birgsländer auf die Reiselust überhaupt noch keine Anziehungs⸗ 1 üben konnten. So fehlte also auch die Möglichkeit der Er⸗ weiterung des Naturgefühls durch Ausdehnung des Begriffs der Naturschönheit auf dieses Gebiet, mindestens der Verbreitung eines so neugestalteten Naturgefühls in weiten Kreisen,
Eine 6 Verbreltung des in einzelnen Bildern von Tizian und Taracci kundgegebenen Naturgefühls konnte nicht durch einzelne Kunstwerke erfolgen, die nur Wenigen zugänglich blieben, fondern allein durch die Einflüsse der Literatur. In Addisons in . seiner in den Jahren 1701 — 1703 durch die Schweiz und Italien gemachten Reise glaubt man es gleich⸗ sam in seinem ersten Erwachen beobachten zu können. Die Um⸗ gebungen des Genfer Sees, den er in einer fast fünftägigen Fahrt ganz umschiffte, erfüllten ihn mit lebhafter Bewunderung. Die Bergketten, von denen Genf umgeben ist, „lassen eine wunder⸗ bare Fülle schöner Aussichten offen“, und bilden einen Horizont, der etwas sehr eigenthümliches und angenehmes hat: „Auf der einen Seite die lange Hügelreihe des Jura, mit Weinbergen und Wiesen bedeckt, auf der anderen ungeheuere jähe Abstürze nakter Felsen, die sich in tausend seltsamen Gestalten erheben und stellenweise zerrissen sind, so daß sie hohe Schneegebirge er⸗ blicken lassen, die meilenweit hinter ihnen liegen. Er beschreibt die Aussichten aus dem Garten eines Karthäuserklosters zu Rigaille; man sah hier die Alpen unmittelbar vor sich, „die in so viele steile Abhänge und Ahbstürze zerrissen sind, daß sie die Seele mit einer angenehmen Art von Schauder erfüllen, und eine der unregelmäßigsten, mißgestaltetsten Seenen in der Welt bilden.“
Im Allgemeinen bestand das Naturgefühl in der früheren Beschränkung unverändert fort, und 3 bei Vielen (vielleicht den Meisten) selbst der Anblick der Alpen noch nicht vermochte, das Verständniß für die Schönheit der Gebirgslandschaft zu er⸗ schließen, zeigt sich aufs Deutlichste in der im vorigen Jahrhun⸗ bert fehr berühmten und viel gelesenen Beschreibung, die J. G. de, e, von seiner in den Jahren 1729 bis 1731 durch Deutsch⸗ land, die Schweiz und Italien gemachten Reise herausgab, und die im J. I776 die dritte Auflage erlebte. Naturschönheiten werden darin häufig besprochen, Manches, wie der Wasserfall von Terni, der Anblick Genuas von der See aus, hoch gerühmt. An weiten heitern Prospekten findet der Verfasser am meisten Gefallen, und auch er weiß einer schönen Gegend kein höheres Lob zu geben, als daß er sie angenehm“ nennt.
„Ich bin aber versichert, sagt derselbe, daß derjenige, so z. B. im gebirgigen Tirol, Salzburg, auf dem Harze, s ãchsischen Bergstätten, desgleichen in den Wäldern von Thüringen und Pommern, in den sandigen Gegenden von Schlesien, der Markgrafschaft von Bran⸗ denburg und Mecklenburg, oder in den Haiden von Lüneburg oder Westfalen erzogen worden und auf einmal in die aus⸗ erlesensten Prospekte von Italien gebracht werden sollte, ganz ungemeine Regungen und Vergnügungen empfinden würde.“ Hier werden also die Salzburger und Tiroler Alpen mit den Lüneburger Haiden und märkischen Kieferwäldern als 3. un⸗ schön zufammengestellt: offenbar, weil sie sämmtlich gleich un⸗ fruchtbar und wild, folglich nicht angenehm“ gefunden wurden.
Gerade damals (1729) erschienen Hallers „Alpen“, ein untergeordnetes Ergebniß einer großen, 1728 zu naturwissenschaft⸗ lichen Zwecken unternommenen Alpenreise. Dies in jener Zeit hochgefeierte Gedicht zog die Aufmerksamkeit von Europa auf die Schweiz und veranlaßte jene auf Land und Volk gleichermaßen gerichteke Bewunderung, welche die Schweiz über ein halbes Jahrhundert mit einer merkwürdigen Glorie umstrahlte.
So begann jener ununterbrochene Zug der Wanderer nach der Schweiz, welche nicht nur die in ihrer Art einzige Natur be⸗ wundern, sondern auch ein durch Verfassung, Lebensweise und Sitten ebenso eigenthümliches Volk in diesen Bergen kennen lernen wollten.
In der That blieb die Aufmerksamkeit der Reisenden, die die Schweiz fortan immer zahlreicher besuchten, in den nächsten Jahrzehnten noch vorzugzweise auf das Volk, seine Zustände, Sitten und Verfassung gerichtet, auf die Hallers Ode fie hinge⸗ lenkt hatte; denn ber Gegenstand seines Gemäldes war fast aus⸗ on n, die Einfachheit, Unschuld und Seligkeit des Hirtenlebens, wozu die mehr in allgemeinen Umrissen angedeutete als an⸗ schaulich geschilderte Natur der Alpen nur den . bil⸗ dete. Auch Klopstock, der sich vom 25. Juli 750 bis Mitte Februar 15651 in Zürich aufhielt, zeigte zu Bodmers Erstaunen, „keine Neugierigkeit die Alpen von weitem oder in der Nähe zu betrachten und kann den Plan zu einer Alpenreise wohl erst lange nach seiner Ankunft gefaßt haben, wenn diese durch un⸗ gewöhnlich frühen Schneefall vereitelt wurde,
Hatte sich nun das Gefühl für das Wildromantische und Jurchlbar⸗Ethabene in der Natur und namentlich in der Ge⸗
birgslandschaft auch schon in mannichfachen Regungen kund⸗ gegeben, so ist Rousseau doch der Erste gewesen, der ihm durch hinreißenden Ausdruck allgemeine Anerkennung sicherte und seine weiteste Verbreitung anbahnte. Rousseau hat nicht blos eine e der Naturgefühle durch die Entdeckung der Gebirgs⸗ landschaft herbeigeführt: er hat es auch völlig umgestaltet. Die von ihm angeschlagenen Töne klangen überall wieder.
Auch die Travels in Switzerland and in the country of the Grisons (1776, 79, 85, 86) von Coxe, die in der nächsten Zeit hauptsächlich der Wegweiser englischer Reisender waren, verfolgen die Spur Rousseaus in Motiers und auf, der Peters⸗ insel. Das Buch von Coze wurde von einem tiefen wissen⸗ schaftlichen Kenrer der Gebirgswelt, der zugleich ein Meister landschaftlicher Schilderung war, von Ramond de Carbonnieres (geboren zu Straßburg von einer deutschen Mutter 17553 1827) in einer an Inhalt und n, erheblich vermehrten französischen Uebersetzung herausgegeben, die daraus ein ganz neues Buch machte. Die Reisen von Core hatten sich noch mehr in der Ebene und in niedrigen Thälern bewegt, sie gelten vorzugsweise den Städten, der Kenntniß der Menschen und Zu⸗ stände., Ramond beschrieb zuerst die Höhen, die er als unermüd⸗ licher Fußwanderer erklommen hatte.
Doch die Wirkung von Ramonds Werken wurde durch die Ungunst der Zeiten, in denen sie erschienen, im höchsten Grade beeinträchtigt, sie wurden verhältnißmäßig wenig bekannt, und sein Name ist außerhalb Frankreichs so gut wie verschollen. Dasselbe gilt von den Schriften Etiennes de Senamour (geb. 1770); die Schilderungen der Alpenlandschaft in seinem Qber⸗ mann (1804), der ähnliche Stimmungen anregte, wie Ossian und Werther, zeigen „eine originale und ernste Darstellungs⸗ gabe, die zwischen der Weise Runysdaels und Salvator Rosas in der Mitte steht“. Derjenige, dem die gebildete Welt nach der Entdeckung der Gebirgslandschaft durch Rousseau die neue große Erweiterung ihres Naturgefühls durch die Entdeckung des Hochgebirgs verdankt, war ebenfalls ein Genfer, Saufsüre.
Ein dritter Genfer, Töpffer (1799 — 1846), hat sehr richtig die Alpenlandschaft in drei Zonen abgetheilt. Die niedrigste umfaßt die Hügellandschaften und endet bei der Grenze der Nußbäume; auf sie hat sich Rousseau beschränkt und nur in sener Schilderung der Einsiedelei am Meillerie sich über sie hin⸗ ausgewagt, doch von der zweiten höheren Zone nur ein ziemlich allgemeines und unbestimmtes Bild gegeben. Diese zweite Zone, ernfter, strenger und schwieriger, ist oft kahl; die Vegetation der untern Region erstirbt hier, Tannen und Lerchen bekleiden die Abhänge, fassen Schluchten und Gießbäche ein, hier herrscht nicht mehr der Zauber reizender Ländlichkeit, es ist das Reich des Wildschönen. Die höchste Region ist die der Hörner, der Gletscher, der Eiswüästen, wo nur noch die Alpenrose und ähn⸗ lich harte Sträucher am Kande des ewigen Schnees oder in dessen Lücken gedeihen. Diese hohen Regionen sind „die Ent⸗ deckung und Eroberung“ Saussures 1).
Die Werke Saussures und die Berichte des nicht minder leidenschaftlichen Bergsteigers Burrit, den Friedrich der Große Fhistorien des Alpes nannte, lenkten schnell die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Hochalpen und besonders auf Chamouny. Goethe, der schon 1775 den Rigi bestiegen hattez), hörte auf der 1779 in Gesellschaft Karl Augusts von Weimar unternommenen Schweizerreise so viel von der Merkwürdigkeit der Sayoyer Eisgebirge *, daß, nachdem er von Saussure Rath eingeholt hatte, der Ausflug nach Chamounn noch im November gemacht wurde. Im Jahre 1784 hatte Gibbon bereits zu klagen, daß man sich in Laufanne nicht mehr der früheren Ruhe erfreue, sondern durch die Lage und Schönheit des Pays du Vaud und die „Mode, die Gebirge und Gletscher (glaciers) in Augenschein zu nehmen,“ von allen Seiten dem Andrange der Fremden ausgesetzt seis).
Die immer wachsende Literatur, die diese Reisen ins Leben riefen, schuf einen Boden, auf dem die Kunst der Naturschil⸗ derung sich mit besonderer Vorliebe bewegte. „Diese Natur⸗ empfindungswissenschaft, sagt der Winterthurer Ulrich Hegner 18227), die weder Naturkunde noch Naturlehre, weder Erdbes rei⸗ hung noch Erdmessung ist, und wovon man vor einem halben Jahrhundert noch wenig in Büchern, selbst nicht in Reisegeschichten las, ist als ein neuer Zweig der Gelehrsamkeit in der Schweiz entsprossen, und schon zum reichen Baume gewurzelt, von dessen Früchten nun Jeder pflückt, weil sie nicht schwer zu erhaschen und leicht zu verdauen sind.“
) Sainte -Beuve. Toepffer, Causeries VIII. p. 336 i. 2j Osenbrüggen S. 22 ff.
3 Goethes Werke (Cotta) Bd. 22 S. 359.
Werke 14S. 188.
) Nachlaß S. 334.