1896 / 298 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 16 Dec 1896 18:00:01 GMT) scan diff

Nichtsdestoweniger fühle ich mich verpflichtet, in der Frage der Berufung einige Worte hier an das Haus und an die größere Oeffentlichkeit zu rihten. Daß diese Frage außerhalb des

uses in sachverftändigen Kreisen ein gets Interesse erregt, ersehe daraus, daß mir in diesem Augenblick eine Nummer der „Deutschen Juristenzeitung* zugegangen ist, in der sich eine Kritik des Kammer-

__ gerihts-Raths Kronecker über die Vorlage befindet. Der Verfasser erkennt die Verbesserung der Regierungsvorlage und der Ve{hlüsse der Kommission an, sagt aber dann zum Schlusse: „Troy aller dieser Verbesserungen aber muß angesihts des großen Rückschritts, der mit der Wiedereinführung der Berufung verbunden ist, das Scheitern des Geseßes dringend gewünscht werden.“ Ich glaube, dem Manne kann Pootten werden. Man thut jeßt so und das is au von Herrn von

uchta geschehen als ob die Berufung die Hauptsache wäre. Bei der Berathung der JIustizgeseße, in der ih mitgewirkt habe, wurde aber das Hauptgewidt auf das Fünf. Männer-Kollegium gelegt; und dies {ien uns so wichtig, daß wir auf die Berufung verzichten zu können geglaubt haben. Heute hat sih die Stimmung geändert, und nur der Abg. Schröder scheint mit mir derselben Ansicht zu fein, Herr von Bucdka meinte: lieber die Berufung, die Zahl der Nichter sei lange niwt so wesentli; er gebrauchte dabei das Wort : principiis obsta ! Das heißt wohl in feinem Sinne: Hüte Dich vor Prinzipien! Ueber die Berufung {ind die Ansichten sehr getheilt. Der Eine wünscht sie beim Landgericht, der Andere beim Ober-Landesgericht, und das Ende vom Liede ist, daß wir keine Berufung bekommen. Unser früherer Kollege von Gneist hat das {on vorausgesagt. Fret- sprehungen von der Anklage des Meineids kommen niht nur bei

eshworenen, fondern auch bei rechtsgelehrten Richtern sehr viel vor. Der Grund zur Meineidéanklage liegt oft in dem Schaden einer dritten Person, die den Gegner wegen Meineids denunziert. Die Frage der fünf Richter wird der Drudenfuß für unsere heutige Verhandlung sein. Der Shwerpunkt dieser Frage liegt nicht in den fünf oder drei Richtern, sondern darin, daß in einem Falle die Schuldigerklärung mit zwei gegen eine, und in dem anderen Falle mit vier gegen eine Stimme fallen muß. Wenn wir die erste Instanz mit drei Richtern beseßen und die Berufung einführen, dann kommt der Angeklagte, der in der ersten Instanz verurtheilt ist, {hon mit der Präsumption der Schuld, mit diesem Makel in die zweite Jnstanz, und seine Beweismittel fallen weniger ins Gewicht. Das ist der Grund, weshalb wir ein Kollegium von fünf Nichtern in der ersten Instanz für Det halten. Mein Freund Bafsermann hat sich mit Net für die Berufung bei den Ober- Landesgerihten ausgesprochen. Die Volksanschauung geht dahin, daß dort dur ein zahlreicher zusammengeseßtes Gericht und eine Richter- E von höherer Qualität ents{teden wird. Auch die Affsessoren- rage ift wieder gestreift. Wir müssen die Richterstellen, die nothwendig find, auch mit festangestellten Nichtern beseten, so wie wir es in Süddeutsch- land haben. Wenn wir die Justizpflege reorganisieren, dann müssen wir au hier für die Einheitlihkeit im ganzen Reiche orgen. Jch freue mi, daß auch der Abg. Görß sich gegen die Berufung ausgesprochen hat, obwohl seine Kollegen, die Rechtsanwalte, sih sonst mit besonderer Leidenschaft für die Berufung aussprechen, was ja au bei ihrem Beruf als Vertheidiger ganz natürlich is. Wenn ih vor die Wahl gestellt würde, die Berufung einzuführen oder aber durh eine Re- organisation der Schöffengerichte die Berufung mir vom Halse zu halten, ug würde ih wahrscheinlih mit mir reden lassen. Ich habe niht gehört, daß die Berufungsfanatiker so weit gehen, auh bei Schöffengerichtssahen eine Berufungsinstanz zu wünschen. So ganz ohne fahlihe Ueberlegung, wie Herr von Buchka meinte, haben wir bei den großen Justizgeseßen denn doch nicht auf die Berufung verzichtet. Seit den vierziger Jahren ist die deutsche Wissenschaft immer mehr zu der Ueberzeugung gekommen, daß das Rechtsmittel der Berufung unvereinbar ift mit der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Ver- fahrens. Jn der Justizkommission hat allerdings der jeßige Finanz- Minifter Miquel sehr eifrig für die Beruslng plâädirt. Er war aber da- mals ein Vertheidiger, der Munckel der damaligen Zeit. Die Be- rufung wurde denn auch in der ersten Lesung der Kommission aufreht- erhalten, in der zweiten aber wurde sie mit 17 Stimmen beseitigt. Für die Beseitigung waren auch Mitglieder aus denjenigen Staaten,

zuerlegen.

welche die Fus seit längerer Zeit abgeschafft hatten; dort hatte

man eben mit der Abschaffung keine {{lechten Erfahrungen gemacht. Bald nah dem Zustandekommen der Zustizgeseße ersholl der Nuf nach Wiedereinführung der Berufung, hauptsächlich aus den Kreisen der Rechisgelehrten. Der Juristentag von 1884 erklärte sih für die Berufung und zu den Stimmführern gehörten namentlich die Herren Munckel, Beckh und Becker-Oldenburg. Um dieselbe Zeit aber ver- anlaßte die Regierung eine Enquôte darüber, welche Erfahrungen die Gerichte ohne die Berufung gemacht hätten. Die Gnquête ergab, daß die befragten Gerihhte mit ganz verschwindenden Ausnahmen sich gegen

die Wiedereinführung der Berufung erklärten, nur wurden einige Garantien für eine bessere Sicherheit des Angeklagten im Vorverfahren verlangt. Ih freue mi, daß au die Praxis uns ret ge- geben hat. Auch der jeßige Präsident von Buol sagte seiner Zeit : wenn es gelänge, die erste Snslanz zu verbessern, dann wäre eine Be- rufung niht nöthig, Auch bezüglih der Militär - Strafprozeß- ordnung besteht der Vorzug der Urmittelbarkeit und Mündlichkeit darin, daß der Beweis so \{leunig als möglich und fo umfassend als mögli den Spruchrihtern unmittelbar vorgeführt wird. Das kann man von der zweiten Instanz nicht sagen. Wenn Sie die nöthigen Garantien in der ersten Instanz aus der Strafprozeß- ordnung entfernen, so s{chwähen Sie damit auh Ihre Stellung in Bezug auf den Inhalt der Militär-Strafprozeßordnung. Wir können in Bezug auf die erste Instanz und auch in Bezug auf die Affssefsoren niht vorsichtig genug sein, zumal wir ein Bâlde“, wie es heißt, die neue Militär-Strafprozeßordnung bekommen.

Staatssekretär des Reichs-Justizamts Dr. Nieberd ing:

Meine Herren! Ih kenne den geehrten Herrn Vorredner zu genau, um nicht von vornherein davon überzeugt gewesen zu sein, daß er die Spiye seiner Ausführungen vornehmlich gegen das Institut der Berufung, wie es unsere Vorlage enthält, rihten würde, und daß er mit der ihm eigenen Kunst alles dasjenige zusammentragen würde, was sih gegen die Berufung wirkungsvoll einwenden läßt. Aber, meine Herren, ih werde ihm auf dieses Gebiet mit näheren Darlegungen nicht folgen. Die Frage der Berufung entscheidet ih ja heute in ihrer abstrakten Formel nicht; würde sie entschieden, so würde nach meiner Meinung kein Zweifel darüber sein, daß das Haus in seiner großen Mehrheit auf die Seite der Regterung tritt. Aber der Gang der Debatten und Verhandlungen während dieser beiden Jahre hat es gefügt, daß {ließli die Entscheidung bei Fragen liegen wird, die ich nur als Fragen zweiter Ordnung bezeihnen kann.

Meine Herren, die Frage der Berufung ist au für die ver- bündeten Regierungen keine zweifelsfreie gewesen, und ih habe wieder- holt sowohl in diesem hohen Hause, als auch in der Kommission Gelegenheit gehabt, warnend darauf aufmerksam zu machen, daß im Schoße der verbündeten Regierungen keine volle Meinungseinheit darüber besteht, wie die Berufung wirken werde, und habe gebeten, auf diese Stimmung Rücksicht zu nehmen, niht zu viel an Kon- ¿essionen von seiten der Negterung zu erwarten. Aber das muß ich dem Herrn Vorredner doh entgegnen, damit es niht den Schein gewinnt, als wenn seine Ausführungen gegen die Frage der Berufung in der Theorie am Tische der Regierung Unterstützung fänden: alle die Ausführungen, die er gegen die Berufung geltend mate, gipfeln doh {ließli darin, daß diese Institution manche Schwächen hat. Allein an solchen Schwächen leiden alle anderen Mittel der Anfehtung, die wir in unserem Prozeß haben, au; diese Schwächen beruhen in der Schwierigkeit einer ecneuten thatsählihen Feststellung, und wenn der Herr Vorredner

mit der \charfen Kritik, die er an die Berufung an- gelegt hat, versuhen wollte, nah gleiher Richtung hin das Rechtsmittel der Revision in denjenigen Fällen, in denen sie zu einer Vernichtung des ersten Urtheils und zu einer Zurückverweisung der Sache zur nochmaligen Verhandlung an die erste Instanz führt, zu prüfen, so würde ih überzeugt sein, daß fein Urtheil über dieses Verfahren nicht minder scharf lauten würde als das über das * Verfahren der Berufung. (Sehr richtig!)

Und dann, meine Herren, darf ih Jhre Aufmerksamkeit auf das Wiederaufnahmeverfahren lenken: auf ein Verfahren, das unter Um- ständen dahin führt, daß nach Verlauf vieler Jahre von neuem eine Verhandlung über eine verbreerische That in einem Bewets- verfahren stattfinden soll, das deshalb ungenügend ist, weil die- jenigen Beweismittel, die yor Jahren bei der ersten Verhandlung zur Verfügung standen, zum theil nicht mehr vorhanden sind. Wenn der Herr Vorredner dieses Verfahren mit derselben Schärfe und Un- befangenheit prüfen wollte wie das Verfahren der Berufung, ih glaube, er würde die Wiederaufnahme und den ganzen Wieder- aufnahmeprozeß aus unserem Prozeßverfahren aussheiden müssen.

Der Herr Vorredner hzt mit besonderem Gewicht darauf hin- gewiesen, daß das Verfahren der Berufung in den Kreisen der Universitätslehrer, auf deren Urtheil dabei das gebe ich ihm zu es gleichfalls ankommt, nur in verschwindendem Umfange noch Vertreter findet. Dagegen erwidere ih: die Frage der Berufung ist überhaupt in dem Sinne, wie wir sie verhandeln, keine juristische, sondern eine politishe Frage. Wir wollen nit die denkbar beste juristishe Konstruktion für das Verfahren, wir wollen ein Verfahren konstruieren, wie es am meisten geeignet ist, das Vertrauen des Volkes in höherem Grade sich zu erringen. (Sehr gut!) Darauf, meine Herren, kommt es bei der Entscheidung hauptsächlih an, und da muß ich auch für einen Rückblick auf die Geschichte dieser ganzen Frage, die der Herr Vorredner ja auch berührt hat, einige Augenblicke erbitten. Die Thatsache, meine Herren, wird niemand aus der Welt schaffen, daß wir bis zum Jahre 1879 in Deutschland die Berufung mit verschiedenen Ausnahmen besessen haben. Auch die Thatsache, meine Herren , müssen Sie beahten, daß überall außerhalb Deutschlands in allen mit ähnlichen Kulturzuständen wie Deutschland ausgestatteten LUndern, abgesehen von einem einzigen, die Berufung besteht. Sie dürfen nicht vergessen, daß, wenn im Jahre 1876/77 es gelang, die Berufung aus unserem Prozeß auszu- scheiden, es geshah unter einem {weren Ge1roissensdruck für einen großen Theil des Reichstages. (Sehr richtig!) Damals, meine Herren, hat sih eine verhältnißmäßig große Mehrheit gefunden, um die Be- rufung auszusheiden, weil sie höher als diese eine Frage die Einheit des Prozeßrechts in ganz Deutschland ftellte. Lösen Sie die Frage aus diesem Zusammenhang aus, verlangen Ste diese Opfer der Ueber- zeugung nicht gleichzeitig mit der Beantwortung der Berufungsfrage vom Reichstage, ih bin überzeugt, damals wie jeßt würde die Entscheidung anders ausgefallen fein.

Meine Herren, diese Gesichtspunkte, glaube ich, muß man doch au in Betracht ziehen, und ih glaube, wenn immer noch in großen Kreisen des deutshen Volkes das Verlangen nah der Berufung be- steht, so führt es darauf zurüd, daß wir sie früher gehabt haben zur Zufriedenheit des Volkes, daß sie in allen anderen Staaten dem deutshen Volke noch als rechtsbeständig vor Augen steht und daß die Bewegung zur Einführung der Berufung , seitdem sie aus unserem Prozesse verschwunden is, niemals sich verloren hat. Meine Herren, nihcht überzeugt, niht unkedingt und allseitig überzeugt von dem Werthe der Berufung, sondern unter dem Drucke dieser thatsächlihen Verhältnisse, in dem Wunsche, die Autorität der Gerichte, das Vertrauen des Volkes in die Entscheidungen der Straf- justiz zu erhöhen, haben dfe verbündeten Regierungen sich entshlofssen, Ihnen die gegenwärtige Vorlage mit dem Vorschlag der Wieder- einführung der Berufung zu machen.

Aber gewiß nicht, meine Herren, auf alle Opfer hin, die man hier im Hause geneigt ist zu verlangen. Wenn die - verbündeten Negie- rungen dem Reichstag das Entgegenkommen beweisen und unter Ueberwindung gewihtiger Bedenken diese Vorlage machen, dann dürfen sie auch vom Reichstag erwarten, daß er seinerseits Resignation übe und niht Forderungen an diese Vorlage knüpfe, die es für die ver- bündeten Regierungen zweifelhaft machen, ob die Berufung der ver- langten Opfer werth sein würde. Dabei, meine Herren, muß ich sagen: wenn ih den Gang der Verhandlungen in den leßten drei Jahren über die Vorlage betrachte, so kann ih den Ein- druck niht abweisen, daß mehr und mehr aus der Auffassung der geehrten Herren die erste Vorausseßung ges{wunden ist, daß es in der That ein großes Entgegenkommen der verbündeten Negte- rungen, ein Ueberwinden \{werer Bedenken gewesen ift, als sie mit dieser Vorlage gekommen sind. Je weiter wir uns im Laufe der Ver- handlungen von dem Tag der Einbringung der erften Vorlage ent- fernten, je mehr wir uns dem jeßigen Moment genähert haben, desto mehr s{chwand die Neigung im Hause, Entgegenkommen den verbün- deten Regierungen für ihr Gntgegenkommen zu beweisen, desto größer wurden die Anforderungen, die Ihrerseits an die Regierung gestellt wurden, bis wir {ließlich in der zweiten Lesung zu einem Er- gebniß gelangt sind, das eine tiefe Kluft zwischen den Anschauungen der Regierung und den in diesem Hause erkennen läßt eine Kluft, von der ich nah den Erklärungen der Herren Redner, die gestern gesprochen haben, und au meines geehrten Herrn Vorredners, nicht weiß, wie sie überbrückt werden soll.

Meine Herren, ih werde auf alle die Einzelheiten, die hier im Haufe in der Generaldebatte berührt worden sind, nicht eingehen. Es finden sih darunter wichtige Punkte, in denen die Negterung den Beschlüssen des Hauses unter keinen Umständen zustimmen wird. Ich glaube aber, es wird, wenn es dazu überhaupt kommt, Sache der Speztaldiskussion sein, bei den einzelnen Bestimmungen die Auf- fassung der Regierung darzulegen, Jh beschränke mih auf zroei Punkte, die unmittelbar anknüpfen an die Grundpfeiler der Vorlage, die au vornehmlih hier im Hause berührt worden sind, und derent- wegen die verbündeten Regierungen gestern bereits, namentlich auch gleih beim Eingang der Debatte von dem ersten Redner, dem Herrn Abgeordneten Spahn, interpelliert worden sind, endgültig Stellung zu nehmen. Diese beiden Fragen betreffen die Bedingungen, unter denen wir die Berufung in dem Prozeß einführen wollen, und die Be- dingungen, unter denen wir die Entschädiaung der im Wiederauf- nahmeverfahren Freigesprohenen konzedieren wollen.

Meine Herren, die Bedingung, unter der die Berufung im Prozeß nah Ansihht der verbündeten NMNegierungen allein Eingang ge-

winnen kann, ist die, daß neben einer Berufungsinstanz, die mit fünf Richtern befept if, eine erste Instanz, mit nur drei Richtern beseßt, stehe. Die verbündeten Regierungen sind - überzeugt, daß sie von diefer Forderung, wie immer der Gang der Verhandlung sh auth ge, stalten möge, niht ablassen können. Wohl ist geftern man warmer Appell an uns gerihtet worden, in diesem Punkte nit eigensinnig zu sein. Man hat uns unsere Stellungnahme auch dadur zu erschweren versuht, daß man davon ausgegangen ist, als wenn nur finanzielle Motive die verbündeten Regierungen geleitet hätten.

Meine Herren, ih muß mit einigen Worten auf diese Seite der Sache eingehen, um gegen eine unrihtige, shiefe und mißverständ. liche Auffassung der Haltung der Regierungen vor Ihnen hier und bor der Oeffentlichkeit Verwahrung einzulegen.

Meine Herren, wie sind wir denn in unserem jeßigen Prozesse überhaupt zur Beseßung unserer Strafkammer mit 5 Richtern gekommen? Als die Strafprozeßordnung zur Verhandlung stand, galt in Deutschland mit vershwindenden Ausnahmen ein Prozeß, der in der ersten Instanz die Gerichte mit 3 Richtern beseßt hatte. Das war gemeines Necht; das ist aus dem gemeinen Recht übergegangen in die Partikularrehte der Einzelstaaten ; das hat nah dem allgemeinen Zeugniß niemals Beschwerde erregt, is niemals beanstandet worden, und erst der Jettzcit ist es vorbehalten worden, die Behauptung aufzustellen, daß die deutshen Richter nit selbständig, nicht harakter fest genug feien, um in einem Kollegium von 3 Richtern ihre Meinung zu behaupten. Nicht nux in Deutschland, meine Herren, bestand dieser RNechtszustand, er bestand in allen Nachbarstaaten, die das Institut der Berufung kannten. Er besteht in allen Nahhbar- staaten Deutschlands, die das Institut der uneingeshränkten Be, rufung zur Zeit kennen. Er erweckt dort keine Anfehtungen, wie sie hier erhoben worden sind. Dort hält man das Drei-Richter-Kollegium für felbständig und mannbaft genug, um unabhängige Entscheidungen aus seinem Schoße zu erzielen.

Wenn wir gleihwohl damals zu einer Fünf-Richter-Besezung in den Strafkammern übergegangen sind, so ist das ift unbestreitbar, so viel auch versucht wurde in der Presse es zu vershleiern der Grund gewesen, daß wir eine Garantie hafen wollten, an Stelle der in Wegfall gelangten Berufung. Das, meine Herren, haben die Vertreter der verbündeten Regtecungen während der Verhandlungen der 70er Jahre wiederholt und unzweideutig in der Kommission und im Haufe ausgefprohen. Wenn auch die große Kommission, auf deren Ver- handlungen Herr von Marquardfen vorhin Bezug nahm, \chließlid den Wunsch aussprach, daß selbst im Falle der Beibehaltung der Berufung die Strafkammer mit fünf Richtern beseßt sein möge, so haben hervorragende Redner im Hause niemals die Berechtigung des Standpunktes der Negierungen geleugnet. Die Regierungen haben damals an diesem Standpunkt festgehalten und haben ihn niemals aufgegeben : fünf Richter ohne Berufungsítistanz, sofern die Berufung aber eingeführt wird, drei Richter. Dieser Standpunkt i} damals vertreten worden, und wenn wir ihn heute nach 20 Jahren noh aufrecht erhalten, wo die Regierungen in ihrem Bestande alle ge wechselt haben, so sollte das doch als Ausdruck der Meinung der Justiz- verwaltungen der deutshen Staaten, wie sie sich in 20 Jahren er- halten hat, niht ohne Beachtung in diesem hohen Hause bleiben.

Meine Herren, wie hat \sich denn aber die Meinung in diesem Hause selbst in den leßten 20 Jahren gestaltet? Als im Anfang der 80er Jahre die ersten Versuche auftauchten, das Institut der Berufung in unseren Prozeß wieder einzuführen, da ging natürlih mit diesem Versuche auch die Erörterung der Frage der Beseßung der Straf- kammer erster Instanz Hand in Hand. Damals war es der Herr Abg. Reichensperger, doch wahrlih ein unabhängiger Mann, ein erfahrener Jurist und ein hervorragender Parlamentarier, der den Standpunkt hier im Hause vertrat, vie Beseßung der Strafkammer mit drei Richtern sei eine genügende Garantie für die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Urtheile. Er erkannte sie so an auf Grund seiner eigenen Erfahrungen und auf Grund der Erfahrungen, die man in Deutschland bis dahin mit dieser Institution gemacht hatte. Als die ersten Versuche mit der Einführung der Berufung nit gelangen, kam im Jahre 1885 der Herr Abg. Neichensperger mit seinem Antrage auf Wiedereinführung der Berufung unter Besetzung der Strafkammer mit drei Richtern wieder. Damals war er glüdliher: sein Antrag wurde einer Kommission überwiesen, die Kommission hat in einer aus- führlihen Debatte und in einem gründliden schriftliGen Bericht sih geäußert. Damals sprach sih die Kommission über die Frage der Beseßung der Strafkammer folgendermaßen aus :

«Insbesondere kann die Zahl der Richter auf drei herabgeseßt werden, weil wichtiger als die Vielzahl der Richter die doppelte Prüfung der Sache dur zwei Kollegien ift.“

Das, meine Herren, war im Jahre 1885 die Ansicht Jhrer Kommission. Auf Grund dieses Kommissionsberihßts hat dann der Reichstag den Antrag des Abg. Reichensperger zum Beschluß erboben. Er hat damals erklärt: Der Reichstag wolle die Einführung der Berufung, er konzediere dagegen die Befezung der Strafkammer mit drei Richtern. Meine Herren, wenn damals die Negierungen auf den Beschluß des Hauses eingegangen wären, dann bätten wir das, was jeßt von großen Parteien dieses Hauses als unannehmbar bezeihnet wird, seit 10 Jahren als geltendes Recht. Die ver- bündeten Regierungen glavbten, auf den Antrag nit eingehen zu können. Der Abg. Reichensperger is aber noch wiederholt bis in die 90 er Jahre mit seinen Anträgen wieder hervorgetreten. Ich glaube mich nit darin zu täuschen, daß die Mehrheit, die im Jahre 1886 ihm in der Kommission zur Seite getreten war, im Hause ihm auch später zur Seite geblieben ist. Bis zum Beweise des Gegen- theils darf ich daher annehmen, daß hier im Hause sowohl, wte im Schoße der verbündeten Regierungen in der ganzen Entwikelungs- periode der 80 er Jahre bis in die leßte Zeit hinein die Ansicht vorgewaltet hat: wenn wir die Berufung wieder einführen, können wir uns bei der Beseßung der Strafkammern erster Instanz mit drei Richtern begnügen. |

Meine Herren, mir scheint, wenn die verbünbeten Regierungen sih auf Momente thatsählicher Entwickelung von solcher Bedeutung berufen können, dann verdienen sie wohl nit, daß man sie als eigen- sinnig schilt, wenn sie bei ihrem Standpunkte beharren, und wohl auch nit, daß man thnen finanzielle Motive unterlegt, die allein ihre Haltung bestimmt hätten. Nein, meine Herren, es i} nicht richtig, was gestern verschiedene Redner gesagt haben, daß bei der Ver- tretung der Vorlage in zweiter Lesung hier im Hause lediglich finanzielle Motive für die Haltung der Regierungen angeführt worden sind. Der Herr Justiz-Minister Preußens hat damals selbst das

Wort genommen und hat aufmerksam gemacht auf die großen

‘rganisatorischen Bedenken einèr Besezung der Strafkammern mit

fünf Richtern nach Annahme der gegenwärtigen Vorlage mit ihren Kompetenzvershiebungen. Diese Bedenken hat man in der gestrigen Debatte nit hervorgehoben; dagegen die Bedenken, die nah meinem Eindruck nur in zweiter Reihe von den Vertretern der verbündeten Regierungen hervorgehoben wurden, die auf dem finanziellen Gebiete liegen, hat man an die erste Stelle gerückt. Meine Herren, wir thun doch in der That recht daran, daß, wenn wir nah allen Richtungen hin ershöpfend unseren Standpunkt Ihnen dar- zulegen wünschen, wir auch die finanziellen Motive niht unter- drücken, Und wenn hier im Hause der Wunsch ausgesprochen worden ift, daß die Regierung doch auf finanziellem Gebiete etwas mehr zu Gunsten der Justiz thun möge, es wird nit lange mehr dauern, dann werden die deutschen Staaten auch finanziell die Folgen der Gesetzgebung, die jeßt \ich vollzieht, spüren. Wenn wir erst zur Einführung des Bürgerlichen Geseßbuhs kommen und die älteren Richter aus dem Amt scheiden werden, wenn wir den Strafvollzug geseßlih regulieren werden, wenn wir na Vollendung der Revision unseres bürgerlihen Rechtes das ganze Strafensystem unseres Strafgeseßbuhs einer Neugestaltung werden unterziehen müssen, wenn mannigfahe Fragen der Behandlung der jugendlichen Verbreher an Sie herantreten werden in einer neuen geseßlichen Reform, dann werden Sie sih vergegenwärtigen können, welche finanziellen Forderungen auf Grund dieser geseßlichen Reformen an die deutschen Staaten herantreten werden. Jh glaube, nach dieser Richtung hin brauchen Sie die verbündeten Regterungen nicht anzuregen, freigebiger zu sein; es wird \ich das in der Zukunft {hon finden.

Aber ih muß doch, um den Standpunkt der Regierungen voll- ständig zu wahren, mit einigen Worten auf die Motive eingehen, die gestern hier nit zur Geltung gekommen sind, die aber in Wahr- heit vornehmlih bestimmend sind für die Ablehnung der Besetzung der Gerichte erster Instanz mit fünf Richtern. Da hat nun der preußishe Herr Justiz-Minister in der zweiten Lesung darauf auf- merksam gemacht, daß schon gegenwärtig eine niht kleine Anzahl der preußischen Landgerichte in einer Weise besegt sei, die mit dem Pensum dieser Gerichte nicht in angemessenem Verhältnisse steht. Die Gerichte sind zu stark beseßt ; eine ausreihende Beschäftigung für die Richter ift nicht immer vorhanden. Dieser Zustand ift auf die Dauer unhaltbar: unhaltbar im Interesse der Nechtspflege, unhaltbar in dem des Personals, Wenn wir jeßt die Strafkammern erster Jn- stanz in der alten Beseßung belassen wollen, wenn wir gleichzeitig, ohne ihnen aus der Kompetenz der Schwurgerichte ein verhältniß- mäßig großes Arbeitsmaterial mehr zuzuweisen, einen verhältnißmäßig großen Theil ihrer Aufgaben ihnen zu Gunsten der Schöffengerichte nehmen, dann wird der vom preußishen Herrn Justiz-Minister be- prochene Uebelstand noch verschärft und die Frage viel näher liegen, als sie jeßt {on liegt: kann es bei der jeßigen Organisation der Landgerichte, wie fie wenigstens in Preußen besteht, bleiben ? Werden wir nicht genöthigt sein , die Zahl der Landgerichte zu ver- ringern, um ein angenmessenes Verhältniß zwishen den Aufgaben der Gerichte und ihrer Beseßung herzustellen ? werden wir in Zukunft noch in der Lage sein, wenn es sich um die Erweiterung der Gerichte wegen Zunahme der Thätigkeit handelt, kleinere Landgerichte zu schaffen, oder werden wir nicht ftatt dessen uns gezwungen sehen, die großen Landgerichte noch weiter zu vergrößern? Das ist eine sehr wichtige, weittragende Frage, die ich Ihrer Aufmerksamkeit nicht genug empfehlen kann.

Das, glaube ich, werden diejenigen Herren, die hier preußische Wahlbezirke vertreten, mir wohl zugeben, daß man bereits jeßt die Frage aufwerfen kann, ob der ganzen Organisation der preußi¡chen Justiz- pflege, wie sie fich auf Grund der Reichs-Justizgeseße entwickelt hat, nicht der Fehler anhoaftet, daß die Gerichtébezirke zu groß gewählt und infolge dessen die Richter der Bevölkerung zu fern gerückt fein. Ich glaube aller- dings, daß diese Frage sehr ernste Beachtung verdient. Wenn in neuerer Zeit fo viel geklagt wird, daß die Gerichte geneigt sfeien, formalistish, abstrakt, in Unkenntniß der praktishen Verhältnisse, der Anschauungen der Bevölkerung und der Bedürfnisse des Lebens zu urtheilen, so möchte ih fragen, ob, wenn das rihtig ist, die Schuld dafür nicht zum theil zurückgeführt werden muß auf die großen Ge- rihtsbezirke, die unvermeidlih die wohlthätige Berührung der Gerichts- mitglieder mit der Bevölkerung vermindern und erschweren. Wenn Sie, meine Herren, der Ansicht sind, daß es zweckmäßiger ist, das Land mit kleineren Gerichtsfprengeln zu bedecken, als die ganze Rechtspflege, fern von den einzelnen kleinen Orten in größeren Städten zu konzentrieren, dann bitte ih Sie, erschweren Sie der Verwaltung ihre Aufgaben niht dadurch, daß Sic dazu nöthigen, die Gerichts- bezirke so groß zu wählen, daß es unmögli wird, kleinere Gerichte zu bilden oder beftehen zu lasen.

Das ist ein Punkt.

Ein zweiter Punkt, der ernste Bedenken im Falle der Beseßung der Strafkammern mit 5 Richtern erregen muß, ist das Verhältniß zu den detachierten Strafsenaten. Sie erinnern \sich, daß für die- jenigen Ober-Landesgerichtsbezirke, welhe so groß sind, daß es un- möglich ift, die ganze Strafrehtspflege zweiter Instanz bei den Ober- Landesgerichten selbft zu konzentrieren, besondere detachierte Senate vorgesehen sind, die an einzelnen Orten des Ober-Gerichtsbezirks er- rihtet werden sollen, beseßt mit Richtern der Amts- und Landes- und der Ober-Gerichte. Diese Strafsenate werden an Orten “ihren Play finden, wo auch Strafkammern erster Instan! ih befinden, werden in denselben Räumen urtheilen wie diese, werden, wenn der Beschluß zweiter Lesung hier angenommen werden sollte, in derselben Besetzung urtheilen wie diese. Sie werden urtheilen in einer Besezung mit Richtern, die zum theil denselben richterlichen Kreisen angehören, wie die Nichtex erster Jn- stanz, Wie wird bei einem folhen Verhältniß für das Volk noch der Eindruck gewahrt, daß ein höheres Gericht in der That hier ent- scheidet? (Sehr rihtig!) Wollen Sie, daß die Gerichte zweiter Instanz wirkli mit höherer Autorität urtheilen, dann {hafen Sie ¿wischen den Gerichten erster und zweiter Instanz auch für den na- türlihen Sinn des Volkes einen Unterschied, der für Jedermann sofort erkennen läßt, daß es sich wirklich um eine höhere Instanz handelt, Das ift bei dem Vorschlag, den Sie in der zweiten Lesung angenommen haben, niht möôglih. Damit bringen Sie die Justiz- verwaltung vor die Alternative, entweder die Autorität der zweiten Instanz allmählich hinsinken zu lassen oder aber dite ganze Organisation, wie fie namentli in Preußen besteht, mit seinen großen Ober-

Landesgerichtsbezirken zu zerschlagen und zahlreihe Ober-Landesgerichte mit kleinen Bezirken zu bilden eine Maßregel von folher wirth- schaftlichen und politishen Tragweite, daß Sie verstehen werden, wenn bei dieser Gelegenheit die verbündeten Regierungen auf einen Vorschlag, der dies zur Folge hat, nicht eingehen.

Meine Herren, noch in dritter Reihe ein anderes Bedenken betrifft die Stellung der Strafsenate bei den Ober-Landesgerichten selbst. Diese werden im Vergleich mit den Kammern erster Instanz an den Mängeln nit zu leiden haben, an denen die detachierten Strafsenate leiden müssen. Aber sie werden beseßt sein mit 5 Richtern grade so wie die erste Instanz. Nun if ja hier verschiedentlich ausgeführt worden, darauf komme es nicht an ‘und das sei ausreihend. Das bestreite ih auf das entschiedenste, Für Ihre Beurtheilung ist es vielleicht ausreichend, für den Juristen ebenso, aber nicht für das Volk. Das Volk will einen Unterschied fehen zwischen den Ge- rihten, will ihn vor allem sehen in der Besetzung der Instanzen. Ob das eine große praktische Bedeutung für die Rechtsprehung hat, lasse ih dahin gestellt; darauf kommt es nicht an, sondern darauf, was der Sinn des Volkes als Bedürfniß hier empfindet. Nun ift in der zweiten Berathung bemerkt worden, niemand werde das Verlangen stellen, daß diese zweite Instanz mit mehr als 5 Richtern beseßt werden folle. Man könne eben mit einer gleihbeseßten Instanz aus- kommen. Ja, da erinnere ich doch an eins. Als es sich bei Erlaß der Strafprozeßordnung um die Frage handelte: wie sollen die Straf- kammern beseyt werden mit Rücksiht auf ihre Eigenschaft als Berufungsinstanz für die Urtheile der Scchöffengerihte? da war im Hause und in der Kommission nur eine Stimme darüber, daß es nothwendig sei, um die Autorität der Berufungsinstanz zu wahren, sie ftärker zu beseßen als die erste Instanz, Und jeßt, als es sich in den Verhandlungen Ihrer Kommission wieder darum handelte, die Berufungsinstanz für die shöffengerihtlihen Urtheile bei den Kammern zu organisieren, und als Ihre Kommission zugegeben hatte, daß in der ersten Instanz die Kammern in der Beseßung von drei Richtern urtheilen können, da war gleichwohl Ihre Kommission der Meinung, gerade wie damals, es sei nôthig, die Berufungsinstanz stärker zu beseßen, und so dem natürlihen Empfinden des Volkes Rechnung zu tragen. Ferner, als in den ahtziger Jahren die Herren Munckel und Träger ibre»"eits mit Anträgen kamen, welche bezwedkten, die Berufung wieder einzu- führen, da hatten die geehrten Herren den Antrag gestellt, die Berufung zu organisieren, wie wir dies jeßt vorgeshlagen haben, von den Kammern

| besezt mit 5 Richtern, zu den Ober-Landesgerichten, niht besetzt

mit 5 Nichtern, sondern mit 7 Richtern in richtiger Konsequenz, ih glaube auh in zutreffender Beurtheilung der Anschauungen des Bolkes.

Nun, meine Herren, wenn wir jeßt auf Jhren Borschlag ein- gehen wollten und diese Ober-Landesgerihts-Senate mit 5 Richtern beseßen wollten wer steht uns dafür, daß, gestützt auf folhe Vor- gänge, die ih eben mitgetheilt habe, nah einigen Jahren niht das Verlangen an uns herantritt, die Senate mit 7 Richtern zu besetzen? Sollen wir uns dann in die Alternative verseßen, daß die Senate, wenn wir dem Verlangen der öffentlihen Meinung oder des Neichs- tags niht nachkommen, an Autorität nah und nah verlieren, oder sollen wir diesem Verlangen nahkommen und die Senate siebenstellig Tonstruieren, damit aber ein Moment der Schwerfällig- keit und Mißgeftaltung in die Gerichte hineintragen, dessen Wirkung sich vorerst garnicht übersehen ließe ? Nein, metne Herren, solche Gefahr können die deutschen Justizverwaltungen nicht laufen.

Dieses sind die Gründe, die die Regierungen abhalten müssen, auf eine Beseßung der Kammern mit fünf Richtern einzugehen; an ihrer Forderung, daß die Kammern mit drei Richtern beseßt werden, müßten sie festhalten. Wir haben im Schoße des Bundesraths, als das Haus in zweiter Lesung, troß aller Bedenken von unserer Seite, an der Forderung der Fünf-Männer-Kollegien in erster Instanz festgehalten hatte, die Sache noch einmal reiflich erwogen ; wir find zu der Ueber- ¿eugung gekommen, daß die Regierungen unter allen Umständen an ihrer Forderung festhalten müfsen, wona, wenn die Berufungssenate mit fünf Richtern beseßt werden, die erstinstanzlichen Strafkammern nur mit drei Richtern beseßt sein können. Die Regierungen sind von der Nothwendigkeit dieser Forderung aus den Gründen, die ich die Ehre hatte Ihnen darzulegen, voll überzeugt, und sie werden an dieser Forderung festhalten, auf die Gefahr hin, daß die Vorlage dabei scheitert. (Hört, hört!) Wenn das hohe Haus bei der Speztal- berathung des Gerichtsverfassungsgeseßes gleihwohl an der Besetzung der Kammern mit fünf Richtern festhalten sollte, dann werde ich in der Lage sein, die Konsequenzen aus der Haltung der verbündeten Regierungen, die ih eben anzudeuten hatte, zu ziehen.

Erlauben Sie mir, meine Herren, noch einige wenige Worte zur Frage der Wiederaufnahme des Verfahrens. Die Frage ist gegen- über derjenigen, die ih eben berührt habe, von weniger großer Tragweite; aber es is eine Frage, die do die Gemüther der Be- völkerung bewegt und die reihlich die Möglichkeit bietet, falls das Geseß zum Scheitern kommen sollte, allerhand Vorwürfe gegen die Regierung daraus zu entnehmen. Die Vorlage will die Entschädigung uns{huldig Verurtheilter geben; sie verlangt aber dafür, daß das Wiederaufnahmeverfahren nur dann zulässig sein foll, wenn die Un- {huld der Verurtheilten glaubhaft gemacht wird.

Meine Herren, wie ist die gegenwärtige Einrichtung des Wieder- aufnahmeverfahrens denn entstanden ? Rufen wir uns doch die ge- hichtlihe Entwickelung zurück, um ein unbefangenes Urtheil zu ge- winnen!

Als im Jahre 1876 die Frage der Einführung der Wiederaufnahme des Verfahrens in dem Umfange, wie sie gegenwärtig besteht, zur Diskussion kam, find nicht bloß die verbündeten Regierungen, sondern auch die Parteien dieses Hauses darüber einig gewesen, daß die Wiederaufnahme des Verfahrens in einem folchen Umfange nur ein- geführt werden könne unter der Voraussetzung, daß die Berufung nicht acceptiert wird. Jeßt soll die Berufung eingeführt werden. Wir ziehen daher aus der damaligen Haltung der Regierungen und des Reichstages den Schluß, es müsse das Wiederaufnahmeverfahren ein- geschränkt werden. Diesen Schluß hat übrigens der Reichstag selbt gezogen. Der Herr Abg. Spahn hat gestern diese Stellung des Reichstages auch seinerseits berührt. Als aus dem Hause heraus in den ahtziger Jahren die Frage der Entschädigung an uns{uldig Verurtheilte hier diskutiert wurde, war man \ih vollständig klar darüber, daß die Zustimmung der verbündeten Regierungen zu einer gefeßlihen Regelung, welhe die Entschädigung der unschuldig Verurtheilten einführt und die Wiederaufnahme des Ver-

fahrens im alten Umfange ‘beibehält, nicht zu erzielen sei.

Man war aber damals nicht bloß aus diefer politishen Rücksicht der

Meinung, daß eine solche Einschränkung der Wiederaufnahme des

Verfahrens geboten \ei, man erkannte vielmehr an, daß die Ein-

schränkung au sahlich gerechtfertigt sei. Damals beschloß die Kom-

mission des Reichstages in einem \chriftlichen Bericht ebenfalls auf

Grund ausführlicher Diskussion, daß die Wiederaufnahme des Ver-

fahrens eingeschränkt werden solle auf diejenigen Vorausseßungen, die

jeßt im Regierungsentwurf enthalten sind. Der Reichstag hat damals

diesen Kommissionsbeshluß genehmigt, und das, was sie jetzt als unan-

nehmbar bekämpfen, meine Herren, ist das, was imJahre 1886 der Reichstag

sehnlih von der Regierung erbat. Nun hat zwar der Herr Abg,

Spahn, wenn ih ihn gestern recht verstanden habe, darauf aufmerksam

gemaht, daß die Dinge jeßt anders liegen, daß man fich liberzeugt

habe, es seien mit dem gegenwärtigen RNechtszustande keine Mängel

verknüpft, die uns nöthigten, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu

beshränken, und daß man deshalb unbedenklich von dem Beschlusse

des Jahres 1886, wie ihn der Reichstag gefaßt hat, zurüdtreten

könne. Ja, ih weiß nit, woher der Herr Abgeordnete seine Ueberzeu-

gung {öpft, daß mit dem gegenwärtigen Rechtszustande bedenkliche Uebel-

stände niht verbunden seien. Auf Seiten der verbündeten Regierungen

besteht diese Ueberzeugung nicht, hier besteht im Gegentheil die aus

praktischen Erfahrungen geschöpfte Meinung, daß allerdings der gegen-

wärtige Nechtszustand shwere Uebelstände nah sih zieht, sodaß, selbst

wenn die Entshädigung unschuldig Verurtheilter niht eingeführt

werden sollte, dringend zu wünschen sei, das Wiederaufnahmeverfahren

dennoch einzuschränken. Die Richtigkeit dieser Meinung kann ih mit

Zahlen nicht belegen, es ist unmögli; aber die Thatsache steht do

fest, Sie müssen mir {hon glauben, daß bei den Justizverwaltungen

der Bundesstaaten vielfah diese Ansicht obwaltet. Und wenn hier angeführt ist, inzwischen seten Wahrnehmungen gemacht worden, die uns berechtigten, von dem Standpunkt des Jahres 1886 zurüdck- zutreten, wie kommt es, daß noch in den Jahren 1890, 1892 aus der Mitte des Hauses heraus mit zahlreichen Unterschriften bedeckte An- träge des Herrn Abg. Rintelen eingebraht wurden, die nichts Anderes thaten, als den Beschluß des Jahres 1886 zu wiederholen? Wie wir Zuch gegenwärtig nichts Anderes thun, als den damals gefaßten Beschluß des Reichstages zu wiederholen. Damals, in den 90er Jahren, hatten wir noch Veranlassung, anzunehmen, daß die Mitte des Hauses auf dem Standpunkt des Jahres 1886 geblieben sei; wir hatten dazu um so mehr Grund, als der da- malige Führer des Zentrums, der Abg. Dr. Windthorft, diese Anträge ebenfalls unterstüßte; jeßt sollen jene Anträge so be- denklih und unannehmbar sein, daß das Schicksal einer so großen Vorlage davon abhängig gemacht wird ? Die verbündeten Regierungen stehen auf dem Standpunkt der historischen Entwickelung, sie bleiben bei der Forderung, die früher von ihnen gestellt worden ist, 1886 vom Reichstage anerkannt worden ift, später von großen Parteien dieses Hauses als berehtigt anerkannt wurde. Nichts als fahlihe Motive walten bei dieser Entschließung der Regierungen ob, Daß hier keine finanziellen Momente ins Gewicht fallen könne, werden Ste selbst anerkennen, wenn Sie sich die Statistik über oie 245! der Wiederaufnahntc®älle vergegenwärtigen, die am Schluß der Vorlage der verbündeten Ne- gierungen Ihnen mitgetheilt ist. Aber um so mehr, als es nur sahlihe Gründe sind, die hier bestimmend sind, darf ih auf eine Umstimmung des Reichstages hoffen. Jch muß er- klären, daß die verbündeten Regierungen unter keinen Umständen von ihrem fahlihen Standpunkte abgehen werden. Ste werden in diesem Punkte an der Vorlage festhalten, wie fie festhalten in der Frage der. Beseßung der Strafkammern erster Instanz, und se werden die Ver- antwortlihkeit für die Entscheidung, falls ihr Standpunkt vom Hause auch in diesem Punkte nit getheilt werden sollte, dem Reichs- tage mit Ruhe überlassen.

Meine Herren, zum Schluß noch ein paar Worte. Die verbün- deten Regierungen werden troß dieser ablehnenden Haltung es lebhaft bedauern, wenn eine Vorlage von foler Tragweite, die das Volk tief bewegt, niht zu stande kommen sollte. Aber, wenn Sie, meine Herren, vergleihen, wie der Nechtszuftand Deutsch- lands, so wie wir ihn zu gestalten gedenken, zu demjenigen des Auslandes si stellt, dann werden Sie zugestehen müssen, daß die Stellungnahme der verbündeten Regierungen eine wohlberehtigte ift. Wir geben Jhnen die Berufung so, wie wir sie in keinem Staate Europas mit gleich vollendeter Gestaltung besteht. Wir bieten Ihnen die Wiederaufnahme des Verfahrens in einer Form, wie fie in allen anderen Staaten, die überhaupt eine volle Be- rufung kennen, niht weitreihender besteht. Wir bieten Ihnen die Entschädigung unschuldig Verurtheilter in einer Ausdehnung, wie kein anderer größerer Staat Europas sie kennt. Da werden Sie niht sagen können, daß diese Vorlage nit bedeutung8volle Vor- züge in sich schließe. Die verbündeten Regierungen können, wenn sie noch weitergehende Forderungen ablehnen, für ihre Entscheidung finanzielle Erwägungen fehr wohl außer Be- traht laffen. Auh if die Sahe zu ernst, das gebe ich vollständig zu, um sie um einige Hunderttausend Mark, wenn es ih um weiteres niht handelt, scheitern zu lassen. (Hört, hört!) Die Erwägung, die für uns vor allem maßgebend war und bleibt, ist die: wir wollen keine Einrichtung, die den Staat zwingt, auch solchen Verurtheilten, die \päter freigesprochen werden, nit, weil sie un- schuldig sind, sondern weil die Beweismittel verschwunden sind, auf Grund deren sie früher verurtheilt wurden, obendrein eine Entschädigung zu gewähren, weil damit dem Rehtsgefühl ins Gesicht geschlagen würde. Wir wollen keine Einrichtung auf Grund deren, wie es bei der Beseßung der Strafkammern mit 5 Richtern der Fall sein würde, uns dice Gefahr erwächst, daß die Organisation der Nechts- pflege in weitgehendem Umfange erschüttert werde und einer Umgestaltung von niht absebbarer Tragweite unterzogen werden müßte. Das wollen wir niht; wenn Sie in diesen Punkten des- ungeahtet bei Ihrer abweichenden Auffassung bleiben, dann werden wir auf die Vorlage verzichten, fo sehr wir bedauern, daß zweijährige Berathungen unter den verbündeten Regierungen und dreijährige Ver- handlungen mit diesem Hause in einer so großen Sache ohne Erfolg geblieben find. (Bravo!)

Abg. Dr. Rintelen (Zentr.): Jh erkläre, daß meine Auffassung von der der überwiegenden Mehrheit meiner politischen ena ab- weicht; ih stehe bezüglich der Gntschädigung unschuldig Verurtheilter

auf dem Standpunkt der früheren Reichstagsbeschlüsse, die damals mit großer Mehrheit angenommen sind und auf den die verbündeten

Regierungen jeßt fh gestellt haben. Bezüglich der Geftaltung der erften Jnftanz feht das Haus jeßt vor der Frage, o0obJ es alles