1882 / 50 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 27 Feb 1882 18:00:01 GMT) scan diff

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sei. Er seinerseits hätte nichts dagegen, daß sich die Juden, wenn sie die Gesinnung der Konservativen theilten, der konser⸗ vativen Partei anschlössen. Der Abg. Virchow wolle auf seiner flüchtigen Reise in Rußland die Beobachtung gemacht haben, daß die dortigen Hetzereien eine Folge der hiesigen Agitation seien. Das heiße doch von seiner Partei einen Glauben sor⸗ dern, der über alles gehe, was in der Dogmatik an Glauben verlangt werde. Die Klagen über die Juden seien nicht blos in Preußen im Gange, sondern fast überall, in Oesterreich, Ungarn, Rußland, Polen u. s. w. Bezüglich der englischen Meetings möchte er an das Sprichwort erinnern: „Jeder kehre vor seiner Thür.“ England habe genügende Ursache, Buße zu thun, wenn es sich das Vorgehen in Irland und den Opiumhandel vorhalte. Die Judenfrage werde durch das Zusammenbringen von Juden und Christen in einer und derselben Schule keineswegs erleichtert. Im Gegentheil: schiedlich, friedlich. Er wünsche den Juden aufrichtig eigene Gymnasien, dadurch würde der Friede sehr gefördert werden. Wenn der Abg. Virchow für die Juden in Preußen nicht mehr verlange, als den Deutschen in China gewährt werde, so sei er zufrieden. Er habe noch nie gehört, daß dort ein deutscher Kaufmann zum Mandarin ernannt worden wäre. Wenn die Linke alle Andeutungen darauf unterlasse, was von der Rechten außerhalb dieses Hauses in der Judenfrage ge⸗ than werde, dann werde auch seine Partei hier nicht wieder auf dieselbe zurückkommen.

Der Abg. Richter bemerkte, der Vorredner habe ihn in Bezug auf das Versammlungsrecht mißverstanden. Er habe nur gesagt, daß in Versammlungen der Einberufende selbst schon auf Ordnung zu sehen im Stande sei, und daß die Polizei nur dann einschreiten sollte, wenn sie von der Ver⸗ sammlung dazu aufgefordert werde. Was die behauptete Verbindung der Fortschrittspartei mit den Juden anlange, so verhielten sich die Juden nicht anders wie andere Klassen der Bevölkerung. Die aufstrebenden Elemente unter denselben, die natürlich die Hindernisse der Gesetzgebung am schärfsten empfänden, seien auf liberaler Seite: die gesättigten Existenzen aber seien vielmehr geneigt, sich den Konservativen anzuschließen. Gehöre etwa der Jude, den man in Berlin für den einflußreichsten halte, zu der Fortschrittspartei? Der Abg. Stöcker habe wohl das Bedürfniß gefühlt, hier im Hause irgend eine große That zu vollziehen, ohne daß es ihm jedoch bisher gelungen sei. Auf die erste Rede, die der Abg. Stöcker als zweiten Theil im Reichstage angekündigt habe, aber nach jenem Vorfall nicht mehr gehalten habe, habe derselbe eine Antwort bekommen, die ihr den gewünschten Eindruck entzogen habe. Seitdem habe der Abg. Stöcker bei allen Etatstiteln auf der Rednerliste figurirt; der Abg. Stöcker habe jedoch wegen des häufig sogar durch die Unterstützung der Konservativen herbeigeführten Schlusses der Debatten die längst vorbereitete Rede nicht halten können. Bezüglich der Straßmannschen Aeußerungen habe der Abg. Stöcker einen historischen Vorgang außer Betracht gelassen. Als der Minister von Puttkamer das Kultus— Ministerium übernommen gehabt habe, seien auf einmal eine ganze Reihe Elemente mit Aeußerungen an die Oeffentlichkeit getreten, die früher zurückhaltend gewesen seien. Die Pastoren⸗ konferenz vom August 1879 habe die heftigste Sprache gegen Berlin Und dessen Einrichtungen in Kirche und Schule geführt. Einer der Herren habe geradezu gesagt: „Gott segne die Reaktion!“ Das sei eine Herausforderung, hingeworfen der Berliner Bevölkerung und vor Allem denen, die diese Berliner Einrichtungen zu vertreten in der Lage seien. Und da habe sich der Abg. Straßmann in einer Kandidatenrede gegen die „wirklichen Ketzerrichter gewandt, die am liebsten die Anders—= aläubigen auf Scheiterhaufen verbrennen möchten und in Er⸗ mangelung dessen nur Haß und Zwietracht predigten.“ Gegen diese richteten sich die vielberufenen Aeußerungen (Redner verlas dieselhen), die er vollständig unterschreibe. Nur wenn die Rechte selbst sich zu den Ketzerrichtern rechne, dann sei sie auch berechtigt, die „giftige Viper“ auf sich zu beziehen! Die Liberalen unterscheiden sich von der Rechten darin, daß sie die schlechten Menschen angriffen, wo sie dieselben fänden. Der Abg. Stöcker spreche mit Vorliebe von jüdischen Wucherern in Oberschlesien. Wenn es nun auch jüdische Wucherer in Oberschlesien gebe, so könne man daraus doch ebenso wenig schließen, daß die Juden überhaupt Wucherer seien, als man aus dem Umstande, daß es in Ober⸗ schlesien viele Katholiken gebe, die dem Schnapse ergeben seien, schließen dürfe, daß die Katholiken im Allgemeinen dem Schnapse ergeben seien. Was die angebliche Schuld der Juden an dem Börsenschwindel und der Jobberei betreffe, so blicke man doch auf Frankreich, wo gerade die wenigsten Juden seien. Trotzdem habe man dort gerade den denkbar größten Börsenschwindel erlebt, als dessen Theilnehmer gerade solche zitirt würden, die für sehr kirchlich und christlich gehalten würden. Er (Redner) solle über die christlichen Heilig⸗ thümer und die christlichen Prediger gespottet haben, er wisse indeß nicht, wo dies geschehen sei. Der Abg. Stöcker habe ihn einen Hetzredner genannt, habe er hier etwa eine Rede angekündigt über die schädliche Wirkung der Hofprediger? In kurchlicher Hinsicht stehe er auf dem Standpunkt des Prinzregenten, der im Jahre 1858 er⸗ klärt habe: „In die protestantische Kirche sei ein Geist der Orthodoxie eingerissen, der ihren Grundsätzen nicht entspreche und die Heuchelei erziehe.“ Dagegen sage der Abg. Stöcker, die Toleranz der Liberalen sei Haß gegen jedes Christenthum, sie spieen Gift gegen ihre Gegner, seien verlegen u. a. m.; und wenn die Liberalen dann in der Vertheidigung auch ein hartes Wort gebraucht hätten, so heiße es, die Liberalen griffen an, nichts sei ihnen heilig. Da werde ganz offen an den Säulen angekündigt „Rede des Hrn. Dr. Henrici über die Schädlichkeit des Judenthums für den Bauernstand oder für den Handwerkerstan“, „Rede des Hrn. Stöcker über das Judenthum in seinen, alles Egle zersetzenden Wir⸗ kungen“ u. a. m. Und dabei spreche man von Intoleranz auf Seite der Liberalen und der Abg. Stöcker fordere die Libe⸗ ralen zur Liebe auf? Dabei sage der Abg. Stöcker, er (der Abg. Stöcker) sei gar nicht gegen die Juden, er wolle nur die Schule christlich erhalten, und zwar wolle er das Ziel auf dem Verwaltungs wege erreichen. Sei denn, um auf die Ver⸗ waltung einzuwirken, eine so gewaltige Agitation nothwendig? Nedner kam auf die erste Rede des Hrn. Dr. Henrici vom 17. Dezember 1830 in den Reichshallen zu sprechen und nannte diese Rede den Beginn der Brand⸗ reden der Antisemiten und den Beginn der aanti⸗ semitischen Bewegung überhaupt. Der Abg. Strosser wolle mit den Juden in Frieden leben, derselbe wolle nur getrennte Schulen haben. Aber da liege gerade die Gefahr. Trenne man die Schulen, so werde gerade erst recht Haß geschürt. Wenn die Christlich⸗ Sozialen ihr Prinzsp, von keinem Juden

etwas zu kaufen, ausführen wollten, so müßten sie auch gerecht sein und an keinen etwas verkaufen. Bis aufs Aeußerste sei es mit der Judenhetze gekommen. In den Wirths⸗ häusern würden Leuten, die man nach ihrem Haarwuchs für Juden halte, Zettel auf den Tisch gelegt mit der Aufschrift: Juden raus!“ Auf dem Trottoir der Straßen würden solche Zettel verstreut. Drohbriefe von Antisemiten erhalte er täglich, erst heute sei ihm ein solcher zugegangen, des Inhalts: „Sie und alle Juden sind reif für den Galgen, zum Segen der Nation.“ Und unterzeichnet sei das Machwerk: Ein treuer Ver⸗ ehrer Sr. Majestät des Kaisers, des Fürsten Bismarck und des Hofpredigers Stöcker. Um die Stellung der Liberalen zur Judenfrage klarzulegen, könne er nichts Besseres thun, als das verlesen, was Fürst Bismarck in Varzin zu einem jüdischen Geschäftsfreunde geäußert habe, und was durchaus zutreffend sei, wenn derselbe auch leider durch spätere Danktelegramme das Verdienst dieser Erklärung wieder verwischt habe. Fürst Bismarck habe damals auf die Frage, ob er mit der antisemitischen Bewegung einverstanden sei, geant⸗ wortet: „Nichts könne unrichtiger sein! Er mißhbillige ganz entschieden diesen Kampf gegen die Juden, sei es, daß er auf religiöser Grundlage oder gar auf der der Ab⸗ stammung sich bewege. Mit gleichem Rechte könnte man eines Tages über Deutsche von polnischer oder französischer Abstam⸗ mung herfallen und sagen, es seien keine Deutsche. Daß die Juden mit Vorliebe mit Handelsgeschäften sich befaßten, das sei Geschmackssache: durch ihre frühere Ausschließung von an⸗ deren Beschäftigungen möge es begründet sein, aber sicherlich berechtigt sei es nicht, über ihre größere Wohlhaben⸗ heit solche aufreizende Aeußerungen zu thun, die er verwerflich finde, weil sie Neid und Mißgunst in der Menge anregten. Er werde niemals darauf eingehen, daß den Juden ihre ver⸗ fassungsmäßigen Rechte in irgend einer Weise verkümmert würden. Ihre geistige Organisation mache sie zur Kritik ge⸗ neigt, und so finde man sie vorzugsweise in der Opposition. Aber er mache keinen Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Gegnern der Wirthschaftspolitik, die er nach seiner Meinung als ersprießlich für das Land verfechte.“ Er könne sein Urtheil über die ganze Bewegung nicht besser zusammen⸗ fassen, als wie es die große Versammlung aller Berliner Wahlmänner in den „Reichshallen“ gethan habe, die einstimmig diese Bewegung als eine Gefahr für den bürgerlichen Frieden und eine Schmach des deutschen Namens verurtheilt habe.

Demnächst nahm der Vize-Präsident des Staats-Ministe⸗ riums von Puttkamer das Wort:

Ich ergreife nur das Wort, um nochmals Verwahrung dagegen einzulegen, wenn der Hr. Abg. Richter hler wiederholt die Behauptung aufstellt, als hätten die Behörden in Westpreußen und Pommern irgend eine schwankende oder unzuverléssige Haltung bei Unterdrückung der damaligen Tumulte gezeigt. Ich Uitte um die Angabe der Details, auf welche diese Behauptung gestützt werden kann. Meine Herren, ich wiederhole nochmals, daß die Behörden in vollem Maße ihre Schuldigkeit gethan haben, und daß der Erfolg auch nicht gemangelt hat. Ich will hier nur, was die Neustettiner Ereignisse betrifft, noch aus dem amtlichen Bericht, der mir vorliegt, eine Stelle verlesen, die auch von Wichtigkeit und geeignet ist, die Behauptungen des Hrn. Richter in das richtige Licht zu stellen. Es heißt:

Bei den unmittelbar nach dem ersten Auftreten dieses Redners stattgehabten Synagogenbrande warfen die Juden den Antisemiten vor, diesen Brand absichtlich angelegt zu haben, eine Beschuldigung, welche im Lauf der Untersuchung überzeugend widerlegt ist. Diese falsche Anschuldigung verbitterte die ohnehin gereizten Gemüther und mag wohl neue Nahrung in den wiederholten Vorträgen des Hrn. Henrici im Monat Juni gefunden haben.

Das ist der einfache Thatbestand, der nach der einen wie nach der andern Seite völlig unparteiisch und die Andeutungen, welche Hr. Richter über dies traurige Ereigniß gegeben, jedenfalls zu wider⸗ legen genügend ist.

Der Abg. Cremer erklärte, es sei ihm weder erwünscht noch angenehm, das Wort zu ergreifen, denn seine Position sei keineswegs eine erfreuliche. Er sei aber auf seinem Posten geblieben, weil er das für seine Pflicht halte. Man bemühe sich, diese Wahlbewegung als ein Produkt von Niedertracht und Eigennutz darzustellen. Bilde sich denn der Abg. Richter ein, eine einzige Brandrede eines Dr. Henrici, den bis dahin kein Mensch gekannt habe, wäre im Stande gewesen, eine solche Bewegung zu erzeugen? Der Boden und Keim sei dagewesen und es habe nur einer einzigen Befruch⸗ tung bedurft, um die Saat in die Halme schießen zu lassen. Ihm habe man es gerade zum Vorwurf gemacht, daß er die Judenfrage nicht in Angriff genommen habe, und der Pro⸗ fessor Wagner sei längere Zeit von seinen Wählern deshalb nicht goutirt, weil derselbe zu dieser Frage eine zu mäßige Stellung eingenommen habe. Die Konservativen hätten den Liberalen ihre Versammlungen nicht verschlossen, die Liberalen aber hätten Jeden ausgeschlossen, der einigermaßen deutsch aussehe, und Jeder, der das Glück habe, einen orientalischen Typus zu tragen, sei zugelassen. Als er in die Bewegung eingetreten sei, hätten die sämmtlichen Elemente vorgelegen und sie hätten blos organisirt werden zu brauchen. Die Konservativen wollten weiter nichts, als gegen den auf dieser Stadt lastenden Fortschrittsring Front machen. Einen großen konservativen Mischmasch wolle seine Partei nicht bilden. Er sei von seinem Centrumsstandpunkt nicht einen Augenblick zurückgegangen und auch die verschiedenen Parteigruppen seien auf demselben Standpunkt geblieben, alle Konservativen seien nur einig in dem Gedanken: sort mit der Fortschrittspartei! Daß seine Partei im Anfange nicht mehr Resultate erzielt habe und daß sie das selbstgefällige Lächeln des Abg. Richter noch immer bewundern könne, sei ihm nicht auffallend. Alter die Bewegung werde fortgesetzt werden in der Weise wie bicher. Der Vorwurf der Linken, die Konser⸗ vativen wollten nur hetzen, wäre gerechtfertigt, wenn sie jetzt aufhörten. Er biete nicht die Hand zum Frieden, sondern sage: „auf zum frischen fröhlichen Wahlkampf im Herbst!“ Der Abg. Richter fordere mit Recht gleichen Schutz der Polizei für Alle. Aber gerade der Abg. Richter habe diesen Schutz an sich selbst ersahren. Wäre die Polizeimannschaft nicht jo stark an Ort und Stelle gewesen, so hätte derselbe erfahren, daß es noch eine andere Schlagsertigkeit gebe, als diejenige, welche mit der Zunge geübt würde. Von den Sprengkolonnen hätten die Parteiorganisationen nichts gewußt, die hätten nur aus Uebereifrigen bestanden, und er sei gerade der gewesen, der, als ihm angezeigt sei, man wolle Richter „verhauen“, mit dem Staatsanwalt gedroht habe. Die Brutalitäten seien von gegnerischer Seite provozirt worden. Sprengkolonnen existirten nur in der Phantasie des Abg. Richter. Was die Feste der Konservativen betreffe, so hätten zu deren Kosten doch die 93 000 S6 geheime Fonds nicht ausgereicht, es hätten Hunderttausende dazu gehört, die Regierung habe nichts dazu gegeben. Wer sei der große Un⸗ bekannte, den der Abg. Richter meine? Freibier habe es bei

den Festen, die keine Wirthshausfeste gewesen seien, nicht gegeben. Wer dem Abg. Richter das gesagt habe, habe gelogen. Die ganze Seichtheit der Richterschen Argumentation gehe auch aus Folgendem hervor. Derselbe sage, in Oberschlesien tränken viele Katholiken Schnaps, und Niemand sage, alle Katholiken wären Trinker, also könnte man auch nicht alle Juden für Wucherer halten, weil einige in Oberschlesien Wucher trieben. In Oberschlesien tränken allerdings die Katholiken, aber anderswo thäten sie es vielleicht nicht. Dagegen Wucherjuden gebe es nicht blos in Oberschlesien, sondern überall. Der Abg. Richter sage, was würde man thun, wenn man den großen Börsenkrach in Frankreich allen Christen in die Schuhe schöbe? Das sei redlich geschehen, und man könne kein semitisches Börsenblatt in die Hand nehmen, in welchem nicht diese Sache mit der legitimistischen Partei, mit dem Grafen Chambord und mit dem österreichischen Kaiserhaufe in hämischer Weise in Verbindung gebracht werde. Der Abg Richter habe die schlechte Presse von sich abgewiesen. Man habe wohl zu unterscheiden zwischen der anständigen und der affichirt unanständigen Presse. Die Liberalen brauchten ihre Witzblätter wie einen Dienstmann, dem man fünf Silber⸗ groschen gebe, damit derselbe einen anständigen Mann hinter das Ohr schlage, weil man es nicht selber thun wolle. Diese Blätter bedienten sich der jämmerlichsten Waffen. Als er hier den Eid auf die Verfassung mit dem für Katholiken vorgeschriebenen Eid geleistet habe, hätten die Berliner „Wespen“ geschrieben: natürlich habe er durch den Zusatz den Eid so schwer gemacht, wie er nur gekonnt habe, weil er selber wisse, was so schwer sei, könne man nicht lange halten. Solche Blätter seien die Müllgruben, wo die Leute sich das stöthige heraussuchen könnten, und dann heiße es, so was komme auf liberaler Seite nicht vor, sehe man sich einmal die „National-Zeitung“ und die „Vossische Zeitung“ an, wie auch in „Tageblatt“ stehe so etwas nicht! Man habe sich nicht gescheut, ihn als einen Regierungskandidaten zu verdächtigen. Er bitte den Minister, Zeugniß dafür abzulegen, ob er in irgend einer Beziehung etwas gethan oder gesagt habe, was diese Behauptung rechtfertige. Um jeden Schein zu vermei⸗ den, habe er sogar, wenn auch ungern, darauf verzichtet, sich einer Deprtation an den Minister anzuschließen. Man sei noch weiter gegangen und habe sich nicht geschämt, in einem Flugblatt zu sagen, seine konservative Thätigkeit datire erst vom Anfange dieses Jahres, wo er eine gut bezahlte Anstellung beim „Deutschen Tage⸗ blatt“ erhalten hätte. Das sei echt Richtersch. In Wirklich— keit habe er der konservativen Bewegung bereits angehört, be— vor noch an die Gründung des „Deutschen Tageblattes“ ge⸗ dacht sei. Er habe auch jetzt keine feste Stellung bei dem— selben, weil er sich gesagt habe, die Rücksicht auf seine Freunde im Centrum verbiete es. Diese Niederträchtigkeiten und Ver— leumdungen würden ihn aber nicht abhalten, in diesem Kampfe auszuhalten, bis der Sieg errungen sei.

Der Abg. Schrödtr (Lippstadt) bemerkte, er wolle nur er⸗ klären, warum seine Partei der Judenfrage, die jetzt von Woche zu Woche mit phrasenhafter Breite behandelt werde, mit Kaltblütigkelt gegenüberstehe. Das komme daher, weil die Legitimation der Fortschrittspartei, sich in dieser Frage als Vernichterin jeder Brutalität aufzuwerfen, in den Augen des Centrums abgeschwächt sei durch ihr Verhalten seiner Partei gegenüber. Früher habe man wohl von der Linken gehört, daß die Trennung von Kirche und Staat das einzige Mittel sei, um einen friedlichen Zustand her⸗ beizuführen. Aber als dann der Kulturkampf ge⸗ kommen sei mit seiner argen Verquickung von Staat und Kirche und die Katholiken, unfähig, die Drangsale weiter zu ertragen, den Liberalen zugerufen hätten, dem Centrum doch jetzt zu geben, was die Liberalen verheißen hätten, die Trennung von Staat und Kirche, da sei dieselbe vom libera⸗ len Parteiprogramm verschwunden, auf dem dieselbe bis dahin figurirt habe. An Stelle des kurzen Satzes sei eine lang— athmige Phrase getreten und die liberale Antwort auf den Nothruf der Katholiken sei das Klostergesetz, die Aufhebung der Ordensgesellschaften gewesen. Dann veranlasse aber auch die ganze Art, in der dieser neue Kampf geführt werde, das Centrum, sich zurückzuhalten. Auf einen hestigen Angriff folge eine noch heftigere Abwehr. Es sei als ob ein elektrischer Schlag die Linke treffe, wenn hier die Judenfrage erörtert werde. Das mache oft den Eindruck, als ob bei ihnen die Absicht vorwalte, eine sachliche Diskussion dieser Frage unmöglich zu machen. Wenn er sich da erinnere, wie viel stärkere Dinge sich hier zugetragen hätten, als noch der Kulturkampf gespielt habe, wie man sich da Hrn. Günther aus Nürnberg habe kommen lassen, um denselben „über die Gefahren des Ultramontanismus für die Bildung“ zu hören, so fühle er sich oft veranlaßt, den Libe⸗ ralen zuzurufen: sie sollten doch Gedankenfreiheit geben. Die Anpreisung der Simultanschule als Vermittlerin verstehe er nicht. Seine Erfahrung habe ihn gelehrt, daß die Simultan⸗ schule nur dazu führe, daß sich die Jungen schon mit dem achten Jahre prügelten.

Der Abg. Graf Clairon d'Haussonville entgegnete, der Abg. Richter habe gefragt, warum der Minister die Beamten nicht instruirt habe; dieselben hätten nicht gewußt, was sie thun sollten. Er gehöre zu diesen Beamten und könne erklären, daß die Beamten in voller Erkenntniß der ernsten Situation sich stets vor Augen gehalten hätten, was ihnen vor⸗ geschrieben gewesen sei: Leben und Gut aller Unterthanen ohne Rücksicht auf ihre Religion in Schutz zu nehmen. Er müsse also derartige Insinuationen zurückweisen. Der Abg. Richter habe die Vorfälle in Neustettin so erzählt: heute habe Henrici seine Brandrede ge⸗ halten, am Tage darauf sei die Synagoge abgebrannt und dann sei ein Dankschreiben des Fürsten Bismarck eingelaufen. Diese Art von Polemik übertreffe Alles, was da gewesen sei. Jedes Kind in Neustettin wisse, daß ein Christ nicht schuld sei an dem Synagogenbrand, sondern höchst wahrscheinlich ein Tempeldiener; übrigens schwebe die gerichtliche Untersuchung noch über diese Angelegenheit. Besonders empörend aber sei die Herunterziehung des höchsten Beamten in dieser Affaire, man löse damit den Glauben an jede Autorität auf. .

Die Diskussion wurde hierauf geschlossen. Es folgte eine Reihe persönlicher Bemerkungen:

Der Abg. Dr. Virchow bemerkte, der Abg. Strosser habe behauptet, er (Redner) habe dem Abg. Stöcker mit Unrecht vorgeworfen, daß derselbe Rassenhaß predige. Er verweise den Abg. Strosser auf eine Broschüre des Abg. Stöcker, die er am 20. November 1880 citirt habe, in derselben habe der⸗ selbe klar gesagt, daß sich in diesem Kampf zwischen Juden und Christen Rasse gegen Rasse gegenüberstehe.

Der Abg. Stöcker erwiderte, der Abg. Virchow habe den Dr. Henrici seinen Apostel genannt. Derselbe sei vollkommen

unabhängig und habe nie in seinem Auftrag gehandelt. Der

Abg. Virchow habe ihm sodann Mangel 2 Wissen vor⸗ geworfen. Er habe zwar nie bei dem Abg. Virchow ein Kulturexamen gemacht, aber wer seine Reden mit den regen⸗ wurmartigen Reden des Abg. Virchow vergleiche, werde zu⸗ geben, daß sein Wissen besser geordnet sei, als das des Abg. en,. ang, Run

Der Abg. ichter erklärte, wenn er erwähnt habe, da der Fürst Bismarck dem Dr. Henrici ein De . . schickt, so habe er denselben damit nicht in den Staub ge⸗ zogen. Der Fürst Bismarck selbst aber sei von seiner Höhe bedeutend herabgestiegen, indem derselbe sich mit derarügen Leuten überhaupt eingelassen habe. Der Abg. Cremer habe seinem Unwillen ihm gegenüber Luft gemacht, weil derselbe bei der Reichstagswahl gegen ihn unterlegen sei. Der Abg. Cremer habe durch seine heutige Rede nur gezeigt, mit was für Elementen man hier zu kämpfen habe. Auf jede fernere Auseinandersetzung mit dem Abg. Eremer verzichte er, nach⸗ dem „derselbe hier im Hause verblieben sei, trotzdeni deffen Wähler einstimmig erklärt hätten, daß derselbe ihr Vertrauen verloren habe.

Der Abg. Cremer bemerkte, ihn halte nur die Pflicht zurück. Er habe das gleich zu Beginn seiner Rede bemerkt, um einer Taktlosigkeit von Seiten des Abg. Richter vorzu⸗ beugen. Aerger, daß er nicht gewählt sei in Berlin, habe er nicht, er sei darauf gefaßt gewesen und könne dem Abg. Richter sogar zugeben, daß er zweimal unterlegen sei. Er wolle aber sehen, wer von ihnen beiden nach drei Jahren wieder kommen werde.

Der Abg. Richter erklärte, er werde abwarten, ob der Abg. Cremer im nächsten Jahre wiederkomme. Er erkläre aber, daß seine Worte für ihn nicht so viel Gewicht hätten, wie die Worte eines anderen Abgeordneten, nachdem derselbe 1 Wählern gegenüber ein solches Verhalten beobachtet abe.

Der Abg. Cremer bemerkte, trotz der Erklärung, sich nicht mehr mit ihm zu befassen, habe der Abg. Richter ihn soeben wieder angegriffen. Er begreife übrigens, daß derselbe nach dem heutigen Debüt nicht mehr mit ihm (dem Redner) an⸗ binden wolle.

Die Ausgaben für die Polizeiverwaltung wurden ge— nehmigt.

ö ,, vertagte sich um 4m Uhr das Haus auf Montag

Landtags⸗ Angelegenheiten.

Dem Hause der Abgeordneten ist folgender Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Errichtung einer neuen fiskalischen Packhofsanlage in Berlin, vorgelegt worden: Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen ꝛc. verordnen mit Zustimmung beider Häuser des Landtags der Monarchie, was folgt: S. 1

Es ist eine Anleihe im Betrage von 5939 600 „S½ durch Aus⸗ gabe von Schuldverschreibungen aufzunehmen, um unter Beseitigung des fiskalischen Packhofes in Berlin auf der Museumsinsel, für Rechnung des Staates eine neue Packhofsanlage mit Verwaltungs— gebäuden unterhalb der Moltkebrücke auf dem rechten Ufer der Unter— spree hierselbst zu errichten. ;

Wann, durch welche Stelle und in welchen Beträgen, zu welchem Zinsfuße, zu welchen Bedingungen der Kündigung und zu welchen Coursen die Schuldverschreibungen verausgabt werden sollen, bestimmt der Finanz⸗Minister. Im Uebrigen kommen wegen Verwaltung und Tilgung der Anleihe, wegen Annahme derselben als pupillen⸗ und depvositalmäßige Sicherheit und wegen Verjährung der Zinsen die Vorschriften des Gesetzes vom 19. Dezember 1865 (Gesetz⸗Samml. S. 1197) zur Anwendung.

§. 3.

Der Finanz⸗Minister ist mit der Ausführung dieses Gesetzes beauftragt.

Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Königlichen Insiegel.

Gegeben, den ten

Begründung.

Geschichtliche Entwickelung: Unzweckmäßige Lage und ungenügende Beschaffenheit der Pockhofsanlage auf der Museumsinsel.

Der derzeitige Packhof für Berlin auf der Museumsinsel wurde mit den dort befindlichen Hauptniederlage⸗ und Verwaltungsgebäuden auf Grund der Allerhöchsten Kabinetsordre vom 24. April 1823 im Anschluß an den Bau des alten Museums in den Jahren 1828 —1831 von Schinkel auf Staatskosten mit einem Aufwande von über einer halben Million Thalern errichtet, 1834 um die anfangs für die Salzverwaltung bestimmten, später zu allgemeinen Niederlagezwecken verwendeten Anlagen und Gebäude mit einem ferneren Kostenaufwande für die Staatsverwaltung von 14200) Thalern und 1860 um die auf Kosten der Kaufmannschaft hergestellten Räume für Theilungs⸗ läger erweitert.

Die Lage des Packhofes im Mittelpunkt der Stadt am Kupfer⸗ graben sowie die Größe und Einrichtung der Gebäude, Beides war unter den damaligen Handels und Verkehrsverhältnissen, wo der Eingang der zollpflichtigen Waaren auf Frachtwagen und vorwiegend zu Wasser erfolgte, zweckmäßig und günstig. Dies änderte sich indessen vollständig mit der schnellen Zunahme der Einwohnerschaft Berlins auf längst über eine Million, mit der stets fortschreitenden räumlichen Aus— dehnung der Stadt, mit der steigenden Wohlhabenheit, mit dem großartigen Aufschwunge des hiesigen Handels, der Entwickelung einer umfangreichen vielseitigen, zum Theil auf den Bezug von ausländischen Rohstoffen und Halbfabrikaten angewiesenen Industrie und besonders mit der gänzlichen Umgestaltung des Verkehrs durch die Eisen⸗ bahnen. Seitdem durch die hier einmündenden Eisenbahnen der Verkehr mit dem Auslande nach allen Richtungen hin erschlossen worden, gelangen die zollpflichtigen Waaren meist auf den Eisenbahnwagen unmittelbar vom Auslande hierher und müssen von den zum Theil weit entfernten Bahnhöfen nach zeit⸗ raubender, kostspieliger Umladung mittelst schwerfälligen Last⸗ und Rollfuhrwerks unter Beamtenbegleitung täglich durch die verkehrs⸗ reichsten und lebhaftesten Straßen nach der Mitte der Stadt geschafft werden, um dort bis zur weiteren Verfügung darüber in den Pack⸗ bofsgebäuden zu lagern. Zur Beseitigung der begründetsten Klagen sowie zur Entlastung des Stadtverkehrs einerseits und bei der Unzu⸗ länglichkeit des Packhofs andererseits, war die Zollverwaltung schon seit 1847 gejwungen, nach und nach fast auf allen Bahnhöfen beson⸗ dere Zollerpveditionen unter erheblicher Vermehrung des Beamten⸗ personals zu errichten. Zur Zeit bestehen sechs solcher Expeditionen. Der Packbof dient demnach seit langer Zeit im Wesentlichen nur noch als Abfertigungsstelle für die Niederlagegüter, für die Retourwaaren und die Gegenstände des Veredlungs⸗ und Kontenverkehrs, für den Wasser verkehr und für die auf dem Stettiner Bahnhofe, wo sich keine Expe⸗ dition befindet, unter Zollkontrole eingehenden Güter. Zu gleichen Unzu⸗ träglichkeiten hat die gegenwärtige Lage des Packbofs seit der Ausdehnung der Stadt für die Abfertigung solcher Güter geführt, welche auf dem Wasserwege von Hamburg oder Stettin hierher gelangen oder zur Ausfuhr gegen Steuervergütung bestimmt sind. Vor Allem aber

wurde der Mangel einer Abfertigungsstelle, welche die direkte Ver— bindung zwischen dem Eisenbahn⸗ und Vasserrer kehrt hierselbst er⸗ möglicht, von der Kaufmannschaft wie von der Verwaltung als ein unerträglicher Mißstand empfunden.

Nothwendigkeit der Aufhebung der zeiti Packhofsanlage. 1

Schon seit dem Jahre 1857 kamen zablreiche Projekte in An— regung, welche zur Beseitigung der vorgedachten Uebelstände die Ver⸗ legung des Packhofes aus dem Innern an das West- oder Ostende der, Stadt bezweckten. Insbesondere wurde 1878 von dem Handels⸗ Minister ein Projekt angeregt, welches die Errichtung einer Central⸗ Zollabfertigungsstelle mit ausreichender öffentlicher Niederlage auf dem rechten Ufer der Unterspree unterhalb der Moltkebrücke in der Nähe des Lehrter Güterbahnhofs in Aussicht nahm. Dies Projekt wurde don den Vertretern der Berliner Kaufmannschaft mit dem Bemerken befürwortet, daß die Aufhebung des in feiner Ein⸗ richtung veralteten, hinter den Anforderungen der Jetztzeit zurück⸗ bleibenden, unzulänglichen Packhofes an der derzeitigen Stelle noth⸗ wendig und dringend sei, weil seine Verbindung mit den Eifenbahnen nicht unmittelbar hergestellt werden könne und weil bei der jetzigen Lage die Möglichkeit zur Erweiterung und zum Anschlusse an ver— wandte Anlagen, die mit der Zollabfertigungsstelle im allseitigen Verkehrsinteresse in Verbindung zu bringen wären, fehlte.

Aus finanziellen und lokalen Bedenken vermochte die Finanzver⸗ waltung damals noch nicht, dem . näher zu treten. An der in Aussicht genommenen Stelle befand sich zu jener Zeit nur ein Grundstück von gtwa drei Morgen Größe im Staatsbesitze und die Errichtung des Packhofes mit der Zollabfertigungsftelle allein erfor— derte wegen des, nothwendigen Grunderwerbes einen Kostengufwand von etwa 77 Millionen Mark. Inzwischen ist die baldmögliche Er⸗ richtung einer neuen, den Anforderungen des Verkehrs c' auf die Dauer entsprechenden Staatsanlage auch für die Zollverwaltung zur unabweisbaren Nothwendigkeit geworden. .

Um fang des Packhofsverkehrs.

Der stetig wachsende Verkehr mit Waaren, die in Berlin zur zollamtlichen Abfertigung gelangen, hat sich auch in Folge der durch das Zollgesetz vom 15. Juli 1879 eingeführten Ausdehnung der Zoll— pflichtigkeit auf eine Anzahl vorher zollfreier Artikel in dem Maße vermehrt, daß die schon seit Jahren zum Theil überfüllten Packhofs— räume durchaus unzureichend sind, während eine Erweiterung durch Veubquten auf dem vorhandenen, mit Amtsgebäuden dicht besetzten Terrain nicht mehr durchführbar ist.

An Eisenbahnfahrzeugen, welche unter Zollkontrole befindliche Güter enthielten, wurden von den hiesigen Bahnhofs Zollexpeditionen im Jahre 1880 13 6560 Stück und 1851 14269 Stück abgefertigt. Die Gesammtmenge der zu Wasser (1880 in 374, 1881 in 339 Wasser⸗ fahrzeugen) und auf den Eisenbahnen durch Vermittelung der Zollexpe⸗ ditionen nach dem Packhofe beförderten bezw. außerhalb desselben auf Grund besonderer Ermächtigung in den freien Verkehr gesetzten zollpflichtigen Waaren (z. B. Petroleum, Getreide und Roheisen) belief sich in jedem der beiden Jahre i880 und 1881 auf rund 60 Millionen Kilogramm.

Einen Maßstah für die bedeutende Steigerung der Geschäfte

und Abfertigungen bei dem Hauptsteueramte für ausländische Gegen⸗ stände giebt auch die Vergleichung der Zolleinnahmen, die bei dem genannten Amte im Jahre 1830 2 100 009 Thaler (6 300 000 (ch, im Jahre 1880 über 139 und 1881 154 Millionen Mark betrugen, insofern als der 1830 gültige Zolltarif, außer der Ausgangsabgabe für mehrere Waaren, und neben der allgemeinen Eingangsabgabe von 15 Silbergroschen vom Centner für die nicht im Tarife benannten Gegenstände, für eine große Anzahl von Waaren sogar höhere Zoll— sätze hestimmte, als der derzeitige. Ebenso hat der Verkehr mit inländischen Erzeugnissen, nament— lich mit Bier und Spiritus, welche gegen Steuervergütung auf dem wohlfeileren Wasserwege über Hamburg nach dem Auslande gehen und deshalb auf dem Packhofe abgefertigt und demnächst unter amt⸗ lichen Schiffsverschluß gelegt werden müssen, in so bedeutendem Um— fange zugenommen, daß die begründetsten Klagen über Verzögerung in Folge des mangelnden Raumes und der ungenügenden und ver— alteten Krahnen⸗ und Ladevorrichtungen immer zahlreicher hervorge— treten sind, denen abzuhelfen die Verwaltung bei den jetzigen Zustän— den außer Stande ist. Mit dem Anspruche auf Steuervergütung wurden über den Packhof ausgeführt: 1880: 117 Millionen Kilo— gramm Spiritus und Liqueure sowie 625 hl Bier und im Jahre 1851: 1695 Millionen Kilogramm Spiritus und Liqueure und 4023 hl Bier, unter Verwendung von bezw. 184 und 222 asserfahrzeugen in den gedachten beiden Jahren.

Endlich nöthigt die Eröffnung des Verkehrs auf der Stadtbahn, deren Ueberführung über den Packhof die Finanzverwaltung seiner Zeit nicht versagen durfte, die Zollverwaltung zur ungesäumfen Ver⸗ legung des Packhofes besonders im Hinblick auf die derselben im 5. 102 des Vereinszollgesetzes vom 1. Juli 1869 auferlegte Haftbar⸗ keit für Beschädigungen der Niederlagegüter, weil mit der Betriebs—⸗ eröffnung, abgesehen von den Kosten für die Ueberwachung des durch die Stadtbahn in dem nothwendigen Abschlusse unterbrochenen Pack— hofes, nach der Ansicht der Zollverwaltung die Feuersgefahr für die daselbst im Freien oder in den Niederlageräumen lagernden Waaren von jährlich durchschnittlich 7 Millionen Kilogramm vermehrt wird oder doch ungeachtet aller bei der Konstruktion der Lokomotiven anzu— wendenden Vorsicht völlig nur durch die eventuell beanspruchte, mit sehr bedeutenden Kosten verbundene Uebertunnelung der Bahn an jener Stelle zu beseitigen wäre und weil jedenfalls bei den Versiche⸗ rungsgesellschaften für die gewöhnlichen Niederlagegüter, deren Werth Auf jährlich 14 Millionen Mark geschätzt ist, die Versicherung gegen Feuersgefahr erschwert wird. Außerdem befanden sich 1881 in den Theilungslägern des Packhofes 150 009 kg Waaren zum überschläg— lichen Werthe von 1 Million Mark, für deren sichere und unbeschä—= digte Lagerung die Zollverwaltung ebenfalls zu haften hat.

Vorschlläge zur Errichtung der neuen Packhofsanlage—

Bei den bereits im Sommer 1889 über die Verlegung des Pack⸗ hofs zwischen Kommissarien der Ministerien des Handels, der öffent⸗ lichen Arbeiten und der Finanzen unter Zuziehung von Vertretern der Bau und Zollverwaltung und von Technikern begonnenen Verhand⸗ lungen wurde übereinstimmend anerkannt, daß für die Gewinnung einer neuen, allen Anforderungen genügenden Anlage das schon früher don dem Handels ! Minister für diesen Zweck als nothwendig bezeichnete Terrain auf dem rechten Ufer der Unterspree zwischen der Moltke—⸗ brücke und der Paulsstraße, wo vermöge der Ringbahn die Verbindung der hier einmündenden Eisenbahnen mit dem Lehrter Güterbahnhofe und mit der Spree bezw. den hiesigen Wasserwegen gegeben ist, das denkbar günstigste und umsomehr allein in Aussicht zu nehmen sei, als seit dem Uebergange des Magdeburg ⸗Halberstädter Eisenbahn⸗ unternehmens auf den Staat in Folge des Gesetzes vom 20. De⸗ zember 1879 (Gesetz. Samml. S. 635) dem Staate die Verfügung über den ausgedebnten Grundbesitz der gedachten Eisenbahngesellschaft zwischen dem Lehrter Güterbahnhofe und der Spree zusteht. Dabei wurde es indessen von vornherein als ein sehr unerwünschtes Hinderniß bezeichnet, daß der Zusammenhang zwischen dem fiskalischen Grund—⸗ stücke an der Alt- Moabiter Sirgße mit dem vorbezeichneten Grund— besitze und die sehr werthvolle Wasserfront daselbst durch das in der ungunstigsten Gestaltung in den Besitz einschneidende, früher dem Schwimmlehrer Tichy gehörige Privatgrundstück von über 5 Morgen Größe mit einer Wasserfront don mehr als 290 m, unterbrochen und die Verfügung über das fiskalische Grundstück durch das den Be⸗ sitzern des Privatgrundstückes unbestreitbar zustehende Zufahrtsrecht nach der Alt Moabiter Straße beschränkt wird. Die Finanzverwal⸗ tung glaubte im Interesse der irgend thunlichsten Beschränkung der ohnehin erheblichen Kosten, von dem Erwerbe diefes Grundstückes absehen zu sollen, nachdem dafür im August 1880 der Preis von über 1700909 gefordert war. Es wurde demnach in Erwägung ge⸗ nommen, ob nicht ohne den Erwerb des gedachten Grundstückes eine

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Anlage hergestellt werden könnte, durch welche wenigstens in⸗ ae, ner mn, welche werter een den

Anforderungen an die neue Packhofseinrichtung.

Für die Errichtung dieser Anlage war Seitens der Zollverwal⸗ tung zunächst die Herstellung eines Niederlagegebäudes in dem Um⸗ fange der bisherigen Räume, jedoch mit der Erweiterung nach dem Bedürfnisse des gesteigerten und für die Zukunft zu erwartenden Ver⸗ kehrs, nebst Repisionshallen, und mit Geleise⸗ und Waageeinrichtungen nach den Anforderungen der Jetztzeit zur Ermöglichung der unmittel⸗ baren Ueberladung von den Schiffen zum Lehrter Güterbahnhofe, mit einer Wasserfront von mindestens 300 m Länge zu fordern, außerdem aber zur Bedingung zu stellen, daß in unmittelbarer Verbindung mit der Anlage nicht nur das Verwaltungsgebäude für das Hauptsteuer⸗ amt für ausländische Gegenstãnde mit Dienstwohnungen für diejenigen Beamten, deren Anwesenheit im Interesse des Verkehrs, wie der Beaufsichtigung des Packhofs auch außerhalb der Dienststunden zu verlangen ist, hergestellt, sondern auch die Errichtung eines Dienst⸗ gebäudes für die hiesige Provinzialsteuerverwaltung in dem Üm⸗ lange des zur Zeit dafür bis Ende März 1884 gemietheten, in der Königgrätzerstraße 88 gelegenen Hauses ermöglicht würde. Bei den großen Entfernungen in Berlin liegt der räumliche Zusammenhang der gedachten Etablissements und die Konzentration der hiesigen Lokal⸗ und Provinzialzollverwaltung im dringendsten Bedürfnisse. Nur dann kann für den Verkehr die Raschheit der Entscheidungen auch in solchen Fällen, in denen die Kompetenz der Lokalbehörde nicht ausreicht, gesichert, für die obersten Verwaltungen die thunlichste Dezentralisation ermöglicht und der für alle Instanzen aus der räum lichen Zersplitterung der Behörden immer fuͤhlbarer hervorgetretene Mißstand für den Dienstbetrieb, unter Einschränkung der Anträge auf Personalvermehrung, beseitigt werden. Außerdem war im Interesse der Kaufmannschaft die Beschaffung von Theilungslägern an Stelle der auf ihre Kosten 1869 hergestellten und die Belassung von Terrain zur Lagerung von Spiritus, sowie von Waaren unter Steuerkontrole auch während des Schlusses des Packhofes, in Aussicht zu nehmen und gleichzeitig die 4ifer⸗ und Stromregulirung in jener Gegend herbeizuführen.

Projekt J. der neuen Packhofsanlage ohne Ankauf eines Privatgrundstücks.

Auf dieser Grundlage wurden die Spezialpläne und Kosten⸗ anschläge für ein Projekt, welches von der Miterwerbung und Mit⸗ verwendung des Tichyschen Grundstücks absieht, im August 1881 in der auf dem beiliegenden Situationsplane J. veranschaulichten Gestal⸗ tung fertig gestellt. Nach den Kostenüberschlägen hätten die Kosten der Herstellung des Packhofes (mit dem Niederlagegebäude, den Re⸗ visionshallen., den Geleise⸗ und Waage⸗Anlagen, den Aufzugsvorrich⸗ tungen und Maschinen) und der beiden Verwaltungsgebäude (für das Haupt Steueramt und für die Provinzial-Steuerdirektion) im Ganzen mindestens 4200 0900 M ohne Berechnung des Werthes für das dafür

in Anspruch zu nehmende Terrain der Magdeburg-Halberstädter Eisen⸗ bahn betragen.

Bedenken gegen das Projekt J.

Bei der erst nach der Aufstellung der Spezialpläne möglich ge⸗ wordenen genaueren Prüfung der Gesammtgestaltung dieses Projektes ergaben sich indessen fo jchwerwiegende Bedenken dagegen, daß es nach der übereinstimmeuden Ueberzeugung aller betheiligten Ressorts, auch fingnziell nicht verantwortlich erschien, für eine derartige mangelhafte, auf die Dauer ungenügende Anlage einen Betrag von Über vier Mil— lionen Mark aufzuwenden.

. Müßte von der Hineinbeziehung des mehrerwähnten Privatgrund stücks in die Anlage abgesehen werden, so könnte

a. wie auch der Situationsplan J., ersichtlich macht, wegen der besonderen Konfigurgtion des Grundstücks und seines Einschneidens in den fiskalischen Besitz, sowie wegen der gebotenen Freilaffung des den Besitzern zustehenden Weges nach der Alt⸗Moabiter-Straße, der Packhof erst hinter diesem Grundstücke und zwar 340 m unter⸗ halb der Moltkebrücke, also in einer Entfernung von dem Stadt⸗ verkehr beginnen, die für eine tägliche lebhafte Frequenz schwer empfunden werden würde.

b. Ferner würde der Zu⸗ und Abfahrtsweg des Packhofs sehr mißliche, nicht zu umgehende Krümmungen mit ungünstigen Steigungs⸗ verhältnissen erhalten müssen, welche den Verkehr mit Lastfuhrwerk sehr erschweren würden.

é. Nicht minder würden bei einer lebhafteren Frequenz auf den, von den Besitzern des Privatgrundstücks mit zu benutzenden Wege⸗ theilen große Störungen für den Packhofsverkehr zu erwarten sein. d. In Folge der geringen Breite des für die Packhofsanlage ver⸗ fügbaren Terrains, auch an der verhältnißmäßig breiteten Stelle zwischen dem Lehrter Güterbahnhofe und der Spree, müßten die an der Wasserfront und am Geleise des Bahnhofs zu errichtenden Niederlagegebäude so dicht aneinander gerückt werden, daß wie der Situationsplan J. zeigt der nothwendige Hof im Innern derfelben schon für den derzeitigen Verkehr kaum genügen, bei der zu erwarten den Zunahme des Verkehrs aber voraussichtlich bald nicht mehr aus⸗ reichen würde.

e. Finanziell kam namentlich in Betracht, daß das wegen der größeren Nähe am Stadtverkehr besonders werthvolle fiskalische Grundstück nächst der Moltkebrücke ausschließlich für die Herstellung von Zu⸗ und Abfahrtswegen zu verwenden und in keiner, dem hohen Werthe entsprechenden Weise für die Anlage selbst nutzbar zu machen wäre. Insbesondere wäre es nach den eingehendsten technischen Prü⸗ fungen nicht möglich, daselbst die nothwendige Baustelle für das Ge⸗ bäude der Provinzial⸗Steuerdirektion zu gewinnen; vielmehr müßte dafür, überdies in einer den Dienstverkehr beeinträchtigenden Entfer⸗ nung, ein Theil des als Baustelle erheblich werthvolleren Staats grundstückes zwischen der Alt⸗Moabiter⸗, Ulanen⸗ und Invalidenstraße in Anspruch genommen werden. Es würde dann, ausweislich des Situationsplans J., der nothwendige Zusammenhang der Packhofs⸗ etablissements unterbrochen und die wesentlichste Anforderung, welche Seitens der Zollverwaltung für einen neuen Packhof zu 6 ist, unerfüllbar werden.

f. Ebensowenig ließe sich bei dem Belassen einer Wasserfront von mehr als 200 m Länge im Privatbesitze die Ufer⸗ und Strom⸗ regulirung in dem erforderlichen Umfange ausführen und es würde ferner für die Schiffe an geeigneten Anlageplätzen, die für den Pack⸗ hofsverkehr in der nächsten Nähe der Lagerräume, namentlich während des Schlusses des Packhofs unentbehrlich sind, fehlen.

g. Endlich würde, wenn die Packhofsanlage erst 340 m unterhalb der Moltkebrücke begönne, das davor belegene Terrain aber unbebaut oder der Privatbebauung überlassen bleiben müßte, eine Anlage ge⸗ schaffen werden, die in architektonischer und ästhetischer Hinsicht im störenden Kontraste sowohl zu den staatlichen Gebäuden auf dem gegenüber und überdies höher gelegenen Kronprinzenufer, wie zu dem auf der anderen Seite der Alt⸗Moabiter Straße befindlichen Personenbahnbofsgebäude der Lehrter Bahn, zu den neuen Justizgebäuden und zu den anderen großarti⸗ gen Anlagen des neuen Stadttheils stände, was im Hinblick auf die beträchtlichen Baukosten von über 4 Millionen Mark und auf die Bedeutung einer Packhofsanlage in Berlin auch für die Staats⸗ einnahmen (von jährlich über 15 Millionen Mark beim Hauptamte und von etatsmäßig 51 Millionen Mark für den Bereich der hiesigen Provinzial · Steuerdirektion) um so weniger zu rechtfertigen wäre, als für eine derartige Anlage die Aufhebung der Baubeschränkung, welche durch die Allerhöchste Kabinetsordre vom 18. November 1868 im Anschluß an den für jene Gegend genehmigten Bebauungsplan be⸗ stimmt ist, schwerlich gehofft werden dürfte.

Projekt II. der neuen Packhofsanlage mit Ankauf eines Privat grund stückt. Alle diese Uebelstände und Bedenken werden nach den schon früher hierauf ausgedehnten technischen Erörterungen, in der günstigsten

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