Aichtamtliches. Deuntsches Reich.
Preußen. Berlin, 6. März. Beide Kaiserliche Majestäten empfingen heute den Besuch des Prinzen und der Prinzessin Wilhelm von Baden.
Se. Majestät der Kaiser und König nahmen heute den Vortrag des Generals von Albedyll entgegen und em⸗ fingen den Besuch Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich Carl. —
Heute findet im Königlichen Palais eine musikalische Abendunterhaltung statt.
— Se. Kaiserliche und Königliche Hoheit der Kronprinz ist, laut Meldung des „W. T. B.“, gestern Nachmittag nach einer stürmischen Ueberfahrt wohlbehalten in Dover eingetroffen.
— Der Bundesrath, sowie die vereinigten Ausschüsse desselben für das Landheer und die Festungen und für Rech⸗ nungswesen hielten heute Sitzungen.
— Im Schlußprotokoll zu Artikel XIII. des Handels⸗ vertrages zwischen Oesterreich Ungarn und Italien vom 27. De⸗ zember 1878 ist unter 8. 3 die Gebührenfreiheit für die Ur⸗ sprungszeugnisse vereinbart. Vermöge des Deutschland ver⸗ tragsmäßig zustehenden Rechts der Meistbegünstigung werden deshalb auch die Ursprungszeugnisse für die aus Deutschland nach Italien gehenden Waaren ge⸗ bührenfrei ausgestellt beziehungsweise visirt werden.
— Amtlichen Nachrichten zufolge sind in den Distrikten von Smyrna, Saloniki, Cavalla, Varna, Rust⸗ schuck und Adrianopel pestverdächtige Symptome nicht beobachtet worden, vielmehr die Gesundheitsverhältnisse der dortigen Bevölkerung durchaus normale. Dagegen herrscht im Vilayet Aidin (Smyrna und dessen Umgebung ausgenom—⸗ men) die Rinderpest in ziemlich starkem Grade.
— Der internationale Gesundheitsrath in Konstantinopel hat in seiner letzten Sitzung die Errich⸗ tung von Beobachtungsstationen zwischen Batum und Trapezunt betreffs der russischen Provenienzen beschlossen und als Orte hierfür Rize und Hoppa bestimmt.
Ein dem Gesundheitsrath vorgelegtes Telegramm des Dr. Leontios vom 18. v. M. ergänzt den früher mitge⸗ theilten Bericht über die Untersuchung in Seniko wa dahin, daß die Aerzte nur 50 Rekonvaleszenten von Abdominal⸗ Typhus vorgefunden haben, daß die Krankheit daselbst schon im Juli 1873 aufgetreten ist, und daß seit 14 Tagen keine neuen Erkrankungen konstatirt worden sind. Von den weite⸗ ren, dem Gesundheitsrathe zugegangenen Mittheilungen ist zu erwähnen, daß nach einem Telegramm vom 20. v. M. aus Vodena dort keine epidemische Krankheit vorhanden ist, daß aber nach einer Meldung aus Trapezunt vom 25. v. M. in sieben Dörfern der dortigen Umgegend der Flecktyphus seit 6 Monaten in bösartiger Form, und zwar besonders unter den rumelischen Einwanderern herrscht.
— Nachdem die tunesische Regierung die von ihr bereits früher für die Provenienzen aus dem Schwarzen, Asowschen, Aegäischen Meere und Tripolis angeordnete 21 tägige Quaran⸗ täne neuerdings auf alle Provenienzen von Griechenland und dem ganzen türkischen Reiche, einschließlich Egyptens, aus⸗ gedehnt hat, finden die Provenienzen aus Tunis, wo⸗
selbst der Gesundheitszustand ein völlig normaler ist, wieder
in sämmtlichen europäischen Häfen, namentlich auch in Italien und Malta, ungehinderten Zugang.
sich Wahl berufen, bei der Sozialdemokratie konstatirte, wie vor Sozialistengesetzes. Nun, das beweise doch gerade, daß Polizei⸗ maßregeln nichts vermöchten, und daß man durch sie nicht den gewünschten Erfolg erreichen werde. Der Reichskanzler habe gemeint, daß diese Gesetze zu milde ausgeführt würden; davon daß die Ausführung des Sozialistengesetzes eine viel härtere sei, als in den Intentionen der Majorität gelegen habe, welche für dasselbe stimmte. Der Reichskanzler habe den Standpunkt des gemeinen Rechts betont, und eine Antithese vorgetragen zwischen den Mitgliedern des Reichstages und des Bundes⸗ raths, die letzteren gegenüber den ersteren als misera plebs bezeichnet. Er glaube, die Antithese sei wenig glücklich ge⸗ wahlt, und auch nicht richtig. Die Mitglieder des Bundes⸗ raths genössen diplomatischen Schutz. Auch unterstellten sich ja die Herren nicht der Dieziplin des Hauses; wenn sie das thäten, wolle das Haus ihnen auch sehr gern die Privilegien, welche demselben zuständen, gewähren. So lange sich die Herren der Disziplin dieses Hauses aber nicht unterwerfen wollten, so lange müßten sie zufrieden sein, auf dem Boden des ge⸗ meinen Rechts zu fern Daß Seitens der Freunde des Ent⸗ wurfs der Standpunkt des gemeinen Rechts so sehr betont worden, sei überaus befremdend, jedenfalls sei der erste ursprüng⸗
önne aber gar nicht die Rede sein, im Gegentheil finde er,
liche Gesetzentwurf ein Ausnahmegesetz ganz analog dem Sozialistengesetz gewesen, wie Redner das an einzelnen Be⸗ stimmungen nachzuweisen versuchte, die dem gemeinrechtlichen Grundsatze non bis in idem direkt widersprächen. Mit großer Kunstfertigkeit seien die privilegia favorabilia dieses Hauses in privilegia odiosa umgewandelt worden; darum habe dieser erste Entwurf auch in den weitesten Kreisen das Gefühl der Demüthigung des Reichstages hervorgerufen. Aber auch der gegenwärtige Entwurf beseitige noch immer zwei Verfassungs⸗ artikel, einmal die Autonomie des Reichstags, dann auch die freie Publikation der Verhandlungen, das sei doch keine Kleinigkeit, und darum wisse er die Stellung des Bundesraths, der doch ein Wächter der Ver⸗ fassung sein sollte, sich nicht recht zu erklären. Zudem bleibe es auch unklar, warum der Reichskanzler bei aller seiner Ab⸗ neigung gegen die spezifische parlamentarische Redefreiheit gerade im gegenwärtigen Momente sich zur Einbringung der Vorlage veranlaßt gefühlt habe. Ein wesentliches Bedenken gegen letztern liege in der Herabminderung der Würde und Autorität des Präsidenten. Die Tendenz des Gesetzes sei auch nicht, wie wohl gesagt werde, die Ordnung und Dis—⸗ ziplin, auch die bestehende Redefreiheit aufrechtzuerhalten, son⸗ dern vielmehr die Redefreiheit zurückzuschrauben. Thatsächlich gebe es allerdings Grenzen für die Redefreiheit des Volks— vertreters; aber wer in der Welt sei im Stande, hier bestimmte Grenzen zu ziehen? Das Wort „Ungebühr“ vermöge es sicher⸗ lich nicht. Weil also keine Grenze zu bestimmen sei, bleibe es bei dem gemeinrechtlichen Grundsatze: nulla poena sine lege. Zu den Strafmitteln der Vorlage übergehend, betonte Redner, daß die Strafe der Ausschließung auch nur auf Zeit niemals als bloßes Disziplinarmittel des Hauses in Anwendung kom⸗ men dürfe, sondern nur auf Grund gerichtlichen Urtheils zu erfolgen habe. Man sage allerdings, es handle sich um eine Erweiterung der Autonomie des Reichstages, aber da könne er (Redner) nicht umhin, zu erklären, daß der Reichskanzler durch den ersten deutschen Justiz-Minister schlecht unterrichtet worden sei. Wenn es wirklich die Absicht des Reichskanzlers sei, die Autonomie des Hauses zu erweitern, dann hätte ihm der deutsche Justiz⸗Minister sagen müssen, daß dies nur und am leichtesten durch einen Verfassungsartikel zu er⸗ reichen sei, welcher dem Reichstage eine stärkere Ju⸗ r isdiktien und dem Präsidenten die Exekutivgewalt zur Ausführung der Beschlüsse des Reichstags zusichere. Habe der Reichskanzler wirklich die Autonomie des Reichstags stärken wollen, dann habe er ja durch die Schuld des Staats- sekretärs für Justiz das gerade Gegentheil erreicht. Dieses Gesetz würde die Autonomie des Hauses schwächen und das Ansehen des Präsidenten untergraben. Eine ähnliche Geschäfts⸗ ordnung wie sie dem Hause zugemuthet werde, kenne kein Parlament der Welt. Die Hinweisungen auf angebliche Ana⸗ logien in England und Frankreich seien aber unzutreffend. Denn dort sei die Stellung der Parlamente eine ganz andere. Im Reichstage könne jeder Richter— spruͤch ein Mitglied auf eine bestimmte Zeit entziehen, in den genannten Ländern bedürfe aber ein solcher Richterspruch erst noch der Bestätigung durch das Haus. Wolle irgend Jemand behaupten, daß die Durchbrechungen der Disziplin, die Exzesse in den Reden im englischen und französischen Parlament seltener vorgekommen seien, als im Deutschen Reichstage. Nicht blos wegen juristischer und theoretischer Bedenken, son⸗ dern auch auf Grund der praktischen Erfahrungen sei er gegen das vorgelegte Gesetz und er sei auch gegen jede Resolution, gegen jede Abänderung der Geschäftsordnung vor Allem in diesem Augenblick, denn sonst würde es scheinen, als handelte das Haus unter dem Drucke dieses Gesetzes. Was das Verbot der Verbreitung von Reden angehe, so glaube er nimmermehr, daß alle Polizeimaßregeln etwas helfen würden, durch tausend Poren drängen die Verhandlungen des Reichs⸗ tages in die Oeffentlichkeit und man würde die Presse nur anreizen zum Verschleiern. Habe denn jemals eine Publikation gerichtlicher Urtheile Schaden gebracht? Das Urtheil liege
vor allen Augen ausgebreitet, und Niemand habe davon
Schaden. Die Vorlage fasse die Oeffentlichkeit in der Weise auf, wie es früher der Absolutismus gethan habe. Umgekehrt gebe es aber keine bessere Kontrole als die Oeffentlichkeit. Wäre es nicht eine Ungerechtigkeit, wenn man die parlamen⸗ tarische Strafe der Oeffentlichkeit übergeben wollte, die straf⸗ baren Exzesse selbst aber verschleierte? Das Vertrauen auf die sittliche Kraft des deutschen Volkes veranlasse ihn, gegen den Entwurf zu stimmen. ö
Der Bevollmächtigte zum Bundesrathe Präsident des Reichs⸗Justizamtes Staatssekretär Dr. Friedberg bemerkte, es habe dem Vorredner gefallen, in seiner Ausführung gegen die Vorlage auch den Beamten anzugreifen, dem das Wenige, was an Reichsjustiz vorhanden, anvertraut sei. Seine Er⸗ widerung werde an diese Rede nicht heranreichen, aber den
einen Vorzug werde sie haben: die Kürze der Zeit, die er dafür in Anspruch nehme.
Der Vorredner habe in die Ver⸗ urtheilung dieses Gesetzentwurfes auch einen Entwurf 6 gezogen, der niemals diesem Hause vorgelegt worden sei, er habe geglaubt, daß das Haus mit den ihm obliegenden Ge⸗ schäften zu viel zu thun habe, als daß es noch Zeit haben
follte über Gesetzentwürfe, die für dieses Haus gar nicht vor⸗
handen seien, eine sachliche Diskussion zu führen. Der Redner habe ferner gemeint, es sei eine Heuchelei, wenn von diesem Tische aus die Behauptung aufgestellt sei, der Entwurf beabsichtige nicht in die autonomischen Befugnisse des Hauses und in die Präsidialgewalt einzugreifen, und der Redner habe selbst ausgeführt, wie er sich einen Entwurf zur Verstärkung der Autonomie des Reichstages denke. Das sei sehr ansprechend, nur sei er davon ausgegangen, daß ein solcher Entwurf blos die Befugnisse des Hauses stärken, nicht aber demselben auch Pflichten auferlegen sollte. Der vorliegende Gesetzentwurf wolle dem Hause die . auferlegen, ungebühr⸗ liche Ausschreitungen mit schwereren Strafen zu belegen, als die Geschäftsordnung gestatte. Die Meinung der Regierung gehe davon aus, daß bei neuen Rechten auch neue Pflichten auf⸗ zuerlegen seien. Wenn dann der Redner einen großen Exkurs darüher gemacht habe, daß der Bundesrath die ihm obliegende Pflicht, ein Wächter der Verfaffung zu sein, hierbei verletzt
be, so glaube er, daß die Frage, ob eine Verfassungs⸗ estimmung der Aenderung bedürftig sei, eben zur Kognition des Bundeszrathes stehe. Wenn der Bundesrath eine solche Verfassungsänderung für nöthig hielte und nicht 14 Stim⸗ men sich dagegen aussprächen, dann sei die Sache erledigt. Dann habe der Vorredner es auch für zulässig gehalten, seine Persönlichkeit wiederholt in die De⸗ batte zu ziehen; er habe seine Verwunderung darüber aus⸗ gesprochen, daß der Leiter der Reichsjustiz seine technischen suristischen Kenntnisse habe herleihen können, einem solchen
Gesetze die Form zu geben. Damit wollte er durchblicken lassen, daß ein Jurist mit einem solchen Gesetze unmöglich einverstanden sein könne, daß man ihm einfach den Entwurf oktroyirt, und er armer Mann nicht anders gekonnt habe, als sich 2. Formulirung herzugeben. Er würde seine Pflicht als Reichsbeamter verletzen und gegen die Wahrheit verstoßen, wenn er durch sein Schweigen auch nur die Möglichkeit der Annahme aufkommen ließe, als ob dieses Gesetz wider seine Ueberzeugung von ihm ausgearbeitet worden sei. Er sei mit dem D falt! vollständig einverstanden, weil er schon seit langer Zeit der Meinung sei, daß an der Redefreiheit des Reichstags etwas krank sei. Würde der Entwurf die Remedur dagegen in einer anderen Instanz als im Reichstage selbst suchen, so würde das allerdings ungerechtfertigt sein; das sei aber nicht der Fall.
Der Abg. Frhr. Schenk von Stauffenberg erklärte, mit großem Erstaunen habe er soeben die Ausführung des Staats⸗ sekretärs gehört, daß es nicht die Absicht gewesen sei, in die Rechte, Befugnisse und Initiative des Reichstages einzugreifen; Wortlaut und Motive der Vorlage bewiesen das gerade Gegen⸗ theil. Beim ersten Bekanntwerden dieses Gesetzentwurfes habe sich durch ganz Deutschland eine hochgradige Erregung und selbst Entrüstung bemerkbar gemacht. Die Einbringung des Entwurfs, sowie die Verhandlungen hier im Hause hätten es
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dem Präsidenten gewiß nicht leicht gemacht, die Verhandlungen fortzuführen. Mit der Vorlegung sollte Seitens des Bundes⸗ rathes keine Kritik über die bisherige Geschäftsführung des Präsidiums geübt werden; lese man aber auf Seite 1 der Motive: „Die bisherige Geschäftsordnung hat vielleicht aus⸗ gereicht, um die Ordnung nothdürftig aufrecht zu er⸗ halten“ — so liege darin, falls die Worte der deutschen Sprache noch eine Bedeutung hätten, die schärfste Kritik gegen die Amtsführung der Präsidenten, die überhaupt ausgesprochen werden könnte. Die Hinweise auf England und Amerika ent⸗ behrten jeder Unterlage, weil die konstitutionellen Verhält⸗ nisse mit den deutschen sich gar nicht in Vergleich stellen ließen. Die Hauptsache blieben die Motive schuldig, nämlich den unwiderleglichen Nachweis von der Unentbehrlichkeit der ver⸗ schärfenden Bestimmungen. Alles, was seit dem konstituiren⸗ den Reichstage, ja seit dem Zollparlament in dieser Hinsicht an Ausschreikungen vorgekommen sei, sei durchaus minimal. Das Argument, das sich als Ornament in den Motiven finde, nämlich die Verhütung von Beleidigungen dritter Personen, sei auch nicht durch einen einzigen konkreten Fall belegt. Redner erklärte sich für die Vornahme der zweiten Berathung im Plenum.
Staatssekretär Dr. Friedberg erwiderte, der Vorredner habe ausgeführt, daß der Gesetzentwurf namentlich in seiner Motivirung gewissermaßen ein Mißtrauen gegen die bisherige Führung der Präsidialgeschäfte enthalte, und habe sich zum Beweis auf die Worte der Motive be⸗ rufen, daß die vorhandenen Bestimmungen der Geschäfts⸗ ordnung vielleicht ausreichten, um die Ordnung im Hause nothdürftig aufrecht zu erhalten, aber unzulänglich seien, um den schädlichen, ja gefährlichen Wirkungen von Ausschreitun⸗ gen in den Reden außerhalb des Sitzungssaales vorzubeugen. Das sei nicht der Fall, vielmehr sei ausdrücklich gesagt, daß der Präsident nicht in der Lage sei, mehr zu thun, sondern ihm vielmehr die Gesetzgebung zu Hülfe kommen müͤsse. Der Vorredner habe ferner wiederholt, was der Abg. Lasker bereits ausgeführt habe, daß es doch vor Allem Sache der Regierungen gewesen wäre, das Bedürfniß nach einem solchen Gesetze nachzuweisen. Nun könne das Haus überzeugt sein, daß die Regierung eine Anzahl von Stellen demselben ver⸗ lesen könnte, welche den Mißbrauch der Redefreiheit bewiesen und das Bedürfniß der Vorlage zur Ge⸗ nüge erhärteten. Indeß werde er dem Beispiel des Abg. Lasker folgen und weder Aeußerungen verlesen, noch Namen nennen, zumal die Redner, welche er im Sinne habe, sich noch im Hause befänden. Was nun ferner die Motive anlange und die Vorwürfe, die der Abg. Lasker der Gründlichkeit derselben gemacht habe, so müsse er sagen, daß er auf die herbe Kritik, als ob sie „auf der Straße aufgelesen“ wären, nicht zurückkommen möge. Was über englische Rechtsübung in den Motiven stehe, beruhe auf Studien, die man, wenn man nicht selbst in England lebe, doch nur anstellen könne aus der Literatur und dem, was man sonst in den Rechts⸗ quellen finde. Und danach bestreite er ganz entschieden die Behauptung des Abg. Lasker, daß das im Parlamente straf⸗ frei gesprochene Wort straffrei bleibe, wenn es gedruckt sei. Das gedruckte Wort sei in England dem gemeinen Recht un⸗ terworfen. Er bleibe dabei, daß die so apodiktisch ausge sprochene Behauptung des Abg. Lasker unrichtig sei, es müß⸗ ten denn alle Quellen lügen.
Der Abg. Bebel bemerkte, daß eine Reihe von scharfen Aeußerungen, welche im Parlamente des Norddeutschen Bundes gefallen seien, bei Weitem noch alle diejenigen überträfen, auf welche in den Motiven des Entwurfs zurückgegangen werde. Die Motivirung des Gesetzentwurfs wie sie bisher gegeben sei, beweise, daß die Regierung mit der Vorlage ein⸗ fach die Sozialdemokraten aus dem Hause drängen und zu⸗ gleich die gegen dieselben herrschende Stimmung zur Beseiti⸗ gung der Redefreiheit benutzen wolle. Vor der Grün⸗ dung des Deutschen Reiches sei die Redefreiheit im preußischen Abgeordnetenhause weit excessiver ausgeübt, als es jemals im Reichstage vorgekommen sei. Redner citirte zum Beweise Stellen aus Reden während der Konfliktszeit. Letztere habe selbst im Herrenhause, welches doch eigentlich für eine Art „parlamentarisches Offiziercorps“ gelte, viel herbe Worte gezeitigt, ohne daß ein Gesetz, wie das vorliegende, als noth⸗ wendig erachtet worden wäre.
Der Präsident von Forckenbeck rügte die vorstehende Be⸗ zeichnung des Herrenhauses als unparlamentarisch.
Der Abg. Bebel fuhr demnächst fort, man möge doch nicht glauben, daß man mit solchen Gesetzen der Sozialdemokratie schade oder sie gar damit beseitigen könne. Diese Waffe, wenn das Haus dieselbe der Regierung gäbe, würde sich gar hald gegen die übrigen Reichstagsmitglieder kehren. Redner kritisirte sodann die Ausführung des gar m en e ger und besprach demnächst den Einfluß, welchen die offiziöse Presse auf die parlamentarischen Körperschaften zu üben schiene.
Als er dies durch ein Beispiel zu belegen versuchte und hierbei eine Kritik der Geschäftsführung des Präsidenten ein⸗ fließen ließ, bemerkte der Präsident von Forckenbeck, er könne eine Kritik seines gegenwärtigen Präsidiums nicht zulassen. Er müsse sich zwar eine Kritik seiner Geschäftsführung aus der vorigen Session, da dieselbe abgeschlossen sei, gefal⸗ len lassen; eine zu weit gehende Kritik konne indessen i. lich die . haben, daß ihm die Geschäftsführung überhaupt unmöglich gemacht werde.]
zielten Prämieneinnahme
Der Abg. Bebel bedauerte, wenn er zu weit gegangen ei; in seiner Absicht habe nicht gelegen, den Präsidenten zu berletzen. — Hierauf verglich Redner die Pflichten, Rechte und Freiheiten der Mitglieder der Parlamente anderer Staaten nit denen eines deutschen Abgeordneten und kam zu dem Schlusse, daß nirgends ein so geringes Maß von parlamen⸗ sarischer Freiheit bestehe, wie in Deutschland. Dadurch wür⸗ ben dann auswärtige Preßurtheile provozirt, wie das kürzlich ausgesprochene, daß die Vorlage eines Gesetzes, wie das in Rede stehende, allein in Deutschland möglich sei. Er bitte aher, den Entwurf abzulehnen.
Hierauf wurde die Diskussion geschlossen.
Persönlich bemerkte der Abg. Dr. Lasker, daß er seine Behauptung, daß Publikationen der Parlamentsreden in Eng— and straflos seien, dem Staatssekretär Dr. Friedberg gegen⸗
äber aufrecht erhalte.; er berufe sich auf die neueste Ausgabe
von May.
Die Verweisung der Vorlage an eine Kommission wurde darauf abgelehnt; die zweite Berathung wird also im Plenum tattfinden.
Es folgten Wahlprüfungen; Namens der III. Abthei⸗
lung beantragte der Abg. von Kardorff, betreffend die Wahl
es Abg. von Kalkstein im 4. Wahlkreise des Regierungs⸗ bezirks Danzig, dem Reichskanzler die in den Akten befind⸗
liche Beschwerde d. d. Darslub, den 31. Juli 1871, mit dem
Ersuchen zu überweisen, wegen der bei der Wahl daselbst an⸗ Feblich vorgekommenen Unregelmäßigkeiten eine gerichtliche intersuchung einleiten zu lassen; und betreffend die Wahl des Abg. von Waldow-⸗Reitzenstein im 5. Wahlkreise des Re— gierungsbezirks Frankfurt, den Reichskanzler zu ersuchen, die in den Akten befindliche Beschwerde d. d. Reppen, den 31. Juli 1878, wegen angeblicher polizeilicher Wahlbeeinflussung unter— uchen, event. Remedur eintreten zu lassen.
Im Namen der V. Abtheilung beantragte der Abg. Uhden bezüglich der Wahl des Abg. Wöllmer die in der Eingabe deselben vom 18. September v. J. aufgestellten Beschwerde⸗ punkte, mit Ausnahme des sub Nr. 5 aufgeführten, zur Kennt⸗ niß des Reichskanzlers behufs Untersuchung und eventueller Rektifikation zu bringen, mit dem Ersuchen, dem Reichstage von dem Refultate Mittheilung zu machen. Diese Anträge wurden ohne Diskussion vom Hause angenommen, worauf sich dasselbe um 4 Uhr auf Freitag 11 Uhr vertagte.
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— — Da bisher in den einzelnen Landestheilen hinsichtlich der Heranziehung der Versicherungsgesellschaften be— ziehungsweise der Agenturen derselben zu den Gemeinde⸗ Einkommensteuern nach verschiedenen Grundsätzen ver— fahren und hierdurch insbesondere mehrfach eine Doppel⸗ besteuerung herbeigeführt worden ist, so hat der Minister des Innern durch Cirkularerlaß vom 30. Juni d. J. zur Be⸗ seitigung der in dieser Beziehung entstandenen Zweifel Fol⸗— gendes bestimmt.
Soweit nach den zur Zeit bestehenden Gemeinde⸗Ver⸗
kfassungsgesetzen überhaupt eine Heranziehung der juristischen
Personen und Aktiengesellschaften zu den Gemeinde⸗Einkom⸗ mensteuern zulässig erscheint, ist die Berechnung des steuer⸗ pflichtigen Einkommens und die Vertheilung desselben auf verschiedene steuerberechtigte Gemeinden in der nachstehend bezeichneten Weise zu bewirken:
I) Als steuerpflichtiges Einkommen der Versiche⸗ rungsgesellschaften ist nicht die an die Aktionäre vertheilte
Dividende, sondern der aus dem Ueberschusse der Jahres—
einnahmen über die Jahresausgaben sich ergebende Jahres— gewinn — und zwar nach dem Durchschnitte der letzten 3 Ge⸗ schäftsjahre — anzusehen. Zu den Ausgaben sind die für die jährliche Abnutzung von Gebäuden und Inventarienstücken üblichen Abschreibungen, die Schaden- und Prämienreserven, die zur Verzinsung von Schulden und zur Zahlung von Tantiémen an Beamte und Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsraths verwendeten Beträge, nicht aber die Ein⸗
lagen in den Reservefonds und die zur Amortisation der
Schulden und des Grundkapitals beziehungsweise zur Tilgung einer Unterbilanz sowie zu Verbesserungen und Geschäfts— erweiterungen verausgabten Beträge zu rechnen.
2) Als steuerberechtigt sind diejenigen Gemeinden anzusehen, in welchen sich der Sitz der Versicherungsgesellschaft bezw. eine Zweigniederlassung oder eine solche Agentur der⸗
selben befindet, welche ermächtigt ist, Rechtsgeschäfte im Namen
und für Rechnung der Gesellschaft selbständig abzuschließen.
3) Bei der Vertheilung des steuerpflichtigen Einkommens auf die verschiedenen steuerberech— igten Gemeinden ist das Einkommen aus den Zins— erträgen des Grundkapitals und Reservefonds nicht ausschließ⸗ lich der Gemeinde, in welcher sich der Sitz der Gesellschaft befindet, anzurechnen. Vielmehr sind diese Erträge lediglich als ein Theil des Gesammteinkommens aus dem Gewerbe— betriebe für welchen die betreffenden Kapitalien, Gebäude c. bestimmt sind, anzusehen.
Von diesem Gesammtbetrage des Einkommens aus dem Gewerbebetriebe sind vorab der Gemeinde, in welcher sich der Sitz der Gesellschaft befindet, 10 Prozent des Steuerobjekts zu überweisen. Von den übrigen 96 Prozent hat jede Gemeinde, in welcher sich eine Zweigniederlassung oder eine zum selbst⸗ tändigen Abschluß von Rechtsgeschäften berechtigte Agentur befindet, diejenige Quote zu beanspruchen, welche dem Ver⸗ hältniß der in dieser Zweigniederlassung oder Agentur er⸗ — zur Gesammt⸗Prämieneinnahme der Gesellschaft entspricht. Der nach Abzug der Antheile der auswärtigen steuerberechtigten Gemeinde verbleibende Niestbetrag der obigen 969 Prozent ist in der Gemeinde, in welcher
„der Sitz der Gesellschaft befindet, in Verbindung mit dem bräzipualbetrage von 10 Prozent zur Besteuerung zu bringen. OD ppeln, 5. März. (W. T. B.) Die heute hier behufs einer Kundgebun . Gunsten der Wirthschafts⸗ politik des Reichskanzlers tagende oberschlesische andesversammlung war von etwa 500 Theilnehmern besucht. Es wurde einstimmig beschlossen, dem Fürsten Bis⸗
. ark den Dank Oberschlesiens auszusprechen. Weiter erklärte
sic die Versammlung für schleunigste Wiedereinführung von Aisenzöllen und beschloß außerdem, an den Reichstag eine Pe⸗ tition zu richten, dem herrschenden Nothstande durch Erweite⸗ ung des Systems der indirekten Steuern, durch eine Umge— staltung des Tarifwesens und durch eine Aenderung der Han⸗ dels und Zollpolitik abzuhelfen.
Oesterreich⸗ ungarn. Wien, 5. März. (W. T. B.)
Eine Meldung der „Polit. Korresp.“ aus Konstantinopel von
gestern bestätigt, daß eine griechische Freischärlerbande
Bosniens und der Herzegowina.
Rorkes Drift heranrückenden Obersten Durnford
einen Einfall in das thessalische Gebiet gemacht hat. Da die Grenzgegend stark von türkischen Truppen besetzt sei, so wäre das Umsichgreifen einer Insurrektion kaum zu besorgen. Pest, 5. März. In der heutigen Sitzung des Aus⸗ schusses der österreichischen Delegation erklärte Graf Andrassy in Beantwortung verschiedener Anfragen, daß die staatsrechtliche Stellung der okkupirten Länder von den beiderseitigen Legislativen bestimmt werden würde, sobald der Zeitpunkt hierfür gekommen wäre. Heute würde eine Diskussion darüber unzuträglich sein. In Betreff Novibazars handle es sich nicht um eine Okkupation, sondern um ein bloßes Garnisonrecht in einzelnen Orten unter Aufrechterhaltung der türkischen Herrschaft. Von einem Aufgeben dieses Rechts sei keine Rede; aber die Regierung habe auch gegenwärtig keine Veranlassung, die Ausübung dieses Rechtes zu beschleu⸗ nigen, die in voller Freundschast mit der Türkei ohne wesent⸗ liche Opfer vollzogen werden solle. Bezüglich der Grenz⸗ regulirungen theilte Graf Andrassy mit, daß Rußland die Mächte aufgefordert habe, in Betreff dieser Frage an die Delimitationskommission detaillirte Instruktionen zu erlassen, doch sei eine Revision des Berliner Vertrages von keiner Seite angeregt worden, eine solche würde auch von keiner Seite angenommen werden. In der Frage Betreffs des Forts Arabtabia sei allerdings eine definitive Lösung durch eine Botschafterkonferenz in Aussicht genommen worden, worüber noch verhandelt werde. Ein positiver Antrag auf Aufhebung der Beschränkung, daß der Gouverneur von Ostrumelien ein Christ sein müsse, sei nicht gestellt worden. Von den Bulgaren würden auch die Balkanabhänge zur Sicherung einer Defensiv⸗ stellung verlangt. Diese Frage sei eben der Prüfung der Delimitationskommission vorbehalten. Eine Botschafter⸗ konferenz in Berlin sei von keiner Seite angeregt
worden. — Der Ausschuß hat ferner mit allen Stimmen
gegen zwei den Antrag des Abg. Sturm, nach welchem das Heereserforderniß für die okkupirten Pro⸗ vinzen pro 1879 mit 39. Millionen Gulden festgestellt wird (anstatt mit ca. 341 Millionen Fl., wie die Regierung verlangt hatte), angenommen. Sodann wurde ein weiterer Antrag Sturms, durch welchen die Regierung aufgefordert wird, die Okkupationstruppen noch unter die von ihr für das 4. Quartal in Aussicht genommene Anzahl zu vermindern und auf den Friedensstand zurückzuführen, mit 11 gegen 8 Stimmen angenommen. Bei der Berathung eines ferneren Antrages Sturms, betreffend die Nichtverwendung der bewillig⸗ ten Gelder für Administrationsauslagen gab der Minister Hofmann ein ausführliches Exposés über die Verhältnisse Die weitere Berathung dieses Antrages wurde schließlich auf morgen vertagt.
Großbritannien und Irland. London, 3. März. (E. C.) Es ist eine amtliche Depesche des englischen Befehls⸗ habers im Zulukriege, Lord Chelmsf ord, vom 29. Januar aus Pietermaritzburg eingetroffen, in der der Gene— ral zwar genaue Mittheilungen über seine Märsche mit dem Haupttheil der Glynschen Kolonne macht, über den Ver— lauf des unglücklichen Gefechtes bei Isandula nur Un⸗ vollständiges berichten kann, da er gleichfalls auf die Erzäh— lungen einzelner Flüchtlinge angewiesen war, die durch die Tagespresse bereits bekannt geworden sind. Aus seinen eige⸗ nen Angaben geht indeß soviel hervor, daß der General bereits am Morgen des 22. über die Ansammlung feindlicher Zuluhaufen zwischen seiner Rekognoszirungsabtheilung und dem Lager unterrichtet war und mit der Mehrzahl seiner Truppen nach dem Lager hin aufbrach. Die Zulus zogen sich vor ihnen zurück, 300 wurden dabei abgeschnitten und 50 von ihnen getödtet. „Als diese Operationen vor sich gingen, empfing DOberst Giyn um 9 Uhr Morgens eine kurze Note vom Oberst⸗Lieutenant Pulleine, daß Feuern zur Linken des Lagers hörbar werde, ohne Angabe weiterer Einzelheiten.“ (Dies Feuern rührte wahrscheinlich von dem Treffen des . mit den Zulus her.) „Ich sandte deshalb“, fährt General Chelmsford fort, „meinen Adjutanten sofort nach dem Gipfel eines hohen Hügels, von wo aus das Lager gesehen werden konnte. Er blieb dort wenigstens eine Stunde lang mit einem sehr starken Teleskop, konnte aber nichts Ungewöhnliches erblicken. Da ich deshalb keinen Grund zur Besorgniß um die Sicher⸗ heit des Lagers sah, gab ich dem Oberst Russell Befehl zum Rückzuge ꝛc.“ Dann suchte der Oberbefehlshaber einen neuen Lagerplatz und rückte erst gegen Abend weiter, worauf er das Lager genommen und die Besatzung niedergemetzelt vorfand.
Ueber die Stärke der Lagerbesatzung macht er fol— gende genauere Angaben: Artillerie: 2 Offiziere, 78 Mann, 3 Geschütze; 2 Raketengeschütze: 1 Offizier, 10 Mann; 1. Ba⸗ taillon 24. Regiments: 15 Offiziere 334 Mann; 2. Bataillon 24. Regiments: 5 Offiziere, 99 Mann; berittene europäische Abtheilung: 5 Offiziere, 234 Mann; Natal⸗Eingeborene: 19 Offiziere, 391 Mann; Natal⸗Pioniere; 1 Offizier, 10 Mann; Oberst Durnf ords Abtheilung (Eingeborene): 18 Offiziere, 450 Mann. Summa der Eingeborenen: S51 Mann; Summa der Europäer: 772 Mann Harunter 66 Offiziere), Oberst⸗-Lieutenant Pulleine, 1. Bataillon 24. Regiments, war als Kommandant zurückgelassen mit dem strikten Befehl, sich auf die Vertheidigung des Lagers zu be⸗ schränken.
Frankreich. Paris, 5. März. (W. T. B. Tirard, Deputirter von Paris, ist zum Han del s⸗Minister ernannt worden und hat das Portefeuille übernommen, nachdem er sich mit dem Conseils⸗Präsidenten Waddington und dem Finanz⸗Minister Leon Say über die Fragen der allgemeinen Tarife und der Handelsverträge verständigt hatte.
Rußland und Polen. St. Petersburg, 3. März, Der heutige „St. Petersburger Herold“ veröffentlicht eine auf die Krankheit des Thürhüters Prokofjew bezügliche Gegen⸗ erklärung des Professors Dr. Botkin, die ich Ihnen mit Rücksicht auf das Interesse, welches diese Angelegenheit verdient und gefunden hat, nachstehend dem vollen Wortlaute nach mittheile:
In der Sitzung des medizinischen Conseils unter dem Prä⸗. sidium des Verwesers des Ministeriums des Innern am 26. De⸗ zember 1878 sprach die Mehrzabl der Mitglieder des Conseils ihre Meinung dahin aus, daß die in Wetljanka herrschende Epidemie durch Pestinfektion bedingt sei. Tief uͤberzeugt von der Aufrichtigkeit diefes Ürtheils machte ich in der Administrativ⸗ sitzung der Gesellschaft der russischen Aerzte vom 28. Dezember vorigen Jahres den Mitgliedern dieser Gesellschaft den Ver— schlag, sich mit der Literatur über die Menschenpest zu beschäf⸗ tigen, indem ich einerseits die der Kürze wegen ungenügenden Barstellungen diefer Krankheitsform in den gebräuchlichsten neuesten
Lehrbüchern, andererseits die Popularisirung der wissenschaft⸗ lichen Kenntnisse über die Krankheit, bei deren bloßer Nennung schon die Panik die Leute ergreift, im Auge hatte. Tief überzeugt, daß nur das wahre Wissen der Panik, dem pathologischen Zustande des menschlichen Gehirns, welcher in gewissen Fällen nicht weniger als eine Epidemie schaden kann, entgegen zu wirken vermag, konnte ich mich nicht auf die Sitzungsverhandlung über diese Frage allein be⸗ schränken und bat die Mitglieder der Gesellschaft der russischen Aerzte, ihre Studien in dieser Frage fortzusezen. Im Laufe dreier Sitzungen widmete sich die Gesellschaft der russischen Aerzte fast aus⸗ schließlich der Berathung über die Pestinfektion überbaupt und über die Ausbreitung der gegenwärtigen Epidemie in Rußland im Spe— ziellen. Hierbei unterließ ich es nicht, beständig die Unwahrschein⸗ lichkeit einer Ausbreitung der Pest in Rußland in dem Maßstabe. wie sie in früheren Jahrhunderten bei uns auftrat, hervorzuheben. Zugleich sprach ich sowohl in den öffentlichen Sitzungen der Ge- sellschaft der russischen Aerzte, als auch in meinen Vorlesungen in der medico-⸗chirurgischen Akademie wiederholt die Ansicht über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer größeren oder geringeren Zahl von Erkrankungen an der Pestkrankheit, in verschiedenen Gegenden Rußlands, ohne die schweren Symptome derselben nicht im Sinne der Mortalität und der Ansteckung und Uebertragung derselben, aus. Wiederholt wies ich in meinen klinischen Vorlesungen, wie auch in den Sitzungen der Gesellschaft der russischen Aerzte darauf hin und demonstrirte öffentlich in der Klinik an Kranken die Abweichung in dem klinischen Verlauf unserer gewöhnlichen Typhen, indem ich auf das Auftreten primärer Petechien beim Fleck⸗ und Unterleibs⸗ typyhus und auf, die akute Anschwellung der Lymphdrüsen in den Achselhöhlen, mit größerer oder geringerer Affektion derselben, bei gleichzeitiger Veränderung der Milz und Leber, die kaum bei der klinischen Untersuchung bemerkbar waren, hin⸗ wies. Durch derartige Fälle veranlaßt, sprach ich wieder⸗ bolt die Voraussetzung aus, daß das Pestgift schon bis zu uns ge⸗ drungen sei, welches jedoch wegen gewisser, uns unbekannter Bedin⸗ gungen, die den Peststoff paralhsiren, in seiner spezifischen Form nicht aufgetreten sei. Am 13. Februar kam ich in die Lage, in Gegen⸗ wart meiner Zuhörer den Patienten Naum Prokofjew, welcher das volle klinische Bild der Pest in ihrer milden Form darstellte, zu untersuchen. Naum Prokofiews Krankheitsbild ergab eine akute, febrile Erkrankung kontagiösen Charakters mit schnellen Anschwel⸗ lungen der Lymphdrüsen in der linken Achselgegend, die in weniger als 24 Stunden sich entwickelten und die in Eiterung übergingen und am 26. Tage von selbst aufbrachen. Am 28. Tage wurde das Fieber, welches unterdessen nachgelassen hatte, wieder heftiger und im Laufe einer Nacht schwollen die rechten Achseldrüsen an und zeigten eine akute Entzündung. Auf der Haut des Kranken fanden sich bei der öffentlichen klinischen Besichtigung desselben am 13. Februar kleine Flecken petechialen Charakters und verschiedener Färbung: die einen hellroth, zinnoberfarbig; andere, hauptsächlich auf den Händen, von der Farbe der Petechie bläulich gefärbt, wieder andere endlich mit einer weniger hellen Färbung braunroth. An einzelnen Stellen der Haut waren Spuren von früheren Petechin in Gestalt kleiner Punkte in der Epidermi schicht bemerkbar. Auf der Haut des Unterleibes endlich waren unter den Petechialflecken drei Bläschen von der Größe eines Stecknadelkopfes bemerkbar, welche sich offen⸗ bar aus vorhergehenden Petechien entwickelt hatten. Im Harn des Patienten fand sich Eiweißstoff ), die Temperatur zeigte 39,2 Gr., während der Demonstration zäblte der Puls 120 Schläge, 20 Athem⸗ züge, die Achseldrüsen waren nicht scharf abgegrenzt angeschwollen. Obschon bei der Erklärung des vorher geschilderten Bildes der Krankheit nichts mit einem spyphilitischen Prozeß Gemeinsames zu finden ist, wurde doch der Patient öffentlich in der Klinik auch in dieser Richtung ausgefragt. Derjenige, welcher die öffentlichen Aussagen eines Patienten auf eine wahrscheinliche konsti⸗ tutionelle Syphilis, welche vor 10 Jahren aufgetreten war und Hin⸗ weisungen auf ein Geschwür, welches vor drei Jahren sich gezeigt hatte, angehört hat, der wird verstehen, daß ein solcher Fehler in der Jiagnose für einen Professor der Klinik für innere Krankheiten unverzeihlich wäre und zwar in Anbetracht der konstatirten akuten Erkrankung kontagiösen Charakters mit Petechien auf der Haut, mit aufgegangenen Bubonen in der linken Achselhöhle und mit akuter Anfchwellung der Drüsen in der rechten Achselhöhle. So wünschenswerth es auch wäre, daß ich mich in diesem Falle geirrt hätte, so kann ich doch einen Fehler nicht zugeben und bin tief durchdrungen von der Richtigkeit meiner Ueberzeugung. Ich würde es mir nicht erlauben, meine Meinung öffentlich zu verthei⸗ digen, wenn es nur meine Person betreffen würde, und würde und werde, ohne zu klagen, alle gegen mich gerichteten Anklagen und selbst die unwürdigsten Insinuationen ertragen — wenn dieses Alles nur dem Gemeinwohl zum Heil gereichte. Aber bereits früher, so wohl in den Sitzungen der „Gesellschaft der Aerzte“ und den Sitzungen der der St. Petersburger Duma beigegebenen Sanitäts- kommifsion, wie auch in meinen Vorlesungen habe ich mich wieder⸗ holentlich in Bezug auf die Nothwendigkeit und Wichtigkeit aus⸗ gesprochen, scharf und aufmerksam das Auftreten der ersten Fälle von Erkrankungen an der leichten Pestform zu verfolgen und zu be⸗ obachten, die Fälle, welche den bekannten Gegenstand des Streites bei allen Epidemien ausmachten. Deshalb halte ich mich für ver⸗ pflichtet, meine ausgesprochene Meinung als meine alleraufrichtigste wissenschaftliche U berzeugung ungeachtet aller Angriffe aufrecht zu erhalten, welche man gegen mich richtet und welche ich mit aller Standhaftigkeit zu ertragen wissen werde. Professor Botkin.
Eine in der heutigen Nummer der „St. Petersburgskie Wijedomosti“ enthaltene Korrespondenz, welche für die Ansicht Botkins eintritt, bemerkt unter Anderm: „Alle jungen russi⸗ schen Aerzte und Studenten stehen in Phalanx sür Professor Botkin ein.“
— 5. März. (W. T. B.) Der Reichskanzler Fürst Gortschakoff empfing heute den neu ernannten englischen Botschafter, Earl Duffe rin. — Nach hier eingegangener telegraphischer Nachricht sind die deutschen u nd die österreichischen Aerzte in Wetljanka eingetroffen und hatten bereits eine Konferenz mit dem Dr. Krassowsky.
— 6. März. (W. T. B.) Lord Loftus hat sich gestern von Sr. Majestät dem Kaiser verabschiedet. — Der Mini⸗ ster des Innern hat der deutschen „Petersburger Zeitung“ den Straßenverkauf entzogen.
Nach einem Telegramm der „Internationalen Telegraphen⸗ Agentur“ aus Taschkend, vom 5. d. M, entstand nach dem Tode Schir Ali's am 21. Februar in Mazarischerif ein Aufruhr, aus dem schließlich Jacub Khan siegrei hervorging. In Jerabad eirkulirt das Gerücht, neben Jacub Khan würden Schir Ali's Sohn, Ibrahim Khan, und Schir Alis Enkel, Achmed Khan, als Prätendenten auftreten.
General Graf Loris⸗Melikoff telegraphirt aus Astrachan, vom 5. d. M.: In Wetljanka ist ein 14 Mo⸗ nate alter Knabe an einer bräunegrtigen, mit Ruhr verbun⸗ denen Lungenentzündung, welche sich aus einer zwei Monate dauernden schronischen Krankheit ausgebildet hatte, gestorben. Die von dem österreichischen Professor Bessiadetzky in Gegen⸗ wart des Dr. Krassowsky und anderer russischer und auslän⸗ ie Aerzte vorgenommene Sektion hat diese Diagnose be⸗
ätigt.
) Der Eiweißstoff im Harn verschwand im Verlaufe des 16.
und des 17. Februar. In der Nacht auf den 18. Februar trat auf der Oberlippe und auf dem unteren Theil der Nase ein kritischer Ausschlag (herpes) hervor; ein neuer Beweis, daß ein akuter, an⸗
steckungs fähiger Fall vorlag.