bezüglich anderer Vorschriften des Gesetzes ermöglicht werden, in denen ein solcher Zusatz nicht gegeben ist. Es ist ganz zutreffend, wenn der Hr. Abg. Dr. Miquel der Auffassung Ausdruck giebt, daß, wenn eine Beschwerde nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist, die Be⸗ schwerde innerhalb des geordneten Instanzenzuges für zulässig erachtet werden muß.
Zu dem Antrag des Hrn. Abg. Auer und Genossen, bezüglich des Absatzes 2 des s 16, kann ich mich nur den Ausführungen des Hrn. Abg. Miguel anschließen. Ich würde mich erst dann über die De⸗ sfinition der Verletzung der Amtspflichten', welche der Hr. Abg. Singer in Aussicht gestellt hat, äußern können, wenn diese Definitien vorliegt Im Allgemeinen aber halte ich eine solche Definition für entbehrlich. Denn was begriffsmäßig i nn einer Amts pflicht ist, kann für Niemand irgendwie zweifelhaft fein, und wo in that ⸗ sächlicher Beziehung Zweifel entstehen, ist es eine quaestio facti, die unter allen Umständen der Beurtheilung des Gerichts überlassen bleiben muß. .
Ich Uebrigen halte ich den Absatz? des 5. 16 für nicht ent⸗ behrlis. Streichen Sie nach dem Antrage der Hrrn. Abgg Auer und Genossen dieses Alinea, dann bekunden Sie damit die Absicht, Richter, die sich einer unwürdigen Verletzung ihrer Amtspflicht schuldig gemacht haben, gleichwohl in ihrem Amte zu belassen, und das kann keiner von Ihnen wollen.
Abg. Ackermann meint, daß man über den Fall mit dem rothen Taschentuch nicht ohne Kenntniß des ganzen Akten⸗ materials urtheilen könne. Daß die sächsischen Gerichte ihre
Urtheile nicht nach dem Geschmack der Sozialdemokraten ein⸗ richten, mache er ih nen nicht zum Vorwurf; sie urtheilen nach gegen die Verdächtigung der
dem Gesetz. Er sächsischen Gerichte.
Vize-Präsident Baum bach: Ich setze voraus, daß das Wort „Verdächtigung“ nicht gegen ein Mitglied des Hauses ausgesprochen ist.
Abg. Ackermann: Ich weiß nicht, welches andere Wort ich an die Stelle setzen soll, aber ich will nach der Aufforderung des Präsidenten das Wort zurückziehen.
g. Singer: Ein genauer Abdruck jenes rothen Taschentuchs ist den Mitgliedern des vorigen Reichstages, zu denen der Abg. Ackermann gehörte, vorgelegt worden, und wegen dieses Stückchens orangefarbenen Papiers ist ein Mann zu 11 Tagen Gefängniß verurtheilt worden. Das beweist, daß bei den sächsischen Gerichten Alles möglich ist.
Vize-⸗Präsident Baumbach bittet von deutschen Behörden nicht in solchem Ton zu sprechen. .
Abg., Sin ger Ich verwahre mich ferner gegen die Unterstellung des Staatssekretärs, daß es unsere Absicht sei, des Amts unwürdige Leute im Amt zu lassen. Wir wollen nur verhindern, daß des Amts nicht unwürdige ausgeschlossen werden können.
Staatssekretär Dr. von Boetticher:
Ich bin erstaunt darüber, daß der Herr Vorredner mir eine Aeußerung untergelegt hat, an die ich garnicht gedacht habe. Ich habe das gerade Gegentheil gesagt. Ich habe gesagt, „das können Sie nicht wollen,“; daß die Folge eintritt, die mit der Streichung dieses Alinea 2 verbunden ist, daß unwürdige Richter nicht entfernt werden können. Ich abe ausdrücklich mit den Worten geschlossen: „»Das können Sie nicht wollen, und Ihnen dicse Absicht unter— zuschieben, hat mir durchaus fern gelegen. Ich würde sogar jetzt nicht einmal soweit kommen, zu sagen: qui s'excuse, s'accuse.
Abg. Kauffmann hält den Begriff „grobe Verletzung der Amtspflicht“ doch für einen unbestimmten und stellt einen Aenderungsantrag für die dritte Lesung in Aussicht. ö
„Be⸗
§. 185 wird darauf unter Streichung der Worte: schwerde findet nicht statty angenommen.
Die 5§§5. 17 — 20, welche von der Verpflichtung des Vor— fitzenden und der Beisitzer, der Besetzung der Gewerbegerichte bei den Verhandlungen u. s. w. handeln, werden unverändert angenommen.
der zweite Abschnitt: Verfahren Gs. 21
Es folgt bis 54).
Die §§. 21 — 25 werden unverändert angenommen, nachdem auf eine Anfrage des Abg. Uhlendorff sowohl der Geheime Regierungs-Rath Hoffmann als Abg. von Cuny geantwortet haben, daß der Wunsch der Lipp'schen Ziegler, daß sie ihre Streitigkeiten nicht an ihren Arbeits— orten, wo sie sich im Sommer aufhalten, sondern an ihrem Wohnort erledigen können, durch das Gesetz erfüllt sei.
Nach 5. 25 a werden Rechtsanwälte und gewerbsmäßige Rechtsheistande vor dem Gewerbegericht nicht zugelassen.
Abg. Freiherr von Pfetten hält es für zweckmäßig, in
gewissen Fällen, wo es sich um schwierige Rechtsfragen handelt, die Zuziehung eines Rechtsanwalts zu gestatten. Abg. Kauffmann hält die Zulaffung der Rechtsanwälte für unzweckmäßig, weil sie das Verfahren vertheuern und ver— längern würden, was namentlich bei den kleinen Streitfällen, um die es sich handle, bedenklich sei. Es könnten sich sehr leicht Spezialisten für die Gewerbegerichte im Rechtsanwalt— stande herausbilden, und das wünsche er nicht. Einen etwaigen Einnahmenausfall würden die Rechtsanwälte trotz ihrer schwierigen Lage gern verschmerzen.
Staatssekretär Dr. von Boetticher:
Ich kann nicht leugnen, daß ich fuͤr die Tendenz, die dem Antrage des Hin Abg. Freiherrn von Pfetten zu Grunde liegt, doch etwas übrig habe. Es scheint mir unter Umständen eine große Färte — und zwar nicht bloß für den Arbeitgeber, fondern auch für den Ar— beiter — darin zu liegen, daß es den streitenden Theilen verwehrt sein soll, sich eines rechtsverständigen Beiraths zu bedienen. Bie Herren meinen zwar, daß es sich stets um ganz untergeordnete Strei⸗ tigteiten handeln werde. Es können indessen doch unter Umständen recht schwierige Rechtẽfragen, namentlich wenn es sich um die Interpretation von i bandelt, entstehen, bei denen der
protestire
ü Verträgen Arbeiter, der ohne Rechtsbeistand vor Gericht erscheint, in einer sehr ungünstigen Lage sich befindet. Ich erinnere aber weiler daran, daß der Arbeiter klank werden, daß er abwefend fein kann; er kann an einem dritten Drte Arbeit genommen haben, während sich der Streit vor dem Gerichte an seinem früheren Beschäftigungsorte abspielt. Da soll ihm verwehrt sein, einen Rechtöanwalt 'zu nehmen! Ich finde darin eine gewisse Härte, und diese Auffassung hat auch die verbündeten Regierungen bestimmt, eine solche Vorschrift, wie sie der von Ihrer Kommission beschlossene §. 25 a enthält, nicht' in die Vor⸗ lage aufzunehmen.
Das allerdings gebe ich zu: so wie der Antrag des Hrn. Abg. Freiherrn von Pfetten lautet, wird er kaum in das Gesetz aufge⸗ nommen werden können. Es besteht der Unterschied zwischen seinem Antrag und dem Beschluß der Kommission lediglich darin daß, während die Kommission vorschlägt: Rechtsanwälte Und ge“ werbsmäßige Vertreter dürfen nicht zugelassen werden, — Hr. von Pfetten vorgeschrieben wissen will; sie sollen nicht zugelaffen werden. Die Wirkung dieser Vorschrift würde allein die sein, daß aus der Zulassung eines solchen Vertreters eine Nichtigkeit des Ver— fahrens nicht folgt, während, wenn es bei den Vorschlägen Ihrer Kommission bleibt, die Nichtigkeit des Verfahrens die Folge der Zu⸗ lafsung eines Rechtsanwalts oder eines gewerbsmäßigen Vertreters sein würde. Wenn aber Hr. Freiherr von Pfetten seinen Antrag dahin korrigiren wollte, daß er es als die Regel hinstellt, daß Rechts⸗ anwälte oder gewerbsmäßige Vertreter nicht zugelaffen werden sollen, so würde damst dies mein Bedenken erledigt fein.
Ich gebe ja zu, daß es immerhin etwas Mißliches hat, wenn man es dem freien Ermessen des Vorsitzenden oder des Gerichts überläßt, ob ein Vertreter der bezeichneten Kategorie zugelassen werden soll. Allein dieses Bedenken kann mich doch nicht bestimmen, den Antrag als eine Verbesserung anzusehen gegenüber den Beschlüssen der Kom⸗ mission wenn man wenigsteng die Möglichkeit offen läßt, daß Parteien, die nach dem Ermessen des Gerichts wirklich einer rechts verständigen Vertretung bedürfen, auch in die Lage gesetzt werden, der Vertretung sich bedienen zu können. , ö ?
Ich resümire mich: Prinzipaliter würde ich mich dafür erklären, daß der Paragraph geftrichen wird; eventualiter würde ich auch einem modifizirten Antrage Pfetten beim Bundesrath das Wort reden.
Nachdem noch die Abgg. von Cuny und Eberty sich für den Ausschluß der Rechtsanwälte ausgesprochen hatten, zieht Abg. von Pfetten seinen Antrag zurück und behält sich vor, in der dritten Lesung einen anderen Antrag einzu⸗ bringen.
8. 25a wird angenommen.
Zur Geschäftsordnung beantragt Abg. Eb erty, nunmehr die Abstimmung über 8. 12 vorzunehmen. ;
Hen nn gern Graf von Ballestrem bleibt bei seiner Auslegung der Geschäftsordnung, daß diese Abstimmung erst dann stattfinden könne, wenn der ganze §. 12 berathen sei. Wenn das Haus ander entscheide, müsse er sich aber fügen.
Abg. Br. . beantragt, den Rest des 5§. 12 und den 5§. 72 jetzt zu berathen.
Dieser Antrag wird mit 114 gegen 101 Stimmen an⸗ genommen.
Nach §. 2 wird die Zuständigkeit der Innungen zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und ihren Lehrlingen und der Innungsschiedsgerichte bezüglich der Streitigkeiten zwischen Innungsmitgliedern und ihren Gesellen von diesem Gesetze nicht berührt. Der dritte Absatz des 5§. 12 schließt deshalb die Innungsmitglieder und deren Gesellen von der Wahlberechtigung zum Gewerbegericht aus.
Ein Antrag Eberty, diese Debatte zu vertagen, wird abgelehnt.
Abg. Eberty: Nach der jetzigen Fassung des §. 72 wird künftighin die Zuständigkeit eines Innungsgerichts der Zu⸗ ständigkeit eines Gewerbegerichts in einer großen Anzahl von Fällen vorgehen. Nur für Jemand, der sich sehr genau mit der einschlägigen Materie beschäftigt hat, wird es möglich sein, sich aus den Bestimmungen, die hier in Anwendung kommen, herauszufinden. Die allgemeine Frage, ob die bis herige Institution sich überhaupt bewährt hat, will ich zunächst unerörtert lassen. Dringend nothwendig aber erscheint, daß eine einheitliche Rechtsprechung für gewerbliche Streitig— keiten geschaffen wird. Den Gegensatz zwischen den Innungen auf der einen Seite und den übrigen arbeitenden Klassen andererseits durch Gesetz hier festzulegen, wäre so unweise als möglich. Ich würde die Streichung des ganzen 8. 72 für kein Unglück halten. Indessen ließe sich in Bezug auf die Lehrlinge für die dritte Lesung noch eine Verein— barung schaffen; die Streitigkeiten der Gesellen aber müßten jedenfalls den Innungen entzogen werden. Es würden sonst, abgesehen von allem Andern, für die Handhabung und Ausführung des Gesetzes Schwierigkeiten geschaffen, deren Umfang Sie jetzt gar nicht übersehen können. In Berlin würden z. B. 43 verschiedene Innungsgerichte den Gewerbegerichten Konkurrenz machen. Bei der Frage der Legitimation der Wahler müßte auch erst jedesmal materiell festgestelt werden, ob der Wählende zu einer Innung gehört oder nicht; in dem ersteren Fall wäre er ja gar nicht wahl— berechtigt. Allein das würde ungeheure Schreibereien ver— ursachen. Aus diesen Gründen bitte ich Sie, den 5. 72 ab— zulehnen.
Abg. Tutzauer: Die Innungen haben nicht die Be⸗ deutung, die man uns von der ihnen freundlichen Seite glauben machen will. Die geringe Betheiligung an den Wahlen zu denselben beweist das schwache Interesse. Wenn Sie jetzt den Innungen weitere Vorrechte geben, so würden dadurch die Mißhelligkeiten zwischen den Arbeitern und Arbeit— gebern außerordentlich gesteigert werden. Was für Unzuträglich— keiten werden nicht schon bei den Wahlen zu den Beisitzern ent— stehen! Es muß da festgestellt werden, ob die zur Wahl kommenden Personen bei dem Innungsmeister beschäftigt sind oder bei einem Meister, der nicht zur Innung gehört, das wird sehr oft nicht leicht festzustellen sein, es werden auch Leute theilnehmen, die bei Innungsmeistern arbeiten. Das könnte leicht die Un— gültigkeit der Wahl zur Folge haben. Ferner dürften, wenn der 8. 72 angenommen wird, zu Beisitzern Leute nicht gewählt werden, die bei Innungsmeistern beschäftigt sind oder selbst Innungsmeister sind. Unter zehn Arbeilern weiß aber in Berlin kaum einer, ob ihr Meister der Innung angehört oder nicht. Die Meister pflegen das in Berlin geheim zu halten, weil sie wissen, daß die Gesellen von den Innungen nicht viel halten. Verwaltet Jemand das Beisitzeramt eine längere Zeit, vielleicht 15 Jahre, und tritt dann bei einem Innungsmeister in Arbeit — er maWg das vorher nicht einmal gewußt haben, daß derselbe Innungsmeister ist —, so müßte er das Amt niederlegen. Das sind Zustände, die zur Förderung der Ge⸗ werbegerichte nicht beitragen werden.
Abg. Ackermann: Daß die einheitliche Rechtsprechung bei Annahme des 5§. 2 durchbrochen würde, gebe ich zu— Aber keine Regel ohne Ausnahme! Wenn die Ausnahme sich rechtfertigen läßt und zweckmäßig ist, so gehe ich von der Regel ab. Was machen die 45 Kompetenzen der Innungen in Berlin für Schwierigkeiten? Die Innungen führen doch über ihre Mitglieder genaue Listen. Jede Innung weiß, welche Handwerker sie umfaßt. Ebensowenig kann es schwierig sein festzustellen, welche Gesellen bei den Innungen beschäftigt werden. Daß ein Geselle von einem Innungsmeister zu einem anderen Meister geht, wird vorkommen, aber auch diese Thatsache läßt Iich leicht feststellen. Zu den Wahlen werden wahrscheinlich Urlisten festgestellt werden müssen. Dabei wird sich ein jeder Wahlberechtigte legitimiren müssen. Ob die Gesellen den Innungen freundlich sind oder nicht, läßt sich nicht beweisen. Sobald es sich um Innungen handelt, geht man darauf los, wie auf ein rothes Tuch. Es liegt kein Anlaß vor, Institutionen, die wir zur Stärkung der Innungen geschaffen haben, zu beseitigen. Wir müssen im Gegentheil die Gelegenheit benutzen, um auch die Streitig— keiten zwischen Meistern und Gesellen ihnen ein für alle Mal zuzuweisen.
Cin Verlagungsantrag des Abg. Schmidt⸗Elberfeld wird abgelehnt.
Abg. Freiherr Schenck von Stauffenberg (zur Ge— . Die Abstimmung über diesen Gegenstand konnte kein Mensch in diesem Hause erwarten; es hat aber den Anschein, als ob man durch Ablehnung aller Vertagungs— anträge die Sache heute zum Abschluß bringen wollte. Ich
würde dann die Beschlußfähigkeit des Hauses bezweifeln müssen, was ich bisher noch nie gethan habe, aber zum Schutze der Minorität des Hauses 966 muß. .
Vize Präsident Graf von Ballestrem: Was der Herr Abgeordnete thun will, wird er ja später durch Anträge zum
Ausdruck bringen können.
Abg. Meyer (Berlin): Sachsen ist das klassische Land der Höflichkeit. Deshalb hat mich eine Stelle der Rede des Abg. Ackermann nicht überrascht. Er sagte, es handle sich um Innungen, und darum ginge man darauf los wie auf das rothe Tuch. Daß er verschwiegen hat, wer auf das rothe Tuch loszugehen pflegt, darin besteht eben die ganz spezifische Höflichkeit des Abg. Ackermann. Es ist heute erzählt, daß die Auffassung eines rothen Tuches im Königreich Sachsen eine ganz besondere Auftegung und sogar gerichtliche Verfolgung hervorgerufen hat; die damals ihre n en gegen das rothe Tuch zu Tage legten, haben gewiß nicht zur freisinnigen Partei gehört. Die ursprüngliche Regierungsvorlage nahm mehr Rücksicht auf die bestehenden Innungsgerichte, als uns zweckmäßig erscheint, und wir wollten hier Ein— schränkungen eintreten lassen, aber die Kommission hat die Vorlage sogar noch verschlechtert. Es wäre beklagenswerth, wenn eine solche Angelegenheit übereilt in vorgerückler Stunde erledigt würde. Sie wollen durch diese ö die Innungen stärken; das beweist, daß die Innungen immer noch schwächliche Kinder find. Sie sehen sich deshalb bei jeder Gelegenheit nach einem neuen Kindermehl um, das die schwäͤchliche Konstitution stärken soll, und ein solches glauben Sie in den Innungsgerichten gefunden zu haben. Die Gewerbegerichte erfordern schon Opfer, welche die Gemeinden allerdings gern geben werden, aber ihnen noch die Spezialkosten für vielleicht ein Dutzend Innungs— gerichte aufzuerlegen, wäre eine große Härte. Wer nicht zur Innung gehört, kann auch kein Vertrauen zu den Innungs⸗ gerichten haben. Wir würden hiernach statt eines einheitlichen Gewerbegerichts eine Vielköpfigkeit erhalten, ein Chaos, das auf die Rechtspflege nur lähmend wirken kann.
Um 4/0 Uhr vertagt das Haus die weitere Berathung auf Freitag 1 Uhr.
— Der von dem Grafen zu Stolberg erstattete Bericht der VII. Kommission über den ihr zur Vorberathung über— wiesenen Gesetzentwurf, betreffend die Friedenspräsenz⸗ stärke des deutschen Heeres, liegt jetzt im Druck vor. Die Kommission hat neun Sitzungen gehalten. Aus dem Gang ihrer Verhandlungen heben wir Folgendes hervor.
Die Kommission ging davon aus, daß, da dem Deutschen Reich die Absicht, einen Angriffskrieg zu führen, fern liege, eine Verstärkung des Heeres nur dann und nur insoweit gerechtfertigt erscheine, als die selbe durch die in anderen Ländern stattgefundene Vermehrung der Streitkräfte unabweislich geboten sei.
In der Generaldebatte begründete der erste Vertreter der Militärverwaltung die Vorlage in folgender Weise:
Frankreich habe durch sein neues Wehrgesetz einen solchen Vor— sprung erhalten, daß etwas geschehen müsse, um das jetzt schon vor⸗ handene Uebergewicht, welches sich in Zukunft noch steigern würde, einigermaßen auszugleichen. Man könne zweifelhaft sein, ob eine Vermehrung unserer Streitkräfte nicht schon zu einem früheren Termin hätte gefordert werden müssen, jedenfalls sei es jetzt die höchste Zeit dain. Die Militärverwaltung nehme jede zulässige Rücksicht auf die Schonung der Finanzen, aber es vertrage sich nicht mit der ihr zu⸗ , Verantwortlichkeit, mit Mehrforderungen noch länger zögern zu wollen
Ein Mitglied der Kommission behauptete dem gegenüber: Seit der letzten Feststellung der Friedenspräfenzstärke im Jahre 1887 babe eine Vermehrung der französischen Streitträfte nicht über das bei dem Septennatsgesetz vorausgesehene Maß stattgefunden. Wern also, wie damals von der Militärverwaltung behauptet worden sei, das Septennat von 1887 genügende Streitkräfte zur Disposition ge— stellt habe, so treffe dies auch jetzt noch zu. Man könne sogar be— haupten, die Stärke der französischen Infanterie sei verringert worden durch die Auflösung der vierten Bataillone. Unfere präsenten Com— pagnien seien stärker als die französischen; die französische Artillerie sei der unseren ziffernmäßig auch früher schon überlegen gewesen, und inzwischen sei auch unsere AÄrtillerie verstärkt worden.
Tin Vertreter der Militärverwaltung erwiderte hierauf
Die Begründung des Gesetzentwurfs gehe davon aus, daß eine Erhöhung der Friedenspräsenzstärke erforderlich sei, weil seit Ein⸗ bringung des gegenwärtig bestehenden Septennats sich durch die fort— gesetzten Rüstungen Frankreichs und Rußlands, insbesondere durch das französische Wehrgesetz vom 15. Juli 1889, die militärische Lage in einer Weise verschoben habe, wie dies damals nicht vorausgeseben erden konnte und demgemäß auch nicht in Berechnung gezogen fei. In Ausführung dieses Gedankens machte derselbe dann, gestützt auf zahlreiche, der Kommission übergebene statistische Nachweisungen theils in zusammenhängender Ausführung, theils in Erwiderung der an ihn gerichteten Fragen, nähere Angaben, deren wesentlicher Inbalt — soweit derselbe nicht als sekret bezeichnet wurde — etwa folgender war:
I. 1887 war angenommen worden, die französische Friedeng— präsenzstärke werde im Laufe des Septennats sich auf etwa 215 030 Mann steigern. Für 1891 ist dieselbe indeffen bereits in Döhe von 520 545 Mann, ausschließlich Gendarmerie, vorgesehen. Die verschiedenartige Bedeutung der Friedenspräsenzziffer in Frankreich und Deutschland wurde des Näheren erläutert. In Frankreich be— trage bereits die Friedenspräsenz von 1890 — 5595 649 Mann aus— schließlich Gendarmerie — 1,303 ο, der Bevölkerung, während in Deutschland auch nach der durch die Gesetzesborlage beabsichtigten Erhöhung und unter Einrecknung von g000 Einjährig-Freiwilligen sich ein prozentuales Verbältniß der Friedensstärke des Heeres zur Bevölkerung von 1,ů008 6 ½ ergiebt.
2) An der Hand statistischen Materials über die Ergebnisse des Ersatzgeschäfts in Frankreich im Jahre 1889 und auf Grund der Wehigesetzgebungen Frankreichs und Deutschlands wurde eingehend ausgeführt, daß man unter der Wirkung des neuen franzöfischen Wehrgesetzes vom Jahre 1890 an mit einer jährlichen Rekruten einstellung in Frankreich von mindestens 229 000 Mann rechnen müffe, und daß nach völliger Durchführung dieses Gesetzes, d i. in 25 Jahren, Frankreich eine Üeberlegenheit von rund dreiviertel Millionen ausge⸗ bildeter Mannschaften über Deutschland haben werde, wenn man kei uns bei der gegenwärtigen Rekrurteneinstellung stehen bleibe.
3) Zur Zeit habe für den Mobilmachungsfall Frankreich 3. bis 400 000 ausgebildete Mannschaften mehr als Deutschland. Dies sei darin begründet, daß Frankreich über 25, Deutschland nur über 24 Jahrgänge verfügt und daß die jährlichen Rekruteneinstellungen bis auf die letzte Zeit in Frankreich höhere waren. Den ausgebildeten Ersatzreservisten in Deutfchland (9 Jahrgänge, durchschnittlich je 18 660 Mann) stehen in Frankreich 3 Jahrgänge hommes 4 disposition von je 55, bis 58 0097 Mann gegenüber, welche dort ,. letzten 3 Jahren eine annähernd gleiche Ausbildung erhalten
aben.
4) In Bezug auf Rußland wurde ausgeführt, daß die Friedens präsenzstärke desselben sich seit 1837 um rund 43 000 Mann, das jährliche Rekrutenkontingent um etwa 20 000 Mann vermehrt habe. Die Dienstpflicht im stehenden Heere und entsprechend auch in der Reichswehr sei um 3 Jahre erböbt. Es wurden die bei allen Waffengattungen stattgehabten Neuformationen aufgezählt und ing⸗ besondere auch auf die Bedeutung der Vermehrung der Referve⸗Cadre⸗ Bataillone hingewiesen.
erwesen, die Friedens und Kriegsstärken von Dester ⸗ ö 2 Iden wurden näher besprochen. Wolle man die egenwärtigen Kriegs stãärken don Frankreich und Rußland auf der 26 Dentschland, Desterreich Ungarn und Italien auf der anderen Seite sich gegenüberstellen, jo ergäbe sich für den Dreibund ein NMinderbestand von rund 650 090 Mann. . Weiter erklärte der erste Vertreter der Militär= verwaltung: Da die Ueberlegenheit Frankreichs konstatirt sei, und 23 mit jedem Jahre eine größere werden würde, so halte er flicht, zu erklären, daß die jetzige Vorlage nicht aus⸗
Zeit die groß aufstellten, es angestreb
ben . außerdem etwa 20 000 Mann bedingt
äuszubildender aus, der, Gesammtzahl derselben — für den Augenbli, wo drei Jahrgänge zur Verfügung stehen, also etwa 34656 Mann. Wir sind in der Lage, diese sofort einzustellen, aber wenn wir solide ausbilpen wollen, und das wollen wir, so müssen und können wir nur schrittweise vorgehen. Wir wollen uns nicht in die Breite ausdehnen, sondern den Zuschuß an Mannschaften wollen wir dem inneren Sehalt der Armee und der weiteren Entwickelung der einzelnen Waffen hinzufügen. Wir können auch aus Mangel an Ausbildungsversonal nur sehr schrittweise vorgehen, sodaß wir auf längere Zeit hinaus abschnittsweise vorgehen würden, zuerst etwas saneller, um den Vorsprung der Anderen ein wenig auszugleichen; später kann nur in dem Prozentsatz fortgefahren werden, den die Zunahme der Bevölterung ergiebt. Einzelheiten und Perioden kann ich nicht angeben, es ist eine Grundlage, bei welcher jede Etappe mit Ihnen vereinbart werden muß, wenn die Angelegen⸗ heit an Sie herantritt; eine Grundlage, die noch gar keine feste Gestalt erhalten bei welcher vor Allem den verbündeten Regierungen noch gar keine Gelegenheit gegeben worden ist, Stellung dazu zu nehmen. Jedenfalls binden Sie sich bei der jetzigen Vorlage noch in keiner Weise. Stellung zu der Sache kann nur genommen werden, wenn ein fertiges Projekt dasteht.“ ö ;
Im weiteren Verfolg der Debatte erklärte derselbe: ‚Daß wir mit diesen 18 000 Mann nur einen ersten Schritt machen, geht schon aus der Begründung hervor. Bei dieser Forderung von 5000 Re— kruten mehr können wir unmöglich den Vorsprung decken, den Frank— reich bereits im Augenblick hat. Wir werden also mehr fordern müssen; in welchen Etappen läßt sich zur Zeit nicht bestimmen.“
Nachdem von einigen Mitgliedern der Kommission das Ersuchen en den Vertreter des Reichs⸗Schatzamts gerichtet war, sich über die allgemeine finanzielle Lage zu äußern, erklärte derselbe:
Der Bundesrath habe über den Nachtrags⸗Etat wegen der Be— soldungsverbesserungen beschlossen: derselbe fordere 198 924 082 , darunter für Offiziere (und zwar nur für Stabsoffiziere nicht in Regiments ⸗Commandeur⸗Stellungen, für Hauptleute und Premier⸗ Lieutenant) etwa 4 000 0900 6. Ein xeiterer Nachtrags-Etat solle die finanziellen Konsequenzen des Militärgesetzes einschließ · lich der einmaligen Ausgaben, sowie die bereits an ekündigten Forderungen für Uebungen mit dem neuen Gewebr und für militä— rische Bahnbauten enthalten. Letztere Zahlen könne er noch nicht mitteilen, da der Bundesrath noch keinen Beschluß gefaßt habe; die Forderung für Bahnbauten betrage aber nicht 200 Millionen, sondern weniger als den zehnten Theil dieser Summe. Die gesammten Nach—
trags⸗Etats für 1890/91 würden sonach bei unveränderter Annahme der Vorlagen die Ausgaben des ordentlichen Eiats um etwa 33 bis 34 M lionen steigern, nämlich der erste Nachtrags⸗Etat rund (00 900 , der zweite (Gehälter) rund 20 000 000 , die Militär- ausgaben rund 8—9 9900 600 „, dabei sei vorausgesetzt, daß, um die Matrikularbeiträge nicht noch höber zu belasten, die einmaligen Aus— gaben des dritten Nachtrags⸗Etats für dieses Jahr sämmtlich auf Anleibe verwiesen würden. . .
Für die Dauer sei aber mit erheblich höheren Ziffern zu rechnen, nämlich a. dem vollen Jahresbetrage an fortdauernden Ausgaben aus dem Militärgesetz 18 6000 000 6, b. hierzu die Besoldungsauf⸗ besserungen 20 906 000 M, e. Mehraufwand an Zinsen, und zwar wesentlich für bereits bewilligte, aber noch nicht oder erst kürzlich be⸗ gebene Anleihen etwa 8 000609 „, d, die Ausgaben für die Alters— und Inæalidenversorgung seien noch nicht genau zu über sehen. Für die ersten 3 Jahre veranschlage man sie auf etwa 7, X13 Millionen, man könne also hierfür 10 900 000 1 ansetzen, e. für Ost⸗Afrika enthalte bekanntlich der im Winter verabschiedete Etat nichts. Wenn man hierfür und f. für denjenigen Theil der einmaligen Ausgaben aus dem Militärgesetz, welche nach bisherigen Grundsätzen dem ordentlichen Etat zuzuweisen seien, etwa 4000 000 „ ansetze, so komme man auf eine dauernde Erhöhung der fortdauernden Ausgaben von etwa 60 000 9000 46 ö ;
Für die Deckung dieser Ausgaben im Etats jahre 1890,91, theil⸗ weise auch wohl noch im Jahre 1891392, bieie sich beim Fehlen anderer Quellen nur die Möalichkeit erhöhter Matrikularbeiträge, Das sei für die Einzelstaaten störend; es sei indessen zunächst wohl anzunehmen, daß die Bundesstaaten, wie dies in Preußen und Bayern der Fall sei, in ihre Etats die Sätze der Bundesraths vorlage ein— gestellt hätten, welche an Matrikularbeiträgen pro 1899,91 etwa 3 Millionen mehr in Aussicht genommen hatte, als der festgestellte Etat enthält. Dazu komme, daß das Etatsjahr 1889,90 für die Einzelstaaten sehr günstig abgeschlossen babe. Der Etat ür 1889,90 habe etwa WI Millionen an Ueberweisungen in Aut— sicht genommen. Diese Summe sei um etwa 73 Millionen über⸗ schritten, welche den Einzelstaaten die erböbten Lasten des Jahres 1390,91 erleichtern könnten. Allerdings sei es fraglich, ob auch im Etatsjabre 1890/91 die auf etwa 2933 Millionen veranschlagten Ueberweisungen in ähnlichem Maße überschritten werden würden, ausgeschlossen sei dies jedoch nicht. Jene Mehrsumme von 3 Millionen im Jahre 1889 99 setzte sich zusammen aus etwa Millionen mehr bei Zöllen und Tabacksteuer, 153 Millionen mehr hei den Stempelabgaber, abzüglich 19 Millionen Minderertrag der Branntwein; verbrauchkabgabe. Der Ertrag der letzteren dürfte sich heben. Bei den Stempelabgaben sei ein Zurückgehen wobl möglich, da die hohen Einnahmen für 1889.80 hier den besonderen keineswegs gefunden Verhältnissen des Börsenverkehrs entsprungen, auch die 2 Millionen aus der Schloßfreiheits⸗ Lotterie in jener Summe enthalten seien. Die hohe Einnahme aus den Zöllen sei zum Theil durch die Kornzölle hervorgerufen. Nun hätten die ungünstigen deutschen Ernten der Jahre 1888 und 1889 den Import begünstigt, während das Jahr 1890 bisher bessere Aus sichten biete. Auf der anderen Seite habe aber auch Ruß land 1889 eine schlechte Ernte gehabt und der Stand des Rubels habe die Ausfuhr nicht begünstigt; es sei nicht ausgeschlossen, daß eine Veränderung dieser Verhältnisse im Jahre 1896,91, den Korn⸗ export Rußlands steigern und damit die Wirkungen einer besseren deutschen Ernte auf Verminderung der Zölle ausgleichen könne. Für das Jahr 1891/8 komme in Betracht, daß Fer Etat dieses Jahres ein Defizit von 1889/90 nicht zu decken habe,
Leute,
mithin um etwa 20 Millionen besser stehe, als der Etat für 1890‚91. Auf die Dauer werde aber allerdings eine Mehrausgabe von jährlich 60 Millionen ohne Vermehrung der Einnahmen nicht gedeckt werden können. Daraus folge für ihn zu= nächst mit zwingender Nothwendigkeit, daß eine Verminderung der bestehenden Reichteinnahmen, etwa durch Abfchaffang der Kornzölle, vom finanziellen Standpunkt aus unzulässig sei Die vorgeschlagene Reichs, Hinkommensteuer würde ein Abweichen von dem im Ärt. 76 der Reichs verfassung vorgezeichneten Wege bedeuten und störend in den Haushalt der Einzelstaaten eingreifen. Auf welchem Gebiet nun eventuell die Mehreinnahmen zu suchen seien, vermöge er heute nicht zu sagen, weil die verbündeten Regierungen hierüber einen Beschluß noch nicht gefaßt hätten, er glaube, daß diefe Mehreinnahmen wohl theils auf dem Gebiete der Reichseinnabmen, theils durch Reformen in den Einzelstaaten — er erinnere an die Reform der Finkommen⸗ steuer in Preußen — zu beschaffen sein würden. Diese Fragen zu erörtern werde nach vorheriger Verständigung zwischen den verbündeten Regierungen Aufgabe der nächsten Reichstagssefsionen sein. Ein solches Verfahren entspreche auch durchaus der Rechtslage im Reich. Der Reichshaushalts-Etat gehe von den gemeinfamen gfesg en aus. Ausgaben, deren Nothwendigkeit und Unaufschieblichkeit Regie⸗ rungen und. Reichstag anerkannt hätten, müßten verfasfungs— mäßig gedeckt werden, sei dies vom Reich oder durch Mätrikular— beiträge Ein Unterlassen solcher Ausgaben aus finanziellen Gründen sei im Reiche nur dann geboten, wenn man die Meinung habe, daß dem deutschen Steuerzahler durch seine Gesammtbelastung vom Reiche und den Einzelstaaten eine größere Last aufgebürdet werde, als er tragen könne. Dies treffe zur Zeit noch nicht zu, wenn man die Steuerverhältnisse in Deutschland und in anderen Ländern ver— gleiche. Die Verschiebung der Erörterung emwaiger Steuer— reformen sei auch sachlich zweckmäßig. Nur unter ange— strengtester Arbeit und äußerster Anspannung der Krafte der Beamten sei es möglich gewesen, die Rachtrags-GEtats fertig zu stellen. Gleichzeitig auch die Deckungsfrage gründlich zu be— arbeiten, sei unausführbar gewesen. Wenn man ferner z B. an Ver⸗ änderung der Zuckersteuer denken würde, so sei doch für eine derartige Vorlage die Entscheidung, welche der J. August über das Zuftande— kommen oder Nichtzustandekommen der Londoner Konvention bringen werde, von wesentlichem Einfluß. Endlich habe man doch, da Steuern auf Vorrath zu bewilligen vom Reichstag nicht beliebs werde, mit Erörterung der Frage vermehrter Steuern zu warten, bis das Maß des Bedürfnisses durch Reichstagsbeschlüsse feststehe.
Was zum Schluß die einmaligen Ausgaben betreffe, so habe er binsichtlich der Möglichkeit, die zu fordernden Anleihebeträge unterzu. bringen, keine ernsten Besorgnisse. Es sei viel von der angeblichen Schwierigkeit die Rede gewesen, welche die Begebung eines Betrages von 129 Millionen Reichs -⸗Anleihe im Februar gehabt haben solle; die Zeitungen hätten die Nachricht gebracht, der neue Bankprästdent sei bereits gejwungen gewesen, mit den Vertretern größerer Bank— häuser darüber zu verhandeln, wie es möglich fein werde, noch Reichs Anleihe zu begeben. Dies sei nicht richtig. Der Präͤsident Koch habe nur das noch bestehende Konsortium, welches im Februar jene Anleihe übernommen habe, wegen der weiteren Ab— wickelung dieses Geschäfts versammelt. Richtig sei, daß von jenem den Bedarf der Reichskasse auf eine Reihe von Monaten deckenden Betrag nur ein Theil sofort weiter begeben sei, während die Über— nehmenden Häuser den Rest vorläufig behalten hätten. Diefe Schwierigkeit der Weiterbegebung möge wohl darin mit ihren Grund baben, daß der inländische Markt in Folge der Konvertirungen momentan mit 35 prozentigen Papieren stark gefüllt sei, man könne daher wohl den Gedanken erörtern, ob man einen anderen Zinsfuß, 3 oder 49oo1, wählen solle. Auf 4 prozentige Papiere arbeite ein Theil des
Großkapitals zur Zeit hin, bei dem jetzigen Course 4 prozentiger Pa:
piere aber könne die Ausgabe 4 prozentiger Reichs ⸗Anleihe nicht in Frage kommen. Selbst einem Pari ⸗Course 33prozentiger Anleihe (und diese stehen noch über Pari) würde für 4prozentige ein Cours von 114 —115 entsprechen, während der Cours zur Zeit nur 107 etwa betrage. Deeser niedrige Cours der 4prozentigen Anleihe habe vielleicht einen Grund in der Befürchtung einer Konvertirung; er glaube nicht, daß für eine solche im Reich zur Zeit ein Anlaß vorliege. Der dadurch zu erzielenden Zinser sparniß stebe die Rücksicht gegenüber, daß das Reich trachten müsse, seinen Anleihen den Charakter von Anlagepapieren für ruhige Kapitalisten zu sichern, welche ein Interesse daran hätten, in dem Zinsgenuß, welchen ihnen der Ankauf gewährt habe, zu bleiben. Daß für solche sicheren Anlagepapiere in Deutschland Abnehmer zu finden seien, bezweifle er nicht, und wenn es gelinge, damit einen Theil der ausländischen zweifelhaften Werthe, mit denen der deutsche Markt überschwemmt werde, zu verdrängen, so könne dies nur er— wünscht sein. — .
Wenn die Nothwendigkeit der Vorlage von der Mehr— heit nicht bestritten werden konnte, so wurde von mehreren Rednern erklärt, man müsse mit Rücksicht auf die erörterte Finanz lage Kompensationen zur Erleichterung der in der Vorlage ent— haltenen finanziellen und wirthschaftlichen Mehrbelastungen fordern.
Als Kompensationen wurden bezeichnet:
I) Eine Verlängerung der Rekrutenvakanz sowie eine Vermebrung der Dispositionsurlauber. ;
2) Die Abkürzung der Dienstzeit beziehungsweise die Einführung der zweijährigen Dienstzeit für die Fußtruppen. 5
3) Die Beseitigung des Septennats und die Einfübrung einer jährlichen Bewilligung durch den Reichstag. =
Ein Mitglied ersuchte die Militärverwaltung, eine bestimmte Erklärung über ibren Standpunkt dieser hochwichtigen politischen Frage gegenüber abgeben zu wollen.
Nachdem der Herr ,, . in der Kommission erschienen war, äußerte er sich dahin:
Sachliche Motive gegen die Vorlage seien nicht in dem Maße vorgebracht, daß dieselbe daran scheitern könnte. Der gute Eindruck, den er von den Auesichten der Vorlage zunächst gehabt habe, sei seit den letzten Verhandlungen abgeschwächt und er sei nicht ohne Besorgniß. Die vom Kriegs-Minister angedeuteten Zukunftspläne hätten sich zu düsteren Gestaltungen in der Bevölkerung verdichtet, und sei es deshalb nöthig, die Vorlage wieder mehr als das erscheinen zu lassen, was sie sei. Was uber weitere Pläne gesprochen worden sei, sei aus der Absicht hervorgegangen, aaf keinen Fall unwahr zu sein; es handele sich aber dabei vorerst nuär um schätzenswerthe Ideen, von denen er selbst noch nicht wisse, welche Stellung er dazu zu nehmen hätte, noch weniger, welche die verbündeten Regierungen einnehmen würden. Man müßte jeden falls vorher die finanzielle Seite der Sache erörtert haben; das Auf. bringen so großer Summen bringe aber viele Schwierigkeiten mit sich. Er und der Kriegs ⸗Minister hätten nur ehrlich auftreten wollen. Die Aufregung im Publikum babe auch die geplante Erböbung der Offiziersgebälter damit verknüpft, daß jetzt ein Soldat‘ Reichs kanzler sei; ihm aber habe weniger die militärische als vielmehr die finanzielle Seite der Sache Sorge bereitet. Er sei übrigens bezüglich dieser Frage in von seinem Vorgänger gutgeheißene Pläne eingetreten. Also trage an diefer geplanten Erhöhung nicht seine zu militärische Bildung die Schuld. Die Vorlage habe ihre Wurzeln in der Vergangenheit, in der Bildung zweier Armee ⸗Corps und den Rüstungen der Vachbarn. Es sei auch nicht nothwendig, Kompensationsforderungen an die jetzige Vorlage zu binden. Es wäre fast verbrecherisch von den verbündeten Regierungen, obne Noth neue Forderungen zu stellen. Sollte es aber später nothwendig werden, dann würde auch der Moment gekommen sein, in dem es Pflicht und taktisches Erforderniß für dieselben sein würde, sich ernstlich mit den Kompensationen zu beschäftigen. Das Sexptennat wäre von selbst durch brochen, wenn vor Ablauf desselben eine Vorlage käme, wie die vom Kriegs- Minister angedeutete. Niemand aber wie, ob eine solche kommen würde. Er glaube, daß die verbündeten Regierungen eine Abänderung des Septennats zur Zeit ablehnen würden; mehr empfehle sich, durch eine Resolution dadin gehende Erwägungen an⸗ zuregen. Ebenso verhalte es sich mit der zweijährigen Dienstzeit, er könne Namens der verbündeten Regierungen nichts erklären. Der
Reichstag verliere nichts ob er die Kämpfe früber oder später auf⸗ nähme; die verbündeten Regierungen aber hätten ein sehr starkes Interesse daran, die Vorlage setzt bewilligt zu seben. Das Ausscheiden des Fürsten Bismarck aus dem Reichsdienst habe Verhãltnisse hinter lassen, die nicht so sicher seien, als zu der Zeit, da seine faszinirende Persönlichkeit noch vor der Welt stand. Immer habe man damit rechnen müssen, daß er einmal nicht mehr da sein würde, und daß die Uebergangszeit schwierige Verhältnifse bringe, war immer klar, warum aber wolle man jetzt die Schwierigkeiten obne zwingenden Grun vermehren? Viele Dinge würden statt wie früher mit einem Ausrufsjeichen, jetzt mit einem Fragezeichen behandelt. Die einfachsten Geschäfte fallen der Regierung jetzt oft schwerer; man sollte darum jetzt keine konstitutionellen Doktorfragen aufwerfen, die zu einer Krisis führen könnten Haben sich die Verhkältniffe befestigt, so würde er einen ihm angebotenen Kampf mit Kampfesfreudigkeit aufnehmen; zur Zeit aber sollte man die Situation nicht schwieriger machen, als sie es so wie so sei.“
In der Spezialdebatte wurde schließlich die Vorlage in unveränderter Fassung mit 16 gegen 12 Stimmen an⸗ genommen. Die Kommission empfiehlt dem Reichstage, auch seinerseits die Genehmigung zu ertheilen und sodann folgende Resolutionen anzunehmen:
1) Die Erwartung auszusprechen, daß die verbündeten Regie⸗ rungen Abstand nehmen werden von der Berfolgung von Plänen, durch welche die Heranziehung aller wehrfähigen Mannschaften zum aktiven Dienst durchgeführt werden soll, indem dadurch dem Deutschen Reich geradezu unerschwingliche Kosten erwachsen müßten.
2) Die Erwartung auszusprechen, daß die verbündeten Re⸗ gierungen in eine etwaige weitere Vorlage Behufs Abänderung des Besetzes über die Friedengpräsenzstärke des Heeres unter Aufhebung der Fristbestimmung des Septennats das Etatsjahr als Bewilligungs- frist aufnehmen werden, während der Reichstag es sich vorbehält, auch bei sonstiger sich ergebender geeigneter Gelegenheit die Durchführung dieser Aenderung der Frist zur Geltung zu bringen.
3) Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, eine baldige Herab⸗ minderung der thatsächlichen Präsenzzeit bei der aktiven Armee, sei es durch Verlängerung der Rekrutenvakanz, sei es durch Vermehrung der DispositionsBeurlaubungen eintreten zu lassen. .
4) Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, die Einführung der gesetzlichen zweijährigen Dienstzeit für die Fußtruppen in ernstliche Erwägung zu ziehen.
Helgoland.
Es giebt Leute, die nach Helgoland reisen, um dort Zerstreuung und Vergnügen zu finden Sie fahren des Morgens nach der Düne hinüber. Im Fährboot unterhalten sie sich mit ihren Reisegefährten. Sie lachen und scherzen; sie erklären dem Neuangekom menen die Flagge von Helgoland:
Grün ist das Land;
Weiß ist der Strand;
Roth ist die Kant'.
Das sind die Farben von Helgoland. Sie tragen Matrosenhemden, fliegendes Halstuch, weichen Hut, den Plaid auf der Schulter. Sie haben sich für die kleine Reise sorg⸗ fältig ausgerüstet und sind in ihrer Art vollständig korrekt und fehlerlos. Sie wissen dies, und Selbstgefühl zeigt sich in ihrer Haltung, in dem Kennerblick, mit dem sie das Dampfschiff mustern und den Flug der Möve verfolgen; in dem herablassend vertraulich freundlichen Ton, in dem sie mit dem wettergebräunten, gelbhaarigen, verschmitzt lächelnden Fischer, der sein Boot vermiethen will, einige Worte über den Zustand der Atmosphäre wechseln. Helgoland hat für sie keine Gebeimnisse! Sie kennen jeden Fußbreit der kleinen Insel und sie sind, sich ihrer Ueberlegenheit bewußt, bescheiden stol; darauf. — Wird das Wetter stürmisch, so erscheinen sie in Regenrock und wasser⸗ dichten Stiefeln, und in ihren Koffern befindet sich der Süd— Wester, der dem verblichensten Stadtgesichte ein wettertrotzendes, männliches Ansehen verleiht und den sie nur aus galscher Scham an den sonnigen Tagen nicht aufzusetzen wagen. — Es sind wahre Männer, diese jungen Leute! Man muß nur sehen, wie kühn sie mit der Büchse auf der Schulter einherschreiten, um einen harmlosen Seevogel zu erlegen; wie sie bei ruhigem Wetter das kleine Segelboot zu steuern verstehen; und man muß ssie hören, wie sie die Seekrankheit verhöhnen und die helläugigen Schenkmädchen beim Vornamen rufen und den berühmten Sonnenuntergang, oben auf der Klippe, als eine alte Geschichten als abgeschmackt erklären. Sie lassen sich herab, den Neuling „zum Sonnenuntergang“ zu führen und machen ihm auf diese Weise gewissermaßen die Honneurs ihrer Insel. Aber sie selbst sind über dergleichen Alltäzlichkeiten erhaben; und während die Sonne in unbeschreiblicher Pracht in ein goldenes Feuermeer versinkt, stecken sie sich mit souperäner Gleichgültigkeit eine billige Cigarre an und blasen, dem versinkenden Stern den Rücken kehrend, dicke Rauchwolken in die klare Abendluft hinein. — Auf der Düne, beim Bade sind sie ganz zu Hause. Sie wissen genau, wie lange man im Wasser bleiben darf, damit das Seebad nicht schädlich wirke; sie bezeichnen die Restauration als die ‚„Giftbude“, und nach dem Bade breiten sie den Plaid am Ufer aus und ruhen dort in malerischer Stellung, mit sich und der Welt zufrieden. — Glückliche Leute! und wie ich ihnen ihre harmlosen Vergnügen gönne, obgleich ich im Grund der Seele für dies vollständig zwecklose Komödiespielen, das der deutschen Jugend eigenthümlich ist, wenig Sympathie habe.
Das Mittagsessen versammelt einen großen Theil der Helgoländer Gäste im Konversationshause. Dort werden die Unterhaltungen, die des Morgens früh bei der Ueberfahrt ihren Anfang genommen hatten, fortgesetzt. Man verabredet Segelpvartien um die Insel, man giebt sich Rendez vous auf der Kegelbahn, auf dem Tanjboden, am Strand. Die Aristokraten der Table d'böte lassen Champagnerpfropfen knallen und die jungen, heirathsfähigen Männer mustern schüchternen Blickes die jungen Mädchen — und vice versa. Hel zoland ist bekannt dafür, daß zablreiche EChebündnisse dort ihren Ursprung genommen haben. Für gewöhnliche Flirtation“ eignet sich der äußerst solide Charakter der Helgoländer Badegesellschaft nur wenig. — Nach dem Essen findet Concert im Garten des Konversationshaufes oder auf der Promenade am Strande statt; am Abend wird dann und wann Theater gespielt oder die kleine Kapelle, in der ich besonders einen Musikus be⸗ wundere, der sechs Instrumente handhabt, nämlich: Pauke, Trommel, Castagnetten, Triangel, Cymbal und Glasharmonika — läßt sich wieder hören. Die Musik ist ganz gut, die Programme vorzüglich und der Direktor, dem nur schwache Mittel zur Verfügung stehen, ver— dient für das, was er damit leistet, die vollste Anerkennung. Von Zeit zu Zeit wird auch getanzt. An diesen feierlichen Ballabenden wird im großen Saale nichtsgeraucht. Fur gewöhnlich jedoch ist die Luft desselben durch zahlreiche Glimmstengel in nicht sehr angenehmer Weise verdorben. Aber die Damen, die den Saal mit ihrer Gegen— wart beehren, sind durch Vater, Mann, Bruder oder Sohn an Tabac dämpfe jeder Art gewöhnt worden und die allgemeine Heiterkeit wird durch die schlechte Luft in keiner Weise gestört. — Zwischen 10 und 11 Uhr ziebt sich die ganze Gesellschaft zuruck und bald darauf berrscht tiefe Ruhe auf der Insel, eine Ruhe, von der man sich in keiner Stadt, vielleicht mit Ausnahme von Venedig, auch nur einen Begriff machen kann. Wie ein Wiegenlied dem müden Menschen geln gen, hallt vom Fuße der Klippe die mächtige, tiefe Stimme des Meeres empor, alles Andere liegt im tiefsten Frieden. — Diese vollständige, herrliche Ruhe ist das Eigenthümliche und ist das Schöne von Helgoland. Sie bietet dem von des Lebens Lärm Ermüdeten seltene Erquickung. .
ür denjenigen, der während kurzer Feiertage nicht Vergnügen und , . sondern Ruhe und Erholung sucht, ist die kleine, baumlose Insel, auf der kaum eine Blume gedeiht und nur das prosaischste der Gemüse, die Kartoffel, wächst, ein Garten von Eden.
Er findet dort in dem wenig belebten Theile der Stadt, oben auf der Klippe, mit Leichtigkeit eine helle, freundliche, reinliche Wohnung.