ralen nachwies, daß sie 54 000 Stimmen verloren haben. Das wer⸗ den auch die amtlichen Untersuchungen bestätigen in der Gesammtheit der Ziffern der Wahlen am N. Oktober. Daß daneben die Freikon⸗ servativen ebenfalls verloren haben, thut mir außerordentlich leid, ändert aber nichts daran, daß die Liberalen in ihrer Gesammtheit auch verloren haben. Die deutsche Reichspartei hat in der Wabl ron 1878 gehabt 785 000 Stimmen und in der Wahl vom 2. Oktober 347 000; sie ist also von 1400 der Wählerzahl von 1878 auf 79½ der Wählerzahl von 1881 zurückgegangen. Ja, meine Herren, das zeigt Ihnen nur, daß im parlamentarischen Leben die Mittelparteien auf der Defensive stehen, deshalb im Nachtheil sind. Ja, im Festungskrieg — denn was ist das parlamentarische Leben anders als die Belagerung dieser Festung hier? — sind die defensiven Parteien immer zuletzt im Verlust, wie bei jeder Festung von dem Ingenieur berechnet wird, wann sie kapi⸗ tuliren wird müssen, — daß wir werden kapituliren müssen, — das ist nun glücklicherweise nicht der Fall! — wegen der Fehler in der Belagerung, aber daß die Mittelparteien verlieren und die extremen gewinnen, lehrt die Geschichte überall. Die Leitung der liberalen Partei gleitet immer und überall mehr und mehr nach links hinüber und wird auch bei uns noch mehr nach links gleiten; es wird sich immer noch Einer finden, der Hrn. Richter noch überrichtert, und der dann die Führung haben wird, weil er sozusagen auf der Bank noch einen höheren Sprung ausführt, und so werden Sie allmählich dem sehr nahe kommen, was Sie mit so vieler Entrüstung von sich weisen: der Lösung der ganzen Ent— wickelung, die wir in Frankreich ja schon mehr als einmal erlebt haben, und der Sie, wie ich gestern aus Ihrer Entrüstung ersehen habe, un be wußt entgegengehen, aber meines Erachtens unaufhaltsam zualeiten, der Lösung, die in Frankreich stattgefunden hat, weil die Mittelparteien allmählich ausgemerzt werden. Wenn z. B. die ganze parlamentarische Situation mehr nach rechts hinüberglitte, so wäre die größte Gefahr meines Erachtens, daß schließlich die Führung den extremen Rechten anheim fallen würde, wie wir das zu Zeiten auch schen gehabt haben, also etwa denjenigen ‚Konservativen“, die ich auch, wie ich gestern sagte, in die Liasformation verweisen muß, die in einem mir früher nicht bekannt gewesenen Blatte — ich glaube, es heißt Konservative Monatsschrift — unter der Leitung eines Ver⸗ wandten des früheren Kreuzzeitungs-Redacteurs Nathusius ihr Wesen treibt. Auch die würde, wenn die Konservativen in einer kämpfenden Opposition wären, allmählich die Führung erlangen als die ertremste Partei. Es ist ein großer Schaden für die Zukunft des Reiches, für die Befestigung desselben, i. die beiden Mittelparteien, die freikon⸗ servative und die nationalliberale, so viel an ihrem Bestande ver⸗ loren haben, so viel weiter links hin abgegeben haben, das kann ich als Reichskanzler und als Patriot nur bedauern. Daß der Herr Vor redner angeführt hat, in der Zahl der Konservativen sei eine er— hebliche Anzahl von Centrumsstimmen mit einbegriffen, weil viele Gesinnungsgenossen des Centrums für die Deutschkonservativen ge⸗ stimmt hätten, das mag ja der Fall sein. Aber ich möchte fragen, — ich kenne die Transaktionen so genau nicht —: hat denn nicht auch eine erhebliche Anzahl Deutschkonservativer für die Centrumès⸗ kandidaten gestimmt? Es sind Transaktionen gemacht, die wahrschein⸗ lich auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich weiß nicht, wer besser dabei weggekommen ist, aber wahrscheinlich hätten die Transaktionen von einer Seite nicht stattgefunden, wenn diese Seite gefürchtet hätte, dabei zu kurz zu kommen. Es wird erlaubt sein, dies anzunehmen.
Wenn der Herr Vorredner sagt, daß in den Stichwahlen manche Konservative für die Sozialdemokraten gestimmt hätten, so ist nach meinen statistischen Nachrichten von diesem Vorwurf jede Fraktion betroffen, keine ist ausgenommen, sie haben alle unter Umständen für Sozialdemokraten gestimmt, respektive deren Stimmen für sich in Empfang genommen. Ich habe darüber noch Aktenstücke, die ich noch vervollständigen werde, über die Natur der Geschäfte, die dabei ge⸗ macht sind in bestimmten Lokalen. Wir werden darüber weiter prechen können. Also die Wirkung meiner gestrigen Ausführungen in Bezug auf die 3 ist auch durch den Herrn Vorredner nicht mit Recht in Zweifel gestellt, wohl aber nehme ich Akt davon und werde jede weitere Rede darüber wiederum kontroliren, daß er sich auch in dieser Rede lediglich mit meiner Person und nicht mit der Sache beschäftigt hat. ; ;
Der Abg. Dr. Windthorst erklärte, die Debatte sei ge⸗ wissermaßen in eine Unterhaltung über den Studiengang des Reichskanzlers verlaufen, und Letzterer scheine ihm Recht zu haben, wenn derselbe eine größere Sachlichkeit empfehle. Wie aus der Aenderung seiner Ansichten einem Manne ein Vor— wurf zu machen sei, verstehe er nicht. Sei denn die Frage, ob Freihandel oder Schutzzoll, nicht wesentlich durch die um⸗ gebenden Verhältnisse beeinflußt? Hätte der Reichstag nicht gerade deshalb Wandel eintreten lassen, weil die deutschen Grenzen allein offen gestanden hätten, während die Nachbaren Deutschlands die Zollschranken beständig vergrößert hätten? Er habe das bei Gelegenheit der Zollberathun⸗ gen wiederholt erklärt und betont, daß Deutschland, sofern es nicht seinerseits dem Beispiele der Nachbaren folge, der aus⸗ wärtigen Konkurrenz erliegen müsse. Wolle die linke Seite dieses Hauses eine Aenderung der jetzigen Wirthschaftspolitik herbeiführen, so stelle sie bestimmte Anträge. Man werde dann sehen, wo die Majorität sein werde — nicht bei den Liberalen, dessen könnten die Liberalen gewiß sein. Aber die Liberalen wüßten ganz gut, daß, wenn sie den Zolltarif umzuwerfen versuchen würden, es ihnen bei den Wahlen recht gründlich schlecht gehen würde. Den Anlaß zu dieser Diskussion babe eine Aeußerung Rickerts gegeben, der mit einem Male gefunden habe, daß für die „große liberale Partei“ einige Stimmen zu wenig angegeben seien — eine Un⸗ richtigkeit, deren Berichtigung der Abg. Nickert von einer Wahlstatistik erwarte. Er theile den Wunsch des Abg. Rickert und sei dafür, daß demselben alle amtlichen Wahlziffern zur Verfügung gestellt würden. Vielleicht beschäftige den Abg. Rickert das eine Zeit lang. Er persönlich wünsche nichts sehn⸗ licher als diese „große liberale Partei“ — wenn schon ihm eine charakteristische Unterscheidung der einzelnen Fraktionen noch nicht gelungen sei, weil dies wesentlich dazu beitragen würde, eine 2 konservative Partei zu schaffen und damit wahrscheinlich erreicht würde, wonach das Centrum immer gestrebt habe, das Aufhören der kirchenpolitischen Streitig⸗ keiten. Der Liberalismus der Partei des Abg Rickert sei bisher nur ein Scheinliberalismus gewesen. Dieselbe habe nichts Anderes verfolgt als die Tendenz, alle Anderen unter das Joch derselben zu beugen und deshalb bekämpfe das Centrum die Partei des Abg. Rickert. Er (Redner) sei viel liberaler, als der Abg. Rickert und die ganze Fortschritts partei. Er habe gelernt, daß er auch andere Ansichten gelten lassen müsse, daß er auch andere Existenzen zu achten 3. daß der Staat nicht omnipotent sei und es ursprüngliche Rechte gebe, auf deren Untergrabung die Ve⸗
ebungen der Liberalen gerichtet seien. Er könne deshalb zu einem Bedauern den Wunsch des Abg. Rickert, ihn liberal zu nennen, nicht erfüllen. Die Linke habe es an der Gewohn⸗ heit, von sich als von der Nation zu sprechen und vergesse dabei, daß auch die Centrumspartei in Deutschland wohne, daß sie hier eine Majorität habe, die die Liberalen nicht hätten. s sei indessen vom Abg. Rickert nicht so böse ge⸗ meint. Die Liberalen seien aus früherer Zeit an dieses stolze Wort gewöhnt, das ee, der Regierung s. Z. auch zugestanden gewesen sei; daß die Liberalen sich nun nicht so rasch davon wieder entwöhnen könnten, begreife er vollstandig. Wenn das Centrum so sortarbeite, wie bieher, werde es die Majorisät
gewinnen, und zwar mit Hülfe der protestantischen Mitbürger, bei denen sich mehr und r die Ueberzeugung von der Be⸗ rechtigung der Fordtrungen der Katholiken Eingang verschaffe. Man habe von der Gutmüthiakeit der Centrumsfraktion ge⸗ sprochen, welche ihrerseits die Deutschkonservativen unterstützt habe. Die Thatsache selber sei richtig. In einer nicht uner⸗ heblichen Zahl von Fällen seien seine Parteigenossen ent⸗ schieden für die Ronservdtiven eingetreten, was er keineswegs bedauere; er hätte nur gewünscht, daß die Konserdativen dem Centrum gegenüber nach dem Grund⸗5 satze der Reziprozität . hätten. Die Aufzählung der Wähler des Centrums erschöpfe die Summe der Anhänger desselben nicht. In allen den Bezirken, wo die Wahl der Centrumspartei unzweifelhaft gewesen, sei die Betheiligung naturgemäß eine schwächere gewesen. Wenn es nicht nöthig sei, lasse man die Truppen eben nicht marschiren. Wo es nöthig sei, seien sie vollzählig gewesen, und er sei überzeugt, daß im Nothfalle alle 16 Millionen Katholiken in einer festen Linie nebeneinander stehen würden. Um nicht mißverstanden zu werden, erwähne er, daß das Centrum in verschiedenen Fällen auch den Fortschritt unterstütäzt habe. Denn darin weiche er vom Reichskanzler ab: Soweit es an ihm liege, sollten die Mittelparteien verschwinden. Klarheit sei für ihn das erste Bedürfniß, und Mittelparteien seien unklar.
Der Präsident bat die nachfolgenden Redner, sich nun⸗ mehr enger an den Gegenstand der Tagesordnung anzu— schließen.
Der Abg. Dr. Hänel bemerkte, der Abg. Windthorst habe sich heute vorzugsweise an die liberale Partei gewandt, während derselbe bisher seine Belehrungen stets an die Konservativen gerichtet habe. Für das Centrum möge seine (des Redners) Partei in der That nicht liberal sein, da dem Centrum nur der liberal sei, der mit demselben gehe. Von welchen Grund— sätzen werde denn dieser „wahre Liberalismus“ des Abg. Windthorst geleitet? Wenn in parlamentarischen Zirkeln irgendwo Diplomatie getrieben werde, so geschehe dies in den Reihen des Centrums, das von Fall zu Fall es heute mit dem, morgen mit jenem halte. Während es noch gestern den Nationalliberalen zugewinkt habe, ersehne es sich heute eine konservative Partei. Seien das Grundsätze? Das Centrum sei heute nichts anderes als eine Partei der Taktik, die es verstehe, den entferntesten Zipfel der Debatte mit dem Kultur⸗ kampf zu verknüpfen. it welchen Mitteln operire die Centrumspartei in der bayerischen Kammer selbst bei rein sachlichen Budgetdebatten gegen das Ministerium! Mittel, die man in Preußen nie anwenden würde. Früher habe der Abg. Windthorst die Liberalen zu locken versucht, als derselbe ge⸗ ft habe, durch eine einseitige Parteirichtung seine Oppo⸗ ition gegen den Fürsten Reichskanzler verstärken zu können. Heute sei der Abg. Windthorst gegen die Kon— servativen liebenswürdig. Das Centrum könne ebenso⸗ wenig wie eine andere Partei selbständige Politik machen. Alles, was von jener Seite geschaffen werden könne, könne nur durch eine unnatürliche Koalition zu Stande kom⸗ men. Es gebe ein Interesse in der deutschen Nation, das man vernichten würde, wenn man es ausrufen wolle; das sei das protestantische Bewußtsein. Die Klagen des Reichskanzlers über persönliche Angriffe von seiner (des Redners) Partei hätte ihn in Erstaunen gesetzt. Der Kanzler selber sei es, der, ohne provozirt zu sein, Angriffe gegen die verschiedenen Parteien vom Zaune breche. Seine Partei vertheidige sich nur. Hier heiße es: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Mit der Prophezeihung des Kanzlers, seine (des Redners) Partei würde von Extrem zu Extrem getrieben und schließlich die Republik zu begründen versuchen, habe der Reichskanzler ent⸗ schieden Unglück gehabt; an ihr bewähre sich seine Genialität nicht. So lange es ein konstitutionelles System gebe, hätten noch alle Feinde desselben es als ein republika⸗ nisches verdächtigt. Diesen Angriffen sei schon Stein ausgesetzt gewesen. Alle Parteien habe der Reichskanzler schon benutzt, um sie bald wieder zu verstoßen. Jetzt sei derselbe gegen das Centrum sehr höflich; es sei möglich, daß der Kanzler das Centrum zu seinen Plänen benutzen werde, aber habe derselbe es benutzt, dann heiße es auch hier: Weg mit ihm! Dieses successive Ausspielen der verschiedenen Parteien verkenne vollständig den Kernpunkt des eigentlichen Konstitu⸗ tionalismus, der darin bestehe, die Regierung in ein organi⸗ sches Verhältniß mit den großen Strömungen der Nation zu setzen. Gerade weil er (Redner) das Wesen des konstitutionellen Systems hochhalte, klage er den Reichskanzler an, daß der⸗ selbe es versuche, das Ohr des Monarchen anderen Partei⸗ richtungen künstlich zu verschließen. Er klage den Kanzler an, daß derselbe das Ohr des Monarchen den wahrhaft Liberalen verschließe, indem der Kanzler dieselhen einer falschen Schätzung unterziehe und diese Schätzung sogar öffentlich in diplomatischen Aktenstücken vertrete. Seine (des Redners) Partei habe so gut, wie jede andere Partei, ein Recht auf das Ohr des Monarchen, weil seine Partei in der Treue gegen den Monarchen hinter keiner zurückstehe.
Hierauf ergriff der Reichskanzler Fürst von Bismarck das Wort:
Der Herr Vorredner hat damit begonnen, mir vorzuwerfen, daß ich mit meiner Ansicht, daß die Fortschritte partei unbewußt republi⸗ kanischen Zielen entgegengleite, dieselbe irrthümliche Prop bezeiung ausgesprochen hätte, wie sie ju jeder Zeit, wo sich das, was er „wahres konstitutionelles Leben- nennt, entwickelt hatte, von Seite der Reaktion, des Absolutismus, ausgesprochen worden sei. Ich bin weder Reaktionär noch Absolutist, ich halte den Absolutismus für eine unmögliche Sache; aber ich halte mich an unsere geschriebenen Verfassungen, die wir in Deutschland und in Preußen besitzen, die mir genügen, die aber von dem varlamentarischen System, wie es dem Herrn Vorredner vorschweht, nichts enthalten. ;
Die preußische Verfassung behandelt die drei Faktoren der Gesetz gebung auf gleichem Fuß, nicht etwa die Regierung und die beiden Haäuser, sondern den König und die beiden Häuser, und die Reiche ⸗ verfasfung giebt nicht der Reichsregierung, von der hier immer die Rede ist, sondern dem Kaiser ganj bestimmte Rechte. Die Politik, die da getrieben wird im Reiche, ist von mir als Reiche kanzler zu verantworten, aber sie bleibt deshalb doch die Politik des Naisers; ich vertrete die Politik des Kaisers, bin verantwortlich für dieselbe, und der sachliche Kampf gegen die Politik des Kaisers wird mich immer bereit sinden, diese Vertretung zur Wahrbeit zu machen und die Verantwortlichkeit für die Politik des Kaisers zu übernehmen. Ihr Prinzip aber ist insofern nicht das monarchische, als dem, was der Herr Vorredner unter wahrem Konstitutionalismus“ versteht, zur ersten Grundlage das kluge Wort dient, welches die englische Aristokratie nach der großen Revolution, um ihre Herrschaft zu befestigen, erfunden hat: the king can do uo wrong; dann kann der Konig aber gar nichts thun, wenn er kein Unrecht thun kann; den König mundtodt zu machen, den König als eine Waffe für die Erhaltung der Herrschaft der englischen ö zu ihrer Verfügung zu behalten, ihn zu sequestriren, das ist der Sinn davon; seine Beziehungen zum Volk in
ihrer Gewalt zu haben, sie nicht zu stark und mächtig werden zu lassen, sich möglichst zwischen König und Volk zu schieben, über seine Unter schrift zu disponiren, denn die braucht das englische Volk, um zu gehorchen; noch heute glaubt es nicht, wenn nicht Victoria“ darunter stebt; die Unterschrift ist unentbehrlich. Das war vom Standpunkte der herrschsüchtigen Aristokratie eine weise Einrichtung, daß sie den König obsolet werden ließ, seine Unterschrift aber zur Verfügung be⸗ hielt. In England hat sich diese Tradition entwickeln können, bei uns aber ist es nicht möglich, wir unterscheiden uns von England dadurch, daß wir eine, geschriebene Verfassung haben, die ganz klar die Rechte des Königs und Kaisers in Deutschland und Preußen, in Bayern und Sachsen, in! Württemberg und in allen übrigen Staaten definirt, und daran allein habe ich mich zu halten. Danach
ö.
muß ich erklären, daß ich auf dem Standpunkt durchaus nicht stehe,
als ob der Kaiser im Deutschen Reiche nicht zu seinem Volke sprechen dürfte, nicht zur Nation. Daß ich mich mit meiner Namensunter— schrift als verantwortlich einstelle, daß ich bereit bin, die Meinung, die der Kaiser außspricht, zu vertreten, das ändert an der Thatsache gar nichts, daß dies die berechtigte, verfassungmäßige Aeußerung des Kaisers ist. Es heißt in der Verfassung: der Kaiser macht An⸗ ordnungen und Verfügungen, und in solchen besteht eben die Kaiserliche Politik im Ganzen, und für diese habe ich die Verantwortlichkeit zu tragen und trage sie gern, weil meine Ueberzeugungen mit der meines hohen Herrn durch langjähriges Zusammenleben und von Hause aus, schon von dem Vereinigten Landtag von 1847, wesentlich zusammen⸗ fielen. Es bedurfte für mich nicht einmal des Gefühls des Unter- thanen gegenüber seinem hundertjährig angestammten Herrscher, um mich dem Kaiserlichen Gedanken zu beugen. Das Verhältniß ist durch die Verfassung das daß die Politik des Kaisers nicht ins Leben treten kann, wenn der Kanzler nicht durch seine Kontrasignatur die Verantwortlichkeit dafür übernimmt, also entweder sein Einverständniß oder seine Bereitwilligkeit, sie zu vertreten, aus anderen Gründen, weil er es nicht für tanti hält, um deshalb dem Kaiserlichen Willen zu wi— dersprechen, dadurch dokumentirt. Wenn der Kaiser einen Kanzler hat, der das, was die Kaiserliche Politik ist, nicht kontrasigniren will, so kann er ihn jeden Tag entlassen. Der Kaiser hat eine viel freiere Verfügung als der Kanzler, der von dem Willen des Kaisers abhän⸗ gig ist. Der Kanzler kann ohne die Kaiserliche Genehmigung keinen Schritt thun, und wenn er einen Schritt tbäte, so würde er nach unseren dienstlichen Begriffen eine Art Prävarikation treiben, eine Art Mißbrauch des Amts, indem er der Kenntniß des Kaisers etwas entzieht, um eine von der Kaiserlichen unabhängige Politik zu üben. Das würde bei uns dienstlich bis zu dem Grade gemißbilligt werden, daß es bei den strengen Ansichten des Naisers vielleicht die Entlassung des Kanzlers nach sich ziehen würde. Also während der Kaiser eine freie Bewegung in der Politik hat, indem er den Kanzler wechseln kann und die monarchische Autorität ihm gegenüber eintreten lassen kann, namentlich wenn ein Kanzler etwa lebhaft an seinem Posten hängen sollte, kann der Kanzler seinerseits auch nicht einen einzigen Schritt thun, kann ich hier keine Meinung vertreten, für die ich nicht des Einverständnisses Sr. Majestät sicher bin oder es vorher eingeholt habe. Ich kann keinen Antrag einbringen, für den ich nicht die Kaiser⸗ liche Unterschrift habe; und wenn Sie glauben, daß diese Unterschrift immer leicht zu haben ist, so sind Sie in einem großen Irrthum. Ich vertrete die Kaiserliche Politik, und ich bin bei den vielen Aeuße⸗ rungen, die über die Kaiserliche Botschaft gefallen sind, nicht zum Wort gekommen, deshalb konstatire ich erst hier meine Ueberzeugung: es wird Ihnen nicht gelingen, dem Kaiser Wilhelm im Deutschen Reich zu verbieten, daß er zu seinem Volke spricht, den Kaiser Wil⸗ helm nach 20 Jahren unserer Geschichte mundtodt zu machen, — das ist ein ganz vergebliches Beginnen. Wie wollen Sie dem Monarchen, der auf seine Verantwortung und Gefahr die große nationale Politik ge⸗ macht hat, die Möglichkeit abschneiden, eine eigene Ueberzeugung zu haben und, wenn er sie hat, sie auszusprechen; wie wollen Sie einem Könige verbieten, über die Geschicke des Landes, welches er regiert, eine eigene Meinung zu haben und sie zu äußern? Wenn die andere Ansicht richtig wäre, so wäre es gleichgültig, wer regierte. Wo kommt es denn in Preußen her, daß die Regierung des Hochseligen Königs nach ganz anderen Prinzipien geleitet wurde, als die des jetzigen, wenn nicht eine Königliche, eine monarchische Politik der ganzen Sache erst den Trieb und Stempel aufdrückte. In demselben Sinne will ich gleich eine meiner Notizen antizipiren, die ich mir gemacht habe erst am Ende der Rede des Herrn Vorredners. Er sagt der Monarch ist der feste Punkt. Nun, meine Herren, glauben Sie doch nicht, daß ich Ihnen diene. Ich diene dem Kaiser, dem festen Punkte, den Sie anerkennen; das ist das Motiv, welches mich 1862 unter sehr schwierigen Ver baltnissen, unter großen Bedrohungen meiner persön⸗ lichen Sicherheit, meines Vermögens — ich meine gesetzlichen Be⸗ drohungen — in den Dienst gezogen bat, daß ich sah, mein ange⸗ stammter Herr brauchte einen Diener und fand ihn nicht; da habe ich selagt; hier bin ich. Ich fand Keinen, der es mir vormachen wollte, und sehr Wenige, die es mit mir haben versuchen wollen. Es ist dasselbe Prinzip der angeborenen Untertbanen« und Vasallentreue und Dienstbereitschaft, die mich vor 20 Jahren bewogen, alle übrigen Rücksichten bei Seite zu lassen und dem Könige mich zu Diensten zu stellen. Das ist auch noch heute die Basis meiner Politik. Diese Ge⸗ sinnung — ich hoffe nicht, daß sie mit mir ausstirbt, aber so lange ich lebe, wird es einen Ropalisten und einen sicheren Diener des Kaisers geben. Der Herr Vorredner sagt, ich hätte dem Volk das Obr des Kaisers verschlossen. Glauben Sie doch nicht, daß der Kaiser ein Mann ist, der sich die Ohren zuhalten läßt von einem Andern; der Kaiser kennt vollkommen die Situation, kennt vollkommen die Gefahren, die ihm von der ertremen Entwidelung des Liberalismus drohen, er hat mit zu offenen Augen die 85 Jahre seines Lebens die Verbältnisse beobachtet. Wäre aber die Möglichkeit vorhanden, daß Sie das Ohr des Kaisers finden könnten, mit Gedanken, die ich für gefährlich halte für die Monarchie, so wäre es meine Pflicht, Sie daran nach Möglichkeit zu verhindern. Ich wüßte aber nicht, wie ich es anstellen könnte; sollte ich Sr. Majestät die Zeitung vor⸗ enthalten? Außerdem, meine Herren, haben Sie ja das große Sprachrohr hier; warum — wie der Hr. Abg. Windthorst mit Recht sagte — anstatt, meine Person zu kritisiren, stellen die Herren denn nicht Anträge öffentlich? Sie könnten eine Adresse an Se. Majestät beantragen, Sie könnten einen Antrag lier einbringen, der Kaiser möge diesen unheilvollen Kanzler, der seine des Kaisers Ohren dem Volke verschließt, entlassen. Ich will den Antrag mit Vergnügen befördern, will Einer der Herren eine Adresse einreichen, ich will sein Introducteur 1. Sie sollen meiner Unterstützung nicht entbehren, wenn Sie glauben, daß der Kaiser die Wahrheit nicht erfährt. Ja, in der öffentlichen Presse da macht sich das ganz schön, „das Ohr des Kaisers dem Volke verschließen'. Ich habe allerlei Reminiszenzen aus der Zeit der ersten revolutionären Be⸗ wegungen im Jahre 1830 und 1848: da schwirrte es mir vor den Ohren, daß die Minister angeklagt wurden, daß sie dem Volke „das Ohr des Monarchen verschlossen “. Das sind Dinge, die ich als Student erlebte; ich habe sie auch in späterer Zeit 1895 gebört. Meine Herren, das gehört in unsere Zeit wirklich nicht mehr hinein, das sind unpraktische Worte, die keinen Werth mebr haben, so lange Sie nicht entsprechende Anträge hier, wo Sie dazn berechtigt sind, ausdrücklich stellen, die Ihrer Meinung Ausdruck geben. Der Kaiser liest die Verhandlungen, — da reden Sie doch nicht davon, daß ich dem Kaiser das Ohr verschließe; 6 weit reicht meine Macht nicht. Der Herr Vorredner erklärte jene Pbrophe- zeiungen bezüglich des nach — in immer , Tempo, die früber wohl ausgesprochen sind, für falsch. Ja, dem Herrn Vorredner kann doch nach seiner Stellung * Universitãt und jur Wissenschaft unmöglich unbekannt sein, wo diese Prophezeiungen sich auf das Ilan end te bewahrheitet haben; es sind stets die Gi⸗ rondins gewesen, die den Staatwagen bis an den Rand des Abgrundes schoben, sie haben überall die konstitutionelle Entwickelung fördern wollen in demjenigen liberalen humanen Sinne, wie er dem Herrn Vorredner vorschweben mag, sind aber schließlich immer über ibr Ziel hinausgerathen. Ez sind immer Leute gewesen, die sich beispielsweise auf einen Potedamer Zug gesezt haben, während sie nur bis Kohl⸗ e wollten, und denen der Schaffner sagt: der Zug hält da
niemals, so meinen sie: er hat bisher da zwar nie angehalten, wird aber vielleicht heute da halten. So werden sie nicht nach Kohlhasenbrück gelangen, sondern darüber hinaus nach Potsdam. So ist es auch in der Politif der Liberalismus geräth immer weiter
als seine Träger wollen. Sie können die Wucht von 4 Millionen, einmal in Bewegung, nicht anhalten, wo Sie wollen.
i len. So ist es in rankreich gegangen. Ist denn nicht in Frankreich eine erbliche tau⸗ endjährige, solid erbaute Monarchie mit manchmal sehr verständigen
Verfassungen, die das Ergebniß von 1789 und später waren, vorhanden
gewesen mit allen möglichen Sorten der Monarchie mit dem Kaiser⸗ thum, mit der Restauration? Ist der Weg aber nicht unaufhaltfam an der Hand der äußersten konstitutionellen Linken in die republika— nische Bahn geglitten Und haben Sie irgend welche Voraussicht, daß in nächster Zeit eine Monarchie dort wieder möglich sein werde? und halten Sie das Untergehen einer erblichen angestammten Mon— archie für das französische Land und, das französische Volk nicht für ein Unglück? Ich weiß nicht, ob Sie es thun, ich halte es dafür. In anderen Ländern außer Frankreich haben wir allerdings das gleiche geschichtliche Experiment, ich möchte sagen die konstante Praxis der Vorsehung, nicht in gleichem Maße sich verwirklichen sehen, weil nicht alle Länder so selbständig und unbeeinflußt sich entwickeln wie Frankreich. Nehmen Sie unsere beiden kleineren Nachbarstaaten Belgien und Holland. Ja, wenn diese von der Größe Frankreichs wären, von gleicher Selbständigkeit in ihrer politischen Entwickelung, dann weiß ich nicht, ob sie noch innerhalb des Stadiums der Mon— archie sich befinden würden. Nehmen Sie Italien: haben wir da nicht die Republik vorübergehend theilweise — ich weiß nicht, ob im Einverständniß der Gesammtheit — schon gehabt? Jedenfalls spukt sie in vielen Köpfen und man ist dort dem deutschen Fortschritt schon voraus. Können Sie irgend welche Garantie für die Zukunft übernehmen, namentlich wenn Gott die Dynastie, die auf wenigen Augen steht, nicht im Leben erhielte? Sind Sie gewiß, daß die Prophezeiungen, die der Herr Vorredner für falsch erklärt, dann sich dort nicht verwirklichen könnten? Das ist unmöglich vorherzusagen. Ist der Weg, den Italien seit 20 Jahren gegen dieses Ziel hin zurückgelegt hat, nicht erkennbar, und ist nicht der Endpunkt — ich will nicht behaupten, daß es ihn erreicht — ist dieser Endpunkt nicht erkennbar? Ist dort nicht von Ministerium zu Ministerium der Schwerpunkt immer mehr nach links geglitten, so daß er, ohne ins republikanische Gebiet zu fallen, nicht mehr weiter nach links gleiten kann? Haben Sie nicht in Spanien temporär die Republik gehabt, ja sogar verschiedener Arten von Republiken, die sich untereinander Htlensten⸗ Haben Sie denn nicht in Deutschland, in Baden, so⸗ bald der Fortschritt sich selbst überlassen war, und so lange der preußische Militarismus dem nicht einen Damm entgegensetzte, haben Sie nicht in Baden zur Zeit von Struve und Hecker dieselbe Bereit willigkeit gesehen, die liberalste Monarchie über Bord zu werfen und die Republik zu proklamiren? Also so ganz windig und unberechtigt sind die Prophezeiungen, die der Herr Vorredner in seinem Ton der sichersten Ueberzeugung als frivol und unhaltbar hinstellte, doch nicht. Die Geschichte spricht für mich. Die Doktrinäre der Wissenschaft haben sich durch den Mund des Vorredners gegen mich geäußert. Ich halte mich an die Geschichte. Und, meine Herren, über diese Dinge — ich kann Ihnen ja das nicht beweisen, ich bin auch nicht hier, um in die Beweisführung einzutreten, sondern um gen chi zu geben; ich lege Zeugniß für meine Meinung ab. Ich in in einer Stellung, wo ich beobachten kann, ich habe wenigstens in der auswärtigen Politik, wie Sie mir zugestanden haben, zwanzig Jahre lang den Beweis geliefert, daß meine Augen nicht ganz blind sind für die Eventualitäten, denen die Geschichte uns entgegenführen kann. Also mit dem Gewichte meiner Erfahrung und Stellung spreche ich als Zeuge mich dahin aus, daß meiner Ueberzeugung nach die Politik der Fortschrittspartei uns der Republik langsam näher führt, — nicht die jetzigen Herren, ich bin weit entfernt, die Herren dessen zu beschuldigen, ich glaube, sie bleiben der Monarchie treu, aber
die Stellung, die Sie sich für die Minister denken, ist nicht die Art
Stellung, die die Monarchie von ihren Ministern verlangt und ver⸗ langen muß, wenn sie bestehen will. Darum zweifele ich Ibren auf— richtigen Willen, die konstitutionelle Monarchie in ihren äußersten liberalen Grenzen zu verwirklichen, noch in keiner Weise an, ich glaube nur, Sie beherzigen die Lehren der Geschichte nicht, Sie drücken die Augen denselben gegenüber zu, Sie werden nicht im Stande sein, die Maschine aufzuhalten, wenn sie da angekommen ist, wohin Sie sie geleitet haben, der Weg wird abschüssig und Sie sind nicht im Stande, der gewaltigen Last von 45 Millionen auf Kommando Halt zu ge⸗ bieten, das können Sie nicht, es wird Sie überwältigen und fort— reißen. Es wird, wie ich hoffe, so nicht kommen, es könnte aber sein; ich spreche nur das Ergebniß meiner politischen Erfahrung und Beobachtung aus, dazu bin ich berechtigt, es kann ein irrthümliches sein, aber es ist meine Ueberzeugung.
Dann hat der Herr Vorredner auch wieder Worte der Kritik meiner Persönlichkeit und meiner Bestrebungen gesprochen — es ist also, wenn ich nicht irre, die Rede Numero 4, die ich in meine Sammlung aufnehmen kann — indem er mich anklagte, daß ich eine Diktatur anstrebte oder übte. Ich habe gestern schon gesagt, sür Sie, meine Herren, ist Nichtherischen immer schon Unterdrückung durch eine Diktatur, und wenn ich mich darauf beschränke, Vorlagen zu machen, die Ihnen nicht gefallen, heißt es Diktatur. Wenn ich von meiner Zunge denselben Gebrauch mache wie Sie, und meine Mei⸗ nung auch vertheidige, welche der Ihrigen widerspricht, so heißt es Diklator. Das heißt doch mit anderen Worten: wer nicht will, was wir wollen, ist ein Diktator, der alle freie Ueberzeugung unterdrückt, denn wir allein besitzen das Monopol der freien Ueberzeugung, und unsere Ueberzeugung nicht anerkennen, sich unserer Herrschast nicht unterwerfen, das ist: Diktatur. Ja, womit soll ich mich denn be—⸗ schäftigen, wenn ich Ihnen keine Vorlagen mache? Müssen die immer gerade so beschaffen sein, wie es Ihnen gefällt? Ich habe neulich noch im kleineren Kreise eine Reminiszenz aus meinem Leben erzählt, daß ein witziger alter Herr, der Baron Rothschild in Paris, von einem Geschäftsfreunde gefragt wurde: Herr Baron, was denken Sie über amerikanische Häute? Rothschild drehte sich um und sagte über die Schulter: Herr Mever, was ist meine Meinung Über amerikanische Häute? Soll ich num vielleicht auch, wenn ich Steuervorlagen mache, fragen: Herr Bamberger, was ist meine Ansicht über Zölle? Das können Sie nicht von mir verlangen, ich kann nur meiner Meinung Ausdruck geben, und wenn Sie einen Kanzler brauchen, der gar keine hat —, ja, meine Herren, Sie können ja die Entwickelung der Geschaͤfte zur vollständigen Stagnation bringen, Sie brauchen nur zu Allem Nein zu sagen; gut, dann wird die Ne⸗ gerung sich auf die Vorlage des Budgets beschränken können, und wenn wir das Budget vereinbart haben, werden wir nicht weiter zu⸗ lammen kommen und lassen dem Reichstage Ruhe biz kim Februar L333. Dann wird eben Ruhe, Sie werden gar keinen Streit baben, Sie werden nicht den Verdruß haben, daß ich vor Ibnen hier abwei⸗ ende Meinungen entwickele, es wird eben eine Stagnation in den Reiche geschaften eintreten. Ob das für die Entwickelung des Reichs nützlich ist, das überlasse ich Ihnen, — meiner Gesundheit wird es jedenfalls nüg lich sein.
Der Herr Vorredner bat mir einen Vorwurf daraus gemacht, daß ich nicht die Parteien zu nützen wüßte zum Heil des Ganzen, ich glaube, er sagte, die großen Strömungen in der öffentlichen Meinung oder in den Fraktionen nicht ju pflegen wüßte, in der Nation die Enn Strömungen. Ja, meine Herren, ich sehe von diesen großen Strömungen nichts, ich sehe nur eine Masse ven kleineren, eine große lann ich nur eine fosche nennen, die das Maß einer Masorität überschreitet; ich scke, glaube ich, 8 oder 10 große oder kieincre raktionen: Sie haben da die Konservatven, die Freikenservativen,
ie haben das Centrum, Sie haben die Nationalliberalen, Sie haben Nie Partei, die der Hr. Abg. Windthorst nicht liberal nennen wollte, ie haben den Fortschritt, dies sind seche, Sie Paben nn eine recht beträchtliche n noch, die bei die sen schwankenden Mieritäten die Zunge der Waage in der Hand halten; da sind die alen, das sind sicken; da sind die Elfäßser — das sind acht. Wir ben das aufgehende Gestirn der Volkspartei noch nicht erwahnt —
die könnte man sehr wohl als die neunte ansehen — und die Sozial— demokratie, die recht stark ist und jeder einzelnen liberalen Fraktion die Waage hält, das wären die zehnte. — Wie soll ich denn nun diese großen Strömungen pflegen? Ja, der Anspruch steht mir wohl gegenüber, und ich bin ja nicht kurzsichtig genug, um den nicht zu er⸗ kennen. Die stärkeren Fraktionen stellen an mich den Anspruch, ich soll ihnen nicht nur meine Person, sondern das Kaiserliche Gewicht zur Verfügung stellen für ihre Fraktionszwecke, dann würden sie wohl auskommen können und mit mir zusammen wirthschaften. Ja, wenu das meine Ueberzeugung wäre, wenn meine Ueberzeugung mit einer dieser Fraktionen vollstandig übereinstimmte, so wuͤrde ich mich gern der Fraktion anschließen und würde aus meinem Herzen keine Mörder⸗ grube machen, vorausgesetzt, daß ich voraussähe, mit dieser Fraktion kann ich mein Jahrhundert in die Schranken fordern, und die ist stark genug, um das Deutsche Reich mit ihrer Hülfe zu festigen, aus⸗ zubilden, zu regieren. Wo ist denn aber die Fraktion, an deren Spitze, oder, wie sie sagen würden, in deren Gefolge ich dies leisten könnte? Zeigen Sie mir die, und dann will ich sie als große Strö— mung behandeln, ich würde sie studiren und mit ihr in Be⸗— ziehung treten. Jetzt ist mir aber die schwierige Aufgabe zu Theil geworden, zwischen allen Parteien, die sich gegenseitig ohne Sieg bekämpfen bis aufs Blut, zu balanziren und zu laviren, und die Regierung in solcher Lage, ohne besondere Krisen, so lange zu führen, wie ich sie geführt habe, das ist eine Leistung, der Sie Anerkennung zollen sollten Ich habe schon vor recht langer Zeit, im Jahre 1847, auf dem vereinigten Landtage einmal meine Ueberzeugung ausgesprochen, daß das englische System der Majoritätsregierung ein ganz zweck— mäßiges sei, so lange es nur Whigs und Toris, so lange es nur zwei Fraktionen in der Hauptsache gegeben habe, die untereinander abzählen, wer die Majorität hat, und, sobald abgezählt ist, heißt es Ablösung vor“, und das Ministerium geht ab und das andere tritt vor. Dasz spielt sich leicht ab und ist, was die Franzosen nennen: „le jeu de nos institutions“. Ich habe schon gesagt im Jahre 1847, warten wir ab. bis wir verschiedene Parteien in England haben. Schon wenn Sie drei Parteien haben, ist das Rezept nicht mehr durchführbar, wenn Sie aber fünf haben, wie sie eine Zeit lang be⸗ standen haben, so wird es ganz unmöglich; ich sagte damals, dann sind nur Koalitionsministerien möglich, solchen sind dann weite Ge— biete der Politif, dig der Regelung bedürfen, zu betreten verboten, weil auf ihnen die Koalition sich löst. Solche Koalitionsregierungen sind also nothwendig schwache, bei uns aber liegt eine Nothwendigkeit dafür nicht vor, weil es ganz unmöglich ist, eine Majorität zu bilden, auch die Koalition würde dazu nicht führen. Sie glauben vielleicht durch Neuwahlen, wenn also ein liberales Ministerium jetzt ans Ruder käme und auflöste und mit dem ganzen Hochdruck des Einflusses der Wahltechnik, deren Geheimniß die Herren besitzen, nun auf die Wah⸗ len wirkte, daß sie dann eine volle und große liberale Majorität haben würden. Es ist ja möglich. Sie haben den Beweis aber noch nicht geliefert, und ich glaube, Sie überschätzen den Regierungseinfluß. Die Herren sind darin im Irrthum: wenn einige aus Ihrer Mitte Minister würden, so würden sie zunächst den Widerstand derjenigen ihrer eigenen Fraktion, die nicht Minister geworden sind, zu bekaͤmpfen haben. Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß Sie die Majorität, wenn Sie dieselbe überhaupt erreichen, was ich nicht glaube — die Maschine ist dazu nicht stark genug —, wenn Sie eine volle Majorität erreichten, so würden Sie dieselbe doch nur so lange besitzen, wie Sie in der Opposition sind. Sie würden mit derselben das Ministerium, so lange es sich dazu hergiebt, bedrücken und beein⸗ flussen können, das ist ja wohl möglich. Aber sobald Sie Minister werden, würden diejenigen von Ihnen, die Minister geworden sind, sofort mit der nota levis oder mehr behaftet werden, die nach dem Begriffe eines deutschen Liberalen jedem Minister anklebt. Ihre bis—⸗ herigen Genossen würden es für Schmach halten, eine ministerielle Partei zu sein; sie würden von der Unmöglichkeit, die eigene Ueber⸗
zeugung aufzugeben reden, von Byzantinismus, Adulation, was ist da
Alles zu hören gewesen, das würde sofort in der eigenen Partei ihren alten Führern der Bruder dem Bruder vorwerfen. Die Meinung, daß ein Parteiführer glaubt, er könne seine Fraktion als Minister mit in die Regierung nehmen und sie werde ihn auch da unterstützen, ist eine ganz irrthümliche, und wer das glaubt, der kennt die Deutschen nicht und mag er 89 Jahre alt sein. Ich habe darüber meine Erfahrung, da ich mit allen Fraktionen über das Thema in Kampf gewesen bin. Wenn ich mit 190 Fraktionen und in den schwierigsten Verhältnissen, häufig mit Sturm und Wind so lange zu kämpfen gehabt habe, und wenn ich da die Regierung zwischen zehn Fraktionen im Kampf habe führen können, ohne daß es zu wei⸗ teren Zwistigkeiten, als zum Auswechseln böser Worte gekommen ist, ja, meine Herren, das hat man mir wenig gedankt. Es war das eine an⸗ greifende Arbeit. Diese hätte ich aber nicht leisten, wenn ich mich einer Fraktion so zu Diensten hätte geben wollen, wie es ab und zu von der einen wie von der andern beansprucht worden ist. Denn der Anschluß an die eine Fraktion involvirt den Bruch mit der andern, und die Schmach, ministeriell zu sein, wird Jedem vorge⸗ worfen, der mit dem Minister stimmt, dieses Vorurtheil findet ja auch an meinen besten und nächsten Freunden in der konservativen Partei, der mein eigner Bruder angehört und meine nächsten Ver⸗ wandten angehören, vollen Anklang. Sie sagen mir, glaube doch nicht, daß wir ministeriell seien, eine solch demüthigende Meinung von uns muß man nicht haben, wir sind unabhängige Leute, die eine eigene Meinung haben. Woles für eine Schande gilt, ministeriell zu sein, da ist eine konstitutionelle Regierung eine vollständige Unmög⸗ lichkeit. Ich habe oft Engländer gesprochen, die dem Parlamente angehörten, und die mir sagten in Bezug auf irgend eine bestimmte Maßregel, ich halte diese Maßregel für thöricht, für gefährlich und für unglücklich, aber der Minister, der die Partei führt, der Führer der Partei hat es gewollt, er muß die Verantwortung dafür über⸗ nebmen, ich glaube, er begeht eine Thorheit. Ja, meine Herren, zu dieser Entsagung werden Sie den deutschen Partikularis⸗ mus, der sich in dynastische Länder, in Reichsdörser, wie in Reichsstädte, in Häuser, in Farben, in Fraktionen verkörpert oder Dorf gegen Dorf abschachtelt und Jeder in seiner stolzen Unabhängigkeit von Allem die Meinung sich nach seinem Kopf bildet, dazu werden Sie es bei uns nie bringen, und deshalb glaube ich, daß wir nicht zu der Negierungs⸗ sorm, die Hrn. Abg. Hänel vorschwebt, befähigt sind. Ich babe in allen diesen Kaͤmpsen nur eine einzige Magnetnadel gehabt, die mich leitete. Das war das: was ich in jedem Falle ür das Reichsinteresse erkannte, das habe ich vertreten, mochte die Fraktion, die ich dabei bekämpfen mußte, mir nahe stehen oder nicht; eine andere Aufgabe kann ich mir auch künftig nicht stellen. Daß ich dabei meine Position habe wechseln müssen, war natürlich; das lag aber nicht an cinem Wechsel meiner Ueberzeugungen, sondern an der Nothwendig⸗ keit, zu thun, was unter so oder so veränderten Umständen für das Reich zu thun war. Die Versatilität lag auf der Seite der Frak⸗ tionen, nicht bei mir; sie sind allmäblich weiter nach links geglitten, so daß sie mit dem, womit sie im Jahre 1866 noch zufrieden waren, heute nicht mehr zufrieden sind, sie verlangen heute mehr. Seit⸗ dem baben wir einen weiten Weg zurückgelegt. Sie haben jede einzeln den Punkt, big ju dem ich mit ihnen gehen konnte, überschritten, und jetzt suche ich zu bemmen und zu halten. Es liegt also die Versatilität nicht an mir, sondern an den Fraktionen. Denken Sie zurück, was war früher Liberalis⸗ muß? Ju den Zeiten, wo wir Alle schon im Parlamente waren, da waren Fralticnen wie Camphausen und Besler, die sogenannten Altliberalen, schon der schärfste Ausdruck der Qpposition, vor deren Blick jeder Minister, der zu den Höflingen der Masorität gehörte, den seinigen niederschlug. Wo ist die Herrlichkeit geblieben! Jenzt gelten die Altliberalen für Reaktionäre, fut einen überwundenen Standpunkt der großen liberalen Partei gegenüber, und so werden hinter dieser immer wieder neue Größen auftauchen, die das, was Sie, meine Herren, schließlich als Aeußerstes erreicht haben, als Ausgangspunkt für neue For ⸗ derungen und Bestrebungen betrachten. Da können Sie nicht än ˖ dern, und deshalb sesen Sie doch mit dem Vorwurf, daß ich ver⸗ äanderlich in meiner Ueberzeugung wäre, etwas sparsamer. Eg kommt mir das gerade so vor, als wenn man meinem verehrten Freunde, dem Grafen von Moltke, hier vorwerfen wollte: warum haben Sie
nicht in der Schlacht von Sedan dasselbe Manöver, wie in der Schlacht von Mars la Tours ausgeführt? Das ist auch eine In— konsequenz, die man von einem so einsichtigen Strategiker nicht er⸗ wartete. Er wird sagen: der Fall lag eben anders, der Feind stand anders, er schoß mit anderem Material. So ist es auch bei mir. Verlangen Sie von mir keine Konsequenzmacherei, sondern ich führe die Regierung nach meiner Ueberzeugung, die immer auf Seiten des Reichs und nie auf der Seite einer Fraktion stehen wird.
Der Abg. Frhr. von Maltzahn (Gültz) erklärte, der Abg. Rickert habe die Vorlegung der amtlichen Statistik verlangt; vom Bundestisch sei dem Abg. Rickert darauf erwidert, die⸗ selbe werde vorgelegt werden. Darauf habe der Abg. Rickert geantwortet: diese Statistik tauge nichts; also wieder die alte Geschichte; er (der Abg. Nickert) kenne die Vorlage der Regie⸗ rung nicht, aber er mißhillige sie. Zunächst wolle seine (des Redners Partei doch abwarten, wie diese Statistik aussehe. Stelle sie sich als absolut unbrauchbar heraus, dann werde seine Partei der Ausarbeitung einer neuen besseren Staͤtistik gewiß nicht zuwider sein. Er und seine politischen Freunde hätten die Resultate derselben nicht zu fürchten, auch dann nicht, wenn sie für seine Partei etwas ungünstiger ausfallen sollte. Es sei ja bei den schwankenden Verhältnissen nicht möglich, seine Ansichten immer durchzubringen. Man habe seiner Partei das Zusammengehen mit dem Centrum bei den Wahlen vorgeworfen. Habe denn die Fortschritts⸗ partei etwas dagegen gehabt, daß die Sozialdemokraten für sie gestimmt hätten? Daß seine Fraktion mit dem Centrum zusammengehen müsse, erkenne er an. Könne die konfervative Partei denn mit den Liberalen etwas Positives schaffen, wolle die linke Seite dieses Hauses überhaupt mit der rechten etwas Positives schaffen? Da die Konservativen ihre eigene Ueber⸗ zeugung nicht durchbringen könnten, so suchten sie für dieselbe Unterstützung, wo sie sie fänden. Komme die Linke dieses Hauses doch nicht mit dem protestantischen Bewußtsein! Diejenigen unter den Liberalen, welche seinem (des Redners) Auftreten in diesem Hause seit zehn Jahren einige Aufmerksamkeit geschenkt hätten, würden ihm zu— gestehen, daß er seine Stellung als positiv-evangelischer Christ in diesem Hause noch nie verleugnet habe. Aber das wolle er ganz ehrlich sagen, daß trotz seines protestantischen Bewußt⸗ seins, die Stellung des gläubigen Katholiken ihm immer noch lieber sei als die Stellung der Herren der Fortschrittspartei, die auf naturalistischem Standpunkte stehen. Er habe nie be⸗ hauptet, daß die Wahrheit bei der Majorität sei, er vertheidige die Wahrheit nach seiner innersten Herzensüberzeuguug ganz gleich, ob seine Partei in der Majorität oder Minorität sei, und er werde nicht weniger von der Wahrheit der konservativen Sache überzeugt sein, wenn auch die Wahlen einmal gegen die Konservativen seien. Seine Partei sürchte sich nicht vor denselben, vielmehr habe die liberale Partei Grund, dieselben zu fürch— ten, da sie immer nach der Majorität den Staat regieren wolle. Einer der Herren habe geglaubt, seiner Partei etwas zu Leide zu thun, wenn derselbe gesagt habe, die Deutsch— konservativen und Freikonservativen verhielten sich zu einander wie Musketiere und Füsiliere und unterschieden sich nur durch das Lederzeug. Er acceptire diesen Vergleich und zwar eines—⸗ theils, weil nach der deutschen Heeresverfassung beide in dem⸗ . Verbande ständen und dann, weil beide gleich scharf
ssen.
Der Abg. Rittinghausen ging auf die Handelspolitik des Reichskanzlers näher ein, indem derselbe betonte, daß Frank— reich sich, trotzdem sich Viele theoretisch für den Freihandel erklärt hätten, doch in der Praxis für den Schutzzoll entschieden habe und sich in Folge dessen eines großen Wohlstandes erfreue. Wenn Deutschland vom Freihandel zum Schutzzoll überge⸗ gangen sei, so sei er (Redner) im Prinzip damit vollständig einverstanden, nur gefalle ihm nicht die Art und Weise, wie die Schutzzölle eingeführt seien. Redner erörterte darauf die soziglistischen Pläne des Reichskanzlers, namentlich die Unfall⸗ versicherung, die Alters- und Invalidenversorgung, welche dem ganz natürlichen Gedanken entsprungen seien, daß die In⸗ dustrie für ihre sämmtlichen Produktionekosten aufkommen müsse, wozu außer dem Arbeitslohne auch die Entschädigung an den Arbeiter gehöre für das, was derselbe an seiner Ge⸗ sundheit opfere.
Der Abg. Dr. Reichensperger (Crefeld) erklärte, die heutige Debatte sei nicht verloren, denn auf allen Seiten sei das Be⸗ dürfniß vorhanden, Klarheit in die Situation zu bringen, sowohl hinsichtlich des Verhältnisses der Fraktionen zu einander als auch bezüglich der Bundesregierung und des Reichs⸗ kanzlers. Der Abg. Nickert habe dagegen protestirt, daß man seine Partei die sezessionistische genannt habe. Nun habe wohl der alte Satz „was du nicht willst, daß man dir thu', das füg' auch keinem Anderen zu,“ auf der linken Seite keine Geltung. Hätten denn die Herren vergessen, daß sie das Centrum wider dessen Willen sort und sort die ultramontane und klerikale Partei genannt hätten? Es sei eine sehr bedenkliche Aeußerung des Abg. Hänel, an das protestantische Bewußtsein zu appelliren, und er möchte gleich von vornherein einem derartigen Loungs⸗ wort entgegentreten. Wer aus seiner (des Nedners) Partei sei jemals der protesiantischen Kirche oder den Protestanten als solchen aggressiv entgegengetreten? Er sei überzeugt, keiner von den Liberalen werde dem Centrum auch nur die ge⸗ ringste Thatsache nachweisen können, daß die römischen Katho⸗ liken jemals der protestantischen Kirche polemisch gegenüber⸗ getreten seien. Der Abg. Hänel lege so großes Gewicht auf die Versassung. Wer habe denn die drei Artikel der preußischen Versassung abgeschafft? Allerdings hätten auch Mitglieder der Rechten sich daran beiheiligt. Aber nach seiner Ansicht sei auf der rechten Seite immer mehr und mehr das Vewußtsein hervorgetreten, daß es sich wahr⸗ lich nicht um Uebergriffe der Katholiken handele, sondern viel⸗ mehr um einen Kampf gegen die Kirche, auch gegen die pro⸗ testantische Kirche. Er bitte die linke Seite dieses Hauses mit dem Reichskanzler: Möge sie daran zurückdenken, was früher der Liberalismus gewesen sei. Früher sei das Losungswort gewesen: bürgerliche und kirchliche Freiheit; wer die lirchliche Freiheit nicht achte, der achte auch nicht die bürgerliche Freiheit. Jetzt seien die Herren der Linken der großen Mehrzahl nach von diesem Liberalismus abgefallen und daher könne das Centrum nicht mit ihnen gehen. Er sei überzeugt, es werde immer klarer werden, daß sich zwei große Parteien gegenüberstehen würden: die Partei, die auf Seiten des Kreuzes stehe und die Partei des Materialismus und Naturalismus oder des Atheismus. Er hoffe, daß die Parteien nach dieser Seite 18 mehr und mehr fest ineinandergliederten und dann werde si zeigen, wem der Sieg verbleibe.
Ber Agg. Nichter 6 en) bemerkte, der Gee rnsng; der letzte Redner ausgespielt habe für oder gegen das Üübertreffe allerdings noch die Parole: für oder gegen
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