1884 / 150 p. 3 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 28 Jun 1884 18:00:01 GMT) scan diff

4106 für das weibliche Geschlecht erboöhen, wenn das erste Leben jabr außer Betracht bleiben durfte. Die Zabl der Selbstmorde belief sich im Jahre 1883 auf 56. Die Höchstjabl der Selbstmorde fiel 1883 in die Alters llasse 31 40 und die beiden folgenden, wãhrend sie in beiden Vor · jabren in der Erurre 21 25 lag Ein Vergleich der Selbstmorde i München, wo auf je zehntausend Einwobner 2.33 0,60 entfallen, ergiebt, daß in Breelau auf je zebntausend 4,45, in Hamburg 431, in Frankfurt 363, in Rürnberg 3352, in Berlin 3.31, in Wien 293, in Elber⸗ feld 2.41, in Darmstadt 2.13, in Auge burg 205. in Stuttgart 1,92 entfallen. München nimmt mithin in dieser Selbstmortstatistik erft die ackte Stelle ein. Der Antheil des Selbstmordes an der Ge— sammisterblichkeit ist am größten, wie im Vorjahr, in Frankfurt a. M. mit 1.86, am gerirgsten gleichfalls, wie im Vorjahr, mit O0 in

Mittheilungen des Herzoglich anbhaltischen en Bureaus entnehmen wir in Bezug auf Geburten, Ebeschließungen und Sterbefälle im Heriogthum Anhalt während der Fabre 1879 kis einschließlich 1882 Folgendes: In diesen 4 Jahren sind im gesam inten Herzogthum 7893, oder im Jahres durchschnitt 1973 Ebe⸗ schlie ur gen vorgekommen; es hat also ein Zuwachs der Bexölkerung durch den Ueberschuß der Geburten über die Sterbefälle um 13 896 Persenen eder im Jabresdurchschnitt um 3474 Personen statt⸗ gefunden. In den rier rorbergehenden Jahren betrug dieser Ueber⸗ schuüß 13534 Personen, oder im Hahretdurchschnitt 3384 Personen; die ersteren rier Jahre weisen sorsach etwas günstigere Verbältnisse rack. Die Zabl der weiblichen Geburten verhielt sich zu den männ⸗ licken im Durchschnitt der 4 Jahre wie 1 zu 1407, und es kam auf 2658 Geburten eine Todtgeburt und auf 10,80 Geburten eine uneheliche. In früberen Jahren war von 22 Geburten eine Todtgeburt und von 9 Geburten eine unebelich, die obigen 4 Jahre weisen also in dieser Beziebung etwas günstigere Verkältnisse ach. Im Verhalini5 zur Gesammtzabl der Geburten kom auf dem Lande mehr urebelicke und Todtgeburten, als in den Städten zor. Im Durchschnitt der 4 Jahre war von 9,92 ehe— schlickenden Männern ein Wittwer, während eist von 15,97 ebe— schlicßenden Frouen eine Wittwe war; dagegen baben sich mehr geschiedene Frauen als geschiedene Männer wieder verheirathet. In den froglichwn 4 Jahren kamen 230 ober unter 160 durchschnittlich 2951 Ebesclicßungen zwischen Personen verschiedenen Religions— bekenntnisses vor. Im rierjäbrigen Durchschnitt rverbielt sich

die Zahl der weiblichen Sterbefälle zu den männlichen wie J zu 1,13. Wenn rerhältnißmäßig mehr männliche als weibliche Personen geboren werden, so ist wieder die Sterh⸗ lichkeit unter dem männlichen Geschlechte nicht nur giößer als

unter dem weiblichen, sondern es übersteigt auch der Prozentsatz der männlichen Sterbefälle denjenigen der mänrlichen Geburten. Nament— lich in den ersten Lebensjahren ist die Sterblickkeit unter dem männ— lichen Geschlecht größer als unter dem weiblichen. Im Jahre 1875 kamen auf 160690 Eis(wobner 39,94 Geburten und 24,29 Sterbefälle, was den Erscheinungen des Jahres 18890 ziemlich gleickkommt. Im ganzen Deutschen Reiche entfielen im Jahre 1830 auf 1009 Einwohner 39.1 Geburten und 27,5 Sterbefälle; dem gegenüber dürften die Ver hält nisse in Anhalt als ganz normale bezeichnet werden. In Bezug auf Selbst⸗ morde und Todesfälle durch Verunglückung in Anhalt während der vier Jahre sci mitgetheilt, daß ron den 325 zur amtlichen Kenntniß ge— langten 325 Selb stmorden 81 im Jahre 1879, je 84 in den Jahren 18890 und 1881, und 76 im Jahre 1882 rorgekommen; es hat also in diesem Zeitraume eine jährliche Zunahme der Selbstmorde nicht stastaefunden. Von sämmtlichen in den 4 Jahren stattgehabten Selbstmorden kommen auf den Kreis Zerbst 14,450, auf den Kreis Bernburg 23,3909 und auf den Kreis Ballenstedt 22,15. Wenn hier⸗ nach auch im Kreife Bernburg die relativ größte Anzahl von Selbstmorden vorgekommen ist, so nimmt doch im Verhältniß zur Gesammtzahl der Sterbefälle (mit Ausschluß der Todtgeburten) in Bezug auf die Selbstmorde der Kreis Ballenstedt die erste Stelle ein, denn es kam bier auf 37.21 Sterbefälle 1 Selbstmord, während im Kreise Dessau erst auf 64,35, im Kreise Köthen auf ES,37, im Kreise Zerbst auf 74,50 und im Kreise Bernburg auf 74,24 Sterbefälle ein Selbst⸗ mord entfiel. Wenig größer als die Zahl der Selbstmorde ist die der Todesfälle durch Verunglückung. Von denselben sind 84 im

Jahre 1879), 94 im Jahre 1880, 98 im Jahre 1581 und 78 im Jahre 1882, und jzwar 18,64 / im Kreise Dessau,

20, 90 ,οο im Kreise Köthen, 12,ö1 6 im Kreise Zerbst, 31,92 0/0 im Kreise Bernburg und 15,82 / im Kreise Ballenstedt vorgekommen. Die meisten tödtlichen Verunglückungen haben sonach im Kreise Ballenstedt stattgefunden. In demselben entfiel auf 47,84 Sterbe— falle eine tödtliche Verunglückung, während eine jolche im Kreise Bernburg auf 49,93, im Kreise Köthen auf 51,74, im Kreise Dessau auf 72,18 und im Kreise Zerbst auf 77,91 Sterbefälle kam. Im ganzen Lande kam auf 57.58 Sterbefälle und im Jahresdurchschnitt auf 2628 Einwohner 1 Todesfall durch Verunglückung. Ueber 5 Mal so riel männliche als weibliche Personen haben ihren Tod durch Ver unglückungen gefunden und über 270/90 aller Verunglückungen waren Kinder unter 15 Jahren, welche vorherrschend durch Ertrinken ums Leben gekommen sind.

Kunst, Wissenschaft und Literatur.

Geschichte der Kunst im Alterthum ((Egypten, Assyrien, Persien, Kleinasien, Griechenland, Etrurien, Rom), von Georges Perrot und Charles Chipiez. Autorisirte deutsche Ausgabe. Egypten. Mit urgefähr 600 Abbildungen im Text, 5 farbigen

und 9 schwarzen Tateln. Bearbeitet von Hr, Richard Piet schmann. Leipzig,. F. A. Breckhaus, 1884. Von diesem kunsthistorischen Werk sind neuerdings wieder 3 Liefe—⸗

rungen, 22 bis 24, ausgegeben worden. Die erste Abtheilung ‚Egvpten“ war, wie gemeldet, mit dem 10. Kepitel, in welchem eine Charakte—⸗ ristik der egrptischen Kunst im Allgemeinen und der Stellung dieses alten Kulturlandes in der Kunstgeschichte gegeben wurde, also dem 21. Heft, in der Hauptsache bereits abgeschlossen. Die vorliegenden 3 Lieferungen bringen noch außer der Einleitung von Perrot einen umfangreichen Anhang, welcher fortlaufende Anmerkungen und Be— richtigungen zu den einzelnen Kapiteln, Zusätze auf Grund neuer For— schungen und Funde sowie Erklärungen zu den zahlreichen Abbildungen des Werks enthält. Die 24. Lieferung trägt den Titel und die Inbaltsübersicht nach und bietet ein Verzeichniß der Abbildungen sowie ein sorgfältiges alphabetisches Namen« und Sachregister. In ler terem Heft finden wir auch noch eine schöne Farbendrucktafel, welche cine aus der Kavalierperspektive aufgenommene Reproduktion einiger ornamentalen Malereien von der Westwand des Grabes des Piahbotep darstellt. Der erste Theil dieser erschöpfenden, ebenso inters ssant geschrie benen wie reich ausgestatteter Kunstgeschichte ist nunmehr (24 Lieferungen zum Preise von je 1,50 ½ ) in den Händen der Abonnenten. Das Werk will die Eifindung und Ueberlieferung der technischen Maßregeln, welche die Ausübung der Kunst voraussetzt, die Ent— stebungsgeschichte und das Verwandtschaftsverhältniß der Formen, die leiseren oder tiefer gehenden, schrofferen oder allmählicheren Umwand— lungen, welche diese beim Uebergange von einem Volk zum anderen durchgemacht haben, um schließlich bei den Griechen die Lglucklichste und rollkemmenste fünstlerische Wirkung zu erreichen, schlicht und ohne gelebrte ästhetische Abhandlungen, ohne Mißbrauch mit Kunstausdrücken zu treiben, schildern und darlegen und davon zugleich durch eine Auswahl von Illustrationen dem Kunstfreunde und Künstler ein lebendiges Bild geben, sodaß er, wenn er nicht geduldig den Be— schreibungen und Untersuchungen folgen will, nur die Seiten durch⸗ zublättern und mit dem Blick die zahlreichen, sorgfältizgen und ge— treuen Abbildungen zu seiner Belehrung zu befragen braucht. Dieses Ziel, welches die Verfasser vor Augen hatten, haben sie in dem nun abgeschlossenen ersten Abschnitt Egypten“ vollkommen erreicht, sodaß man den weiter folgenden Theilen mit großer Erwartung entgegen⸗ sehen darf. ö

Pandekten von Heinrich Dernburg, ord. Professor d. R. in Berlin. (Verlag von H. W. Müller hierselbst.) Das bedeut⸗ same Unternehmen des berühmten Rechtslebrers schreitet rüstig vor⸗ wärts, denn bereits jetzt, wenige Wochen nach Erscheinen des ersten

Heftes, liegt die zweite, die Ss. 50 989 des allgemeinen Tbeilt umfaffende Lieferung ror. Die Klarbeit und Durchsichtigkeit der Darstellung, die Schärfe des juristischen Urtheils und die Vereinigung ron Theorie und Praxis werden den Besitz des Werkes jedem Juristen erwunscht machen. ĩ

Die Entwicklung der Landrechtsglosse des Sachsenspiegel . Von Br. Emil Steffenbagen J.. Die Tierstedische Glosse. Wien, 1884. In Kommission bei C. Gerolds Sohn. In 2 Hehdschriften der 3. Ordnuna der Glossen. flasse, zu Lüneburg und Wolfenbüttel, ist uns zum Landrecht des Sachsenspiegels eine Glosse aufbewabrt, welche der Lüneburger Raths— herr und Patrizier Brand III. ron Tzerstede (t 1451) im Jahre 1442 besorgt hat. Für den Tert des Sachsenspiegels ging derselbe darauf aus, „‚Theilung und Beginn der Artikel nach den alten und gemeinsten Zablweisen“ wieder berzustellen; die Glofse aber anlangend, richtete sich seine Absicht auf Vervollständigung der Buchschen Glosse, also für diejenigen Artikel, welcke der Glossirung bisher noch ent—

behrten, die nöthige Glosse zusammenzubringen. Bis jetzt waren ron dieser Tzerstedijchen Glofse nur die von Bruns und Sxangenberg mitgetbeilte Glosse zur Vorrede von der

Herren Geburt“ und 2 kurze (vermeintlich Tzerstedische) Glossenstücke bekannt. Der Verfasser der vorstebenden Abhandlung beschreibt nun zunäckst die beiden Handschriften (die Lüneburger und die Wolfen bütteler), welche die Tzerstedische Giosse enthalten, erwähnt, daß die Wolfenbütteler auf der Lüneburger berube, verbreitet sich über den Inbalt der beiden Handschriften und weist sodann im Einzelnen den Ürfprung und die Quelle der einzelnen Glossen Tzerstede's nach, be⸗ merkt aber in Betreff seiner Glosse zu den Schlußartikeln, daß es nicht zu ermitteln sei, aus welcher Quelle Tzerstede diese letztere her⸗ geholt und wer sie abgefaßt habe. Tzerstede sei urtheilt Steffen⸗

kagen im Allgemeinen über denselben bei seiner Arbeit mehr sammelnd und sichtend, als selbständig glossirend zu Werke gegangen; er reproduzitre die Buchsche Glosse in ihrer reicheren Gestalt und mit der üblichen Zusatz⸗

alosse, und entlchne die Glosse zu den Schlußartikeln (II, Ss bis g!) anderweitig; seine eigenen Zuthaten reichten über die Glossirung der Vorrede ‚von der Herren Geburt“ nicht hinaus. Was ihm sonst beigelegt weide oder beigelegt werden könnte, stamme entweder anderswoher oder gehöre bereits der Buchschen Glosse an. Ein Anhang zu der Abhandlung, welche aus dem Jahrgang 1884 der Sitzungsberichte der rhil.hist. Klasse der Kaiserlichen Aka— demie der Wissenschaften zu Wien (106. Bd., 1. Heft, S. 197 ff.) besonders abgedruckt ist, entbält: I) die Glesse Brands von Tzer— stede zur Vorrede von der Herren Geburt“ (abgedruckt aus der vor— züglichen, der Lüneburger Handschrift, mit Angabe der Abweichungen der Wolfenbütteler Handschrift in den Noten) und 2) die Glossitung rer Schlußartikel IIi, 88 bis 91 nach Brand von Tzerstede.

Von Hackländers Soldatengeschichten, illustrirt von Emil Rumpf (n 20 Lieferungen à 40 bei Carl Krabbe in Stutt— gart) liegt nunmehr Lieferung 11 vor. Diese drei Lieferungen enthalten nicht weniger als 90 Bilder, welche Hackländers heitere Schöpfungen in mustergültiger Weise mit dem Stifte wiedergeben. In dem 11. Heft schließen die Wachtstubenabenteuer und beginnt das Soldatenleben im Frieden. Für den rollendeten Band kann eine geschmackvolle Einbanddecke zu 75 3 ron der Verlage buchhandlung bezogen werden.

Gewerbe und Handel.

New⸗JYPork, 2. Juni. (W. T. B.). Baum wolten⸗ Wochenbericht. Zufuhren in allen Unionshäfen 6000 B., Aus fuhr nach Großbritannien 16000 B., Ausfuhr nach dem Kontinent 300, Vorrath 346 000 B.

Veterinärwesen.

In Rumänien ist in den Gemeinden Darabani und Hu— dessimare (Kreis Doroho) die orientalische Rinderpest ausgebrochen.

ü Verkehrs⸗Anstalten.

Hamburg, 27. Juni. (W. T. B.) Der Postdampfer Hammonia“ der Hamburg ⸗Amerikanischen Packetfahrt⸗ Aktiengesellschaft ist, von Hamburg kommend, beute früh 2 Uhr in NewYork eingetroffen.

Sanitätswesen und QOuarantänewesen.

Die italienische Regierung bat aus Anlaß des Ausbruchs einer choleraähnlichen Krankbeit zu Toulon unterm 24. Juni d. J. eine Beobachtungs-Quarantäne von 10 bez. 15 Tagen gegen Provenienzen Toulons, sowie von 5 bez. 7 Tagen gegen Provenienzen der übrigen französischen Mittelmeerbäfen, welche eine gesunde Ueberfahrt gehabt haben, dagegen eine strenge Quarantäne (di rigor) von 20tägiger Dauer gegen alle Prorenienzen der französischen Mittel meerküste, welche während der Ueberfahrt verdächtige Krankheitsfälle an Bord gehabt haben, angeordnet.

Die griechische Regierung hat für Provenienien von Toulon eine 11Itägige, für solche von Marseille eine 5tägige Quarantäne vor— geschrieben.

Berlin, 28. Juni 1884.

Wilhelmstiftung . Beamtendank“. In Gemäßheit des laut Allerhöckster Kabinets Ordre vom 28. Januar 1882 bestätigten Statuts hat das Kuratorium alljährlich am II. Juni, zur Erinnerung an das im Jahre 1879 gefeierte Ehe—⸗ jubiläum Ihrer Majestäten des Kaisers und der Kaiserin, Kassenbericht zu erstatten. Am 11. Juni 1883 war ein Bestand vorhanden: in Effekten zum Nominalwerthe vonn. 34 000 S 4 und an Baarmitteln, deponirt bei der Kur- und Neumärkischen Ritterschaftlichen Darlehnẽkasse K Summa 34748 S6 85 3 Aus den statutenmäßig zu Unterstützungen zu verwendenden zwei Dritteln an Kapitalzinsen waren die ponibel 712 S 19 3. Hiervon sind an Beamte, Beamtenwittwen und Hinterbliebene ehemaliger Beamten gezahlt: an 17 Personen in Beträgen von 50 (6, 40 30 Æ und 20 Æ, zusammen 690 S An Portokesten sind 5 ( 80 und an sonstigen Unkosten 1 66 11 3 verausgabt, so daß noch ein Betrag von 5 S 19 im Bestande verbleibt.

Ein Drittel der aufkommenden Zinsen ist dem Kapitalstock so lange zuzuführen, bis derselbe die Höbe von 200000 M erreicht hat. Der Gesammtbestand der Stiftung beträgt heute in Effekten

. 34 000 16 3 3

hierzu deponirt, wie oben, und zwar

Grundkapital⸗Conto 965 MS 61 3

Unterstützungsfondddzz.. 3 12. 8a 89 Summa 34 970 6 80 4.

Berlin, den 11. Juni 1884. Im Auftrage des Vorsitzenden des Kuratoriums: v. Baerensprung. Biester.

Tie 1. Sommerobst ⸗Ausstellung, die der Verein zur Be⸗ förderung des Gartenbaues in den preußischen Staaten heute im Wintergarten des Centralbotels eröffnet hat, hat die Erwartungen der Fachleute bei Weitem übertroffen. Trotz der Ungunst der Witterung, die den Obstbau besonders schwer geschädigt hat, ist die Ausstellung reich beschickt. Noch weit mehr aber als die Quantität überieugt die

Qualität des Ausgestellten von dem ernsten und erfolgreichen Streben, den Obstbau auch in den Gegenden, wo er bisher mehr aus bloßer Lieb haberei getrieben wurde, zu einem rentablen Erwerbs zweig zu machen. Der Sortenwahl, die man bisher namentlich auf dem platten Lande ohne Verständniß traf, ist erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet, und auch in Bezug auf die Treiberei läßt sich ein merklicher Fortschritt gegen

Der äußere Eindruck, den die Auestellung gewährt,

früher konstatiten. D tre Ein das Gesammtbild derselben, ist ein überaus ansprechendes. Der präch⸗ tige Wintergarten mit seinem reichen Palmenschmuck dient ihr als

eine ebenso wirkungsvolle wie würdige Felie. Auch die einzelnen Aus= steller haben sich bemüht., möglichst geschmackrolle Arrangements zu treffen, und dieses Bemühen ist meist von bestem Erfolg begleitet worden. Gleich beim Eintritt in den Wintergarten fällt das Auge des Be— suchers auf zwei reizende Arrangements, zu denen E. Thiele ⸗Plötzen see die Produkte seiner weltbekannten Erdbeerzucht vereinigt hat. Aus Cuivre poli- Schalen erbeben sich beerenreiche Erdbeerstauden, die saftigen Früchte der Ascot Tine apples, die sich vor Allem als Ein- machebeeren bewähren, sind zu Sträußen gebunden, andere Früchte beben sich mit ihrem tiefen Roth ven dem Grün der sie umgebenden Blätter ab. An zwei langen Tafeln haben die Werderschen Sbstiückter ihre Produkte ausgestellt. Allerdings sind von den 550 Obstbauern des Werders nur etwa 2 erschienen; was sie aber ausgestellt haben, giebt in der That einen Ueberblick über die bobe Leistunge fähigkeit der märkischen Obstkammer, deren Produkte sich

den Weltmarkt erobert haben. Mit einer recht reichen Kollektion ist auch Guben erschienen, dessen Ohbsthauverein u. A. 22 neue aus Kernen gejogene Sorten aukgestellt hat.

Neben Kirschen sind hier auch konservirte Aepfel und Birnen sowie Beerenobst aller Art zu erwäbnen. Von den spätreifen Sorten, auf die Guben eigentlich den Schwerxunkt seiner Zucht legt, sind Zweige mit unreifen Früchten zur Schau gestellt, die ob ihrer Fülle in der That Aufseben erregen. Den nächsten Tisch hat Glindow, der neue Konkur⸗ rent Werders, occurirt Vor Allem ist Glindow in Erdbeeren stark ver⸗ treten, deren Zucht der dortige lebensfrische Verein ganz besondere Aufmerksamkeit schenkt. Ein kleiner Theil derselben Tafel ist der Königlichen Gärtnerlehranstalt eingeräumt, die ein großes Sortiment

Erdbeeren und Kirschen an Zweigen ausagestellt hat. Auf der Tafel zunrächst der Orchesteiwand führt der Frankfurter Gartenverein Früchte aus seinen Versuchsstationen, darunter namentlich scköne Erdbeeren und Stachelbeeren, vor. Ihm schließen sich die Erdbeerkollektion des kekannten Zöächters

Göschke⸗Cöthen sowie die von den Königlichen Gärten in Potsdam und Sanssouci veranstaltete Ausstellung an. Neben getriebenen Früchten sind hier namentlich Tafelerdbeeren zu nennen. Mit ihnen konkurriren die Gräflich Schaffgotschschen Gärten, die vor dem Orchester Pfirsiche. Weintrauben u. dgl. ausgestellt haben. Lorberg— Berlin hat sich mit Erd. und Stachelbeeren, das städtische Rieselgut Blankenburg mit Himbeeren bei der Schau betheiligt. An der gegenüberliegenden Wand haben Mosisch— Treptow und Buntzel-Nieder⸗Schönweide reiche Sortimente Stachel— beeren ausgelegt. Zwischen beiden Kollektionen hat Buchhändler Radetzki⸗Tempelbof als seinem Privatgarten 24 Erdbeersträucer in Töpfen und Lubasch⸗Zossen Erdbeeren und Aepfel ausgestellt. Vor der Palmengruppe in Mitten des Wintergartens bat A. Schaeffer Sohn in Berlin einen mit frischen Früchten gefüllten Riesenfruchtkorb placirt, der den Umfang von 4 m aufzuweisen hat, und vor der Estrade endlich hat Oekonomie-Rath Sxäth für die Vermehrung ge— zogene Erdbeeren zur Schau gestellt. In der Abtheilung der Obst— weine finden wir u. A. auch schon diesjährigen Himbeersaft aus der Werderschen Fruchtsaftpresserei von W. Hühne, während der Gubener Obstbauverein Apfelwein zeigt, bei dessen Fabrikation besonders darauf Gewicht gelegt wird, daß nicht die einzelnen Sorten ver— mischt gekeltert werden.

Thorn, 27. Juni. (W. T. B.) Gestern Abend ist der Damm gegen die Weichsel bei Altau vom Hochwasser durch—⸗ brochen worden. Heute früb reichte das Wasser bis Schmolln. Die Niederung auf der linken Flußseite steht vollständig unter Wasser; der Schaden ist sehr erheblich. Die Gefahr für den Damm bei Czarnowo gilt durch die Hülfe des Militärs für beseitigt. Hier war der Wasserstand der Weichsel gestern 6,40, heute ist derselbe 5,70 und fällt weiter. .

Bad Kreuznach, 24. Juni. Die Saison xverspricht in diesem Jahre eine glänzende zu werden. Alle Nationalitäten sind unter den bis heute hier eingetroffenen Kurgästen, deren Zahl sich um einige Hundert höber stellt als um dieselbe Zeit des Vorjahres, vertreten: Franzosen, Engländer, Holländer, Italiener, Russen, Dänen, Schwe⸗ den, Norweger u. s. w. Vorgestern trafen von Hobe-Pascha, Kaiserl. ottomanischer General der Kavallerie, Ober⸗Stallmeister und General⸗ Adjutant Sr. Majestät des Sultans, aus Konstantinopel, und Ge— neral Hawkins aus New⸗Nork zum Kurgebrauch hier ein. Im Ganzen sind bis heute 1966 Kurgäste hier eingetroffen.

Die beiden letzten Vorstellungen des Deutichen Theaters in dieser Saison sind: morgen, Sonntag: „Der Hüttenbesitzer und

am Montag: „Don Carlos“.

Fr. Rosa Papier setzte gestern im Krollschen Theater ihr Gastspiel mit der Titelrolle der ‚Jüdin“ von Haley fort und be— währte auch darin ihre in gesanglicher und darstellerischer Hinsicht gleich hohe Künstlerschaft. Der phänomenale Umfang ihrer herrlichen Stimme ermöglicht der Sängerin, die uns als . Orpheus und als Fides. durch ihren fcnoren Alt entzückte, auch die Bewältigung dieser zum Theil ziem⸗ lich bhochliegenden Mezzosopranpartie in bewunderungs würdiger Weise. Quellende Schönheit und Reinheit des Tons paarte sich auch hier mit seelischer Innerlichkeit des Ausdrucks und einem allen Regungen des— selben sofort eine edele plastische und mimische Gestalt ge— benden Spiel zu cinem so vollendeten Ganzen, wie es leider cuf der modernen Bühne zu den Seltenheiten gehört. Musterhaft deutlich und klar ist ihre Aussprache, das edle ver— nehme Maß, welches die Künstlerin in ihrer Darstellung walten läßt, und die Strenge, mit der sie alle die Mittelchen meidet, mit denen andere, weit weniger Begabte die Menge zu ködern wissen; sie ist stets mit Leib und Secle bei der Sache und geht ganz in der Rolle auf. Und so war dern auch ein viel größerer Beweis ihrer eminenten Künstlerschaft die athemlose Stille, welche während der bewunderungs“ würdig gespielten und gesungenen, dramatisch bewegten Romanze im zweiten Akt: ‚Er kommt zurück‘, über dem dicht gefüllten, großen Saale lagerte, als der stürmische Beifall, welcher dieser Meisterleistung folgte und der Särgerin auch den ganzen Abend über treu blieb. Nicht minder ergreifend und erschütternd war aber auch ihr Spiel und Gesang in dem Duo zwischen Eleazar und Recha im letzten Att, nach welchem die Hervortufe kein Ende nehmen wollten. Den Eleaiar gab Hr. Grupp recht wacker; nur liegt dem Sänger Pie Partie manchmal etwas zu hoch. Für die Ausführung der großen Krie im vierten Akt jedoch gebhrte ihm uneingeschraͤnktes Lob. Hr. Biberti brachte seinen mächtigen, schönen und ausdrucksfäbigen Baß in der Rolle des Kardinals Brogni, besonders in dem großen Döett mit Eleazar im vierten Akt gut zur Geltung. Fr. Baumann als Eudora und Hr. Schreiber als Prinz Leopold vervollständigten das gefãllige Ensemble. Hr. Kapellmeister Götze hatte die für eine kleine Bühne so viele Schwierigkeiten bietende Sper sorgfältig einstudirt. In der stimmungs vollen Enfemblescene des Osterfestes hielt sich auch der Chor recht brav. Der große Saal des Krollschen Etablisse ments war wieder vollständig ausverkauft. Zum Benefiz für den Chor findet übrigens am Montag eine Wiederholung der „Jüdin. mm Fr. Rosa Papier als Recha statt. Am Mittwoch singt die Künstlerin den „Orpheus“ noch einmal. Am Dienstag, den 1. Juli, beginnt die frühere Dperertensängetin Frl. Regina Klein ihr Gastspiel als Margarethe.“

Redacteur: Riedel. Verlag der Expedition (Scholi). Druck: W. El net. Fünf Beilagen

(einschließlich Börsen · Beilage)

Berlin:

Erste Beilage

zum Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischen Stants-Anzeiger.

M 150.

Berlin, Sonnabend, den 28. Juni

188 A.

Aichtamtliches.

Preußen. Berlin, 28. Juni. Im weiteren Ver— laufe der gestrigen (43. Sitzung des Reichstages begann das Haus die dritte Berathung des Entwurfs eines Gesetzes über die Unfallversicherung der Arbeiter.

In der Generaldiskussion erklärte der Abg. Rickert, er wolle die Streitfragen nicht alle noch einmal eingehend bier erörtern, sondern nur die wesentlichsten Punkte summarisch zusammenfassen. Nach der ersten Lesung sei keine Partei mit der Vorlage zufrieden gewesen, jede habe in Kardinalpunkten tiefgehende Aenderungen gewünscht. Nun habe man lange Zeit in der Kommission gearbeitet, und das Resultat sei die ziemlich unveränderte Annahme der Regierungsvorlage! Er verstehe es ja, wenn die Herren sagten, man müsse sich, um etwas zu Stande zu bringen, den Verhältnifen fügen, aber er wisse nicht, woher man die Berechtigung nehme, gegen Andere, welche die alten Grundsätze, die ein Theil der Wöajo⸗ rität jahrelang bekannt habe, nicht verlassen wollten, nun

die sehr billige Anklage zu erheben, als ob die Liberalen

nichts weiter könnten, wie negativ sein und unfruchtbare Opposition treiben. So habe in der bekannten Versammlung in Neustadt der Reichstagsabgeordnete Buhl erklärt, die frei sinnige Partei habe bisher ja auch denselben Standpunkt, wie die Nationalliberalen vertreten, aber nach seinen Erfahrungen in der Kommission glaube er, daß sie doch genug theoretische Gründe finden würden, um schließlich gegen das Gesetz zu stimmen. Wenn Jemand mit einer so vorgefaßten Meinung Über frühere Freunde an die Sache herangehe, so sei es kein Wunder, wenn derselve im Brustton der Ueberzeugung den— selben Standpunkt, den er früher mit seiner (des Redners) Partei vertreten habe, nun als arbeiterfeindlich oder vollstän— dig negativ hinzustellen suche. Er (Redner) meine, daß die neuen sozialpolitischen Ideen, auf Grund deren der Reichs— kanzler seine Politik aufbauen wolle, nirgends wo anders, als vom Liberalismus herstammten, und die Rechte habe am aller— wenigsten Veranlassung, gerade seiner Partei den Vorwurf zu machen, als ob sie für die Interessen der Arbeiter kein Her; hätte. Aus der liberalen Partei heraus sei im Jahre 1868 die Initiative zu dem Haftpflichtgesetz gekommen, und liberale Abgeordnete hätten zuerst Mängel des Haft— pflichtgesetzes hier betont und Abhülfe gefordert. Wäre das Haus seiner Partei gefolgt, so wären die Arbeiter bereits in dem Besitz der Wohlthaten, die die Rechte ihnen jetzt verschaffen wolle. Schon 1881 hätten die Fabrikanten 548 000 Arbeiter sür alle Unfälle versichert, also mehr als den vierten Theil; hätte man diese Entwickelung nur weiter gehen lassen und außerdem das Haftpflichtgesetz verbessert, so hätte man längst eine Versicherung gegen alle Unfälle auf dem Gebiete der freiwilligen Thätigkeit, die viel mehr leisten würde, als was jetzt nach langem Mühen dies Gesetz leisten werde. Der Abg. von Bennigsen, dessen Rücktritt vom politischen Leben wohl Niemand mehr bedauere als er, er bedauere ihn um so mehr, als er aus seiner Berliner Rede und den über die thatsächlichen Verhaältnisse gegebenen Ausführungen ersehe, daß derselbe den Dingen nicht mehr nahe genug stehe; er halte es überhaupt nicht für richtig, daß ein Führer einer Partei, der nach außen die Führung wieder ühernehme, nicht zugleich an der verantwortlichen Stelle im Parlament mitwirke. Hr. von Bennigsen habe in der Berliner Versammlung die durchaus nicht zutreffende Meinung übe die freisinnige Partei geaußert, daß sie es ablehne, den Staat mit seinem Rechtszwange Hülfe schaffen zu lassen. Es wäre doch sehr leicht, nachzuweisen, daß seine Partei auf anderen Gebieten und auf diesem den Zwang nicht ablehne. Habe seine Partei den Antrag Buhl micht gemeinschaftlich mit den Nationalliberalen eingebracht, nicht das frühere Hülfskassen⸗ gesetz beschlossen? Man sollte sich ein treueres Gedächtniß bewahren. Seine Partei habe kein Interesse gehabt an einem Kampfe mit den Nationalliberalen. Seine Partei habe es bei der Fusion ausdrücklich als Bedingung gestellt, daß dieselbe nicht einen solchen Kampf bedeuten solle. Kaum aber sei die freisinnige Partei ins Leben geruien, da sei die Hetze gegen seine Partei losgegangen und die Tonart, in der man in der Presse über seine Partei spreche, sei ein Beweis, daß man ein aufrichtiges Zusammengehen mit derselben nicht mehr wolle. Dann möge man sich nicht wundern, wenn seine Partei die Konsequenzen ziehen müsse. Das Verhalten der Rationalliberalen in der Unfallfrage bleibe immer noch unaufge⸗ flaͤrt. Wer die Politik des Reichskanzlers genauer verfolge, der wisse, daß derselbe an seinen Zielen mit eiserner Konsequenz festhalte, die Formen würden gewechselt und zerbrochen. So auf dem Gebiet der Finanzen und des Budgetrechts; die Beseitigung des Einnahmebewilligungsrechts und die Vermehrung der in— direkten Steuern im Zusammenhang damit. Auf dem Gebiet der Sozialpolitik fei das Ziel, den Staat als entscheidenden Regulator in die Erwerbsthätigkeit des Volkes einzuführen und die erwerbende Gesellschaft unter der Leitung des Staats— gewaltamtes zu organistren. Alle Unfallvorlagen hielten an der Beseitigung der Privatgesellschaften und an der Staats⸗ einmischung und dem Staatszuschusse in irgend einer Form fest. Seine Partei habe bisher mit den Nationalliberalen ge⸗ meinsam diesen Bestrebungen widerstanden; es scheine, daß seine Partei einen Theil ihrer früheren Kampfgenossen auf diesem Gebiet verlieren werde. Ohne daß es für die Jnter= essen der Acbeiter, denen auch seine Partei dienen wolle, nöthig gewesen sei, werde eine wohlthätige Privatversicherung zerstört, um eine unerprobte schwerfällige neue Genossenschaftsorganisation zu schaffen. Und um was handele es sich dabei? Von 109 Millionen Arbeitern sollten nur circa zwei Millionen versichert werden. Fur die Hälfte derselben sei bereits Vorsorge. getroffen. Um diese verhaäͤltnißmäßig kleine Aufgabe zu lösen, mache man, wie auch die Freunde der Vorlage anerkennten, einen Gang ins Dunkle, schaffe eine weitläufige Organisation, welche, wie auch der Minister anerkannt habe, nicht ausgedehnt ö könne, für die große Mehrzahl derjenigen Arbeiter, welche un⸗ versichert bleiben müßten. Man mache es also geradezu un; möglich, das zu erfüllen, was das sozialpolitische Programm an die Spitze stelle. Wie lange sollten die Arbeiter noch warten? Sie würden bald erkennen, daß ihnen auf dem Wege

werden durch einige philosophische Systeme.

der Liberalen schneller und besser geholfen worden wäre. Ab die Privatgesellichaften müßten beseitigt werden, und dies Tendenz habe sich das Andere anbequemt. Es s hier um den Anfang, um die erste Etappe auf dem Wege, um so mehr sollte man sich hüten, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Noch bei der ersten Lesung habe der Abg.

Buhl „ein entscheidendes Hauptgewicht“ auf die Erhaltung der Gegenseitigkeits Gesellschaften gelegt. Derselbe habe ge— sagt: „Das ware doch ein außerordentlich bedenkliches Moment, wenn man, um dem einen zu einer, wie er glaube, nicht besseren Versicherung zu verhelfen, dadurch vielen anderen die Versicherung unmöglich

machen würde.“ Ein schärferes Votum gegen das Gesetz, für das die Nationalliberalen jetzt stimmen wollten, könne es doch nicht geben. Dem Arbeiter wäre besser zu helfen ge— wesen. Jetzt solle die Entschädigung auf 662 Proz. herab— gesetzt und trotz anerkannten Bedürfnisses die Versicherung auf den größten Theil der Arbeiter nicht ausgedehnt werden. 95 Proz. der Unfälle wälze man auf die Krankenkasse, über— trage den Arbeitern die Last der Verwaltung und Abwickelung und außerdem 3 Millionen Mark, welche sie von Rechtswegen zu bezahlen hätten. Das Ungerechteste sei aber, daß die— jenigen zu diesen 3 Millionen beizutragen hätten, welche von den Wohlthaten des Versicherungsgesetzes ausgeschlossen seien. Das heutige Amendement beseitige diese Ungerechtigkeit nicht. Um in 4 bis 5000 Unfällen im Jahre die Entschädigungs— frage zu regeln, mache man für das Reich einen so kolossalen und schwerfälligen Apparat von Genessenschaften, die in allen Hauptsachen keine Selbstverwaltung hatten, sondern sich den Bestimmungen des Reichs-Versicherungs amtes unterwerfen müßten. Als Dekoration werde ein Arbeiterausschuß beige— geben, der, wie das anerkannt sei, nicht mitzureden und nichts mitzuthun habe. Man habe diese Gesetzgebung als erste Lösung der sozialen Frage ausgerufen, aber wie durftig sei in Wahrheit diese angebliche Lösung. Habe dem Hause doch der Abg. Kayser nachgewiesen, daß die Industrie, welche früher 12 Millionen aufgebracht habe, nunmehr 16 Millionen aufbringen müsse. Also um dieser 4 Millionen werde ein

Diese

derartiger Weg in ein unbekanntes Land beschritten!

Beseitigung der Konkurrenz der freien Versicherungen sei eine Fstappe zur Verstaatlichung aller Industrien, und wer dies zu

erkennen vermöge, der müͤsse sich auch zum Widerstand gegen eine Maßregel aufraffen, deren Quintessenz doch nur sei, daß der Staat, nachdem derselbe selbst versichere, nun alle Anderen verhindern wolle, selbst zu versichern. Redner bestritt, daß die Reichsgarantie nur ein „Ornament“ sei; diese Garantie werde sich zweifellos praktisch außern müssen; ferner widerstrebe es allen bisher in der Arbeiterwelt geltend gewesenen Grund— sätzen, daß die Arbeiter von den über ihre Angelegenheiten be— rathenden Ausschüssen ausgeschlossen bleiben sollten. Worin bestehe denn nun der Nutzen des Gesetzes? Dazu sei ein großer Theil der Unfälle auf die Krankenkassen abgewälzt worden! vertretung gegenüber der Thatsache, daß der Reichskanzler seine Hand auf einen Zweig der Privatthätigkeit gelegt habe, also einem so wichtigen Schritt in ein unbekanntes Land gegenüber, so leicht wie hier, ihr Recht aus der Hand gegeben habe. Man habe mit diesem Gesetz das Fundament zu einem sozialdemokratischen Staate gelegt, man habe den Anfang ge— macht mit einer staatlichen Zwangsorganisation eines hervor— ragenden Betriebes unter staatlicher Leitung; man habe die Unfallversicherung in einem Sinne geleitet, daß man den Arbeitern 3 Millionen mehr aufgelegt habe, als nothwendig gewesen sei, und das Letzte, aber nicht das Leichteste: man habe den Anfang mit der Vernichtung einer großen Privat— Erwerbsthätigkeit gemacht. Diesen Anfang wolle seine Partei nicht mitmachen und deshalb bitte er im Interesse einer ge— sunden sozialen Entwickelung des deutschen Volkes die Vor— lage abzulehnen.

Der Abg. Frhr. von Wendt erklärte, der größte Theil seiner politischen Freunde werde für die Beschlüsse zweiter Lesung stimmen. Er glaube, daß durch dieselben dem sozialen Elend und der Atomisirung der Arbeiterwelt entgegengewirkt werden könne. Freilich umfasse der Entwurf nur zwei Mil— lionen Arbeiter. Seine Partei sei aber davon ausgegangen, daß zunächst nur diejenigen Arbeiter zu treffen seien, welche vorzugsweise unter der modernen Entwickelung der Industrie zu leiden hätten. Der Gesetzentwurf unterscheide sich vortheil— haft von dem Haftpflichtgesetz. In den allerseltensten Fällen sei der Haftpflichtige dazu zu bewegen, ohne Mitwirkung der Gerichte dem Verletzten eine Entschädigung zu gewähren. Die jetzige Organisation werde auch sehr viel vortheil hafter sein, als die Aktiengesellschaften. Durch die organische Gliederung bei den Berufsgenossenschaften werde eine Milderung der Gegensätze zwischen Arbeiter und Arbeitgeber herbeigeführt werden können. Der Arbeiter solle nicht wie ein todtes Werk— zeug, wie eine zerbrochene Schraube weggeworfen werden. Es solle sich zwischen Arbeiter und Arbeitgeber ein Verhältniß der Nächstenliebe, gegründet auf die Anerkennung des moralische Werthes und der Dankbarkeit, herausbilden. Mit großer Freude habe das Centrum den Satz der Allerhöchsten Botschaft be— grüßt, daß der Staat allein der Fürsorge für den Schutz der Arbeiter nicht gewachsen sei, sondern daß es hierzu der Heran— ziehung aller realen Kräfte des Volkslebens bedürfe. Wenn nun auch dieser Zweck in der Vorlage nicht in vollem Um— fange erreicht sei, so sei doch wenigstens der Anfang gemacht, mit dem unheilvollen System der Staatsomnipotenz zu brechen. Man habe nicht ohne Weiteres staatliche Institute geschaffen, sondern eine organische Gliederung, wie sie das Handwerk zum Theil besitze. Alle diese Bestrebungen würden aber nichts nutzen, wenn sie nicht durch die Religion unterstützt würden. Der Abg. Bebel befinde sich in einem sehr großen Irrthum, wenn derselbe meine, daß man mit der Kirche leicht fertig werden könne, nachdem der Kapitalismus und die Bourgeosie besiegt sei. Die christliche Kirche sei nicht begründet auf die Geldfäcke der Bourgeoisie. Sie könne auch nicht überwunden Christenthum und Wissenschaft seien auch keineswegs , er meine aber die wahre Wissenschaft. Um die soziale Reform durch⸗ zuführen, sei es durchaus nothwendig, den realen Kräften des

oltelcbens volle Freiheit zu geben; deshalb verlange das Centrum die Freiheit der Kirche. Die Kirche predige

freiwillige Entsagung, Selbstlosigkeit, Nächstenliebe. Dadurch

allein könne der allgemeinen Schrankenlosigkeit auf allen Gebieten ein Damm entgegengesetzt werden. Daß diese Ziele nur langsam und vorsichtig erreicht werden könnten, liege auf der Hand. Er empfehle dem Hause nochmals die Annahme der Vorlage und warne dasselbe vor einer übereilten Annahm derjenigen Anträge, welche in der Kommission nicht gründlich geprüft seien.

Der Abg. Blos betonte, die segensreichen Wirkungen, die man sich von diesem Gesetz verspreche, würden ausbleiben. Wenn der Vorredner die Wissenschaft für sich in Anspruch nehme, so frage er denselben, welche Wissenschaft derselbe eigentlich im Sinne habe? Etwa die Theologie? Es heiße immer, die katholische Kirche könne alle sozialen Schaden ausgleichen und beseitigen. Dann sei die katholische Kirche aber schon sehr lange bei dieser Arbeit und Schäden seien dabei gewachsen, statt sich zu vermindern.

83 19:91 die sozialen

Cr Ver

Vorredner habe die Entsagung als das regierende Prinzip seiner Anschauungen hingestellt. Die Leute in den katholischen Gesellenvereinen seien ja politisch indifferent, weil sie künstlich von der Oeffentlichkeit ferngehalten würden; aber deshalb solle man doch nicht etwa meinen, daß man heutzutage noch eine wirthschaft— liche Gesetzgebung auf das Prinzip der Entsagung bauen könne. Uebrigens ließen die hauptsächlichsten Träger der ka— thelischen Bewegung es an ihrem Aeußeren nicht erkennen, daß sie am Prinzip der Entsagung hingen. Wenn ferner

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auch die Regierung behaupte, dies Gesetz sei erst der Anfang einer größeren Reformentwickelung, so lasse sich damit keines wegs der in diesem Gesetze bestehende Zwiespalt rechtfertigen, daß man einen Theil der Arbeiter versicherungspflichtig mache, den andern nicht. Daß man aber die Arbeiterausschüsse be⸗ seitigt habe, was hauptsächlich des Abg. Windthorsts Be— mühungen zu danken sei, das erkläre er als den schwersten in dieser Sache begangenen Fehler. Man habe die Arbeiter voll— ständig von jeder Mitwirkung bei der Unfallversicherung aus⸗ geschlossen, was weithin im Lande die größte Unzufriedenheit erregen werde. Mit den Berufsgenossenschaften andererseits babe man den Unternehmern eine großartige Waffe in die Hand gegeben, deren Wirkungen sich erst später zeigen wücden. Das ganze Gesetz sei nichts als ein weiterer Versuch zur Be— vormundung der Arbeiter. ige

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. t Eine recht merkwürdige Bestim— mung in der Vorlage sei die den Einzelstaaten eingeräumte Möglichkeit, auch für sich Versicherungsamter zu errichten. Wolle man damit etwa den Partikularismus begünstigen? Man werde nur neue Störungen in den an sich schon schwer— fälligen Apparat hineinbringen, den man durch dieses Gesetz konstituiren wolle. Solle denn auch z. B. der in seinem Wahl— kreise, dem Fürstenthum Reuß älterer Linie, regierende

ĩ ĩ ankenkasser Staatsmann, der bereits alle Ministerposten in seiner Person Noch nie habe er gesehen, daß ein Theil der Volks-

vereinige, sich nun auch noch mit der Unfallversicherung be— schästigen? Man habe überhaupt die Sozialreform von der verkehrten Seite angefangen. Die Versicherungsfrage treffe überhaupt nicht den Kern der heutigen sozialen Bewegun Für die Sozialdemokraten handele es sich um die ganzer Verhältnisse der arbeitenden Klassen. Wolle man die Sozial—

reform wirksam beginnen, dann führe man zunächst den Normalarbeitstag ein! Das vom Reichskanzler proklamirte Recht auf Arhleit werde ift schweben

lrhe z wohl in der Luf Im Volke fasse man die Sozialreform ar der ungerechten Vorrechte der besitzenden Kl möge die Regierung vorgehen, nicht aber, wie

der Vorlage der Fall sei, jene Vorrechte neu stärken und erweitern.

Der Abg. Dr. Buhl bemerkte, es sei zunächst nicht richtig, was der Abg. Rickert gesagt habe, daß die Gründung der deutsch⸗freisinnigen Fusion keine Feindseligkeit gegen die Nationalliberalen gewesen sei. Die Herren hätten gleich zuerst eine gemeinschastliche Reise in die Pfalz gemacht, um den dortigen nationalliberalen Wahlkreis zu erschüttern. Was dam die Organisationsfrage betreffe, so habe die Regierung zuerst eine monopolisirte Reichsanstalt vorgeschlagen, gegen welches Monopol ebenso wie gegen das noch schlechtere der Einzel— staaten seine Partei jeder Zeit entschieden Stellung genommen habe. In der gegenwärtigen Vorlage aber beschränke sich ja die Thätigkeit des Staates darauf, lediglich die Anleitung in der Regelung dieser ganzen Sache zu geben, und das wolle seine (des Redners) Partei. Man käme dann staatlichen Monopol zu dem von freisinniger Seite angeregten Versicherungszwang. Beim Erscheinen der jetzigen Vorlage hätten aber freisinnige Blätter, wie die „Volkszeitung“ und die „Ostseezeitung“ geschrieben, daß der Versicherungszwang mit der privaten Vereinsthätigkeit auf diesem Gebiet unver— einbar sei. Diese Blätter von der linken Partei hätten sofort die ganze Tragweite des Versicherungszwanges adoptirt. Für seine Partei sei die Zulassung der Pripatgesellschaften, die sie fakultativ habe gewähren wollen, keine fundamentale Frage, denn den Arbeitern könne es gleich sein, ob sie ihre bestimmt regulirten Entschädigungen von den Privatgesellschaften oder von den Genossenschaften erhielten. Besonders wichtig sei es seiner Partei aber jetzt, daß die verbündeten Regierungen nunmehr, wo die Privatgesellschaften beseitigt seien, sich mög— lichste Nühe geben würden, um denen, die um ihren ehrlichen Broderwerb bei dieser Gelegenheit gebracht würden, eine Ent— schädigung zu gewähren. Was die Frage des Reservefonds und des Umlageverfahrens betreffe, so erkläre die „Frank— furter Zeitung“, das Blatt des Abg. Sonnemann, noch am 24. Mai, daß ein Reservefonds von 40 Millionen eine halb— wegs solide Grundlage sei. Nun aber komme man zu einem Reservefonds von 48 Millionen im Minimum. Außerdem würden durch die Bestimmung, wie der Reservefonds geregelt sei, in den ersten 5 Jahren mit Zinsen etwa schon 40 Mil⸗ lionen aufzubringen sein. In einer derartigen Regelung des

19 23 Sinne

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Reservefonds liege wirklich ein vermittelnder Standpunkt zwischen dem, was er in der ersten Lesung befür⸗ wortet habe, und dem, was jetzt erreicht sei. Die

ganzen Ausführungen des Abg. Sonnemann über die geringe Belastung der Industrie in den ersten Jahren seien bei dem