, zu befestigen? An dieser Finanz- frage können die verbündeten Regierungen die Borlage nicht scheitern lassen. Jch habe mich für verpflichtet gehalten, zu meiner eigenen Genugthuung alle mögliche Selbstverleugnuny zu üben, um dem Bolke das zu geben, was es seit 15 Jahren verlangt. Ih habe miq ge- müßigt gesehen, in leßter Stunde zu warnen, damit die Negierung dem Volke das giebt, was es verlangt: Recht und Gerechtigkeit.

Abg, Stadthagen (Soz.): Diese Fragen werden Sache der Spezialberathung sein. Jch kann den Boden nit betreten, daß ih mich dana rihte, was die Regierungen von vornherein als un- annehmbar bezeichnet haben. Das würde ja heißen, die Macht unserer Gründe mißahten und Mißtrauen zur Einsicht der Regierung haben. Wenn die §§ 53 und 69, welche die Grundlage für die Spigtelei ab- geben, aufgehoben werden, syart man inehr als 500000 A Auf den Zeugnißzwang können wir nit eingehen, er muß beseitigt werden, zumal er jeßt auch auf das Disziplinarverfahren ausgedehnt wird; ebensowenig fönnen wic auf das summarishe Verfahren eingehen, namentli} nah den neuesten Erlebnissen mit den Polizeispiteln. Ni@t eine beschleunigte Strafrechtspflege wird geschaffen, sondern ein zu Ungunsten des Angeklagten verlangsamtes Verfahren. Die Frage der Entschädigung unschuldig Verurtheilter muß unter allen Umständen geregelt werden, unabhängig von der Reform der Strafprozeßordnung. Dei dieser Frage darf es keinen Handel geben. Das könnte nur seitens der Regierung geschehen, wenn sie das Volk unterdrücken und die absolutistish - feudale Gewalt ftärken will. Das Spttelunwesen muß beseitigt werden, um das Vertrauen zu den Nictern zu stärken. Ich erinnere nur an Opalenica. Die Regierung will die Gerichte in der Hand haben, deshalb will sie die Assessoren in den Strafkammern und die drei Richter; das hat sie zwar nicht gesagt, aber ih gestatte mir, so weit Gedanken zu lesen. Deéhalb haben die éürgerlihen Parteien alle Veranlassung, unseren Anträgen zuzustimmen und die von der reten Seite gestellten abzulehnen. Die politische Polizei steht noch über der Staatsanwaltschaft und den Gerichten. Schon zur Zeit Hinckeldey?s hielt man sie für reformbedürftig. Jeßt ist das Urtheil des Volks darüber abgeschlossen. Wird die Thätigkeit der politischen Polizei nicht beseitigt, so tritt an die Stelle des Nechts die Nechtébeugung. Mit den geseßlichen Phra'en vou der Unabhängigkeit der Richter wird nihts geschaffen. Die Schläge der Justiz werden hauptsächlich die Arbeiter fühlen, denn ihnen gegenüber wird die Justiz als Kampf- mittel angewendet.

Abg. Dr. von Wolszlegier -Gilzenburg (Pole) empfiehlt für die polnishen Landestheile diz Anstellung verständiger Dolmetscher, die jeßt eine sehr ungenügende Vorbildung hätten; dann würde die große Zahl von Meineiden verschwinden, die jeßt in den polnischen Landes- theilen unbewußt geleistet würden. Redner erklärt sih für die Be- seitigung des Zeugnißzwanges, für den Nacheid und gegen die Berufung bei den Vber-Landesgerihten. Lieber keine zweite Instanz als die Ober- Landesgerihte. Denn die polnische Bevölkerung stehe heute son außerhalb alles Rechtes, indem sie zum Gebrauch der deutshen Sprache

gezwungen werde.

Justiz-Minister Schönstedt:

Meine Herren! Es ist ja zweifelhaft, ob die von dem Herrn Abg. Dr. von Wolszlegier angeregten Spezialfragen in den Rahmen der Generaldiskussion des jeßt vorliegenden Gesetzes gehören ; da der Herr

Abgeordnete aber an mich direkte Anfragen gerichtet hat in meiner Eigenschaft als preußischer Justiz-Minister, so will ih nicht anstehen, diese Fragen kurz zu beantworten.

Meine Herren, zunächst kann ih die im preußischen Abgeordneten- hause mehrfach abgegebene Erklärung au hier wiederholen, daß die Königliche Staatsregierung, speziell die Justizverwaltung, nah Kräften bemüht ist, für eine ausreihende und sahgemäße Beseßung der Dolmetscherstellen in den polnischen Landestheilen und ebenso für eine möglichst tüchtige Auébildung der Dolmetscher und für die Feststellung ihrer Qualifikation durch eine geeignete strenge Prüfung Sorge zu iragen. Nach den mir erstatteten Berichten ist dieses Ziel auch im allgemeinen erreiht, wenn auch hier und da bei einigen Gerichten noch Schwierigkeiten vorliegen mögen, die einer durchaus befriedigenden Löfung der Frage im Wege fstehen. Soweit in dieser Beziehung Mängel zu meiner Kenntniß kommen, bin ih jederzeit bereit, das Meinige zu thun, um ihnen abzuhelfen.

Die zweite Frage des Herrn Abg. Wolszlegier war darauf ge- rihtet, ob mir eine Verfügung des Ober-Landesgerichts-Präsidenten in Marienwerder aus dem November dieses Jahres bekannt set, wonach dem anscheinend umsihgreifenden Mißbrauch entgegengetreten werden soll, daß Polen, denen die Kenntniß der deutschen Sprache beiwohnt, dieselbe bei ihren Vernehmungen vor Gericht verleugnen. Ich kann darauf erklären, daß diese Verfügung mir bekannt ist, und daß sie von mir vollständig gebilligt wird. (Bravo! rets.) Sie bewegt sich auf dem Boden des Sprachengesetes von 1876, wona die deutsche Sprache in allen gerichtlichen Verhandlungen gebrauht werden soll, soweit sie gebraußt werden fann. Nun ift es zur Kenntniß. der Behörden gekommen, daß nicht selten Polen vor Geriht die Kenntntß der deutschen Sprache verleugnen, obgleich sie diesclbe Sprache genügend beherrschen. Andere Behörden haben darauf hingewiesen, baß Personen bei gerichtlichen Vernehmungen sich den Anscein geben, als wären sie der deutschen Sprache in kciner Weise mächtig, während sie, wenn sie bald nachher vor dem Amtsvorsteher stehen, oder da, wo es für sie darauf ankommt, etwas Bestimmtes zu erreichen, sich sehr wobl in der deutshen Sprache aus- drücken können. Es ist auch ein solcher Fall, in welchem wider besseres Wissen die Kenntniß der deutshen Sprache von cinem Zeugen abge- leugnet worden ist, im vorigen Jahre cinmal geriwilih festgestellt worden in einer Strafscche gegen eine Zeitung, welche Vorwürfe gegen einen Richter wegen seines Verhaltens in etnem {olchen Falle er- hoben hatte. Ih halte es für meine Pflicht, nah Kräften dahin zu wirken, daß auch das Sprachengesetz zur Ausführung gebracht werde, fowecit dies nach den thatsächlihen Verhältnissen möglich ist. Die Verfügung des Herrn Ober: Landesgerichts-Präsidenten ordnet Nichts an, was vom gesezlihen Standpunkt aus angefochten werden könnte; sie ordnet nichts weiter an, als daß da, wo das Gericht die Ueberzeugung ge- winnt, daß die Kenntniß der deutschen Sprade wahrheitswidrig ver- leugnet wird, mit den geseßlichen Mitteln dagegen einges(ritten werde. Worin diese Mittel bestehen, darüber habe ih mi nicht auszulassen; es wird sih in der Praxis von selbst finden, wie diese Bestimmung zur Anwendung kommt. Daß aber solche Fâlle in der That vor- kommen, und daß es in zahlreihen Fällen nit fo {wer sein wird

j sür den Richter, der die Verhandlung leitet, eine fesie Ueberzeugung

darüber zu gewinnen, ob jemand der deutschen Sprache mächtig sei, wird ohne weiteres zugegeben werden können. Wenn eine Person vor Geriht ersheint, die eben nah 6- bis Tjähriger S@ulzeit eine Schule verlassen hat, in der sie die deutsche Sprache hat lernen müssen, und sich so anstellt, als wenn sie kein Wort Deutsch verstände : wenn ein Pole, der in eirem deutschen Regiment in deutscher Gegend ¿wei oder drei Jahre gedient hat, vor Gericht in seiner Heimath erklärt, er könne kein Wort Deuts folche Fälle sollen vorkommen so ist der Nichter durchaus berechtigt, anzunehmen, daß wider besseres Wissen diese Erklärung abgegeben \ci, und er ift niht nur berechtigt, sondern verpflichtet, dagegen mit den geseßlih gebotenen Mitteln einzuschreiten. (Bravo! rechts.)

Abg. Dr. Görß (fr. Vgg.): Es ist begreiflih, daß ein Mann,

der an der Spiße der Bewegung für die Berufung gestanden hat, seine warnende Stimme erhebt: aber er wird auch begreifen, daß wir lediglich aus sahlichen Gründen anderer Meinung sind als er. Bereits in den sicbziger Jahren wurde darauf hingewiesen, daß die Straf- prozeßordnung keine Parteisache is. Das Wort gilt noch heute. Unter meinen Freunden giebt es au einige, die gegen die Berufung sind. Aus dem Begriff der Mündlichkeit und Ünmittelbarkeit der Vers» handlung folgt die Verwerfung der Berufung; cin zweites Verfahren wird immer nur ein abgeshwächtes Bild des ersten sein. Aber nie- mals kann man eine Berufung erkaufen durch eine positive Ver- s{lechterung der ersten Fnstanz,. Dem Laienelement muß cin möglihst großer Spielraum in der Nechtspflege eingeräumt werden. Deshalb müssen wir das Institut der Schöffen- gerihte ausdehnen und müssen dabei in die weitesten Volkékreise hinaus- gehen ; darin stimme ich mit den Sozialdemokraten überein. Denn wir haben mit den Gewerbegerihten durchaus gute Erfahrungen ge- macht. Die Berufung soll. erkauft werden durch die Ein- shränkung des Wiederaufnahmeverfahrens, die Unschuld des Ver- urtheilten soll nachgewiesen werden, niht bloß eine Erschütterung der Beweise. Wird an dem Fünf: Männer-Kollegium festgehalten, wird das Wiederaufnahmeverfahren nit aufrecht erhalten, wie es jeßt be- steht, fo wird die Mehrzahl meiner politishen Freunde der Vor- lage nicht zustimmen können. Erfreulich ist es, daß in das Treiben der politischen Polizei eine kräftige Hand eingegriffen und die Oeffent- lihfkeit dagegen aufgerufen bat. Bedauerlich ist, daß in einem der leßten Prozesse ein Zeuge, ein Beamter, keine Aussage machte, troßdem es fih um das Interesse des Staats handelte. Hierin muß unter allen Umständen eine Wandlung hberbeig:führt werden. Abg. Graf von Bernstorff (Rp.): Der Ton der Berhandlung ist ein ziemli elegischer, troßdem die Vorlage doch erhebliche Ver- besserungen bringt, namentlich die Einführung der Berufung und des Nacheides und endlich der Entschädigung unschuldig Verurtheilter. Im Laufe der Verhandlungen sind allerhand Verbesserungen in die Vorlage hineingekommen, über die man getheilter Meinung sein kann. Ueber die Beschlüsse der Kommission wäre leiht eine Berständigung herbeizuführen gewesen. Für die Bestimmungen über das Forum für die Presse und über die Heranziehung von Assessoren liegt kein zwingender Grund vor. Die Beschränkung der Strafkammern auf drei Nichter bringt den Angeklagten nicht in eine shlechtere Lage.

Abg. Dr. Förster- Neustettin (Np.): Auch wir legen allen Werth auf die Hauptpunkte, die heute hon erwähnt sind. Dem Angeklagten foll kein Weg zu seinem Rechte abgeshnitten werden. Wir sind deshalb für das Fünf-Männer-Kollegium' gegen die Einschränkung des Wiederaufnahmeverfahrens, für die Entschädigung unschuldig Ver- urtheilter und gegen die Beschränkung der Schwurgerichte. Die Einigkeit über die Vorlage ift so {wer zu erzielen, weil der Bundesrath für die Berufung Kompensationen fordert, während der Reichstag noch weitere Wünsche hat. Wie soll man da anders zur Ver- ständigung kommen als auf dem Wege, den Herr Lenzmann vor- geshlagen hat, mit dessen Ausführungen ih aber nicht einverstanden bin? Hätte man den großen Scha des Bürgerlichen Gescbuches

der Regierung niht zur Verfügung gestellt, dann hätten wir weniger Schwierigkeiten zu Hbenvinket Daß die Geldfrage A in Betracht kommt, wo es die Rechtspflege gilt, ist au unsere Meinung. Wenn die Berufung mit aller Garantie, wenn die Ent- schädigung unschuldig Verurtheilter eingeführt wird, wenn der Meichs- tag auf alles Andere verzichtet, dann könnten die verbündeten Negie- rungen wohl zustimmen. Betrachtet die Regierung ihre Vorlage aber als ein untheilbares Ganzes, so würden wir ihr nit zue stimmen können, weil damit nur ein Schein der Besserung herbei, geführt würde. Wir müssen wissen, was die Regierungen beschlofsen baben. J erwarte, daß die verblindeten Regierungen uns das be- stimmt erklären, ehe wir in die Spezialdiskussion eintreten.

Nach 51/4 Uhr wird nach einigen persönlichen Bemerkungen die weitere Berathung bis Dienstag 1 Uhr vertagt.

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 11, Sißung vom 14, Dezember 1896.

Ueber den ersten Theil der Sißung ist gestern berichtet worden.

Den nächsten Gegenstand der Tagesordnung bildet die erste Berathung der Entwürfe einer Städteordnung und einer Landgemeinde-Ordnung für die Provinz Hessen: Nassau.

Minister des Jnnern Freiherr von der Recke:

Meine Herren! Iw bitie um die Erlaubniß, die heute zur Be, rathung \tehenden Entwürfe etner Landgemeindeordnung und einer Städteordnung für die Provinz Hessen-Nassau mit einigen einleiten- den Worten begleiten zu dürfen. Jh möchte an die Spitze meiner Ausführungen den Say stellen, daß diese Geseßentwürfe niht etwa Üniformierungébestrebungen ihre Entstehung verdanken im Sinne einer einheitlihen Ausgestaltung der Landesgeseßgebung, fon- dern lediglih einer Reformbedürftigkeit des Gemeindever- fassungsrechts in der Provinz Hessen-Nassau. Es handelt d also nit darum, der in einem großen Theile der Monarchie bereits bestehenden Gesetzgebung ein größeres Geltungsgebiet zu verschaffen dur) Ausdehnung auf die Provinz Hessen- Nassau, fondern ledigli darum, shreienden Mißständen auf dem Gebiete des Gemeindever- fassungêrehts in dieser Provinz Abhilfe zu verschaffen.

Es ist die Frage der Neuordnung des Gemcindeverfassungsrehts in Hessen-Nassau son an vielen Stellen zur Sprache gekommen, auch wiederholt in diesem hohen Hause. Es ist aber bis jet nur gelungen, die auf diesem Gebiet hervorgetretenen dringendsten Unzuträglichkeiten t urch Erlaß in der Städteordnung für den Regierungsbezirk Wiesbaden vom 8. Juni 1891 zu beseitigen. Dieselbe ist in einer Reihe größerer Städte des Regierungsbezirks Wiesbaden zur Einführung gekommen und {ließt sich im wesentlichen an die Städteordnung von 1853 an.

War s Zwcck diefer Städteordnung, nur proviforisch den be- stehenden Mißständen abzuhelfen, und zwar nur für einen Negie- rungsbezirt, so sollen die jeßt Ihnen vorgelegten beiden Gesfeßentwürfe dauernd cin einheitlihes Gemeindeverfassungsre{t für die ganze Pro- vinz afen.

Das Bedürfniß hierzu is niht minder aus der Bevölkerung selbst heraus, als au seitens des Provinzial - Landtages anerkannt worden. Es ift au in der That nicht zu bestreiten, wenn man fich vergegenwärtigt, daß in dieser verhältnißmäßig {leinen Provinz nicht weniger als aht Gemeindeverfassungsgeseue in Geltung sind. Es sind dics, um dies hier noch einmal zu rekapitulieren: 1) die Ge- meindeordnung für die Städte und die Landgemeinden Kurbessens vom 23. Oftober 1834 mit ciner ganzen Rethe dazu ergangener No- vellen; 2) die in den vormals Königlich baycrishen Gebietêstheilen des Regierungsbezirks Cassel noch geltende Königlich bayerische Ver- ordnung, die künftige Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Königreich betreffend, vom 17. Mai 1818, sowie die später dazu er- gangenen Novellen; 3) das Nassauische Gemeindegesez vom 26. Fuli 1854, nebst etner Novelle; 4) die in den vormals Großherzoglich hessischen Gebietstheilen der Regierungsbezirke Cassel und Wies- baden z. Zt, noh geltende Großherzoglich hessishe Gemeindeordnung vom 20, Juni 1821, nebst einer großen Zahl von Novellen; 5) das in dem zum Regierungsbezirk Wiesbaden gehörigen Theile der vor- maligen Landgrafschaft Hessen-Homburg geltende Landgräflich hessische Gescß vom 9. Oktober 1849, ebenfalls mit ciner Reihe von Novellen: 6) die Gemeindeordnung für die Landdorfschasten des früheren Ge- bietes der vormaligen freien Stadt Frankfurt a, M. vom 12. August 1824. Dazu kommt 7) die vorhin {on erwähnte Städteordnung für den Regierungsbezirk Wiesbaden vom 8, Juni 1891 und 8) das Gemeindeverfassungögeseß vom 2%. März 1867 für die Stadt Frank- furt; leßteres soll allein unberührt bleiben.

Von diesen geseßlichen Bestimmungen gelten, wie au {hon in den Motiven zum Ausdruck gebracht ist, nicht weniger als 4 allein in dem verhältnißmäßig kleinen Landkreise Frankfurt, der ungefähr 50 000 Einwohner zählt,

Aber nit nur die Buntscheckigkeit diefer Geseßgebung muß dazu führen, ein neues Gemeindeverfassungsgeseß zu schaffen, auch der Inhalt dieser Geseße giebt nah vielen Nichtungen hin zu sehr erheb- lichen Unzuträglichkeiten Veranlassung. Ein Theil dieser Bestim- mungen ist vollständig veraltet. Diejenigen Gesetz, die in den vormals hessishen und bayeri|chen Gebietstheilen gelten, sind in thren Heimathstaaten längst abgeändert. Dazu kommt, daß die preußische Landesgeseßgebung und au die Reichsgeseßzebung hineingegriffen haben in diese Bestimmungen, und daß hinsihtlih mancher Vor- schriften diejer Gesehe erhebliche Zweifel über ihre Geltung bestehen. Es bedarf manhmal im Einzelfalle der subtilsten Interpretation, um niht zu ganz wunderbaren Entscheidungen zu gelangen. Es muß häufig, wenn auch niht contra, so doch praeter legern entshicden werden. Dieser Zustand ist vollständig unhaltbar und stellt nament- lih die nit fahmännisch gebildeten Bürgermeister vor manchmal ganz unlösbare Aufgaben. Auf der anderen Seite ist nun aker keine®- wegs zu verkennen, daß die jeßt noch geltenden geseßlidhen Be- stimmungen cine große Anzahl sehr verständiger Vor- schriften enthalten. Namentlich erfreut sich die fkurhessische Gemeindeordnung eines so wohl begründeten Rufes, daß hierfür sogar einmal der Gedanke auftauchte, die erforderli werdende Abänderung und Neuregelung der Gemeindeverfassung in der Provinz Hessen-Nassau durch Ausdehnung der kurhessishen Gemeindeordnung auch auf die anderen Gebietstheile zu bewirken. Es hat ih dies jedoch als un- ausführbar erwiefen; die Gründe finden Ste, meine Herren, in den Motiven näher auseinandergeseßt.

Die vorstehenden Bemerkungen geben mir {hon von selbst einen Fingerzeig, wie man sich bei der neuen Geseßgebung zu verhalten

habe. Wir Haben uns bestcebt, möglihst viel von den guten alten NBorschriften zu konservieren und den besonderen Verhältnissen der Provinz mögli Rechnung zu tragen. Daß dabei aber auch ver Gedanke der Einheitlichkeit der Landesgeseßgebung nicht außer Betracht zu lassen war, meine Herren, das betrahte ih als selbftverständlich, und das werden au Sie begreiflih finden.

Diese Gefsfeyentwürfe bedeuten, wenn fie Geseß werden, einen

erheblichGen Schritt vorwärts auf dem Gebiete bder Selbstverwaltung der Gemeinden. Die einengenden Bestimmungen auf diesem Gebiete, die fic in den alten Gesegen finden, sind möglichst gestrichen, und es finD nur diejenigen Aufsihtsrechte erhalten, die sh nah den Er- fahrungen in den anderen Gebietstheilen der Monarchie als durhaus nothwendig erwiesen haben. Mit diesen Gesey- entwürfen wird die Provinz Hessen-Nafsau ungefähr das Maß der Selbstverwaltung erhalten, wie die östliGen und mitt- leren Landestheile Preußens. Sie wird ein cinheitlies Gemeindeverfaffungsgeseß für die ganze Provinz bekommen, und die Ein Heitlichkeit wird, so hoffe ih, auch dem Zusammenschluß der ver- shiedenen Gebietstheile in der Provinz Hessen - Nassau besonders förderfsam fein. Bei der auch Ihnen, meine Herren, bekannten eigen- thürntihen Zufammenseßung der Provinz Hessen - Nassau lege ich auf diefen Punkt ein ganz besonderes Gewicht. Ich will auf Einzelheiten des Seseßentwurfs jeßt niht näher eingehen; es wird sh, wie ich glaube, im Laufe der Diskussion noch genügend Gelegenheit bieten, einige der Hauptgrundsäße zurückzukommen. Meine Herren, ih bitte Sie um eine eingehende, wohlwollende Prüfung der Borlagen und hoffe, daß es unter Ihrer bereitwilligen Mitroirkung gelingen wird, für unsere {chöne Provinz Hessen - Nassau ein Þraftisch braudbares Gemeindeverfassung8geseg zu stande zu bringen, welŒWes gleihmäßig den Interessen der Bevölkerung und den ftaat- lien Irteressen entspriht. (Bravo!)

ibn. Dr. Lieber (Zentr.): Wir erkennen die Nothwendigkeit einer Meforin vieler Bestimmungen des Gemeindeverfassungsrechts in Hessen-Nass:u und der Herstellung einer Ginheitlichkeit an. In leßterer Beziehung is man aber wohl zu weit gegangen, und hier wirD Dte Lorrettur des Gesetzes einzuseßen haben. Es ift auffallend, daß die Stadt Franffurt, als wäre sie beute noch eine frete Neicsstadt, ibre Befonderhbeiten wieder genießen soll und die übrigen Gebiete nit. Dafür if}t ein Grund nicht angeführt worden. Jn der Kom- mitfion müfse die Regierung Material beibringen, welches die Aus- nah!neftellung Frankfurts rechtfertige, fonst widerfpreche die Borlage ihrem cigenen Zweck der Herstellung einer Einheitlichkeit. Es müsse auf Die Gefühle der übrigen Provinz Nüksiht genommen werden,

ih du:ch diese Ausnahmestellung Frankfurts zurüd- fühlen föônne. Lroß der Nachtheile einer buntscheckigen ift die etne Verschiedenheit in Hessen-Nassau nicht zu weisen, nämlich die besondere und verschiedene kom- ische Verwaltung in den beiden MNegierungsbezirken Caffel und ABiesbadea. In beiden haben fich die Berhältnisse historisch für nh eschieden entwidelt, daß es hier fchwer ift, einheitlich vor- zugeben, ) ie beretigten Eigenthümlichkeiten der Bevölkerung zu Éränfken. S8 muß ein Mittel zwischen der Einheitlichkeit und der Schonung der Besonderheiten gefunden werden. Die Einheitlichkeit der Städteordnung mag erwünscht sein, ob aber auch die Verhältnisse der Vandgemeinden unter einen Out zu bringen seien, is mir zweifelhaft. WMedner fritisierte dann einige Einzelheiten der Vorlage im Sinne einer größeren Freiheit dergSelbstverwaltung und wandte fih HBecfonders gegen bie Neueinführung des Dreiklassenwahlre{ts in dem ehemaligen Kurfürstenthym Hessen, die um so auffälliger fei, als Frankfurt feine Sonderstellung und sein direktes Wahlrecht be- halten folle. Die Begutachtung der _Vorlage durch den Provinzial- Landtag fei nicht maßgebend für die Stimmen der Bevölkerung, denn dort Haben die Bertreter des einen Regierungsbezirks diejenigen des anderen: in manchen Punkten majorisiert; man hâtte die Kommunal- Landtage jedes Bezirks besonders fragen sollen. Redner beantragt die Ueberweisung der beiden Vorlagen an eine Kommifsion von 21 MitagCiedern. Abga. Kircher (Zentr.) hält es für eine Verbesserung, daß nah er orlage der Schwerpunkt der Verwaltung vom Magistrat auf ie Stadtverordneten übergehen und die Autonomie der einzelnen Ge- meinDen gewahrt werden foll, bedauert aber, daß das feit 62 Jahren besteHerde WabHhlfystem in Kurhessen durch das Dreiklassenwahlreht erfeßÈ werden foll. Man hätte den ersten, dem Provinzial-Landtag vorgelegten Entrourf aufrecht erhalten sollen, worin das alte hessische Wabhlrecht gewahrt geblieben sei. i L Sas

Abg. Dr. Lgotichius (nl.) erklärt si gleichfalls gegen das Drei- flassenmwablrecht fowie gegen die Wahl der Bürgermeister auf Leben®- zeit und wünscht eine besondere Prüfung der Befoltungsbestimmungen in der Kormnmission.

Abg. Zimmermann (fr. kons.) begrüßt die Vorlage mit FrcuDer, weil fie einen festen geseßlichen Boden für die Verwaltung biete und endlich die lange ersehnte Einheit in der Provinz herbei- fübre. Bon einer gedeihlihen Regelung des Wahlrechts _werde allerdings wesentli das Sch:ckjal der Vorlage abhängen. In der Kommission werde diese Frage eingehend geprüft werden müssen, und seine Partei werde für dasjenige Wahlsystem stimmen, welches allen Klassen der Bevölkerung ihr Net gebe. Zweifelhaft fei ihm, ob es rictig fei, in den Landgemeinden und kleinen Städten die alte Kollegtialverwaltung durch cine bureaukratische Verwaltung zu ersetzen. Unversftändli wroerde es dem Volke . fein, daß richterliche Beamte, Geistliche, Lehrer 2c. von der Gemeindeverwaltung ausgeschlossen sein sollen. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Entwürfe, der 1. April 1898, fcheine ihm auh niht günstig gewählt, weil dann alle Be- amten mit der Steuereinshäßung zu thun hätten, er {lage den l. ODEtober 1897 vor. : S

Abo. Schaffner (nl.) sührt aus, daß das Dreiklassen-Wahlrecht lh feit 1874 in Naffau sehr wohl bewährt habe. Er bemängelt aber Die Bestimmungen über die Besoldungen, deren Festseßung den Gemeinden felbft überlasfen werden müsse. i

AGHg. von Pappenheim (fkonf.) kann „nit anerkennen, daß das Dreiklassen-Wahlreht so sehr von dem bisherigen Zustande in Dessen abrweiche, denn in der Praxis seten dort schon jeßt zahlreiche Leute, namentlich in abhängiger Stellung, von der Wahl aus- geschloffen. Es habe nihts näher gelegen, als _das in Nassau bereits bestebende Dreiklassen-Wahlsystem auch auf Hessen auszudehnen. Die Gemeindevermögenséverhältnisse in Hessen - Nassau unterschieden sich wesentlich von denjenigen anderer Provinzen, und es müsse eine dauernde fahgemäße Vermögenéverwaltung im Gese gesichert werden. Der bureaufratisckche Ortsvorstand crrege ihm in diefer Beziehung keine Bedenken. Hessen-Nassau sei neuerdings mit allerlei neuen Gefegen überhäuft worden, und gerade die dortige Bevölkerung hänge fest am Althergebrahten ; nichts desto weniger habe der Provinzial-Landtag die Nothroendigkeit der vorltegenden Gesetzentwürfe anerfannt. Es fei es Minister zu danken, daß dieselben am Bestehenden möglichst fest- )alten.

MWMeinister des Jnnern Freiherr von der Rede:

Vêèéeine Herren! Jh stimme mit dem Herrn Vorredner voll- fommen darin überein, daß es äußerst unerwünscht ist, jeßt mit fo langen Borlagen von zusammen etwa zweihundert Paragraphen an das HoHe Haus zu treten. Es is mir dies selbst am wenigsten \ympatBHisc, weil ich ebenfalls der Auffassung huldige, daß es an der Beit i. “die Gese tgebung8maschine in ein etwas langsameres Tempo zu bringen. (Sehr wahr! rets.)

Wenn ih aber nichts destoweniger mich dazu entschlossen habe,

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diefe beiden Vorlagen zu machen, so können Sie, meine Herren, \ich versichert halten, daß es ich in der That hier um ein dringendes Be- dürfniß handelt.

Wenn ih nun im allgemeinen meiner Empfindung über den Ver- lauf der bisherigen Heutigen Verhandlungen Ausdruck geben darf, fo glaube ih zu meiner Freude konstatieren zu können, daß die Stim- mung des hohen Hauses gegenüber dieser Geseßesvorlage eine günstige ist. Allerdings haben si, wie dies ja auch bei so umfangreihen Ge- seßen nicht anders zu erwarten war, eine Reihe von Einwendungen er- geben, und zwar auch auf Gebieten, die ih nit zu den unwesent- lihen rechnen kann. Jch glaube aber do, daß es mögli sein wird, wenigstens einen Theil dieser Bedenken in den Kommissions- verhandlungen zu zerstreuen. Von einigen möchte ih {on von vorn- herein annehmen, daß sie auf einem Mißverständnisse beruhen. Es gilt dies von einigen Einwendungen, welche irrthümliherweise annehmen, gewisse Bestimmungen, die nur fakultativer Natur find, seien obligatorisch.

Dahin rechne ih zunächst die Einwendungen gegen die Bestim- mungen, die über die Zweckverbände erlassen sind. Meine Herren, es ist ausdrücklih in den Bestimmungen vorgesehen, daß sie nur errichtet werden können. Wenn die Gemeinden nit die Absiht haben, sich mit diesen Zweckverbänden zu befassen, so zwingt sie dazu niemand. Dasselbe gilt von vorhin von Herrn Abg. Lieber und au einigen anderen Rednern angegriffene Urtheile über die lebens- länglihe Anstellung der Bürgermeister. Meine Herren, es steht aus- drücklich in dem Gesetz, daß die Bürgermeister lebenslänglih angestellt werden können. Wenn die Gemeinden der Ansicht sind, daß es ihren Interessen niht entspricht, ihren Bürgermeister lebenslänglih an- zustellen, so mögen sie das in ihren Beschlüssen zum Ausdru bringen, und es kann sie keiner hierzu zwingen.

Ich möchte bei diesem Punkte doch noch darauf aufmerksam machen, daß die Vorgeschichte diefer Vestimmung vorhin niht ganz zutreffend von Herrn Dr. Lieber dargelegt ist. Soweit ich unterrichtet bin, stand in der früheren nassauischen Gemeinde - Ordnung niht eine glei@e Bestimmung, sondern eine des Inhalts, daß die Bürgermeister lebenslänglih angestellt werden mußten. Also man hat jeßt nit dieselben Bestimmungen, die man f. Z. durch Nothgesey abgeändert hat, wieder aufgenommen, fondern man hat an die Stelle der obligatorischen eine fakultative lebenslänglihe Anstellung der Bürgermeister gesetzt.

Der Herr Abg. Lieber hat ferner geglaubt, der Staatsregierung cinen Vorwurf deswegen machen zu sollen, weil sie sfih an den Pro- vinzial-Landtag mit dem Ersuchen einer Begutachtung gewendet hat ; er meint, es wär? zweckmäßiger gewesen, die Kommunal-Landtage zu einem Gutachten aufzufordern. Jh gebe zu, daß, wenn man den Standpunkt des Herrn Abg. Lieber einnimmt, dieser Weg vielleicht nicht ganz unzweckmäßig gewesen wäre. Er deutete nämli in seinen Ausführungen an, es schiene ihm richtiger zu sein, daß man nicht ein geineinsames Gemeindeverfassungsgefeß für die ganze Provinz mache, sondern je eins für den Regierungsbezirk Wiesbaden und für den Regierungsbezirk Cassel. Wenn das die Absicht der Staatêregierung gewesen wäre, meine Herren, so bätte sie wahrscheinli zwedckmäßiger gethan, wenn sie die Kommunal-Landtage gefragt hätte. Das war aber nicht unsere Absiht; im Gegentheil, wir wollen gerade ein ein- heitlihes Verfassungsgeseß für die ganze Provinz haben. Deshalb lag nichts näher, als den Provinzial-Landtag zu fragen. Jh habe dies für den einzig rihtigen Weg gehalten. Daß auf dem Provinzial- Landtag die hessishen und nassauischen Abgeordneten etwas aneinander gerathen sind, läßt niht \s{chließen, daß die Verhandlung niht eive vollständig objektive gewesen wäre. .-

Herr Abg. Lieber hat dann in dem Entwurfe bemängelt, daß der Stadt Frankfurt insofern eine Ausnahmestellung eingeräumt werde, als sie nit in die neue Geseßgebung einbezogen sei. Er hält das für bedauerlich und unlogisch. Jh bin dagegen der Meinung, meine Herren, daß wir gerade mit der Auss{hlicßung der Stadt Frankfurt dem Gesetze der Logik gefolgt sind. Jch habe mir vorhin auszuführen gestattet, daß wir mit diesem Gesetzentwurf nicht den Weg der Uni- formierung betreten wollten, sondern daß wir nur da einzugreifen ge- sonnen wären, wo es wirklich das Bedürfniß erforderte. Nun ist aber für die Stadt Frankfurt bereits im Jahre 1867, also s{chon unter preußi- scher Hérrschaft, eine Gemeindeordnung erlassen worden; ein Gesetz ift es nicht, weil damals die preußishe Verfassung noh nit in Frankfurt eingeführt war. Diese Verordnung, welche die Fehler der übrigen veralteten Gemeindeverfassungsgeseze niht aufweist, hat ih bis jeßt bewährt. Wir haben also meiner Meinung nah keine zwingende Veranlassung, hier nun ebenfalls das neue Geseß unter Aufhebung der Verordnung von 1867 einzuführen. Es wird ja wohl in der Kom- mission auf diese Frage zurückgegriffen werden, und ih muß mir vor- behalten, meinen Standpunkt dort noch näher darzulegen. Vielleicht wird au “Herr Dr. Lieber die Güte haben, dort noch weiter aus- einanderzusezen, weshalb er besonders wünscht, daß der Stadt Frank- furt diese Ausnahmestellung nit gewahrt bleibt.

Dann if Herr Dr. Lieber und mit ihm mebrere Redner auch der anderen Parteien auf die Regelung des Gemeindewahlrechts gckommen, und ich muß anerkennen, daß dies eiuer der Hauptpunkte in den Vorlagen ist und auch in den Verhandlungen bleiben wird. Jh mache kein Geheimniß daraus, daß der ursprüngliche Entwurf, fo wie er dem Provinzial-Landtage vorgelegt ist, cine vershiedenartige Regelung vorsah für den Regierungsbezirk Wiesbaden und für den Regierungsbezirk Cassel. Jn dem leßteren follte das dort bestehende direkte Wahlrecht erhalten bleiben, in dem ersteren die Wahl auf Grund des ODreiklassen-Systems. Man hatte sich auf Grund eines Vorschlags des tamaligen Herrn Ober-Präsi- denten, wenn auh mit \{chwerem Herzen, dazu entschlossen, vorläufig in diesem Sinne eine Vorlage zu machen, weil man glaubte, bei anderem Vorgehen zu großem Widerstande zu begegnen. Nachdem nun aber der Provinzial - Landtag selb#| \ch in dem Sinne ausgesprohen, daß er eine vershiedenartige NRegelung in den beiden Regierungsbezirken niht für zweckmäßig halte, und ih für Einführung des Dreiklassen-Wahlrechts in der ganzen Provinz ent- schieden hat, blieb meines Erachtens für die Staatsregierunz über- haupt gar kein anderer Weg übrig, als die Negelung so vorzunehmen, wie sie es gethan hat. Man mag über das Dreiklassen-Wahlsystem denken, wie man will, ih kenne vorläufig kein besseres, jedenfalls ift nah meiner Meinung das direkte Wahlrecht, welhes hier von cinigen Herren so warm empfohlen ift, sehr viel minderwerthiger. Jch werde von meinem Standpunkt aus mit Entschiedenheit darauf

bestehen müssen, daß wir diesen Weg nicht beschreiten, und ih glaube

mi darin der Zustimmung des größeren Theiles dieses Hauses zu erfreuen.

Auf die hier noch gestreisten prozentualen Beschränkungen bei Abgrenzung der drei Klassen will ih hier nit eingehen. Ich könnte au nur hervorheben, daß, wie ich auhch im vorigen Jahre mir zu erklären erlaubt habe, die anderweite Regelung des kommunalen Wahl- rechts innerhalb des Dreiklassen-Systems für die Monarchie in einem gewissen Flusse ch befindet. Die Verhandlungen darüber sind aber noch nit abgeschlossen, und aus demselben Grunde muß man meines Grahtens auch Anstand nehmen, irgend eine Beschränkung des Drei- klafsen-Systems in einem Provinzialgeseße vorzunehmen. Ob aber diese 9. oder 10prozentige Beschränkung rihtig, odec ob es ih etwa empfiehlt, den angeblich vorhandenen plutokratishen Autwüchsen in anderer Weise zu begegnen, wissen zur Zeit weder Sie, meine Herren, noch ich; wir müssen vielmehr den Ausgang der hierüber angestellten statistishen Erhebungen abwarten.

Nun ist noch seitens der Herren Abgg. Lotichius und Kircher die wichtige Frage der bureaukratischen Verfassung bezw. des kollegialis{en Gemeindevorstandes berührt worden. Jch kann mich in dieser Be- ziehung nur völlig den Ausführungen anschließen, die der Herr Nedner der konfervativen Partei gemaht hat, Ich g!aube, daß es im Interesse der Vereinfahung der Verwaltung nothwendig ist, daß man die kleineren Gemeinden niht mit einer zu komplizierten Verfassung be- denkt, und ih meine au, daß dies die Auffassung des hohen Hauses gewesen ist, als cs bei Berathung der östlihen Landgemeinde- Ordnung shließlich den Zusaß annahm, dcß nur größeren Gemeinden die Annahme der follegialishen Verfassung gestattet sein sollte. Soweit ih aus -den Vorgängen habe entnehmen können, hat man dabei aber an Gemeinden von 2000 bis 3000 Seelen ge- dacht, während wir hier mit Nücksicht auf die speziellen hessishen und nassauishen Verhältnisse geglaubt haben, {on ein Uebriges zu thun, wenn wir die Grenze auf 1200 festsetten. Ich halte es niht für an- gezeigt, mi hier über die zweckmäßigste Grenze näher auszulassen, dies wird vielmehr den Kommissionsverhandlnngen vorzubehalten setn.

Wenn ih ferner noch auf eine Bemerkung kommen darf, die der Herr Abg. Zimmermann zu maten die Güte hatte, wonach es im Lande nicht verstanden würde, daß die Richter, Geistlichen und Lehrer von der Theilnahme an der Gemeindeverwaltung ausges{hlossen wären, so habe ih zu erklären, daß diese Bestimmung deswegen hier aufgenommen ift, weil sie sich in allen anderen Gemeindeverfassungs- gesezen befindet, und es uns nicht rathsam erschien, für eine einzelne Provinz cine Ausnahme zu machen. Ich glaube aber, daß, wenn die Frage allgemeiner geregelt werden sollte, ob es ¿weckmäßig wäre, die vorhin genannten Kategorien oder cinige derselben dow zu der Gemeinde- verwaltung zuzulassen, man dann vielleicht zu ciner anderen Auffassung gelangen könnte- Ih möchte aber doch bitten, es bei diesem provinziellen Gesetze bei der Regel zu lassen und von einer Abänderung Abstand zu nehmen.

Wenn dann schließlich der Herr Abg. Zimmermann noch darauf hingewiesen hat, daß ihm der Einführungstermin niht ganz zweckmäßig gewählt zu sein \chien, weil man wohl annehmen könnte, daß die am 1. April ausscheidenden Stadtverordneten oder Mitglieder der Gemeindevertretung nicht sehr geneigt sein würden, den Etat zu berathen, so möchte ih dem gegenüber anführen, daß uns grade eine entgegengeseßte Erwägung geleitet hat, als wir diesen Termin, nämlich den 1. April 1898, festseßten. Wix waren nämlich der Meinung, daß die alten Gemeindevertreter unstreitig sehr viel besser in der Lage fein würden, den Etat zu berathen, als die erst neu eintretenden Herren, die mögliherweise mit dén Geschäften der Gemeindeverwaltung noch nicht viel 'zu schaffen gehabt haben. Ich gebe aber zu, daß sih über diesen Termin reden läßt, und, sollte die überwiegende Mehrheit im hohen Hause der Meinung sein, daß ein anderer Termin zweckmäßiger wäre, so wird das jedenfalls fein Hinderniß sein, das Geseß in Kraft treten zu lassen.

Ueber einige andere in der Diskussion gestreiften Punkte wird {ih mein Kommissarius erlauben, dem hohen Hause noh einige Auf- klärungen zu geben. (Bravo !)

Abg. Beckmann (konf.) spricht si für das Dreiklassen-Wahlrecht aus und äußert Bedenken gegen einige andere Punkte der Vorlage, befürwortet aber die Vorlage im Ganzen.

Abg. Dasbach (Zentr.) sucht ziffernmäßig die Na(theile der Dreiklassenwahl zu Ungunsten der untersten Klasse nahzuweisen.

Geheimer Regierungs-Rath von Trott zu Solz zerstreut die Be- fürhtungen, welhe man wegen der Vermögensverwaltung in den Gemeinden hegen könne; der Kreisaus\{uß sei gezwungen, sämmtliche Nechnungen der Gemeinden zu prüfen.

Nach cinigen weiteren Bemerkungen des Abg. Cahensly (Zentr.) werden die Vorlagen einer Kommission von 21 Mitgliedern überwiesen.

Darauf findet die dritte Berathung der Wandersteuer- vorlage statt. Jn der Generaldiskussion bekämpft

Abg. Gothein (fr. Vp.) nohmals die* Vorlage, die er nicht als eine Konsequenz der Reichs8geseßgebung ansehen könne. Das Gesetz werde keinen prafktishen Erfolg haben, denn jeder könne si dieser Steuer entziehen. Nah der Erklärung des General-Steuerdirektors bedürfe es eines Antrages niht mehr. Einen wirklihen Werth habe die Vorlage auch für den seßhaften Gewerbetreibenden nit; sie ver- urfache nur allerlei Schwierigkeiten und Polizeichikanen. p

Jn der Spezialdiskussion wird die Vorlage in ihren einzelnen Theilen, sowie shließlich im Ganzen ohne Debatte angenommen.

Schluß 31/4 Uhr. Nächste Sißung: Donnerstag, den 17. d. M,., 11 Uhr. (Erste Berathung der Novelle zum Handelskammergeseß.)

Parlamentarische Nachrichten.

Dem Reichstage is die nahstchende Erklärung zwischen dem Reich und Frankreich, betreffend die Regelung der Vertragsbeziehungen zwischen Deutsch- land und Tunis, zugegangen:

In der Absicht, die Beziehungen zwischen Deutshlaud und

rankreich in Tunis festzuseßen und die vertragsmäßige Stellung “e lands in der Regentschaft näher zu bestimmen, geben die von ihren Regierungen gehörig ermächtigten Unterzeichneten übereinstimmend folgende Eckiärung ab: i i

Deutschland verzichtet auf die Geltendmahung des Regimes der Kapitulationen in Tunis und wird daselbst für seine Konsuln und feine Reichsangehörigen keine anderen Rehte und Privilegien in An- spruh nehmen als diejenigen, welche ihnen in Frankrei auf Grund der zwischen Deutschland und Frankrei bestehenden Verträge zustehen-

Sr E E E E E A tim ee E L I M Ei Cam A E E I N ENEEE: S L ie E E Ü S D E E S T S R N N Es e