1889 / 279 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 21 Nov 1889 18:00:01 GMT) scan diff

genossenschaften danach verfahren. n dem Bescheide einer Berufsgenossenschaft an einen Verletzten heißt es wörtlich: Sie haben sich an der Kreissäge die rechte Hand verletzt, in Folge des Unsells drei Finger verloren, während der Daumen und der Zeigefinger steif und unbrauchbar ge⸗ worden sind. Das Reiche⸗Versicherungs amt hat für solchen Fall eine Erwerbsfahigkeiteverringerung von 68 Proz. an⸗ enommen; auch wir nehmen diesen Satz an. Die große Ent⸗ ernung der Schiedsgerichte vereitelt die Mündlichkeit und Un⸗ mittelbarkeit der Beweisführung vor denselben. Die Ent⸗ scheidung erfolgt im Wesentlichen nach den Akten. Die Schieds⸗ gerichtsbezirke müßten kleiner sein. Wer giebt dem kleinen Mann die Mittel, um nach dem Ort des Schiedsgerichts zu reisen? (Ruf: Die Berufsgenossenschaft! Das ist nicht richtig. Mir sind Ent⸗ scheidungen bekannt, in denen die Berufsgenoss fan ausdrücklich es ablehnt, die Reisekosten zu ersetzen. Einzelne Arbeiter waren in so kläglicher Lage, daß sie nicht einmal den Brief zur Anmeldung der Berufung bei dem Schiedsgericht frankiren konnten. Wenn aber auch der Arbeiter vor einem Schieds— gericht erscheint, so wird er vor einem Kollegium, das seine Lebensverhältnisse nicht kennt, seinen Dialekt vielleicht nicht ganz versteht, in ganz fremder Umgebung seine Sache nur unsicher und mangelhaft vertreten. Bei kleineren Bezirken würde sich die Sache anders gestalten, namentlich auch die Individualität des Beschwerdeführenden mehr berücksichtigt werden können. Das frühere Gesetz gab dem unbemittelten Arbeiter wenigstens den Anspruch auf einen DOffizial⸗ anwalt. Die Belehrung, welche die Berufsgenossenschaft dem Arbeiter mit dem abweisenden Bescheide zukommen läßt, ist außerdem für ihn schwer verständlich und ohne Werth, wenn ihn nicht Jemand unterstützt. Manche Berussgenossenschaften haben den Vorschlag gemacht, man solle die Krankenkassen— vorstände in Anspruch nehmen, um dem Arbeiter bei Ver— folgung seiner Rechtsansprüche zu Dienst zu sein. Ein anderer Vorschlag ging dahin, die Gemeindebehörden damit zu betrauen. Ohne eine gesetzliche Bestimmung, ohne ausdrückliche Ver— pflichtung werden das die Gemeindebehörden in den meisten Fällen nicht thun. Mir sind wiederholt Fälle vorgekommen, in denen die Gemeindevorstände ihre Beihülfe abgelehnt haben. Von Seiten einzelner Berufsgenossenschaften wird obenein gegen die Gemeindebehörden zuweilen ein Ton angeschlagen, der sie verletzen muß. So heißt es z. B. in dem Amwortschreiben einer Berufsgenossenschaft an den Vorstand einer ländlichen Ge— meinde, daß derselbe bei genauem und verständigem Durchlesen des Unfallgesetzes die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen selbst gefunden hätte, und es sei ihm das Studium des Ge— setzes nur sehr zu empfehlen. Ein Wunder ist es wahr— haftig nicht, wenn unter solchen Verhältnissen die Ge— meindevorstände keine große Neigung haben, sich mit der Sache mehr als nöthig zu befassen. Die hohen Verwaltungs⸗ kosten der Berufsgenossenschaften treffen besonders hart die kleinen Leute. Unter 32 Hülfsanträgen von Beitrags— restanten, die kürzlich bei mir eingegangen sind, befanden sich solche von Zimmermeistern, Handwerkern u. dergl, denen es wirklich außerordentlich schwer wird, die Beiträge aufzubringen, welche weit mehr als die Klassen-⸗ und Kommunalsteuer zu⸗ sammen ausmachen. Früher mußten wir immer hören, daß das Mißverhältniß zwischen den Verwaltungskosten und Ent— schädigungssummen nach Eintritt des Beharrungszustandes schwinden werde. Die Entschädigungen sind nun allerdings gewachsen, aber auch die Verwaltungskosten. Wir hatten 1888 327 000 4M gegen 2 898 000 S½! Verwaltungskosten im Jahre 1887; das Plus fällt nur zum kleinen Theil auf die neu hinzugekommenen Serunfalls⸗ und Tiefbau⸗Berufsgenossen⸗ schaft. Auf den Kopf des versicherten Arbeiters kamen 1888: 4 , 1886: nur 67 3, und auf 10090 6 anrechnungsfähige Löhne fielen 1886: 104 M, 1887: 1,21 66, 1888: 1,22 St Verwaltungstosten. Dazu kommen auch die Kosten der Unfall- untersuchung, der Entschädigungsberechnung, der Schieds— gerichte, der Unfallverhütung, der Gemeindebehörden, der Post, des Reichs-Versicherungsamts, und außerdem die große Fülle der ehrenamtlichen Funktionen. Es ist unglaublich, wie theuer die Berufsgenossenschaften wirthschaften. An Beamten— gehältern wurden 1886: 1118000 MS, 1887: 1489 000 , 1888: 1 15623 M66 gezahlt, die Steigerung im Jahre 1888 gegen 1887 um 226 000 ÿt muß zum Nachdenken auffordern. Für. Drucksachen und Bureaubedürfnisse wurden 1886: 290 00 09. 1887: 271 000 4 und 1888: 344500 M g braucht. Das Organ der deutschen Eisenindustrie „Stahl und Eisen“ sieht den Hauptschaden in der Organisation der Berufsgenossenschaften, das verbrauchte Papler rechne nicht mehr nach Centnern, sondern nach Waggonladungen. Bei der sächsischen Textilberufs Genossenschaft betragen die Ver— waltungskosten per Kopf der versicherten Personen allerdings nur 23 5, bei der Berufegenossenschaft der Schornsteinfeger dagegen 4 6 1 3. Diese Berufsgenossenschaft hatte nur für 20 Personen Entschädigungen zu zahlen, und braucht dafür an Verwaltungskosten 23 299 M6, für Gehälter allein 9895 Wie denkt der Abg. Metzner darüber? Bei der Müllerei⸗ Berufsgenossenschaft betrugen die Verwaltungskosten 2.35 ( pro Kopf der Versicherten, bei der Fuhrwerks-Berufsgenossen⸗ schaft 259 S6 Hierin muß Abhülfe geschaffen werden. Man kann die Unfallversicherung viel, viel billiger einrichten, wir haben das selbst in der Hand. Die gewerblichen Berufs— genossenschaften weisen 3 27709090 6 Verwaltungskosten auf, die landwirthschaftlichen nur 269 387 66 für drei Vierteljahre, also etwa 360 000 ½½ für das ganze Jahr. Danach kommen bei den aandwirthschaftlichen Berufsgenossenschaften auf den Kopf der Versicherten nur 7 , bei den gewerblichen dagegen 74 . Ist da noch die berussgenossenschaftliche Srganisation über- baupt aufrecht zu erhalten? Es liegt mir völlig fern, den in den Berufsgenossenschaften thäötigen Männern einen Vorwurf zu machen, auch nicht dem Reichs-Versicherungsamt. Dieses fungirt im Gegentheil in durchaus anerkennenswerther Weise und hat diese schwierige neue Materie in vorzüglicher Weise bearbeitet. Es ist auch ein populäres Amt, es erfreut sich eines außerordentlichen Ansehens, namentlich bei den Arbeitern. Das ändert aber an dem Mißgriff in der Organisation selbst nichts. Unsere ganze soziale Gesetzgebung ist ja nichts Anderes als ein Experiment, das auch verunglücken kann. Dann ist es die höchste Zeit, den Mißgriff wieder gut zu machen, je eher desto besser.

Staatssekretär Dr. von Boetticher: Eine Novelle zum Lrankenkassengesetz war allerdings bereits in der vorjährigen Tkronrede in Aussicht gestellt-; weshalb dieselbe in der letzten Session nicht vorgelegt ist, bedarf hier keiner weiteren Er— lärung. Wir haben bis Ende Mai mit der Alters- und JIrvalidenvpersicheung zu thun gehabt, und ich glaube kaum, daß auf irgend „einer Seite dieses Hauses die

Vorwurf, daß schablonenmäßig nach einem Tarif die Ent—

monate mit der Berathung der Krankenkassennovelle auszufüllen. Es hängt das damit zusammen, daß die wichtigen Aufgaben, die diese Session beschäftigen, vollauf ausreichen, um die kurzen Lebenstage, die der Reichstag noch hat, auszu⸗ füllen. Die verbündeten Regierungen verdienen also keinen Vorwurf, wenn sie bisher mit der Vorlage gezögert haben. Die Novelle ist aber ausgearbeitet und wird rächstens an den Bundesrath und zur öffentlichen Kenntniß geblacht werden. Der Abg. Baumbach kann dann ja mit der Kritik vorangehen. Wenn der Abg. Baumbach meint, die Berufsgenossenschaften hätten sich gar nicht bewährt, so bin ich heute wiederum in der günstigen Lage, mich diesem Urtheil gegenüber auf das Urtheil einer seiner . berufen zu können, welcher im vorigen

ahre gesagt hat: Die Berufsgenossenschaften leisten das will ich anerkennen ganz Gutes. So un⸗ getheilt wird also das verwersende Urtheil des Abg. Baumbach über die Berufsgenossenschaften nicht bleiben. Nach meiner Meinung hat sich die berussgenossenschaftliche Organi⸗ sation nicht nur durchaus bewährt, sondern sie ist auch so billig, daß keine Privatgesellschaft sich bezüglich der Kosten an die Seite der Berufsgenossenschaften stellen kann. Ich übergehe die Einzelheiten, mit denen der Vorredner nach— zuweisen sucht, daß nicht Alles bei unserer berufsgenossen⸗ schaftlichen Organisation und bei der Handhabung der Geschäfte in Ordnung sei. Es verstehe sich ganz von selbst, daß ein neues Institut sich erst einleben und einarbeiten muß. Unregelmäßigkeiten und Widersprüche, die der Hr. Abg. Baumbach anführte, braucht er nicht nur im Kreise der berufsgenossenschastlichen Verwaltung zu suchen, er kann sie bei allen möglichen Behörden auch in seinem engeren Vaterlande finden. Glaubt der Abg. Baum—⸗ bach wirklich, daß, wenn in den Kreisen der Berufs⸗ genossenschaften es grobe Menschen giebt, daraus irgend ein Grund abgeleitet werden kann, um die einmal gewählten und bewährten Organe zu ändern? Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Wenn der Beamte, dem Seitens des Berufsgenossenschaftsvorstandes eine Grobheit zu Theil geworden ist, Haare auf den Zähnen gehabt hätte, so hätte er darauf geantwortet, wie es sich darauf gehört; aber nun zu sagen, weil die Berufsgenossenschaftsvoerstände grob schreiben, muͤssen wir die Berufsgenossenschaften abschaffen, das geht über mein Verständniß. Nun soll ein Tarif schablonenmäßig bei der Festsetzung der Renten angewendet werden, wonach der Verlust bestimmter Glieder einen bestimmten Prozentsatz der Erwerbs⸗ fähigkeit ausschließt. Ein solcher Tarif besteht offiziell nicht, und wenn eine Berufsgenossenschaft oder ein Schieds⸗ gericht sich auf einen solchen Tarif berufen hat, so ist das lediglich eine mißverständliche Generalisirung einer ein—⸗ zelnen Entscheidung des Reichs-Versicherungsamts, die von diesem niemals beabsichtigt ist. Ich unterschreibe Wort für Wort die Anerkennung, die der Vorredner dem Reichs-Ver⸗ sicherungsamt gezollt hat, damit ist ganz unvereinbar der

schädigungen festgesetzt werden. Die Sache liegt anders, die Entschädigungen werden nach der Individualität des Falles und der Lage der Verhältnisse des zu Entschädigenden abgemessen. Das Reichs⸗Versicherungsamt ist weit davon entfernt, z B. zwei Leute, die beide den Arm verloren haben, gleichmäßig zu behandeln, wenn der Eine ein junger Mann ist, der nebenher mit dem einen Arm noch etwas verdienen kann, und der Andere ein alter Mann, der vollständig verdienstlos dasteht. Ich habe das Bedürfniß, zu verhindern, daß diese irrigen An— schauungen über die Rechtsprechung des Reichs-Versicherungs—⸗ amtes sich im Lande festsetzen. Nun sollen die Verwaltungs⸗ kosten fortgesetzt steigen und außer Verhältniß stehen mit dem Nutzen der ganzen berufsgenossenschaftlichen Organisation. Ich bestreite diese Behauptung und die Berechnungen des Vorredners positin. Allerdings ergiebt sich aus den vor— liegenden Nachweisungen über die Verwaltungskosten der Be— rufsgenossenschaften während des Jahres 18858, daß im Ge— sammtresultat sich diese Kosten nur um 1 pro Kopf der Versicherten ermäßigt haben. Sie sind von 75 5 in 1887 auf 14 in 1888 herabgestiegen: diese Herabminderung ist gewiß außerordentlich klein. Rechnet man auf Grund von je 1000 6 anrechnungssfähigen Löhnen, so hat sogar für 1888 die Verwaltung einen Mehraufwand erfordert. Denn während die Verwaltung 1887 nach dieser Rechnungsmethode pro Kopf 121 (6 erfordert hat, ist der Bedarf in 1888 auf 1,32 6 ge⸗ stiegen. Aher Sie erfehen aus den Nachweisungen, daß viele Berufsgenossenschaften ihr eigenes Interesse darin gefunden haben, daß sie auf eine Herabminderung der Verwaltungs— kosten bedacht gewesen sind. Allein 32 Berufsgenossenschaften haben 1888 eine billigere Verwaltung als 1887 gehabt, und ich zweifle nicht, daß, nachdem selbst die Schornstein— feger, die so hohe Verwaltungskosten haben, auch schon dazu übergegangen sind, eine recht ansehnliche Ermäßigung der Kosten herbeizuführen, auch die sanimtlichen Berufsgenossen— schaften mit der Zeit zu einer Ermäßigung kommen. Die Selbstverwaltung bringt es mit sich, daß den Behörden, welche die Leitung der Unfallversicherung haben, eine Einwirkung auf die spezielle Verwaltung der einzelnen Berufs— genossenschasten nicht zusteht. Wir können den Vor— ständen derselben nicht verbieten, mehr Beamte zu halten, als erforderlich ist, oder Zeitschriften und Publikationsorgane herauszugeben, die Berufsgenossen⸗ schaften müssen selbst den Vorständen anheimgeben, billiger zu wirthschaften. Aber selbst wenn Sie die Resultate von 1888 noch nicht für günstig ansehen, so stellen Sie doch einen Ver⸗ gleich zwischen diesen Resultaten und denjenigen bei den Privat⸗ Unfall versicherungsgesellschaften an, die uns seiner Zeit immer als Eldorado empfohlen wurden. Bei uns kostet die Ver⸗ waltung pro Kopf 74 5. Wenn Sie diese Verwaltungskosten in das Verhältniß zu der Prämie setzen, die erfordert wird, wenn Sie die gewährten Entschädigungen aufbringen wollen, so ergiebt sich, daß die Verwaltungskosten in Prozenten der Bruttoprämie betragen haben 1886 7966 Proz., 1887 8-83 Proz, 1888 8, 5 Proz. Die Steigerung in 1837 und die verhältnißmäßig no nicht sehr günstige Herab⸗ minderung in 1888 hängt damit zusammen, daß die Revision der Gefahrentarife in diesem Jahre einen besonderen Aufwand an Verwaltungskosten erforderlich gemacht hat. Nun vergleichen Sie mit diesen Zahlen die Ver⸗ waltungskosten der Privatgesellschaften, welche die Unfall— versicherung betreiben. Beispielsweise hat die Aktiengesellschaft Rhenania“ einen Prozentsatz von 17,ů 19, die Magdeburger Allgemeine Versicherungs⸗Aktiengesellschaft einen von XT, 62, die S lesische . mit Unfallbranche einen von 25,70, die Schweizer Versicherungs zesellschaft in Winter⸗

Geneigtheit bestanden haben würde, die schönen Sommer—

in Zürich einen von 32, 80, und eine junge Gesells die Kölnische Unfallversicherungsgesellschaft einen Proʒentsa von 44 gehabt. Wir können 4 nicht entfernt zugest daß unsere Organisation Fiasko gemacht hat, im Gegenthe wir sind zu der Behauptung berechtigt, daß unsere Or sation die billigste ist, die es überhaupt giebt. Damit will; keineswegs verkennen, daß das Unfallversicherungsgesetz auch n manchen Richtungen hin einer Korrektur bedarf. Wir sind von H aus gar nicht darüber zweifelhaft gewesen, daß wir nichl daz absolut Beste geschaffen haben. Befanden wir uns doch au

Korrektur uns offen halten mußten. Wir sind nach wie vor zu dieser Korrektur bereit. Die Klagen, die bis jetzt über da; Unfallgesetz erhoben worden sind, sind bei uns een fr ge prüft worden. Ich kann aber nicht zugeben, daß in diesen Moment schon eine genügende Veranlassung vorläge, mit dieser Korrektur vorzugehen. Ich halte es vielmehr für besser, daz wir noch einige Jahre warten, um eine ausgiebigere Erfal⸗ rung über den Werth oder Unwerth der von uns getroffenen Bestimmungen zu erlangen. Es könnte dann eine umfassende Revision eintreten. Nun komme ich noch einmal auf da; gestern besprochene Thema zurück. Wir können uns jetzt unmöglich eingehend über die Gestaltung unserer Unfallversicherungs⸗Gesetzgebung unterhalten bei diefer Etatsberathung. Es wird ja Zeit und Gelegenheit sein alle Ihre Klagen los zu werden, und wir werden sie eingehen prüfen. Was soll es helfen, jetzt beim Etat des Reichsamt des Innern ex Pprofesso diese Materie zu behandeln? Iz möchte deshalb dringend davon abrathen, diesen Gegenstan; noch eingehender zu erörtern. .

Abg. Singer: Diesem Wunsche kann ich leider nicht Folge geben. Einmal entspricht es dem parlamentarischen Usus, bei der Etatsberathung die Wünsche und Beschwerden weiter Volkakreise hier zum Ausdruck zu bringen, und dann geben mir gerade die Ausführungen des Herrn Staatz sekretärs Anlaß zur Replik. Die verbündeten Regierungen haben in der vorigen Session die Krankenkassennovelle nich vorgelegt, um uns nicht die schönen Sommermonate zu rauben. Ich habe nicht nöthig, für meine Partei das auf das Ent— schiedenste zurückzuweisen. Bei so weit iragenden Interessen dar das Volk von seinen Vertretern verlangen, auch ein paar Sommer. monate sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, und wenn man uns auch in dieser Session damit nicht belasten will, weil der Reichstag mit den vorliegenden Gesetzen vollauf beschäftigt sei so entnehme ich daraus die interessante Thatsache, daß di⸗ verbündeten Regierungen nach der Auffassung des Hrn. von Boetticher das Maß ihrer Arbeiterfreundlichkeit und der Fort. entwickelung der Arbeiterschutzgesetzgebung mit der Vorlage des ö erfüllt glauben. Ich habe mich aber doch gefreut, daß der Staatssekretär prinzipiell einer Revision des Unfallgesetzes nicht entgegen ist. Vielleicht dienen meine Aut führungen dazu, diess Revision zu beschleunigen. Auch ich möchte den Arbeitern die Vortheile der Uebergangsbestimmungen det Alters- und Invalidengesetzes zuwenden. Ich glaube, die Arbeiter sind bisher deswegen so lau gewesen, weil sie erst die Aus, führungsbestimmungen des Bundesraths und damit daz eigentliche Inkrafttreten des Gesetzes abwarten wollten. Ich und mein Freund Bebel haben darauf hingewiesen, daß es die Pflicht jedes demnächst zu Versichernden sein wird, sich die Vortheile der Uebergangsbestimmüngen zeitig zu sichern, und wenn Hr. Klemm in dankenswerther Weise auf das lebendige Wort hingewiesen hat, so möchte ich ihn nur bitten, seinen Einfluß geltend zu machen, daß die Versamm— lungen der sozialdemokratischen Partei, welche zur Instruktion über dieses Gesetz einberufen werden, nicht verboten werden. In Sachsen hat man mehrfach solche Ver— sammlungen als unter das Sozialistengesetz fallend be— handelt. Ueber die Entscheidungen der Berufsgenossenschaften, soweit sie sich in den Sektions vorständen und Schiedsgerichten 5 machen, wird in Arbeiterkreisen lebhafte Klage geführt.

elbst das Reichs-Versicherungsamt, das in den ersten Jahren mehr zu Gunsten der Arbeiter entschied, ist jetzt den Bestre— bungen der Arbeitgeber zugänglicher. Es ist auch nicht zu— fällig, daß man beim Alters- und Invalidengesetz die Wirk— samkeit des Reichs-Versicherungsamts gegenüber der Unfallã versicherung erheblich eingeschränkt hat. Man klagt, daß die Urtheile der Sektionsvorstände und Schiedsgerichte über das Maß der Erwerbsunfähigkeit außerordentlich rigoros zu Gunsten der Unternehmer (usfallen. Ob von oben her bestimmt oder nicht, thatsächlich hat sich in den Entscheidungen der unteren Organe eine, wie schon der Abg. Dr. Baumbach sagte, schablonenmäßige Rechtsprechung eingebürgert, welche die Rente festsetzt nach dem Maß von Erwerbs— unfähigkeit, welche man für den Verlust ganzer Glied— maßen für richtig hält. In den letzten Jahren hat man auch den Versuch gemacht, nachzuweisen, daß der Tod eines durch Unfall Verletzten, wenn er später erfolgt, in keinem Zusammenhaag mit dem Unfall steht, sondern die Folge einer früheren Krankheit ist. Dieser Versuch ist in sehr vielen Fällen zu Gunsten der Anschauung der betreffenden Behörde ausgefallen. Diese Anschauung widerspricht dem Sinne und Geiste des Gesetzes. Sehr wünschenswerth wäre eine getrennte Buchung der Unfälle der Lohn— arbeiter und Akkordarbeiter. Die Frage der Zulässig— keit der Akkordarbeit ist noch nicht abgeschlossen. Viele Arbeiter bezeichnen die Akkordarbeit drastisch als Mord— arbeit. Jedenfalls giebt die übermäßige Ausbeutung der Akkordarbeit die Veranlassung zu einer Schädigung der Ge— sundheit der Akkordarbeiter und zu einer Vernachläfsigung der Vorschriften bezüglich der Versicherung der Arbeiter. Es wären Anordnungen des Reichs-Versicherungsamts sehr er— wünscht, welche die Möglichkeit der Ermittelung gewährten, wie viel Unglücksfälle bei Akkordarbeit, wie viel bei Stunden—⸗ arbeit vorgekommen sind. Die ganze Schädlichkeit der Akkord⸗ arbeit würde dabei hervortreten. Es wäre ferner erwünscht, die Auffassung der Regierung zu hören, wie diejenigen Sol⸗ daten, die zur Zeit der Strikes von ihren Vorgesetzten u, Arbeiten kommandirt werden und dabei einen Un— . erleiden, behandelt werden. Die Berufsgenossen⸗ chaften brauchen ihnen keine Entschädigung zu zahlen, und Militärarbeiter im Sinne des Gesetzes sind sie auch nicht. Für eine schleunige Revision des Krantenkassen⸗ Eier. spricht auch die Thatsache, daß gegenwärtig, wo die rankenkassen während der ersten 13 Wochen die Entschädigung zahlen sollen, oft, da das Heilverfahren früher beendet ist, weder diese noch die 3, , , . eine wirkliche Ver⸗ pflichtung haben und die etroffenen in der Zwischenzeit keine Entschädigung erhalten. Eine Entscheidung Reichs⸗ Versicherungsamts besagt ferner, daß es weder dem Wortlaut

thur einen von 30562 die Schweizer Versicherungsgesellschaft

noch dem Sinne des Unfallversicherungs gesetzes entspricht,

einer terra incognita, wo wir versuchsweise vorgehen und ein.

daß die Unfallrente als ein Theil des Arbeitsverdienstes zu betrachten sei. Der Sinn des Gesetzes ist aber ein anderer. Jemand erhielt nach einem Unfall eine Rente von 60 Proz, konnte er trotzdem noch in einem anderen Berufe 300 = 400 M6 erwerben. diesem wurde er bald darauf durch einen wiederholten Unfall getödtet und es entstand die Frage über die Höhe der an die Wittwe und die Kinder zu zahlenden Rente. Es wurde entschieden, daß der Anspruch nur nach dem letzten Arbeitsverdienst zu be⸗ rechnen sei, nicht auch nach der daneben bezogenen Rente. Dadurch bekam aber die Wittwe jetzt weniger, als wenn ihr Mann bei dem ersten Unfall getödtet worden wäre. Solche Entscheidungen können nur Erbitterung hervorrufen. In Chemnitz sollen nach den Fabrikinspektor n-Berichten Unter⸗ nehmer einzelne Maschinen an Arbeiter vermiethet haben, um den Lasten der Unfallversicherung zu entgehen. Der Bericht weist darauf hin, daß diese Arbeiter zur Selbstversicherung getrieben würden, die aber in dem Unfallversicherungs⸗ gesetz noch nicht vorgesehen sei. Man weiß nicht, ob man sich über den kleinlichen Egoismus der Arbeitgeber oder über die Naivetät der Arbeiter mehr wundern soll. Hier sollten doch Strafbestimmungen die Wiederkehr solcher Manipulationen verhindern. In dem Bericht eines bayerischen abrikinspektors findet sich ein Fall, der in dem zu— . Generalbericht nicht steht. Es wird elegentlich einer Besprechung über die Lohnform und i fn mitgetheilt, daß in einer Fabrik die Aus— zahlung der Lohne so erfolgt, daß das Geld in einer Büchse oder in Papier eingewickelt zugleich mit einer Abrechnung verabfolgt wird, in welcher den Arbeitern die durch die Kranken- und Unfallversicherung für den Arbeitgeber ent⸗ andenen Beiträge abgezogen werden. Der Fabrikinspektor cheint merkwürdigerweise die Sache für richtig zu halten, denn er hat kein Wort des Tadels für dieses ganz gesetzwidrige Verfahren. So lange Strafbestimmungen fehlen, werden sich solche Fälle wiederholen. Eine Revision des Krankenkassen— gesetzes ist also in kürzester Frist nothwendig.

Vom Abg. von Kessel wird ein Antrag auf Schluß der Diskussion gestellt, worauf Abg. Schmidt (Elberfeld) die Beschlußfähigkeit des Hauses bezweifelt. Da der Antrag die genügende Unterstützung nicht findet, wird die Diskussion fortgesetzt. . .

Abg. Gebhard: Ich möchte es nicht so apodiktisch aus⸗ gesprochen sehen, daß die Beglaubigung der Unterschrift der Arbeitgeber allein genügen soll, um die Vortheile der abge— kürzten Wartezeit bei dem Iwaliditätsgesetz möglich zu machen. Bis zu einem gewissen Grade müßten die Behörden auch von dem Inhalt der Bescheinigung Keantniß nehmen. Das münd⸗ liche Wort wird immerhin zur Aufklärung der Arbeiter viel thun können, und alle Parteien sollten sich das angelegen sein lassen. Bei meinem absprechenden Urtheil über das ABC⸗Buch habe ich nicht an die von den Abgg. Singer und Bebel verfaßte Schrift gedacht, obwohl diese auch einige Unrichtigkeiten, wenn auch nicht ab⸗ sichtliche, enthält. seine Abneigung richtet sich gegen das AlMl⸗-Buch für freisinnige Wähler, dessen lügenhaste Dar⸗ stellung des Inhalts des Invaliditätsgesetzes schädlich auf Diejenigen wirken muß, deren Interessen wahrzunehmen wir berufen sind. Es sind geradezu Fälschungen in dem Buch vorhanden. So enthält dies edle Drucweik auf S. 117 die Bemerkung, daß das Gesetz sich darauf beschränke, den Wittwen und Waisen die Hälfte der von ihrem Ernährer früher ge⸗ zahlten Beiträge zurückzuerstatten. Das nennt man auf Deutsch eine Lüge! Nicht die Hälfte, sondern die Ge— sammtheit der Beiträge wird zurückerstattet. Auf S. 116 wird erzählt, daß der Geselle, der später Meister wird, jeden Anspruch auf die gezahlten Beiträge verliere, wenn er fortan nicht das Dreifache der his— herigen Beiträge weiter zahle. Auch das ist unrichtig. Nach §. 17-132 des Gesetzes genügt es, die Ansprüche sich zu er— halten, wenn der Betreffende in einem Jahre 12 Wochen, in 4 Jahren 47 Wochen Beiträge zahlt und diese Beiträge steigern sogar die Rente. Solcher Unrichtigkeiten giebt es eine anze Reihe in dem Druckwerk. Ich acceptire das Urtheil des

bg. Dr. Baumbach von der Vortrefflichkeit der Kartellpresse, aber die Berichtigung dieser falschen Angaben sollte die Art von Presse übernehmen, die für ihre Verbreitung sorgt. Alle, die sich für die Sache interessiren, mögen sich deshalb angelegen sein lassen, durch mündlichen Vortrag und sonst diese irrigen Anschauungen zu beseitigen und dadurch beizutragen, die wohl⸗ thätigen Wirkungen des Gesetzes voll und ganz zur Geltung zu bringen. ö . =

Abg. Richter Gur Geschäftsordnung): Ich möchte den Antrag stellen, das ganze A⸗B⸗C einmal auf dee Tages- ordnung zu setzen, um nachzuweisen, daß Hr. Gebhard das ganze Buch nicht kennt. .

Abg. Schmidt (Elberfeld) Der Abg. Gebhard hat nur zwei Punkte aus dem ABC-Büch als unrichtig angeführt, der erste betrifft lediglich einen Druckfehler. Wer den Artikel durchgelesen, weiß, daß an der Stelle richtig gesagt ist, daß die Hälfte der gesammten Beiträge zurück— gezahlt werden muß. Dann hat der Abg. Gebhard gemeint, es sei falsch, wenn an einer Stelle gesagt ist, daß der selbftändig werdende Geselle das Dreifache seiner bisherigen Beiträge zu zahlen hätte, wenn er bei der Versicherung bleiben wolle. Dies bezieht sich nicht auf dauernde, sondern auf vorübergehende Verhaltnisse. Der, Abg. Gebhard verschweigt dabei, daß diese Bestimmung zwei Seiten weiter aufgeführt ist. Der Ausdruck „lügenhafte Darstellungen scheint darauf berechnet, die Hörer hier und außerhalb zu beeinflussen. Uebrigens versichere ich Hrn. Gebhard und auch Hrn. Geibel ausdrücklich, daß das ABC-Buch der Schrift dieser Herren keine Konkurrenz macht. Der Verband der deutschen Berufsgenossenschaften ist ohne jede Bedeutung und nur von einigen strebsamen Leuten ins Werk gesetzt, um dem - Centralverband deutscher Industrieller Konkurrenz zu machen. Dieser Versuch ist allerdings auf das Kläglichste gescheitert. Die Organisation unseres Versicherungs⸗ wesens wird auf die Dauer nicht aufrecht erhalten werden können wegen der Mängel, die ihm an sich anhaften, wegen der verschiedenartigen Gliederung desselben, wegen der hohen Kosten und der großen Lücken zwischen den einzelnen Versiche⸗ rungegesetzen. Es wird eine einheitliche Organisation ge⸗ schaffen werden müssen, und ich fürchte allerdings, daß die Invalidenversicherung mit ihrer bureaukratischen Organisation alles Andere verschlingen wird. Der Abg. Br. Baumbach hat nicht bestritten, daß die Berufggenossenschaften Gutes leisten, er hat nur die Organisation bekämpft. Was den Unfall⸗ tarif betrifft, fo kann ich versichern, daß, wo die Seltions⸗ vorstände über die Sache entscheiden, die Anwendung solcher

Tarife mißbräuchlich ist. Ich bedauere das lebhaft. Wenn der Staatssekretãr von Boetticher die bekannten 74 3 Ver⸗ waltungskosten pro mit den Kosten der Privat⸗ versicherungen verglichen hat, so hat er damit die unbekannten Kosten, welche den Gemeindebehörden, der Reichspost u. s. w. entstehen, außer Acht gelassen. Sonst würde ein viel größerer Prozentsatz herauskommen als bei den Privatgesellschaften. Alle diese Erörterungen gelegentlich des Etats sind nicht bloß berechtigt, sondern nothwendig und nützlich für die Korrektur des Gesetzes, die ja auch nach der Meinung des Herrn von Boetticher nicht ausbleiben könne. ö.

Hierauf wurde die Debatte geschlossen.

Abg. Krober (zur Geschäftsordnung): Ich konstatire ausdrücklich, daß, obwohl die Vorstände der Berufsgenossen⸗ schaften hier so hart angegriffen worden sind, mir als Vorstand einer Berufsgenossenschaft nicht Gelegenheit gegeben worden ist, auf diese Ausführungen zu antworten.

Die Ausgaben für das Reichs-Versicherungsamt werden bewilligt, ebenso der Rest der ordentlichen Ausgaben (physikalisch⸗ technische Reichsanstalt).

Bei den „Einmaligen Ausgaben“, und zwar bei dem Kapitel Ausgaben für den Nord-Ostseekanal“ be⸗ merkt Abg. Dr. Ling ens, daß er selbst an Ort und Stelle sich von der Vortrefflichkeit der für die Kanalarbeiter getroffenen Einrichtungen überzeugt habe. Die Verpflegung in den Baracken geschehe zur vollsten Zufriedenheit der Arbeiter, wenn auch mit einem nicht unbedeutenden Defizit der Verwaltung. Es sei den Maßnahmen der Verwaltung zu danken, daß regel⸗ mäßig gearbeitet wird, daß ein Verbleiben der Arbeiter erzielt worden ist und die Arbeiter jetzt auch zu sparen angefangen; in vierzehn Tagen seien in einem Bezirk von zwei Bau⸗ ämtern 17000 MS erspart worden. Auch den religiösen Be— dürfnissen sei Seitens der Verwaltung entsprochen worden. Allerdings seien die 12009 4ÆSÆ, die zur Hälfte für Katholiken, zur Hälfte für Evangelische durch den Staatssekretär von Boetticher bewilligt worden seien, etwas langsam zur Auszahlung gelangt. Von Seiten der Reichs— verwaltung sei das Entgegenkommen nicht versagt worden; weniger könne das von der Vertretung der katholischen Inter⸗ essen in Preußen gesagt werden. Redner wünscht, daß für einen würdigen Gottesdienst gesorgt werde durch Beschaffung geeigneter Räumlichkeiten. Das Bischen, was bereits hierin geschehen sei, habe bewirkt, daß die katholischen Arbeiter gern da bleiben. Geeignete Räume für leichte Kranke seien die Baracken; für Schwerkranke seien zwei Lazarethe da. Er müsse aber den in der vorigen Session geäußerten Wunsch wiederholen, daß zur Tröstung wenigstens der Schwer— kranken graue Schwestern zugelassen würden. Es müßten auch solche Einrichtungen getroffen werden, daß bei Unfällen, die bei solchen Unternehmen nicht zu vermeiden seien, die zu operirenden Kranken möglichst an Ort und Stelle operirt werden können. ; .

Abg. Graf von Holstein entwirft auf Grund der Ein— drücke, die er bei einem Besuch des Kanalbaues erhalten habe, ein eingehendes Bild von der technischen Seite der Arbeiten und kommt außerdem zu dem Schluß, daß keinesfalls, wie man behauptet habe, die Bauloose zu klein seien. Im Gegen⸗ theil können bei einem so kolossalen Unternehmen die Arbeiten nur gefördert und ein Gewinn für die Unternehmer erzielt werden, wenn die Loose groß seien. Die Einrichtungen für die Arbeiter seien in jeder Beziehung vortrefflich und habe sich ein gutes Verhältniß zwischen Arbeitgebern und Arbeitern herausgebildet. Nirgends sei für die Arbeiter so vortrefflich gesorgt, wie bei diesem Werk. ö

Abg. Singer: So vortrefflich sind die dortigen Ver⸗ hältnisse denn doch nicht. Es wird über das Essen geklagt und über die Preise der Lebensmittel. Ueber das gute Ver— hältniß zwischen Arbeitgebern und Arbeitern freue ich mich, über die Antwort, die der Abg. Dr. Lingens von einem Ober⸗ beamten bekommen, es würden dort lauter Sozialdemokraten be⸗ schäftigt, freue ich mich doppelt; freilich könnte in solchen Fragen der Hinweis erblickt werden, es möchten Sozialdemokraten nicht beschäͤftigt werden. Daß dem nicht so ist, ist vielleicht dem Einfluß des Staatssekretärs zuzuschreiben, der im vorigen Jahre mitgetheilt hat, daß er den in dem Vertrage siehenden Ausschluß sozialistischer Arbeiter daraus ent— fernt habe, ein drastischer Beweis dagegen, daß die Sozial⸗ demokraten keine fleißigen Arbeiter sind und sich nur durch Agitation gegen ihre Arbeitgeber aufhetzen lassen. Auch bei den Wahlen wird sich hoffentlich zeigen, daß dort lauter Sozialdemokraten sind, was mich besonders freut, weil der Staatssekretär dazu beigetragen hat, daß dort Sozialdemokraten beschäftigt sind. . .

Abg. Kalle meint, daß einzelne Unzufriedene überall vorhanden wären. Er selbst habe in der Holtenauer Baracke Bohnen und Rindfleisch in vorzüglicher Güte gegessen, und der Abg. Singer möge sich das nur dort ansehen. .

Abg. Graf von Holstein weist nach, daß die Preise der Nahrungsmittel thatsaͤchlich sehr niedrige seien. Was die sozialdemokratische Gesinnung in Schleswig⸗Holstein hetreffe, so sei einmal in einer Versammlung ein sozialistischer Redner mit Aufmerksamkeit gehört worden. Als er aber etwas gegen das Kaiserliche Haus sprach, sei einer der eifrigsten Zuhörer aufgesprungen und habe gerufen: „Was! Er sagt etwas

egen meinen Kaiser? Ich bin zwar Sozialist von Kopf zu

Fuß, aber zuerst Freund der Hohenzollern!“

Abg. Dr. Baumbach meint, daß es sich nicht um Sozialdemokraten handle, die die Aufhebung der Monarchie und des Privateigenthums wollten. Wenn der Abg. Lingens den Kanalbau wieder inspizire, möge er die Gewogenheit haben, solche Fragen lieber zu unterlassen. Hoffentlich wird die Regierung auch in Zukunft Arbeiter ohne Rücksicht auf die Parteistellung beschäftigen. .

bg. Dr. Lingens meint, daß die Sozialdemokraten dort wenigstens noch christliche Gesinnung hätten, solche seien ihm immer angenehm, denn an ihnen sei noch nicht Alles verloren.

Der Titel wird bewilligt, desgleichen die Einnahmen.

Damit ist die Spezialberathung des Etats des Reichs amts des Innern erledigt.

Schluß 5 Uhr.

Cunst und Wissenschaft.

„Die Umsegelung Afrikas durch phönizische Schiffer

ums Jahr 660 v. Chr. Geb.“, wie sie nach der Erzählung des Herodot auf den Befehl des egppti⸗ schen Königs Necho's 1I. ausgeführt worden sein soll, hat der Ober⸗ lebrer Dr. phil Willi Müller aufs Neue zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht, welche als Broschüre soeben im Verlage von

Max Babenzien in Rathenow erschienen ist. Die Stelle bei Herodot,

um 3 . . . sich im 42. Kapitel des 4 Buches seines Geschichtswerks und lautet: . ] Es ist klar, daß Libyen vom Meere umflossen ist mit Ausnabme des Theiles, der an Asien grenzt, und dies hat Necho, der König von Egvpten, soweit wir wissen, zuerst bewiesen. Als dieser nämlich die Arbeiten an dem Kanale einstellen ließ, der aus dem Nil in den arabischen Busen führen sollte, sandte er vhönizische Nãnner zu Schiffe ab mit dem Befehl, auf der Heimreise durch die Säulen des Herakles zu fahren und so über das nördliche Meer nach Egvpten zurückzukehren. Die Phönizier jegelten demgemäß aus dem Rothen Meere ab und fuhren in das Südmeer. So oft die Saatzeit kam, landeten sie, bestellten das Feld, wo sie gerade in Libyen waren und warteten die Ernte ab. Wenn sie aber das Korn eingeheimst batten, fubren sie weiter, bogen nach Verlauf von zwei Jahren im dritten durch die Säulen des Herakles und gelangten nach Egvpten. Sie erzählten aber was mir zwar nicht glaublich ist, vielleicht jedoch einem andern daß sie bei ihrer Fahrt um Libyen die Sonne zur Rechten gehabt. . . ö. Der Verfasser stellt sich auf die Seite derjenigen Gelehrten, welche für die Glaubwürdigkeit des Herodoteischen Berichts eintreten und einen Alexander von Humboldt und Karl Ritter zu den Ihrigen zählen. Er prüft jedoch sorgfältig auch die Segengründe, welche in der vielumstrittenen Frage beigebracht worden sind, und erörtert in eingehender Weise AÄbfahrts-⸗Ort und Zeit, die damaligen Ansichten über die Gestalt Afrila's, die Winde, Meeresströmungen, Konstel⸗ lation. Brandungen und Klippen, die Art der Fahrzeuge und ihre Schnelligkeit, die Leitung der Expedition, ihre Rastorte und den Auf⸗ enthalt an diesen, die schwierige, für die Beantwortung den Haupt frage nicht unwichtige Nebenfrage, welche Getreideart die Phönizier gesäet und geerntet haben ꝛc. Auch die gänzliche Folgenlosigkeit der Fahrt (sowortl für die geographischen Kenntnisse der Alten wie für Handel und Wandel), aus welcher die Gegner sich ganz besonders scharfe Waffen geschmiedet haben, scheint ihm als Einwurf nicht so triftig daß dieser nicht durch plausible Gründe entkräftet werden könnte, in meisten Gewicht hat man selbstverständlich von jeher auf die Bemerkung in dem Bericht Herodot's gelegt, welche den auf⸗ fälligen Stand der Sonne betrifft. Der Verf. nimmt, der Mehrzahl der Forscher folgend, die Mittagsstellung der Sonne als gemeint an, und es würde nach ihm aus dieser Bemerkung zu entnehmen sein: die Phönizier hätten, als sie um die Südspitze Afrikas fuhren, die Sonne um Mittag im Norden gesehen. Ueber die Beweiskraft dieser Mittheilung für die Wahrbeit der ganzen Erzäblung ist nun, wie der Verf. weiter ausfübrt, ganz besonders heftig gestritten worden. Einer⸗ seits wurde behauptet, es sei hierdurch unumstößlich dargetban, daß die Reise um das Kap von den Phöniziern wirklich gemacht worden, andererseits wollte man darin nicht die Spur eines Beweises erkennen. Nach Willi Müller's Ansicht baben beide Parteien Unrecht. Er er klärt sich die Sache so: Die Phönizier haben einen Sonnenstand be— obachtet, der Alles, was sie bislang in dieser Hinsicht gesehen oder wovon sie gehört batten, weit hinter sich ließ. Wenn sie nun auch noch so verschwiegen waren in Betreff aller Erfahrungen, die sie be⸗ züglich der Verwirklichung ihrer kolonialen Pläne gemacht hatten: diese interessante Erscheinung zu verheimlichen, lag kein Grund vor. Worin aber das Wunder bestand, das sie so sehr anstaunten, ist leicht gesagt. Mochten die Pbönizier das südliche Rothe Meer befahren und selbst Bab-⸗el⸗Mandeb passirt haben, mehr als etwa 10 Grad entfernte sich die Sonne hier nie vom Zenith. Nun wird zwar für den, der um die Zeit des längsten Tages der nördlichen Halbkugel in diesen Gegenden sich von Osten nach Westen bewegt, der eigene Schatten zur Linken fallen, und man muß annehmen, daß die Phönizier dies so gut beobachtet haben wie das spätere Alterthum. Aber die Abweichung der Sonne vom Zenith er scheint so gering, daß ein unbefangener Beurtheiler immer noch mebr den Eindruck haben wird, sie stehe ihm zu Häupten als zur Seite. Wenn sie aber um die Südspitze Afrikas fuhren (wobei es sick traf, daß sie das zur Zeit des nördlichen Sommers thaten, wo für jene Gegenden die Sonne zur Mittagszeit möglichst tief stand), hatten sie natürlich ein ganz anderes Schauspiel; passirten sie im Mai das Nadelkap, so erblickten sie die Sonne um Mittag etwa 50 Grad vom Zenith entfernt. Sie sahen das Tagesgestirn also dem nördlichen Horizont etwa eben so nahe, wie es zur Zeit des egyptischen Winters dem südlichen stand. Aehnliches war ihnen noch nie vorgekommen, und da sie eine Erklärung dafür nicht kannten, wird es ihnen als ein Wunder erschienen sein, das sie, zurückgekehrt, als das seltsamste Erlebniß ihrer langen Reise den staunenden Eagvptern verkündeten, die ihrerseits das was die kühnen Schiffer erzäblten, bei dem bisherigen Mangel aller Nach⸗ richten aus südlichen Breiten für interessant genug hielten, um es der Nachwelt zu überliefern. So blieb die Erinnerung an diese seltsame Erscheinung anderthalb Jahrhunderte lang in Egypten lebendig, und um so mehr, weil sie eine der wenigen Einzelheiten war, die man über die Reise erfahren hatte. Es scheint dem Verfasser nach diesen Erwägungen gänzlich aus- geschlossen, daß die Phönizier zu einer wesentlich anderen Jahreszeit als der angegebenen, etwa gar um den südlichen Sommeranfang, das Kap passirt haben; in letzterem Falle wäre die Abweichung der Sonne vom Zenith kaum größer gewesen, als sie dieselbe bei Bab⸗el⸗Mandeb oftmals geseben, und hätte schwerlich Veranlassung gegeben, ihrer be⸗ sonders zu gedenken. Je weiter nördlich die Schiffer das Gestirn er blickten, um so auffallender und bemerkenswerther mußte dies ihnen erscheinen; wenn sie nun etwa im Mai an der Südspitze des Erd⸗ theils entlang fuhren, um in der Nähe der heutigen Kapstadt zur ersten Saat und Ernte zu landen, so hatte die Sonne ihren nördlichsten Standpunkt für diese Gegenden beinahe erreicht. In der Annahme, daß die Pbönizier um die Zeit, wo dies geschah, das Nadelkap umsegelten, findet der Verf. aber auch den Schlüssel dafür, daß die ganze Erscheinung nicht als eine zweimalige erwähnt wird, obgleich sie sich doch an der Nord⸗ Guineaküste den Schiffern zum zweiten Male gezeigt haben muß. Sie werden an dieser Küste zu einer Zeit entlang gefahren sein, als die Sonne in der Nähe des Wendekreises des Krebses senkrecht stand, und werden etwa um den nördlichen Sommeranfang Kap Palmas passirt haben. Hier erschien ihnen in dieser Jahreszeit das Gestirn Mittags etwa 20 Grad vom Zenith entfernt. Nach dem, was sie am Kap erlebt hatten, konnte ihnen dies jedoch nur geringen Eindruck machen, und so werden sie den Priestern, von denen Herodot die Ueberlieferung erhielt, nach der Rückkehr wohl von einer auffällig sich dem nördlichen Horizont nähernden Stellung der Sonne, schwerlich aber auch von derselben im zweiten Jahre mit weit ge⸗ ringerer Intensität auftretenden Erscheinung gesprochen haben. Herodot, sagt W. Müller, mache jedenfalls durch die kurze Be—= merkung: die kühnen Seefahrer hätten die Sonne zur Rechten gehabt‘, die Umsegelung, wenn auch ein absoluter Wahrheits beweis dadurch nicht erbracht werde, ohne sein Wissen und vielleicht auch gegen seinen Willen in hohem Grade wahrscheinlich. . Die kleine Schrift dürfte allen Denjenigen, welche sich für die wissenschaftliche Streitfrage interessiren, willkommen sein, zumal sie einen Ueberblick über alle bedeutenderen Meinungkäußerungen zur Sache in übersichtlicher Gruppirung der einzelnen, dabei in Betracht kommenden Fragen zusammenstellt und das Für und Wider gerecht abzuwägen sucht.

Geographischer Monatsbericht über außereuropäische Forschungs gebiete. (Bearbeitet nach den pete n Mittheilungen 35. Band Vorder ⸗Asien. Das Comitè der englischen Gesellschaft zur e , von Palästina hat, nachdem es vor Kurzem die Auf- nahme von We st⸗Palästina besorgt, nun auch die topographische und archäologische Aufnahme, sowie die Durchforschung der Fauna, Flora und Mineralwelt Ost - Palästinas vollendet und beginnt bereits die Ausgabe ausführlicher, glänzend ausgestatteter, mit Kartenbildern und zahlreichen, Illustrationen geschmückter Berichte über die Forschungsergebnisse.

ECentral⸗Asien. Um die Pässe über den Hindukusch und das Karakorumgebirge genauer zu erforschen, ist der durch seine Reisen in