1890 / 114 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 10 May 1890 18:00:01 GMT) scan diff

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sondere Gerichte gesetzt werden, so hat der Staat mindestens einen Anspruch auf Bestätigung. Aber vom allgemeinen Standpunkt aus hat man gegen die Bestätigung, wohl einige Einwendungen. Ich glaube indessen nicht, daß diese Frage zu einer Aenderung des Gesetzes führen könnte. Da, wo die Schieds⸗ gerichte durch die größeren kommunalen Verbände eingerichtet sind, und in großen Städten sind die nöthigen Garantien für die Qualifikation des Vorsitzenden vorhanden. Für die kleineren Ge⸗ meinden liegt vielleicht die Gefahr vor, daß zum Vorsitzenden sher ein Mann ernannt wird, der mehr die Interessen der Arbeitgeber, als die der Arbeiter im Auge behält. Ich kann aber nicht zugeben, daß daraus im Allgemeinen dem Staate in Bezug auf die objektive Behandlung dieser, Frage eine Ge⸗ fahr erwächst. Andererseits glaube ich, daß die Befürchtungen in Bezug auf die staatliche Bestätigung sehr übertrieben sind. Jedenfalls nehme ich lieber in den Kauf. daß die staatliche Bestätigung nothwendig ist, als daß der Vorsitzende eine juri⸗ stische Qualifikation besitzen muß. Wenn man die Berufung beibehält, wie es der Entwurf vorschlägt, so ist die Bestätigung überhaupt überflüssig. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Arbeitgeber im Anfang gewisse Besorgnisse hatten und den Gerichten kein rechtes Vertrauen schenkten, daß aber dieses Ver— trauen unter den Betheiligten sehr bald sich entwickelt hat. Wenn es gelingt, in ganz Deutschland alle gewerblichen Streitigkeiten auf eine rasche, billige, vertrauenerweckende, durch die Zustimmung der Arbeitgeber und Arbeiter getragene Art und Weise des Gerichtsverfahreus zu erledigen, so ist das ein so eminent großer Gewinn, daß man über kleine subjektive Bedenken hinwegsehen kann. .

Abg. Winterer begrüßt die Vorlage mit großer Freude, weil fie die Bildung von Schiedsgerichten erleichtere; solche beständen in Elsaß-Lothringen, aber sie konnten bis jetzt nur durch Kaiserliche Verordnung errichtet werden und seien auch sonst an schwer zu erfüllende Bedingungen geknüpft. Besonders anerkennenswerth ist der Versuch, die Schiedsgerichte zu Einigungsämtern zu machen. Wer die bedenklichen Arbeiter- ausstände gesehen hat, wird jeden Versuch, hier Besserung zu schaffen, mit Freu de begrüßen.

Staatssekretär Dr. von Boetticher:

Meine Herren! Ich habe sehr bedauert, daß ich die Vorträge der ersten Herren Redner nicht habe hören können. Ich ent— nehme indessen aus den mir gewordenen Mittheilungen, daß es in der Hauptsache Ausstellungen zu den einzelnen Bestimmungen des Entwurfs gewesen sind, welche man vorgebracht hat, und ich bin der Meinung, daß es in der ersten Lesung wenigstens meine Aufgabe nicht sein kann, auf alle dieie einzelnen Ausstellungen einzugehen. Ich habe mich nur zum Wort gemeldet, um rücksichtlich einiger Punkte die prinzipielle Stellung der Regie— rungen zu kennzeichnen und die Motive, die für diese prinzipielle Stellung maßgebend gewesen sind, darzulegen, damit bein Beginn der Berathung der Kommission nicht aus unserem Schweigen etwa gefolgert werden könnte, daß diese prinzipielle Stellung, wie sie aus dem Entwurf selbst an sich erkennbar ist, aufgegeben sei.

Meine Herren, einen Gedanken, dem nach der eben gehörten Rede des Hrn. Abg. Winterer der Hr. Abg. Tutzauer Ausdruck ge— geben hat, möchte ich Sie von vornherein freundsichst bitten, aufzu— geben, und das ist der Gedanke, als ob aus dieser Vorlage von Neuem ein Mißtrauen der Regierungen gegenüber den arbeitenden Klassen sich ergäbe. (Zuruf links.) Ich werde gegenüber dem Zuruf wohl erwarten dürfen, daß man mir nachher nachweist, worin sich ein solches Mißtrauen bethätigt hat. Ich kann es ja Niemand verwehren, wenn er in der Vorlage ein gewisses Mißtrauen zu er— kennen glaubt, das ist subjektives Empfinden. Aber ich werde, wenn ich hier die Stellung der Regierungen zu vertheidigen habe, erwarten dürfen, daß mir auch objektiv der Beweis geliefert wird, daß ein solches Mißtrauen in der Vorlage wirklich zum Ausdruck gelangt ist. Wird ein solcher Beweis angetreten, dann werden wir uns darüber unterhalten können, ob der Vorwurf begründet ist oder nicht Der Hr. Abg. Tutzauer hat diesen Vorwurf nicht allein aus der Vorlage ableiten zu können gemeint, sondern er hat ihn auch abgeleitet aus den bisherigen sozialialpolitischen Be— strebungen der Regierungen. Ich glaube kaum, daß er bei diesem seinem Vorwurf in weiteren Kreisen auf Zustimmung rechnen kann, denn ich brauche nur darauf hinzuweisen, daß allen unseren sozialpolitischen Entwürfen lediglich die Tendenz zu Grunde liegt, die Lage der arbeiten den Klassen zu berbessern. Wir mögen in der Verfolgung dieser Absicht ungeschickt gewesen sein; die Absicht aber, die Lage der Arbeiter zu verschlechtern oder ihnen mit Mißtrauen zu begegnen, haben wir jedenfalls nicht gehabt, und diese Absicht liegt auch der gegenwärtigen Vorlage durchaus fern. Ich zweifle auch gar nicht daran, daß, wenn der Hr. Abg. Tutzauer mit uns erst längere Zeit gearbeitet haben wird, er sich selbst in dieser Anschauung zu kocrigiren geneigt zeigen wird.

Nun, meine Herren, komme ich auf einige Ausführungen des Hrn. Abg. Mever zurück. Der Hr. Abg. Meyer, dessen Vortrag ich mit großem Interesse gehört habe, hat uns eine rechtshistorische Aus“ einandersetzung in Bezug auf den Unterschied zwischen judicjum und arbitrium gegeben und hat dabei seiner Ueberzeugung dahin Ausdruck gegeben, daß in der vorliegenden Materie es weniger auf die Abgabe eines Judiciums als auf die Thätigkeit eines arbiter ankomme. Ich glaube, eins hat dabei der Hr. Abg. Meyer doch übersehen, und das ist das, daß es bei der Thätigkeit der gewerblichen Schiedsgerichte nicht allein darauf ankommt, zu vermitteln, und namentlich, wie schon der Hr. Abg. Miguel sehr richtig hervorgehoben hat, nicht lediglich auf Antrag beider Parteien, ju vermitteln, sondern daß es sich doch um sehr viel mehr handelt, nämlich darum, Streitig⸗ keiten über Mein und Dein zu entscheiden, und jwar nicht blos vermögensrechtliche Streitigkeiten einfacher Natur, sondern auch Streitigkeiten, die eine weitaus größere Bedeutung haben, insofern sich dieselben auf die Fortsetzung oder die Entbindung von übernommenen Leistungen richten.

Es ist das etwas, was man, glaube ich, bei der Betrachtung darüber, wie die gewerblichen Schiedsgerichte einzurichten sein möchten und wie man das Verfahren vor diesen Schiedsgerichten einzurichten hat, nicht außer Acht lassen darf. Wir übertragen auf diese Gerichte, ebenso wie es bei den bereits bestehenden gewerblichen Schiedegerichten geschehen ist, einen Theil der Funktionen der ordentlichen Gerichte, und deshalb müssen wir auch eine aus— reichende Sicherheit dafür schaffen, soweit dies üherhaupt in der Mög⸗ lichkeit liegt, daß die Urtheile dieser gewerblichen Schiedsgerichte ebenso unbesangen, ebenso objektiv gefällt werden, wie das bei den ordentlichen Gerichten der Fall ist. Wenn Sie aber diefen Gedanken festhalten, dann, glaube ich, können Sie nicht dazu übergehen, jede Einwirkung des Staats auf die Zusammensetzung dieser Gerichte auszuschließen.

Ich trete dem Hrn. Abg. Miquel darin bei, daß die Gefahr, die man in der Bestätigung des Vorsitzenden erblickt, durchaus über“ schätzt wird. Nicht politische Motive find es, welche die Regierungen bestimmt haben, auf der Bestätigung des Vorsitzenden des Schiedsgerichts zu beharren die haben uns durchaus fern gelegen —, sondern lediglich die Betrachtung, daß der Staat die Aufgabe bat, dafür zu sorgen, daß für die Objektivität und für die sachliche Begründung des Richterspruchs die größtmögliche Bürgschast geschaffen werde. Ich zweifle gar nicht daran, daß in einer ganzen Reihe von Städten die Kommunalbehörden, wenn man ihnen die Wahl des Vorsitzenden des Schiedsgerichts obne staatliche Bestätigung überträgt, die Sache ebenso gut und ebenso objeltiv machen werden, wie das die Staatsregierung thun wird, daß sie den zu wählenden Vorsitzenden auch auf seine Befaͤhigung, auf seine moralische wie fachliche Befähigung hin prüfen werden. Gleichwohl aber kann

die Verantwortung, die er in Bezug auf die Rechtspflege trägt, auch möglichst wirksam zur Geltung bringt. Es ist mir kein Fall bekamet. wo bisher richterliche Funktionen, zumal von der Bedeutung und Ausdehnung, wie dies in unserem Entwurfe geschieht, auf Srgane übertragen sind, bei deren Zusammensetzung der Staat absolut keine Einwirkung bat. Ich glaube kaum, daß mir in diesem Punkt der Gegenbeweis wird geführt werden kännen, und lediglich dieser Gesichte⸗ punkt ist es gewesen, welcher die Regierungen dazu bestimmt hat, hier sestzuhalten an den Vorschlägen des Entwurfs vom Jahre 1878.

Der Hr. Abg. Dr. Meyer hat einen Vorwurf dem Verfasser dieses Entwurfs der übrigens ich zu sein nicht die Ehre habe, ich kann mir also den Borwurf nicht zuzieben dahin gemacht, daß er aus der historischen Entwickelung unserer Schiedsgerichte nichts gelernt habe. Er ist der Meinung gewesen, wir hätten vielmehr uns die Statuten, auf Grund deren die gewerblichen Schiedsgerichte in den einzelnen Städten des Reichs errichtet sind, ansehen sollen, die Praxis dieser Gerichte studiren müssen, und hätten daraufhin einen Entwurf machen sollen, der dann besser und annehmbarer geworden fein würde als der Entwurf, der uns hier beschäftigt. Meine Herren, was konnten die Regierungen Besseres und Sichereres thun, als daß sie sich in der Hauptsache anlehnten an denjenigen Entwurf, der, abgesehen von einigen Meinungsverschiedenheiten, bereits im Jahre 1878 den Beifall der überwiegenden Majorität dieses Hauses gefunden hat.

Wir würden uns ja auf ein im Erfolge der Berathangen ganz unsicheres Terrain begeben haben, wenn wir etwas Anderes gebracht hätten als wie das, wofür wir schon den Beifall und die Zustimmung des Reichstages geerntet hatten.

Nun, meine Herren, glaube ich in Bezug auf eine ganze Reihe von Einzelbestimmungen, daß wir darüber mit uns reden lassen werden. Wallen Sie z. B. eine Vorschrift haben, wonach das Ver—˖ fahren kostenfrei sein soll; wenn die betreffenden Gemeinden, die für den Kostenbetarf der Schiedsgerichte zu sorgen haben, auf die Er bebung der Gebühren verzichten wollen, so glaube ich kaum, ohne daß ich ja eine bindende Zusage in dieser Beziehung machen kann, daß die erbündeten Regierungen daraus einen casus belli ableiten würden. Auch die Rechtsmittelftage ist meines Erachtens einer sehr ver— schiedenen Beantwortung fäbig. Ich kann mir beispielsweise den Gedanken des Hrn. Abg. Tutzauer persönlich aneignen, daß man die Berufungsinstanz in ein Kollegium verlegt, welches mit dem gewerblichen Schiedsgericht in eine Verbindung gebracht wird und daß man also darauf verzichtet die Berufung an die Landgerichte zu bringen.

Und so sind eine ganze Reihe von Punkten, über die wir uns sehr freundschaftlich unterhalten können und bei denen wir Aussicht haben, zu einer Vereinigung zu kommen. Mir war es heute nur Bedürfniß, in Bezug auf die Tendenz der Regierungen Klarheit zu schaffen, weshalb wir die sehr angegriffene Frage mit der Bestätigung des Vorsitzenden ju einer solchen gemacht haben, welche wir besonders betonen müssen, wenn wir eben das Inter— esse der Rechtépflege, nicht das Interesse der Regierungen, sondern das Interesse einer objtktiven und sachgemäßen Rechtspflege im Auge behalten wollen.

Was die Aussichten des Entwurfs anbelangt, so habe ich aus den Vorträgen, soweit ich sie gebört babe, die tröstliche Ueberzeugung gewonnen, daß alle Parteien ein lebhaftes Interesse an der definitiven Gestaltung des Entwurfs nehmen. Ich habe weiter die Ueberzeugung gewonnen, daß die Möglichkeit, sich über die Vifferenzpunkte zu verständigen, nicht ausgeschlossen ist, und so kann ich nur wünschen, daß die Kommission mit demselben Eifer in die Berathung eintcete, welchen die Regierungen dahin ent— wickeln. daß sie auf diesem Gebiet recht bald eine gedeihliche Lösung anstreben. Wir hoffen, daß dieses Gesetz man mag ja feine Wirkung hier und da überschätzen jedenfalls dazu beitragen werde, daß die Streitigkeiten zwischen den Arbeitgebern und Arbeitern schnell zur möglichsten Befriedigung der streitenden Theile erledigt werden. Wir hoffen weiter, indem wir den Abschnitt, welcher von den Einigungsämtern handelt, hinzugefügt haben, daß dieser Ab— schnitt, indem er eine legitimirte Stelle schafft, vor der Streitigkeiten allgemeiner Natur zwischen Arbeitgebern und

Arbeitern zum Austrag gebracht werden können, dazu führen wird, daß die Arbeiterbewegung in ein ruhiges Fahrwasser kommt, welches seine guten Früchte für den Frieden der Bevöl'erung und für die Wohlfahrt des Reichs im Gefolge hat.

Abg. Dr. Meyer (Berlin): Hr. von Boetticher hat mir die Ansicht untergelegt, daß arbiter und Schiedsrichter dasselbe seien. Das ist unrichtig. Der arbiter, im Lateinischen arbiter receptus, ist nicht immer Schiedsrichter, sondern zu— weilen auch Richter.

Abg. Eberty: Die bisherigen Schiedsgerichte, welche auf den Wahlen auf breitester Basis beruhen, haben zu Be— schwerden und Klagen über Parteilichkeit keinerlei Veranlassung gegeben. Die Frage steht also so: Will man ein Gericht haben, welches das größte Vertrauen genießt, dann muß man die Wahlen in weitester Ausdehnung zulassen. Will man ein Gericht, wie die ordentlichen Gerichte, dann muß man die staatliche bureaukratische Einwirkung zulassen. Wenn das Gericht das allgemeine Vertrauen genießen soll, dann muß die Wahlberechtigung möglichst aus— gedehnt sein, auch auf die Frauen; dann muß man in Bezug auf die Rechtsmittel sehr vorsichtig sein, um die Schnelligkeit der Entscheidung nicht aufzu— halten. Politische Gründe sollen nicht zur Bestätigung ge— sührt haben. Aber mißtrauische Wachsamkeit ist der befste Hüter aller Freiheit. Wir haben nach den Erfahrungen, welche wir gemacht haben, keine Veranlassung, auch nur einen Zoll breit abzuweichen von dem früheren Verhalten. Wir haben keine Veranlassung, den Vorsitzenden einer kommunalen Einrichtung von der Bestätigung der Regierung ab— hängig zu machen. Die Personen, welche jetzt versichern, daß ihnen politische Gründe fern gelegen haben, sind ver— gänglich, und gebrannte Kinder scheuen das Feuer! Die Einigungsämter konnen nur dann wirken, wenn mehr Ver— trauen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern vorhanden sein wird; deswegen ist es ziemlich gleichgültig, wie die Vorschriften über die Einigungsämter ausgestaltet sind. Einige Kautelen müssen dagegen geschaffen werden, daß nicht durch landes⸗ gesetzliche Bestimmungen oder durch Forderung der Landes⸗ Centralbehörden Dinge erzwungen werden, welche den Ge⸗ meinden nicht gefallen.

Die Vorlage wird darauf einer Kommission von 21 Mit— gliedern überwiesen.

(Schluß Uhr.)

Schlußbericht der gestrigen (13.) Sitzung des Herren⸗ hauses. Fortsetzung der Berathung des Staatshaus⸗ halts-Etats und zwar des Antrages des Grafen von Pfeil.

Wirklicher Geheimer Rath von Kleist-Retz ow: Der Minister sollte nicht auf seine Ueberlastung hinweisen, sondern uns Dank wissen, wenn wir ihm Hülfe leistend den Schritt erleichtern wollen, seinerseits Abhülfe zu leisten, wenn wir ihn auffordern, tapfer, voll und ganz in die Schwierigkeiten hinein⸗ zusteigen und mit seiner Weisheit die Frage zu lösen. Die Juden sind nun einmal eine andere Nationalität, mit Eigen⸗ ihümlichkeiten, die dem Deutschen unsympathisch sind. Wenn die Zahl der jüdischen Knaben so groß wird in den Schulen, daß die geistige Atmosphäre von 66 beherrscht wird, dann beginnt die Gefahr und diese Gefahr ist bereits vorhanden, sie

droht nicht erst. Die deutsche Nation hat wunderbare Natur—

der Staat meiner Ueberzeugung nach darauf nlcht verzichten, daß er ;

anlagen, sie ist empfänglich für das Christenthum und läßt nicht bloß ihre Herzen, sondern auch alle bffentlichen Angelegen⸗ heiten davon durchdrungen sein. Das Produkt davon ist unsere Geschichte, unsere jetzige Stellung in Europa. Dieses Element des Stehens auf, dem Boden des Christenthums wird geschwächt durch die Rücksichitnahme auf die Be— kenner anderer Religionen; dadurch wird ber christ⸗ liche Staat seiner Aufgabe entfremdet, und deshalb müssen wir für solche Anträge sein, wie der vorliegende, der auch nur erst ein Anfang ist. Die Berufung auf das Allgemeine Landrecht ist völlig irrelevant. Das chris̃liche Gymnasium hat zunächst seine Ansprüche; nach deren Befriedigung kommen die übrigen heran, soweit Raum für sie ist. Für Berlin kann die Errichtung eigener jüdischer Schulen gar keine Schwierig— keiten haben. Es handelt sich ja meistens um die wohlhabenden Elemente in unserem gesammien Staat, und diefe würden auch in der Provinz ganz gewiß ihre Kinder zu dem wenn auch einige Meilen entfernten jüdischen Gymnasium schicken. Wenn wir einen so einfachen Antrag ablehnen wollten, das ganze Land würde bei der gegenwärtigen Bewegung der Geister darüher erstaunen. Nehmen Sie also den Antrag an!

Graf von Pfeil Die Meinung des Ober⸗Bürgermeisters Dr. Miquel, daß der Jude sich mit dem Christen amalgamirt, ist falsch; der Jude verbindet sich nicht mit dem Christen; der Jude strebt nach der Herrschaft, und sind die Deutschfreisinnigen im Reichstage etwa Leute, die mit uns friedlich und einig leben? Wir müssen hier prophylaktisch vorgehen, um gefähr⸗ lichen Wendungen in unserem politischen Leben vorzubeugen. In Oesterreich ist die Herrschaft des Judenthums bereits zu einer ganz ungesunden gediehen. Nehmen Sie den Antrag an.

Ober⸗-Bürgermeister Bötticher: Wenn wir nach den Auslassungen des Kultus-Ministers den Antrag annehmen würden, dann, glaube ich, würde das ganze Land uns nicht verstehen. Die Absicht, die jüdischen Schüler von den christ⸗ lichen zu trennen, muß ich entschieden bekämpfen. Gewiß soll das Christenihum unsere Schule beherrschen; aber wer be— schränkt denn den Anspruch unserer Jugend auf christlich— nationale Erziehung? Die Juden sind doch nur geduldet in den Schulen, sie müssen sich den Anordnungen der Schul⸗ behörden fügen, und das ist auch nach meiner Meinung für die Juden sehr vortheilhaft. Daß der Hinweis auf Frank— furt a. M. verfehlt war, ist schon nachgewiesen; die technischen Schwierigkeiten wird der Minister von seinem Ressort aus zu erledigen haben, da können wir uns nicht hineinmischen.

Graf von der Schulenburg-Beetzendorf: Es ist von weiter nichts die Rede als von den Thatsachen, daß in einzelnen Klassen bereits die jüdische Minoriiät zur jüdischen

Majorität geworden ist. Halten Sie denn den Unterricht nicht

für gefährdet, wenn eine christliche Lehrerschaft einer jüdischen Schülermajorität gegenübersteht? Ich meine, das muß uns enügen, den Antrag anzunehmen. Alles Deutschthum in einer tiefsten Wurzel besteht im Christenthum, und es ist ganz unmöglich, anders als wie christlich⸗natio nalen Unterricht zu geben.

Der Antrag wird darauf mit erheblicher Majorität an— genommen.

Bei der weiteren materiellen Erörterung des Untexrichts—

Etats beklagt der Fürst Ferdinand Radziwill die Ent— fernung des polnischen Unterrichts aus der Schule in den polnischen Landestkeilen. Wolle man das Polenthum zurück— drängen, so sei dieses pädagogisch schlechteste Mittel auch das politisch gefährlichste. Möge die Unterrichts verwaltung dafür Sorge tragen, daß die Schule nicht zum Schlachtfelde für nationale Gegensätze gemacht werde. Der Kulturkampf habe aufgehört; auf den Bischofsstühlen von Breslau und Pofen säßen deutsche, der Regierung genehme Männer, deren Urtheil in dieser Frage von der Regierung gehört werden möge. Kirche und Schule müßten Hand in Hand gehen, die Mutter— sprache müsse in beiden die grundlegende sein und den Geist— . müsse wieder die Aufsicht über die Schule übertragen werden.

Minister der geistlichen 2c. Angelegenheiten Dr. von Goßler: Der Vorredner geht von der Auffassung aus, als ob es sich in der betreffenden Verfügung um eine reine Unter⸗ richtssache handele. Aber die Verfügung vom 7. September 1838 ist durch einen Beschluß des Gesammt⸗Ministeriums zu Stande gekommen und mit Allerhöchster Genehmigung ver— sehen worden, weil die Verordnung vom Jahre 1873, welche durch die letztgenannte e fn gung abgeändert worden ist, gleichfalls mit Allerhöchster Genehmigung ergangen war. Durch die Verfügung von 1873 wurde die polnische Sprache als Unterrichtssprache nur für die Religion beibehalten. Es wurde dadurch das Ziel erreicht, daß die Kinder in den Besitz der Staatssprache, der deuischen Sprache, gelangten. Man hat uns glauben machen wollen, das sei nicht der Fall; aber ich meine, man hat sich darin wohl getäuscht. Durch das Gesetz vom Jahre 1876 ist es Sr, Majestät möglich gewesen, von 5 zu 5 Jahren gewisse Uebergangsstufen für den Gebrauch der deutschen Sprache ein⸗ zuführen, und diese Befugniß ist angewendet worden bis zum Jahre 1386. Von da ab ist generell in die Gesammtverwal⸗ ung die deutsche Sprache eingeführt worden. Dieser Tendenz hatte die Unterrichtsverwaltung, da es sich um allgemeine po⸗ litische Gesichtspunkte handelte, in ihren Anforderungen zu ent⸗ sprechen. Seit 1887 ist in dem Zustande des Religionsunterrichts keine Aenderung mehr eingetreten, wie ich auch wiederholt er— klärt habe. Eine Prüfung der Fälle, in denen eine Ueber— schreitung der Verfügung behauptet worden ist, hat in der Regel ergeben, daß die Beschwerde grundlos war, und wo Mißgriffe vorgekommen sind, da habe ich, wie die Herren aus der H en, . mir bezeugen werden, stets Remedur ein— treten lassen. Der Religionsunterricht in den Volksschulen ist jetzt durch Anordnung des Erzbischofs von Gnesen und Posen in Uebereinstimmung mit der Regierung den Geistlichen wieder übertragen worden. Aber die Geistlichen haben sich aus nicht näher zu erörternden Gründen im Allgemeinen fern gehalten. Ein großer Theil der gegen die Regierung wegen des mangelhaften Religions⸗ unterrichts erhobenen Vorwürfe ist also sehr schlecht fundirt, sie treffen vielmehr die Geistlichen, welche sich dem Religions— unterrichte entziehen. Ich werde stets darüber wachen, daß die Schule nicht zum Tummelplatz politischer Kämpfe gemacht wird. Die Herren werden die Bewegung der polnischen Massen lennen. Sie drängen sich nach den mittleren und westlichen Provinzen, und gerade, weil sie wenig oder gar nicht deutsch sprechen, ergeben sich die vielfach unerfreulichen Erscheinungen auch auf kirchlichem Gebiet. Wir haben Tausende und. Abertausende polnischer Arbeiter in Westfalen, welche in geistlicher Beziehung nicht versorgt werden, und wir sind 96 im Stande, den Bischöfen Hülfe zu leisten. Aehnlich verhält es sich mit den Arbeitern

in Hamburg⸗Altona und beim Nord⸗Ostsee⸗Kanal. Unsere Auf⸗ gabe ist es, durch die Sprachpflege darauf hinzuwirken, daß diese Tausende am öffentlichen Leben Theil nehmen und ihren bürgerlichen Verpflichtungen nachkommen können. Es handelt sich darum, auch widerstrebende Elemente zu befähigen, am nationalen Leben sich zu betheiligen.

Ober⸗Bürgermeister dcher bittet den Kultus⸗Minister, der Restauration des Halberstädter Doms sein Interesse zuzu— wenden. Die Thürme des Doms seien mehr als baufallig, und der Dom ziemlich eine Ruine. Diesem nicht sehr würdigen Zustande müsse ein Ende gemacht werden.

Beim Etat des landwirthschaftlichen Ministeriums greift Graf Garnier auf die früheren Verbandlungen des Hauses in Betreff der Sachsengängerei zurück. Dieselbe habe in diesem Frühjahr ganz besondere Ausdehnung angenommen; durch Oppeln seien mehr als 20 000, zum größten Theil durch Agenten Verlockte, durchgekommen, um nach Sachsen und nach dem Westen zu gehen. Große Flächen, namentlich Forstbesitz, müssen unbearbeitet liegen bleiben, denn die Leute brechen einfach ihren Kontrakt und verschwinden spurlos. Durch den Mangel an Arbeitern wird ein immer größerer Theil des mittleren und größeren Grundbesitzes mit immer größerer Besorgniß Angesichis der nahenden Ernte erfüllt. Die jugendlichen Arbeiter dürften nicht fortgelassen werden. Selbst unkonfirmirt gehen die Kinder von den Eltern weg; Niemand kümmert sich darum, wohin sie gehen. Irgend etwas muß geschehen, um diesem überaus traurigen Zustande abzuhelfen. Auch der bäuerliche Stand leidet darunter. Die Sittlichkeit ist ebenfalls dabei ungemein heruntergekommen; die Zahl der unehelichen Kinder bei den Sachsengängern steigt enorm. Die Leute werden zu ganz unverhältnißmäßig billigen Preisen von den Staatsbahnen befördert; auf die Bitte, diesen billigen Tarif zurückzuziehen, ist ein Bescheid noch nicht ergangen. Es sollte auf dem Wege der Gesetzgebung Abhülfe geschaffen werden durch Arbeitsbücher, durch das Verlangen der Erlaubniß des Vaters oder Vormundes für den jugendlichen Arbeiter; die Arbeitgeber sollten nur Leute mit solchem vor— schriftsmäßigen Arbeitsbuch annehmen, und die Arbeitgeber sollten zur Entlastung der Gemeindeverbände auch die Kosten für uneheliche Geburten u. s. w. bei den Sachsengängern zu übernehmen gezwungen werden.

Minister für Landwirthschaft 2ꝛc. Dr. Freiherr Lucius von Ballhausen: Die Berichte, welche das Ministerium eingezogen hat, die Vorschläge, die von verschiedenen Seiten gemacht sind, alle diese Fragen befinden sich in der Erörterung zwischen den verschiedenen Ministern, und diese werden das gesammte Material dem Reichsamt des Innern übergeben mit dem Ersuchen, das Mögliche zur Abhülfe zu thun. Was administrativ geschehen kann, wird geschehen. Das Agentur— wesen wird unter strenge Kontrole aaf! werden, andererseits wird es einer Erweiterung des Reichs-Strafgesetzbuchs be⸗ dürfen, um den Kontrakibruch zu bestrafen. :

Graf Udo zu Stolberg-Wernigerode: Die Wurzel des Uebels liegt in der Verarmung des Ostens. Die Leute wandern aus, weil sie im Westen höhere Löhne bekommen. Daran wird und kann man sie nicht hindern. Wir müssen Maßregeln ergreifen, welche den Osten wirthschafilich heben, die Arbeitgeber im Osten in die Lage setzen, den Leuten höhere Löhne zu zahlen. Das können sie heute nicht. Nicht aus Bosheit zahlen wir im Osten niedrigere Löhne, sondern weil der Osten zu ungünstig in seiner wirthschaftlichen Lage gestellt ist. Alle anderen Maßregeln polizeilicher oder wirth⸗ schaftlicher Natur werden Palliativmittel bleiben, die nichts helfen, wenn nicht der Uebelstand an der Wurzel gefaßt wird.

Geheimer Regierungs-Rath von Woyrsch wünscht die Errichtung von Stromämtern, damit die Macht der Wasserbau— techniker gebrochen werde. Man berücksichtige bei der Oder⸗ regulirung nur die Schifffahrts,, nicht die landwirthschaftlichen Interessen.

Minister für Landwirthschaft ꝛe. Dr. Freiherr Lucius von Ballhausen: Daß früher die Interessen der Land— wirthschaft von der Stromhauverwaltung gegen die der Schiff— fahrt zurückgesetzt worden sind, kann ich an, zugeben, ebenso, daß Fehler in technischer Beziehung vorgekommen sins. Ich will alte Sünden nicht vertheidigen, kann aber konstatiren, daß die Mehrzahl der begangenen Fehler in die Zeit vor 10, 12 Jahren zurückzudatiren ist. Jetzt nimmt die Strombau⸗ verwaltung Rücksicht auf die Wünsche der Landwirthschaft. Es ist aber richtig, daß nicht, nachdem so lange eine Bevor⸗ zugung der Schiffahrt stattgefunden hat, mit einem Schlage eine Begünstigung der Landwirthschast sichtbar werden kann. Was die Ausbildung der Techniker anlangt, so hat vor einiger Zeit eine Trennung der verschiedenen Branchen der Bau⸗ technik stattgefunden, und diese Trennung wird sich für die Zukunft noch segensreicher erweisen. Wir haben jetzt auch lokale Strombguämter eingerichtet, in welchen theilweise auch Vertreter der Landwirthschaft, der Industrie und des Handels Platz gefunden haben. Wir werden diese Einrichtung weiter zu entwickeln suchen, und ich darf erwähnen, daß Verhandlungen darüber schweben, wie man am Besten die in der Strombaufrage, kollidirenden Interessen versöhnt. Die Regierung muß zwischen denselben die richtige Diagonale ziehen. Was die Frage der Deichbauten betrifft, J kann man dieselbe nicht plötzlich und einheitlich regeln. Wir haben hier mit historischen Entwickelungen zu rechnen, die z. B. im Weichsel⸗ und Nogatgebiet 509 bis 600 Jahre zurückreichen. Man kann ohne tiefe Eingriffe in das Wirthschafts⸗ und Erwerbsleben hier nicht vorgehen, und schon mit Rücksicht auf die finanzielle Seite der Sache muß man von radikalen Umgestaltungen abstehen. Die Weiterentwicke—⸗ lung unseres Deichwesens durch Schaffung großer Porländer und Rückverlegung der Deiche ist in gute Wege geleitet. Die sich hierbei ergebenden Schwierigkeiten rühren nicht von der Strombauverwaltung her, sondern von der Kollision sich gegenüberstehender Interessen. Die Staatsregierung wird nach beiden Seiten hin vorsichtig das Recht abzuwägen haben.

Freiherr von Durant dankt dem Minister für das Interesse an der genossenschaftlichen Bewegung, welches er durch den Erlaß einer Verfügung an die Regierungs⸗Präsi⸗ denten bezeugt habe. Diesem Dank an den Minister fügt Redner die Bitte an das Haus hinzu, daß jeder Einzelne dem genossenschaftlichen Werke seine Theilnahme zuwenden möge. Die wohlhabenden und intellektuell hervorragenden Kreise seien nach Einführung der Theilhaft viel leichter in der Lage, für diese Seite der sozialen Bewegung sich zu interessiren.

Graf von der Schulenburg-Beetzendorf verwahrt die Provinz Sachsen dagegen, als ob sie ausschließlich an der Sachsengängerei schuld sei. Die höheren . seien nur ein Grund unter vielen. Die einheimischen Arbeiter gingen aus Sachsen ebenfalls fort in die Bergwerke und Industriecentren,

wo sie höher gelohnt würden; der Abgang werde ersetzt

durch den Zuzug aus den östlichen Provinzen. Diese Völker— wanderung beruhe aber nicht darin allein, sondern hauptsãch⸗ lich in der Freizügigkeit und in dem Wandertrieb der Deutschen. Helfen könnten hier nur große organische Gesetze; man werde dazu kommen müssen, Heimstãtten ö. machen, welche aus dem Areal des Großgrundbesitzes nicht bloß, sondern aus der ganzen Gemeinde genommen würden, und man werde die Verschul— dung des Großgrundbesitzes anders reguliren müssen. Alles Andere werde nichts helfen. Der Fluktuation der Be— völkerung werde man damit nicht Einhalt thun, indem man etwa verlange, daß die Tarife heraufgesetzt würden. Die Eisenbahnen seien eine Verkehrsanstalt, und die Eisenbahnen müßten so billig fahren, wie es der Eisenbahn-Minister glaube verantworten zu können. Die Revision des Freizügigkeits— und des Unterstützungswohnsitzgesetzes würde eher 'wirk— sam sein.

Graf von Schlieben: Das Sachsengängerthum ist ein Krebsschaden für das ganze Land, es muß ihm mit allen Mitteln entgegengetreten werden. Ost- und Westpreußen sind durch den Zug nach dem Westen fast ganz entvölkert, weil uns der Zuzug aus dem Osten versperrt ist. Wenn die Re— gierung diesen Zuzug offen lassen oder wieder öffnen will, dann wollen wir die Anderen ziehen lassen. Will sie es nicht oder kann sie es nicht aus höheren polilischen Gründen, dann muß sie zu anderen Hülfsmitteln übergehen, sonst steht schon nach 10 Jahren Ost- und Westpreußen vor dem völligen Bankerott.

Graf von Frankenberg befürwortet im Anschluß an die von dem Geheimen Regierungs-Rath von Woyrsch vorgetragenen Be— denken, und unter ausführlichem Hinweis auf die Geschichte des Gesetzentwunfs, betreffend die Unterhaltung der nicht schiffbaren Flüsse der Provinz Schlesien im anderen Hause, die Annahme einer Resolution, welche die Regierung aufsordert, in Er— wägung zu nehmen, ob nicht eine Landescentralstelle einzu— richten sei, welche alle Interessen der Wasserwirthschaft in Bezug auf Landeskultur, Abwendung der Hochwassergefahren und bessere Ausnutzung der Schiffahrt und der Gewerbe zu⸗ sammenfaßt. Die jetzige oberste Wasserbaubehörde sei die dazu ganz ungeeignete Akademie des Bauwesens.

Der Antrag wird mit großer Majorität angenommen.

Die Petition des ersten Vorsitzenden des Fischereivereins, Kammerherrn von Behr-Schmoldow, die Erhöhung des Staats— zuschusses zur Hebung der Fischerei von 80 000 auf 100 000 66 im nächsten Etat zu befürworten, wird auf den Antrag der Kommission der Regierung zur Berücksichtigung überwiefen.

Damit ist der Etat erledigt. Das Etatsgesetz wird ohne Debatte angenommen.

Die Etats- und Finanzkommission hat dem Hause noch folgende Resolution zur Annahme vorgeschlagen: Die Regie— rung aufzufordern, Maßnahmen zu treffen, durch welche es ermöglicht wird, daß das Etatsgesetz dem Herrenhause späte— stens am 15. März jeden Jahres zugestellt wird.

Berichterstatter von Pfuel: Die Nothlage der Noth— wendigkeit rechtzeitiger Fertigstellung des Etats kehre Jahr für Jahr wieder. Gleichwohl habe, als im vorigen Jahre der Staatssekretär Dr. von Stephan an der Behandlung des Etats durch das Abgeordnetenhaus Kritik übte, diese Kritik sehr heftige Angriffe erfahren. Das Herrenhaus brauche wenigstens 14 Tage für die Etatsberathung; solle der Etat rechtzeitig zum 1. April fertig werden, dann müsse er dem Herrenhause spätestens am 15. März zugehen. Die beste Abhülfe läge freilich in der früheren Berufung des Landtages. Mit dem— selben Rechte wie das Abgeordnetenhaus könne übrigens später auch das Herrenhaus, wenn es den Etat zu spät erhalte, den 1. April ganz unbeachtet lassen und seinerseits einen Indemnitätsparagraphen in das Etatsgesetz einstellen, wie es diesmal das andere Haus gethan habe.

Graf von Hohenthal unterstützt dies Verlangen; der Etat sei gewissermaßen die Muttermilch für parlamentarische Säuglinge, entziehe man ihm diese, so sterbe er an Ent— kräftung.

Der Antrag wird darauf mit großer Mehrheit angenommen.

Ober-Bürgermeister Martins referirt über die der Eisenbahnkommission zur nochmaligen Berathung überwiesene Forderung für die Eisenbahn Swinemünde-Heringsdorf in dem Sekundärhahngesetz. Die Kommission empfiehlt die An— nahme der Position, nachdem die Regierung in der Kommission die nochmalige Prüfung der Interessen der Stadt Swinemünde

ersprochen hat. J

Freiherr von Maltzahn verzichtet nach dieser Erklärung der Staatsregierung für jetzt auf die weitere Verfolgung der in der Petition der Stadt Swinemünde enthaltenen Wünsche.

Die Position wird darauf angenommen, und sodann auch die Sekundärbahnvorlage im Ganzen. ) ö.

Das Gutachten der Akademie des Bauwesens über die Regulirung der Stromverhältnisse der Weichsel und Nogat vom 6. Mai 1889 beantragt die Etats- und Finanzkommission durch Kenntnißnghme für erledigt zu erklären.

Graf von Mirbach konstatirt, daß das Gutachten die Begründung der Einwendungen gegen die Idee der Coupirung der Nogat nachweise. .

Ober⸗Bürgermeister Müller findet im Gegentheil, daß die Akademie auf dem Wege sei, von ihrem schroff ablehnenden Standpunkt gegen die Coupirung etwas zurückzutreten. Solle die Nogat erhalten werden, so müßten die Nogatdeiche ganz erheblich verstärkt und zurückgelegt werden. .

Ein Antrag des Ober-Bürgermeisters Müller zu diesem Gegenstande will die Regierung zur Beschleunigung der Aus⸗ führung des Gesetzes von 1888 auffordern. .

Graf von Mirbach erklärt sich bei der Schwierigkeit der Angelegenheit und Angesichts der schwachen Besetzung des Hauses gegen jede Resolution, welche über den Kommissions⸗ antrag hinausgeht. . . .

Minister für Landwirthschaft 2c. Dr. Freiherr Lucius von Ballhausen: Die Minister, welche das Gutachten überreicht haben, indentifiziren sich materiell nicht mit dem⸗ selben; ebenso wenig braucht das eine oder das andere Haus eine Stellung zu dem Gutachten zu nehmen. Der Kommissionsantrag scheint mir daher der xrichtige, weil er keinem Faktor der Gesetzgebung präjudizirt. Für die Ausführung des Gesetzes von 1888 ist das Gut⸗ achten gleichfalls unpräjudiziell. Die Ausführung der bezüg⸗ lichen Arbeiten ist im Gange, der große Deichverband gebildet, sein Statut bestätigt, die Baukommission unter dem Vorsitz des . von Westpreußen eingesetzt. z

Minister des Königlichen Hauses von Wedell erklärt sich für den Antrag der Kommission, der ganz neutral sei und für die Zukunft Ile; offen halte. Um nicht den Schein zu erwecken, als ob damit Stellung gegen die Wünsche der Nogat⸗

anwohner genommen werben solle, bitte er den Ober⸗Bürger⸗ meister Müller seinen Antrag zurückzuziehen. 1 Ober⸗Bürgermeister Müller zieht mit Rücksicht auf die Erklärung des Ministers seinen Antrag, dem Wunsche des Vorredners entsprechend, zurück. Der Kommissionsantrag wird hierauf angenommen.

(Schluß / Uhr.)

Sterblichkeits⸗ und Gesundheitsverhältnisse während des Monats März 1899.

Bemäß den Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundbeitsamts sind von je 1000 Einwohnern, auf den Jabresdurchschnitt berechnet, im Monat März er. als gestorben gemeldet: in Berlin 23,2, in Breslau 27.5, in Königsberg 289, in Köln 27, l, in Kassel 20,9. in Magdeburg 267, in Stettin 3) 0, in Altona 25,1, in Hannover 21,0, in Frankfurt a. M 21,5, in Wiesbaden 197, in München 33.0, in Nürnberg 27,4, in Augsburg 36.8. in Dresden 23,7, in Leipzig 23,4, in Stuttgart 20,4, in Karlsruhe 22,5, in Braunschweig 28,1, in Hamburg 25,6. in Straßburg 22.2, in Metz 369, in Amsterdam 22,6, in Brüssel 23,2, in Budapest 35,7, in Christiania 27,9, in Dublin 28.4. in Edinburg 22,l, in Glasgow 28,?, in Kopenhagen 25,?, in Krakau 35,6, in Liverpool 25,4, in London 20,2, in Lyon 30,5, in Odessa 25.6, in Paris 27,5, in St. Petersburg 30,9, in Prag 27,3, in Stockholm 22,4, in Triest 384, in Turin 30,8, in Venedig 30,0, in Warschau 3040, in Wien- 30,3. (Die außerdeutschen Städte

mfassen den Zeitraum vom 2. bis inkl. 29. März)

Der Gesundheitszustand im Monat März war in der über wiegenden Mehrzahl der größeren Orte Europas ein weniger günstiger als im vorhergegangenen Februar. Namentlich hat die Sterblichkeit in den deutschen Orten erheblich zugenommen, sodaß in 16 derselben (Altenessen, Essen, Hildesheim, Langenbielau, Lindenau, Lüneburg, Memel, Neumünster, Tilsit, Augsburg, Fürth. Landshut, Passau, Zittau, Worms, Metz), ferner in Budapest, Krakau, Triest die Sterb— lichkeitsziffer über 35 pro Mille und Jahr stieg, während nur in 2 Orten (Wilhelmshaven und Glogau) eine Sterblichkeit von unter 165,0 pro Mille und Jahr gemeldet wurde. In 22 deutschen Stäbten, von denen hier nur Barmen, Bromberg, Elberfeld, Gleiwitz. Kolberg, Mühlhausen i. Th., Oppeln, Wiesbaden, Hof, Konstanz, Weimar und Gotha namhast gemacht werden sollen. war die Sterblichkeit eine günstige und betrug die Sterblichkeit nicht M0 pro Mille; in 41 deutschen Orten (darunter in Düsseldorf. Frankfurt a. M. Hannover, Hirsch⸗ berg, Kassel, Kreuznach, Neisse, Nordhausen, Spandau, Stralsund, Bayreuth. Bautzen, Plauen i. V., Kannstatt, Stuttgart, Ulm, Karls ruhe, Offenbach, Eisenach, Bremen, Straßburg) und von außer⸗ deutschen Städten in London, Edinburg, Stockholm blieb die Sterb— lichkeit eine mäßig hohe (etwas über 20,0 pro Mille). Der Antheil des Säuglingsalters an der Gesammtsterblichkeit war im Allgemeinen ein gegen den Vormonat gesteigerter; von je 10 000 Lebenden starben, aufs Jahr berechnet, in Stuttgart 45, in Dresden 61, in Berlin 75, in Damburg 84, in München 118 Säuglinge.

In viel höherem Grade zeigte sich die Zunahme der Sterblichkeit in den mittleren und höberen Altersklassen, und zwar zumeist in Folge der ansehnlich gesteigerten Zahl von Todesfällen an akuten Entzün⸗ dungen der Athmungsorgane, die in vielen Orten, wie in Ber⸗ lin, Breslau, Dortmund, Essen, Hannover, Köln, Magdeburg, München, Nürnberg, Würzburg, Dresden, Leipzig, Hamburg, Straßburg u. a. eine erheblich größere als im Vormonat war. Auch Darm⸗ katarrhe und Brechdurchfälle führten vielfach in größerer Zahl zum Tode, so namentlich in Berlin. Breslau, Königsberg, Danzig, München, Nürnberg, Leipzig, Straßburg, Wien, Budapest, Bordeaux, Paris, London, während in Hamburg, Lille, Marseille, Alexandrien, Kairo die Zahl derselben eine kleinere wurde. Sterbesälle an Influenza (Grippe) wurden aus Berlin (5), London (65), Lissa⸗ bon (50), Erkrankungen an Grippe aus Hamburg (29) und Kopen⸗ hagen (5335) mitgetheilt

Von den Infektionskcankheiten haben Masern, Scharlach, Diphiherie und Pocken mehr, typhöse Fieber und Keuchhusten weniger Todesfälle veranlaßt. So war die Zahl der Sterbefälle an Masern in Berlin, Altendorf, Altona, Krefeld, München. Metz, Prag, Paris, London, Dublin, St. Petersburg, Wien und seinen Vor⸗ orten, ferner in Budapest, Moskau, Bombay, Madras, Baltimore, New Jork eine größere, dagegen in Edinburg, Liverpool eine kleinere, als im Vormonat. Das Scharlach— fieber endete in Berlin, Breslau, Leipzig, Hamburg, Kopen⸗ hagen, Paris, Stockholm, Moskau häufiger tödtlich, während in Prag, London, Livervool, St. Petersburg. Warschau die Zahl der Opfer abnahm. Die Sterblichkeit an Diphtherie und Croup war in Berlin, Breslau, Görlitz,. Köln, Königsberg, Stettin, Frankfurt a. M., München, Stuttgart, Hamburg, Metz, Amsterdam, Burapest, Paris, Lille, Ma seille, Wien, Triest, Boston, Brooklyn, Cincinnati, New⸗York eine gesteigerte, dagegen in Hannover, Kiel, Linden, Nürnberg, Leipzig, Karls— ruhe, Braunschweig, Christiania, London, Lyon, St. Petersburg, Steckholm. Warschau, in den Vororten Wiens eine verminderte, und blieb in Magdeburg, Dresden, Prag, Moskau, Baltimore, Boston

no St. Louis nahezu die gleich hohe wie im Februar. Dem Keuch⸗

sten erlagen, besonders zu Ende des Monats, in Berlin, Köln, Flasgow, Dublin, Edinburg, Liverpool, London, Paris weniger Kinder als im Vormonat. Das Vorkommen von Unterleibs—⸗ typhus blieb in Berlin, Magdeburg, Hamburg, London, St. Petersburg und Kairo ein selteneres, in Paris, Marseille, Chicago, New York nahm die Zahl der Sterbefälle eiwas zu. An Fleckt yphus kamen aus Warschau 1, aus Krakau und Kairo je 2, aus St. Petersburg 4, aus Moskau 15 Todesfälle zur Berichterstattung. Das Räck— fallfieber trat in St. Petersburg häufiger, meist jedoch mit mildem Verlaufe auf. An Genickstarre wurde aus Elberfeld und Prag je 1 Todesfall mitgetheilt. Vereinzelte Sterbefälle an Pocken kamen aus Berlin, Rixdorf, Reichenberg, Troppau, Brüssel, Nancy, Kopenhagen, St. Petersburg zum Bericht; mehrfache aus Prag. Qdessa, Moskau (je 27), aus Wien und Lyon (je 3, aus M. Gladbach (4), aus Pilsen und Paris (je 6), aus Brünn und Alexandrien (je 9), aus Genua (11), aus Lissaben und Madras (je 13), aus den Vororten Wiens (15), aus Marseille (34), aus Venedig (47), aus Warschau (54), aus Rio de Janeiro (Dezember 1889 119), auch wurden aus letzterem Orte noch 20 Todesfälle an Gelbfieber mitgetheilt. In Bukarest und New⸗Orleans erlag je 1 Person der Tollwuth.

Statistik und Volkswirthschaft.

Zur Arbeiterbewegung.

Im August d. J. soll, einer Bekanntmachung des Vorsitzenden des (alten) Verbandes rheinisch⸗westfälischer Bergleute zufolge, in Halle in der Provinz Sachsen der 1. deutsche Bergarbeiter tag stattfinden. Alle Berufsgenossen Deutschlands werden auf— gefordert, sich auf diesem Bergarbeitertage vertreten zu lassen. Je 19 000 Bergleute entsenden 1 Delegirten. Für Reviere mit weniger als 10000 Bergleuten wird ebenfalls 1 Delegierter gewünscht. Am 15. Juni 1890 wird zu Dortmund in Westfalen zur Regelung dieses Bergarbeitertages ein Vorbereitungstag abgehalten.

Aus Kleinrosseln berichtet die „Metzer Ztg.“ unter dem 7. d. M., daß die Arbeiterbewegung im dortigen Grubenrevier nicht zur Ruhe gelangen will. Am Sonntag soll für den darauf folgenden Montag eine abermalige Arbeitseinstellung Seitens der Arbeiter verabredet and pe loft . weil i n keine offnun haben, a ihre orderungen edi Mf la einschließlich der Ein. und Ausfahrt, Wieder. Einstellung der abgelegten Bergleute 2c. bewilligt werden. In Stiering⸗Wendel ist die Angelegenheit der Arbeiter in ein

ruhigeres Fahrwasser gelangt, da die Arbeiter ihr Vertrauen auf das