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hätten dabei keinerlei Schaden zu erwarten, weil schon unter den gegen—⸗ wärtigen Verhältnissen der Arbeitgeber in jedem Augenblick den Arbeiter loswerden könne, wenn er wolle. Es komme nur darauf an, wie die Fabrikordnungen abgefaßt würden. Auch aus den Fabrik⸗ Inspektorenberichten von 1886/87 und 1887/88, aus dem von Pots. dam, Frankfurt a. / O., Reuß jüngere Linie und Schwarzwald ezirk gehe hervor, daß auch die Arbeitgeber kein Bedürfniß zur Kündigungs ⸗ frifst mehr bätten. Die gleiche Wahrnehmung mache man in einem Inspektionsbericht der Schweiz. Unter den dortigen Arbeitern bestehe eine lebhafte Agitation wegen Aufhebung der Kündigungsfristen, und nun kämen die verbündeten Regierungen und präsentirten den deutschen Arbeitern das, was man in der Schweiz daran sei, abzuschaffen. Nehme man den sozialdemokratischen Antrag an, so beseitige man damit zabllose Streitigkeiten zwischen den Arbeitgebern und Arbeitern. Es sei zuzugeben, daß die vorliegenden Bestimmungen gegenüber dem bisherigen Zustande einen gewissen Fortschritt enthielten. Man werde aber diefe Bestimmungen einfach dadurch umgehen, daß die Arbeitgeber mit dem Arbeiter einen Kontrakt schlössen, auf Grund dessen der Erstere den Arbeiter entlassen könne, wenn er wolle, während der Arbeiter die Kaution verliere. In seiner Fraktion seien allerdings Anfangs Meinungsverschiedenheiten über die Frage aufgetaucht; man sei aber schließlich einstimmig zur Ueberzeugung gekommen, daß es das Beste für Arbeitgeber und Arbeiter sei, wenn die Kündigungs⸗ fristen überhaupt aufgehoben würden. — .
Abg. Dr. Hirsch: Angesichts der Bestimmung, daß die Kündigungz⸗ frist fär Arbeiter und Arbeitgeber dieselbe sein müsse, sei der sozial⸗ demokratische Antrag unbegreiflich. Er verstehe nicht, wie die sog. Freunde der Arbeiter so leichten Herzens über die Kündigungsfrist hinweggingen. Bei den kaufmännischen Gehülfen habe fast nichts so sehr die Verstimmung und Erbitterung erregt, als die Thatsache, daß die gesetzliche sechswöchige Kündigungsfrist von vielen Prinzi2 palen durch eine kürzere Frist ersetzt oder ganz beseitigt worden sei. In der deutschen Arbeiterwelt werde die plötzliche Wandlung in den Anschauungen der sozialdemoktatischen Abgeorbneten keine Nachahmung finden; die Arbeiter, die selbständig ihre Verhältnisse beurtheilten, würden vielmehr überzeugt sein, daß ihnen mit diesem Antrage ein schlechter Dienst erwiesen werde. Sei es eine Konsequenz der Klagen über die schlechte Lage der Arbeiter, wenn man ihnen auch diesen Schutz noch nehme, der ihnen durch die 14tägige Kündigungsfrist gegeben werde? Bei einer 14tägigen Kündigungsfrist könne der Arbeiter, wenn der Fall der Kündigung eintrete, mit Bezug auf die Wohnungsverhältnisse und den ganzen Unterhalt sich noch einige Zeit ruhig fühlen, er könne zwei Wochen lang nach einer neuen Stelle sich umsehen. Das seien doch so ersichtliche Vortheile für den Arbeiter, daß er nicht verstehe, wie unter dem augenblicklichen Eindruck von Gesetzesbestimmungen, die den Sozialdemokcaten nicht gefielen, sie zu einem solchen Antrag kommen könnten, der das Kind mit dem Bade ausschütte. Das Recht der Lohneinbehaltung werde ja nicht in diesem Gesetz den Arbeitgebern neu gegeben, sondern das bisherige Einbehaltungsrecht werde vielmehr eingeschränkt. Die Bestimmung über die Buße be⸗ kämpfe er ebenfalls und würde bedauern, wenn sie Annahme fände. Aber auch ihre eventuelle Annahme könne kein Grund sein, jede Kündigungsfrist zu beseitigen. Er bitte, den Antrag Auer abzulehnen.
Abg. Dr. Hartmann: Er würde die Annahme des sozial⸗ demokratischen Antrages als ein Unglück für den deutschen Arbeiter stand ansehen. Die Arbeiter hätten niemals eine Beseitigung der Kündigungefrist begehrt. In manchen Fabrikordnungen sei allerdings jede Kündigungsfrist aufgehoben, aber nur deswegen, weil die Arbeiter sich vielfach an die Kündigungsfrist nicht ge— bunden fühlten. Die deutsche Arbeiterschaft werde den Sozial demokraten für diesen Antrag keinen Dank wissen. Die Hand⸗ lungsgehülfen klagten gerade darüber am lautesten, daß die Prinzipale die gesetzliche sechswöchige Frist aufgehoben hätten. Was man für den Antrag anführe, seien doch nur taktische Erwägungen. Noch vor wenigen Monaten hätten die Sozialdemokraten einen Arbeiter schutzentwurf eingebracht, in dem die Kündigungsfrist enthalten gewesen sei. Heute wollen sie sie beseitigen, weil einige Bestimmungen in dem Gesetze sich befänden, welche den Kontraktbruch eischweren wollten. Ohne Kündigungsfrist könne der Arbeiter in die Lage kommen, nicht bloß für den nächsten Tag kein Brot, sondern auch kein Obdach mehr zu haben. Aus dem Hause werde sich nicht eine Stimme für diesen Antrag erheben.
Abg. Frohme: Unter dem Anschein rechtlicher Verhältnisse die Arbeiter der Willkür des Unternehmerthums auszuliefern, darauf gingen die vorliegenden Beschlüsse hinaus. Wenn die Kündigungsfrist beibehalten würde, so würde sie sich nach den sonstigen Bestimmungen dieses Gesetzes mit vollster Schärfe gegen die Arbeiter selbst richten. Der Abg. Dr. Hirsch habe vor Jahren in einem Gutachten einmal erklärt: in guten Zeiten brächen die Arbeiter den Vertrag, und in schlechten die Arbeitgeber. Es handele sich bei diesen Dingen nicht um Rechtsfragen, sondern um Fragen der wirthschaftlichen Macht. Die Entscheidung über die Fort— setzung des Vertrages sei allein abhängig von den wirthschaftlichen Konjunkturen. Die Unternehmer seien gegenwärtig mehr als je zuvor darauf bedacht, die Arbeiter ihren einseitigen Entschließungen ju unterwerfen. Man habe es hier offenbar mit einer Reihe von ineinandergreifenden Bestimmungen zu thun, und man könne die Kündigungsfrist nicht erweitern ohne die Lohneinbehaltung, die Buße, die schwere Bestrafung der Verleitung zum Strike, mit in Betracht zu ziehen. Alle diese Bestimmungen wollten den Arbeitern die Inszenirung von Strikes erschweren, oder unmöglich machen, d. h. ihnen die Ausübung des ihnen gesetzlich zustehenden Koalitionsrechtes möglichst erschweren. Statt Einrichtungen zu schaffen, welche davon ausgingen, die Koalitionsfreiheit als bleibenden Faktor in dem gewerb⸗— lichen Leben anzusehen, sorge man dafür, den Uebermuth, der gegen— wärtig weite Unternehmerkreise auszeichne, zu stützen. Der Abg. Dr. Hirsch irre, wenn er meine, daß die vorliegenden Anträge in sozial⸗ demokratischen Arbeiterkreisen auf Widerstand stoßen würden. Die Arbeiter sagten sich: So lange das Geschäft gut war, konnten wir durch gute Organisation die Arbeitgeber in engen Grenzen erhalten durch Aufrechterhaltung der Kündigung. Diese Zeit habe aufgehört, man befinde sich in einer Periode des wirthschaftlichen Niederganges, und das bedeute für den Arbeiter immer eine Ueberantwortung an die Willkür der Arbeitgeber. Werde sich eine Bewegung zeigen, die zum Strike neige, und hätten die Arbeiter dabei die Möglichkeit, ihre Forderungen durchzusetzen, dann würden die Arbeitgeber die Kündigungsfrist in den Arbeitsvertrag auf- nehmen; sei die Gefahr beseitigt, dann werde auch die Kündigungsfrist wieder daraus verschwinden. Die Arbeitgeber hätten es jederzeit in der Hand, sich den Arbeitern gegenüber in eine vortheilhafte Stellung zu bringen, Von sittlichen Motiven könne bei dem heutigen Interessenkampf zwischen Arbeitern und Unternehmern keine Rede mehr sein. Da stehe hüben und drüben der Vortheil, nur mit dem Unterschiede, daß der Arbeiter von berechtigten Interessen sprechen könne, der Unternehmer nicht. Seine Partei wolle mit ihrem Antrag eine ganze Reihe von Ursachen zu tiefgehenden Zwistigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern beseitigen. Der Paragraph des Ent— wurss verschärfe den sokialen Kampf, verallgemeinere den Krieg zwischen Kapital und Arbeit, Die Arbeiter würden es der Mehrheit nicht danken, daß man sie mit gebundenen Händen der Willkür des Unter nebmerthums überliefere. (Beifall bei den Sozialdemokraten.)
Abg. Dr. Böttcher: Man werfe seiner Partei vor, sie ver—⸗ trete nur die Unternehmerinteressen. Er persönlich nehme für sich das Recht in Anspruch, nicht allein die Unternehmer, sondern auch die Arbeiter zu vertreten. Wo gebe es eine krassere Intereffen⸗ vertretung als bei den Sozialdemoktaten? Der Arbeiterschutz werde bier in einem bisher in. Deutschland und dem größten! Theil der civilisirten Welt nicht bekannten Maße gesteigert. Die Sozial⸗ demotraten machten hier ein? fundamentale Schwenkung; in ihrem eigenen Arbeiterschutzgesetz hätten sie die Kündigungeéfrist gehabt. Die Sozialdemokraten fürchteten nur, daß dadurch, daß in dem Gesetze von der Befugniß zur Lohnvorenthaltung überhaupt die Rede sei, eine große Zahl von Arbeitgebern erst darauf aufmerksam gemacht werde, daß sie ein solches Mittel gegen den Kontraftbruch hätten. So lange sie geglaubt hätten, daß der Arbeiter in Zukunft
den Kontrakt straflos brechen könne, hätten sie die gesetzliche Kün ˖ digungsfrist beibehalten wollen. Der Rechtsschutz der Arbeiter sei viel größer, wenn die Kündigungsfrist bestehen bleibe. Für manche 5. möge ja der Antrag zweckmäßig sein, und in vielen Fabriken bestehe die Kündigungsfrist nicht mehr. Das sei Alles schon jetzt möglich, und der Paragraph verbessere den jetzigen Zustand dahin, daß er die Gleichheit der Kündigungsfrist für beide Theile vorschreibe. Aber jede Kündigungsfrist zu verbieten, das schädige in erster Linie die Arbeiter, namentlich auf dem platten Lande. Die Arbeiter würden dadurch auch zum leichtsinnigen Verlassen der Arbeit verleitet. Man sage, sittliche Motive existirten nicht mehr in dem Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeiter. Er habe aber das Vertrauen, daß die deutsche Arbeiterwelt nicht nur, sondern auch die deutschen Unternehmer doch noch einen Funken, sogar ein sehr starkes Maß von Menschlichkeitsgefühl in sich hätten und nach ihren sittlichen Pflichten handelten. Bei der Kon traktslosigkeit höre allerdings jedes persönliche Verhältniß auf. Weil die Sozialdemokcaten ein ethisches Band zwischen Arbeitern und Arbeitgebern nicht wollten, bekämpften sie auch alle Wohlfahrtseinrichtungen. Es handele sich hier nicht allein um die Fabrik, sondern auch um das Handwerk, in dem, Gott sei Dank, noch das alte patriarchalische Verhältniß bestehe. Wollten die Sozialdemokraten auch im Handwerk den Zusammenhang zwischen Meister und Gesellen beseitigen, so machten sie ein gedeihliches Ar⸗ beitsverhältniß geradezu unmöglich, und daher könne er den Antrag nicht unterstützen. ö
Abg. Metzner: Der Antrag zerstöre das zufriedene Verhältniß zwischen Arbeitern und Arbeitgebern. Er wolle die Arbeitgeber der Willkür der Arbeiter preisgeben. Die Kündigungsfrist liege gerade im Interesse der Arbeiter. Eine Kündigungsfrist für den Meister sei oftmals viel unangenehmer, als für den Gesellen, denn der Geselle benehme sich nach der Kündigung so, daß der Meister froh wäre, ihn sobald wie möglich aus der Arbeit zu bekommen. Ein ordent— licher Arbeiter werde niemals diese zügellose Freiheit wünschen.
Abg. Bebel: Man werfe den Sozialdemokraten vor, sie ver—⸗ träten nur Klasseninteressen. Sie hätten das nie geleugnet, sie sagten das offen. Heute noch von einer Vertretung des gesammten Volks im Reichstage zu reden, nachdem man zwölf Jahre lang unter dieser Steuer und Zollvolitik stehe, sei etwas stark. Gerade in dieser Periode sei dem Volk klar geworden, daß die Gleichberechtigung vor der Volksvertretung eine Phrase sei. Die Erkenntniß der wahren Natur der Verhältnisse sei die Ursache, daß die Sozialdemokratie so großen Anhang gefunden habe. Seine Fraktion habe das Volk über die Klassenvertretung in der Gesetzgebung aufgeklärt, bei der die Arbeiter im Nachtheil seien, und ihnen empfohlen, eine eigene Partei zu bilden. Sie vertrete die unterdrückten Klassen, während die Mehr— heit die herrschenden vertrete. Der Abg. Dr. Böttcher sei allerdings kein Klassenvertreter, denn eine solche Rede halte kein Unternehmer, der kenne die Verhältnisse zu gut, um sich mit solchen Illusionen zu tragen. Es sei eine Illusion, daß noch ein persönliches Verhältniß zwischen Arbeitern und Unternehmern bestände. Man frage doch den Abg. Freiherrn von Stumm, welches persönliche Verhältniß zwischen ihm und seinen 5 — 000 Arbeitern bestehe. Gerade nach der Kündigung werde das Verhältniß zwischen Meistern und Gesellen das denkbar ungünstigste. Es entständen die unerträglichsten Differenzen, sodaß es besser wäre, wenn sie sofort auseinandergehen könnten. In dem Arbeiterschutzgesetz hätten die Sozialdemokraten allerdings die Kündigungsfrist vorgeschlagen und auch in der Kommission hätten sie noch auf diesem Standpunkt gestanden, das sei geschehen, weil sie als Mitglieder in der Kommission unmöglich hätten Anträge stellen können, von denen sie nicht gewußt hätten, daß sie die Billigung ihrer Fraktion finden und, weil noch nicht festgestanden babe, daß die Be⸗ schlüsse der Kommission auch Beschlüsse des Plenums würden. Aber die Beschlüsse des Plenums hätten ihnen den festen Boden für ihren Antrag gegeben. Die Frage der Kündigungsfrist hänge mit den Be stimmungen des §. 1192 über die Lohnabzüge zusammen. Zwar könne der Lohn nicht mehr willkürlich beschlagnahmt werden, aber als Kaution für etwaigen Schaden sei eine Beschlagnahme des Lohnes weiter möglich. Der sozialdemokratische Antrag, keinerlei Abzüge außer den im Gesetz bestimmten zuzulassen, sei in der Kommission abgelehnt worden. Das Unternehmerthum werde nun allgemein die Lohnabzüge zur Regel machen. Das Entscheidende sei, daß Millionen von Arbeitern, die nie in die Lage kämen, einen Kontraktbruch zu begehen, nunmehr der volle Wochenlohn vorenthalten werden könne und sie in Gefahr geriethen, beim Bankerott des Unternehmers ihre Löhne ganz zu verlieren. Davon würden gerade die Schwindler, z. B. die schwindelhaften Bauunternehmer, Gebrauch machen. Wie werde dies bei den armen Hausindustriellen im Thüringer Wald wirken? Die dortigen Unternehmer würden mit wahrer Wollust über diesen Paragraphen herfallen, obwohl diese Arbeiter niemals zu Kontraktbruch kommen könnten. Es werde der ärgste Mißbrauch damit getrieben werden, und diesen Mißbrauch habe man durch das Gesetz sanktionirt. Manche Arbeiter mögen heute noch glauben, der sozialdemokratische Antrag schädige sie; sobald aber die Lohnbeschlagnahmen eintreten würden in Gewerben, wo sie bisher nicht vorhanden gewesen seien, würden sie mit seiner Partei einverstanden sein, zumal bei den jetzigen ungewissen Zeitverhältnissen. Gerade, wenn die Kündigungsfrist, wie sie hier vorgeschlagen, Gesetz werde, würden die Kämpfe entstehen, die die Mehrheit vermeiden wolle; die Arbeiter würden Lie Arbeit einstellen und solche Arbeitgeber zu finden suchen, die von dem Kündigungsrecht keinen Gebrauch machen wollten. Seine Partei begünstige nicht den Kontraktbruch, sie wolle nur, daß kein Ausnaymegesetz für die Arbeiter bestehe, denn die für die Arbeitgeber formell bestehenden Vorschriften würden in Folge der famosen Fabrikordnungen thatsächlich nicht durchgeführt, Verstöße dagegen kämen nicht vor den Richter; wenn dagegen ein Arbeiter die Arbeit verlasse, so sei gleich die Klage wegen Kontraktbruchs fertig, der Richter frage nicht, ob der Mann durch die Art der Arbeit oder durch die Be⸗ handlung zum Aufgeben der Arbeit gezwungen worden — der Unter nehmer sacke den verfallenen Lohnbetrag ein. Seine Partei wolle aber eine faktische Gleichberechtigung zwischen Arbeitern und Arbeit gebern herstellen, dazu habe sie ihren Antrag gestellt.
Abg. Dr. Hirsch: Der Abg. Frohme habe, als er sein (des Redners) Gutachten eitirt, nicht erwähnt, daß er sich in diesem Gut⸗ achten gegen die Bestrafung des Kontraktbruchs erkläre. Das Gutachten sei bezeichnend für die Stellung, die er seit 20 Jahren in der Arbeiterfrage einnehme, und wenn dem gegenüber von den Sozialdemokraten behauptet werde, seine Partei nehme nur das Interesse der Arbeitgeber wahr, so entlocke ihm das ein Lächeln des Mitleids, könne aber auf sein Verhalten keinen Einfluß ausüben, wenngleich ihm dies Verhalten durch die Uebertreibungen und Un⸗ besonnenheiten dieser Herren sehr schwer gemacht werde. Er wünsche dem mit anerkennenswerther Offenheit klargelegten Standpunkt der Sozialdemokraten gegenüber gerade das sittliche Moment in dem Arbeitsverhältniß erhalten oder, wo es zerstört sei, wieder hergestellt zu sehen auf dem Boden der Solidarität zwischen Arbeitern und Arbeitgebern; er wünsche eine Anbänglichkeit des Arbeiters an den Unternehmer und an die Arbeitsstätte zu sehen, nicht daß die Werk⸗ statt wie ein Taubenschlag sei, in dem die Bewohner fortwährend ein- und ausgingen. Die Ausführungen der An tragsteller träfen vielfach nicht zu, es werde häufig in entstellter und übertriebener Weise auf 5. 18a Bezug genommen. Es gebe ja leider auch einzelne gewissenlose Unternehmer, aber diese bedürften nicht des 5 1192 oder einer sonstigen Gesetzesbestimmung, wenn sie die Arbeiter um ihren Lohn bringen wollten. Die Sozial⸗ demokraten leugneten, daß freundschaftliche Beziehungen zwischen Ar⸗ beitern und Arbeitgebern bestehen könnten — vor kurzer Zeit aber habe in dem sozialdemokratischen Volksblatt! selbst der Bericht über ein Fest eines Bremer Fabrikanten, der das Gegenthesl beweise, ge—⸗ standen, und solche Verhältnisse finde man vielfach in der deutschen Industrie. Jedenfalls sei ein sittliches Verhältniß zwischen Arbeitern und Arbeitgebern möglich, und gerade das vorliegende Gesetz solle diese Möglichkeit vermehren; die Bestimmungen in der Vorlage,
die diese Möglichkeit erschwerten, bekämpfe seine Partei lebhaft,
blieben sie aber im 2 so werde sie noch späterhin ihre Beseitigung anstreben und hoffentlich erreichen. Man sage, in schlech⸗ ten Zeiten brauche man keine Kündigungsfrist — gerade in schlechten Zeiten brauche man sie, denn in guten Zeiten finde auch der plötz⸗ lich entlassene Arbeiter bald wieder eine Stellung. Die plötzliche Ent ˖ lassung habe den schädlichsten Einfluß auf den Arbeiter, auf seine Familie, auf seine Wohnung, auf seine ganzen Verhältnisse, die Sozial demokraten hätten freilich verlernt, mit den thatsächlichen Verhältnissen zu rechnen, sie übersähen das Wohl und Wehe der Arbeiter in dem Streben nach etwas Zukünftigem, das nach ihrer Ansicht das allein Wahre sein solle. Man stelle es so dar, als ob die Gegner des sozialdemokratischen Antrages die Arbeiter nicht schützen wollten oder kein Verständniß dafür hätten, aber die Sozialdemokraten selbst gäben zu, daß der Antrag erst nach reiflicher Erwägung in der Fraktion beschlofsen worden, das beweise, daß mindestens einige Mit- glieder der Fraktion noch vor kurzer Zeit auf dem beutigen Stand⸗ punkt der Mehrbeit gestanden hatten. Wenn die Sozialdemokraten an die thatsächlichen Verhältnisse denken, wenn sie den Arbeitern und ihren genossenschaftlichen Verbindungen wirklich helfen, wollten, dann könnten sie selbst ihrem Antrag im Herzen nicht beistimmen, und darum finde dieser Antrag hoffentlich nicht die Zustimmung der Mehrbeit. ;
Abg. Frohme: Die eben gehörte Rede beweise nichts, als daß der Vorredner die den Interessen der Arbeiter entgegenstehenden Inter= essen vertrete. Die Sozialdemokrgten übertrieben nicht und konstruirten keine Unwahrheiten über die Verhältnisse. Die viel gerühmte Har- monie zwischen Arbeitern und Arbeisgebern, die der Vorredner anstrebe, werde auch von den hauptsächlichen Vertretern seiner wirthschaft“ lichen Anschauungen durchaus nicht berücksichtigt, sondern es werde immer nur das reine Interesse geltend gemacht. Auch die Wohl⸗ fahrtseinrichtungen würden nicht aus wahrer Humanität getroffen, sondern um die Arbeiter fester an das Interesse der Arbeitgeber zu fesseln. Ob der soziale Friede besser auf dem von den Sozialdemo⸗ kraten oder auf dem von dem Abg. Metzner für gut gehaltenen Wege gefördert werde, werde die Praxis lehren. Der Arbeitgeber, der die Gleichberechtigung der Arbeiter anerkenne, brauche keine Kündigurgs= frist. Der Arbeitgeber könne die Leute besser an sich fesseln als durch die Kündigungsfrist. Seine (des Redners) Partei hoffe freilich nicht auf die Annahme ihres Antrages, aber sie halte es für ihre Pflicht, alle Eventualitäten in Erinnerung zu bringen, und darum stelle sie ihren Antrag. Es habe sich in seiner Fraktion vor diesem Antrage nicht um längere Auseinandersetzungen gehandelt, sondern nachdem sie sich über die Sachlage orientirt, habe es einer Debatte von nur fünf Minuten bedurft.
Abg. Möller: Gr sei fest überzeugt, daß die große Majorität dieses Hauses dem Abg. Dr. Böttcher dafür gedankt habe, daß er in diese Diskussion einen etwas idealen Schwung gebracht babe. Um dem Vorwurf entgegenzutreten, daß seine Partei die Sache nicht richtig behandele, wolle er als Praktiker einen Fall aus der Praxis mittheilen. Der Vorredner habe es als eine Pflicht seiner Partei be⸗ zeichnet, diesen Antrag zu stellen. Er (Redner) halte es, für eine Pflichtvergessenheit, einen solchen Antrag in der Allgemeinheit zu stellen, er sei einfach unausführbar. Nehme man nur einen Heizer an, von dessen Arbeit die ganze Fabrik abhänge. Wohin würde es führen, wenn der jeden Tag oder jede Stunde fortgehen könne? Solle es von der Willkür eines Menschen abhängen, daß vielleicht Hunderte von Leuten feierten? Also noch einmal: Die Sozialdemokraten machten sich einer Pflichtvergessenheit schuldig, daß sie so leichtfertig einen solchen Antrag stellten. Man möge die gewerkvereinliche Be—= wegung in England betrachten. Diese Vereine hätten seit Jahren nach den schlechten Erfahrungen, die sie früher gemacht hätten, es als ihre Pflicht betrachtet, möglichst lange Kündigungefristen einzuführen. Es beständen in England Kündigungsfristen bis zu drei Monaten und darüber. Die Arbeiterführer wollten damit die Versuchung, zu striken, möglichst hinausschieben. Den Sozialdemokraten gelte aber der Strike noch als Kampfmittel, und darum wollten sie den Kontrakt⸗ bruch von dem Makel eines moralischen Vergehens befreien.
Abg. Moltenbuhr: Qb man Kündigungsfristen habe oder nicht, an den thatsächlichen Verhältnissen werde das Gesetz nichts ändern. Im Unionsstaat Massachusetts sei die Vereinbarung einer Kündigungsfrist auf Grund des Artikels der Unionsverfassung, welcher die Sklaverei aufhebe, verboten worden, und doch gingen dort die in⸗ dustriellen Verhältnisse ihren geregelten Gang. Die Gleichberechtigung von Arbeitgebern und Arbeitern sei einfach deshalb nicht vorhanden, weil die ökonomische Stellung, die beide einnähmen, nicht die gleiche sei.
Damit schließt die Diskussion.
Der Antrag Auer wird abgelehnt; 5. 122 wird nach der Kommissionsfassung mit großer Mehrheit angenommen.
S. 123 zählt die Fälle auf, in welchen Gesellen und Ge⸗ hülfen vor Ablauf der vertragsmäßigen Zeit und ohne Auf⸗ kündigung entlassen werden können. Die Annahme erfolgt ohne Debatte mit einem redaktionellen Amendement der Abgg. Dr. Gutfleisch und Genossen. .
Nach §. 124 können Gesellen und Gehülfen ohne Auf⸗— kündigung die Arheit verlassen: 1) wenn sie zur Fortsetzung der Arbeit dauernd unfähig werden; 2) wenn der Arbeitgeber oder seine Vertreter sich Thätlichkeiten oder grobe Beleidigungen gegen die Arbeiter oder gegen ihre Familienangehörigen zu Schulden kommen lassen; 3) wenn der Arbeitgeber oder seine Vertreter oder Familienangehörige derselben die Arbeiter oder deren Angehörige zu Handlungen verleiten oder zu verleiten versuchen, oder mit den Familienangehörigen der Arbeiter Handlungen begehen, welche wider die Gesetze oder die guten Sitten laufen; 4) wenn der Arbeitgeber den Arbeitern den schuldigen Lohn nicht in der bedungenen Weise auszahlt, bei Stücklohn nicht für ihre ausreichende Beschäftigung sorgt, oder wenn er sich widerrechtlicher Uebervortheilungen gegen sie schuldig macht; 5) wenn bei Fortsetzung der Arbeit das Leben oder die Gesundheit der Arbeiter einer erweislichen Gefahr ausgesetzt sein würde, welche bei Eingehung des Arbeits- vertrags nicht zu erkennen war. (In den Fällen unter 2 und 3 soll der Austritt aus der Arbeit nicht mehr zulässig sein, wenn die zu Grunde liegenden Thatsachen dem Arbeiter länger als eine Woche bekannt sind.) .
Die Abgg. Dr. Gutfleisch und Gen. (freie Kompromiß— kommission) beantragen, in Nr. 1 das Wort „dauernd“ zu⸗ streichen. ⸗ ö. .
Abg. Stadthagen beantragt, die Nr. 5 so umzuändern, daß auch die Verletzung der Vorschriften der 5. 120 a bis 1206 durch den Unternehmer zum Verlassen der Arheit berechtigt; ferner soll der Vorbehalt des zweiten Absatzes nicht Anwendung finden auf die Fälle der Nr. 3.
Abg. Stadthagen befürwortet die Annahme des ersten Tbeils seines Antrags mit dem Hinweis, daß man den Arbeiter doch nicht warten lassen dürfe, bis er eine schwere Verletzung erlitten habe, sondern ihm das Recht zum Verlassen der Arbeit schon geben müsse, wenn die Vorschriften in den §§. 120a bis 1206 von dem Unternehmer nicht beachtet würden. Für den zweiten Theil des Antrags mache er geltend, daß ost, wenn eine Fabrikarbeiterin von dem Arbeit geber oder dessen Familienangehörigen mit unsittlichen Anträgen verfolgt oder sonst in ihrem Schamgefühl verletzt sei, eine Woche vergehe, ehe die Geschädigte von dem Sachverhalt Mittheilung mache. Aus diesen sittlichen Motiven dürfe man das Verlassen der Arbeit auch nach Verlauf von mehr als einer Woche nicht hindern.
Unter Ablehnung des ersten Theils des Antrags Stadt⸗ hagen wird 5. 124 mit dem Antrage Gutfleisch und dem zweiten Theil des Antrags Stadthagen angenommen.
Die freie Kompromißkommission (Abgg. DLr. Gutfleisch u. Gen.) beantragt die Einschaltung eines neuen 5. 1242:
Außerdem ann jeder der beiden Theile aus wichtigen Grün⸗ den vor Ablauf der vertragsmäßigen Zeit und ohne Innebaltung einer Kündigungsfrist die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses ver⸗ langen, wenn dasselbe mindestens auf vier Wochen, oder wenn eine längere als vierzebntägige Kündigungsfrist vereinbart ist. Ueber das Vorbandensein wichtiger Gründe entscheidet der Richter.
Abg. Dr. Gutfleisch befürwortet die Annahme dieses Para raphen, der eine Analogie auch im Handelsgesetzbuche finde. Es olle die Möglichkeit der Loõjsung des Verhältnisses bei gleichzeitig ver⸗ einbarter längerer Kündigungsfrist aus triftigen, auch in dem Gesetze nicht spezialisirten Grunden gegeben werden, damit über haupt die sachlichen Gründe des Kontraktbruchs einer Prüfung unter⸗ worfen werden könnten und der Arbeiter nicht gezwungen sei, den Vertrag aufrechtzuerhalten, bloß weil der Gesetzgeber versäumt habe, den betreffenden Grund in dem Gesetze festzustellen.
Abg. Stadthagen bittet, den Antrag in erweiterter Form ohne jede Rücksicht auf die Dauer des Arbeitsverhältnisses und die Länge der vereinbarten Kündigungsfrist anzunehmen, wie es der Antragsteller ursprünglich in der Kommission selbst beantragt habe, wie es auch die Kommission bei den Werkmeistern, Betriebsbeamten und Technikern zugestanden habe.
Abg. Freiherr von Stumm empfiehlt den Antrag Gutfleisch. Die von dem Abg. Dr. Gutfleisch in der Kommission vorgeschlagene erweiterte Fassung sei von der Kommission auch deshalb abgelehnt worden, well man die Arbeiter nicht habe schädigen wollen. Letzteres würde z. B. in dem Falle geschehen, wenn der Arbeitgeber den Arbeiter entließe, weil er ihn nicht mehr beschäftigen kön; . Heute müsse er ihm für die Kündigungsfrist den Lohn zahlen; nach dem ursprünglichen Antrag Gutfleisch würde er das zweifellos nicht nöthig haben.
Nach einer kurzen Erwiderung des Abg. Stadthagen wird §. 1242 nach dem Antrage Gutfleisch unverändert an— genommen und um 5 Uhr die Fortsetzung der Berathung
auf Donnerstag, 1 Uhr, vertagt.
Statistik und Volkswirthschaft.
Zur Arbeiterbewegung.
In Borbeck sollte am Montag eine Kreis persammlung der Ortsvereine des christlich-⸗patriotischen Bergarbeiter⸗ verbandes „Glückauf“ stattfinden, zu der als Referenten der Reichstags ⸗Abgeordnete des Wahlkreises Essen Hr. Ststzel und Hr. Redaeteur Lensing aus Dortmund erschienen waren. Die Versamm⸗ lung verlief aber, wie die „Frkf. Ztg. berichtet, resultatlos, da sie wegen großer Rubestörungen geschlossen werden mußte.
In Leipzig hielten die Glasergehülfen vorgestern eine von etwa 120 Personen besuchte Versammlung ab, der der neue Lohn⸗ tarif der Glaser⸗Innung vorlag. Die Lohnsätze dieses Tarifs sollen um 25 bis 30 0o niedriger sein als die des im Mai 1889 von der Innung mit der Gehülsenschaft gemeinschaftlich ausgearbeiteten, noch jetzt gültigen. Es wurde zwar vorgeschlagen, über einzelne schon nach dem neuen Tarif ihre Gehülfen bezahlende Werkstätten ohne Wei teres die Sperre zu verhängen, indessen beschloß die Versammlung, vorerst die nächste Viertel jahrsversammlung der Innung abzuwarten, da eine Kündigung des bisherigen Tarifs noch nicht erfolgt und der neue Tarif — zunächst nur Entwurf — noch nicht beschlossene Sache sei. Ferner wurde beschlossen, wegen der herrschenden Arbeitslosigkeit und der übermäßigen Einstellung von Lehrlingen die Arbeitszeit auf zehn Stunden im Sommer und neun Stunden im Winter festzusetzen und die Verbreitung des Fachblattes zu befördern, das nur von 75 der hier beschäftigten 400 Gehülfen gehalten werde.
In Ergänzung der gestrigen Mittheilung über Mißhandlung preußischer Kabelarbeiter in Bayern schreibt man der Lz. Ztg.“ aus Plauen: Unsere Stadt hat unerwartet eine seltene Einquartierung erhalten, nämlich ungefähr 300 preußische Kabellegungsarbeiter, welche gestern früh, von in der Hauptsache wohl bayerischen Arbeitern, in die Flucht geschlagen wurden, die eben falls bei der Kabellegung arbeiten wollten, Arbeit aber nicht erhalten konnten, da der Bedarf an Arbeitern schon hinreichend durch preußische Arbeiter gedeckt war. Die Leute trafen gestern Abend hier ein und wurden vom Stadtrath, da zumeist mittellos, im alten, zur Zeit leerstehenden Krankenhause untergebracht. Die Leute zeigten sich äußerst willig und gefügig und nahmen nur zum geringsten Theile trotz mitunter schwerer Verwundungen, die sie bei dem Ueberfall erlitten hatten, ärztliche Hülfe in Anspruch. Nur acht wurden im neuen Krankenhause verbunden, drei von ihnen befinden sich z. Zt. noch da. Es herrscht unter den Leuten eine große Furcht, nach Hof zurückzukehren, sie befürchten, noch weitere Mißhandlungen in Bayern zu erleben. Es sind den heute hier angekommenen Schachtmeistern nur einige dreißig Arbeiter wieder nach Hof gefolgt, Andere, die Geld hatten, sind nordwärts gekehrt, 222 befanden sich heute Abend noch hier.
Aus Wien wurde der Berliner „Volks Ztg.“ unter dem 7. d. M. berichtet: Eine heute stattgehabte von 5000 Gehülfen besuchte Bäcker versammlung beschlos, den Strike zu beginnen. Nur bei den wenigen Meistern, welche sich schriftlich verpflichtet haben, die Forderungen der Gehülfen zu acceptiren, soll weiter gearbeitet werden. Da die meisten Gehülfen ohne Kündigungsfrist engagirt sind, dürften morgen 2000 Gehülfen die Arbeit einstellen. — Inzwischen sind nun folgende Wolff'sche Telegramme vom gesttigen Tage eingelaufen: Die Ausstandsbewegung unter den Bäckern kält sich vorläufig in den engsten Grenzen. Die Kündigungen sind wenig zahlreich. Die Gehülfen verließen bis jetzt die Arbeit nicht. — Der Magistrat hat wegen des drohenden Bäckerstrikes mit auswärtigen Bäckern Verträge auf Lieferung von Brod im Bedarfsfalle abgeschlossen; auch wurde mit der Militärverwaltung ein Einvernehmen hergestellt, demzufolge Militäröfen und Mannschaften eventuell zur Verfügung gestellt werden sollen. .
Aus Paris meldet ein Telegramm der ‚Voss. Ztg.“ vom gestrigen Tage: In den meisten Städten beantragen die Lsozialisti⸗ schen Gemeinderäthe, daß die Verwaltung ihren Unterbeamten und Arbeitern am 1. Mai Urlaub gebe. Auf diese Weise sollen die Stadtvertretungen gezwungen werden, zur Mai⸗ feier ⸗Frage Stellung zu nehmen. — Das Wolff sche Bureau berichtet heute aus Paris: Das sozia listische Central⸗ Comits hatte gestern Abend die bier anwesenden Delegirten zu einer Versamm kung einberufen, welche äußerst stürmisch verlief. Die Ansichten der verschiedenen Fraktionen binsichtlich des Verhaltens am 1. Mai gingen vollkommen auseinander. Es wurde keinerlei
Beschluß gefaßt.
Volkszählung in England.
Am 5. April war in ganz England Zähltag. Die letzte Volks⸗ zählung fand vor zehn Jahren statt. Das zur Ausfüllung ausgesandte Schema ist im Wesentlichen das alte. Neu ist die Rubrit, ob Jemand Arbeitgeber oder Arbeitnehmer oder keines von beiden ist, Benutzt der Arbeitgeber weniger als fünf Räume für den Betrieb seines Ge— schäfts, so muß er die Zahl der Räume angeben. Dem Resultat der Volkszählung sieht man im Lande natürlich mit großer Spannung entgegen. Jedenfalls, bemerkt die ‚A C.“, wird sie wieder eine bedeutende Zunahme der städtischen und entsprechende Abnahme der ländlichen Bevölkerung ergeben.
; Die Armen in England. . Einer dieser Tage in London uur lf re; Armenhausstatistik zufolge betrug die Zahl der Personen in England und Wales, welche Unterstützungen empfingen, am letzten Tage der ersten Januarwoche 1891 705 951, in der zwelten Woche 715 663, in der dritten 720 721, in der vierten 723 824 und in der fünften 714 055. Dagegen belief sich bei einer Bevölkerung von 20 371 013 Köpfen die Zahl der unter stützten Personen in der fünften Januarwoche des Jähres 1863 auf 1058161 oder 3,9 / / vom Tausend der Bevölkerung. Obwohl die
Witterung im Januar 1891 außergewöhnlich streng und die Beyöl⸗ kerung auf 29 407 649 Köpfe gestiegen war, ist die Zahl der im Januar unterstützten Personen doch geringer als in dem entsprechen⸗ den Monat der letzten 34 Jahre, und war der Prozentsatz nur 24,3 vom Tausend der Bevölkerung.
Kunsft und Wissenschaft.
In der gestern (Mittwoch) abgehaltenen Sitzung der Gesell— schaft für deutsche Philologie sprach zunächst Hr. Dr. Herr- manowski über ein von ihm im Verlage der Nicolai'schen Buch— handlung herausgegebenes zweibändiges Werk, dessen erster Band Deutsche Götterlehre' betitelt ist, während der Titel des zweiten Germnnische Götter und Helden in Kunst und Dichtung“ lautet. Der Vortragende wies in seinen, das Werk erläuternden Bemer⸗ kungen auf die mangelhafte Entwickelung der Kunst bei den alten Germanen hin, die wohl singen und sagen, aber nicht malerisch bilden und formen konnten, weshalb die moderne Kunst, wenn sie sich Stoffe aus dem germanischen Alterthum wählt. ihre Vorwürfe erst selber bildnerisch konstruiren muß. Als älteste, aus dem dritten Jahrhundert stammende germanische Kulturarbeit gilt ein Relief, welches den Kriegsgott darstellt. 150 Jahre jünger ist ein auch von Grimm angeführtes Zeugniß ger— manischer Kunst, das Bildniß einer gothischen Gottheit, welches in einem verdeckten Wagen umhergeführt wurde. Der Verfasser giebt dann in seinem mit großem Fleiße zusammengestellten Buche eine ausführliche Aufzählung und Beschreibung aller germanischen Gott— heiten unter Einschluß der zablreichen germanischen Sagen. Auf eine Schilderung der altgermanischen Sitten und Gebräuche ein— gehend, bespricht der Autor u. A. auch die Art und Weise, wie die Todten an ihren Bestimmungsort gelangten. Hierbei bildete das Schiff das Hauptbeförderungsmittel, denn es ist immer davon die Rede, daß die Todten über ein großes Wasser müssen. Auch bei der Bestattung spielt der Nachen eine wesentliche Rolle und als eine der ältesten Bestattungsarten erscheint die Ecrichtung eines Scheiterhaufens auf einem Schiffe, welcher nach der Hinausfahrt auf das Meer angezündet wird. Eigenthümlich war auch die Sitte, daß diejenigen, welche dem Tode geweiht waren oder sich diesem selber geweiht hatten, goldenen Schmuck anlegten, weil sie in diesem Zustande eine bessere Aufnahme an ihrem Be⸗ stimmungsorte glaubten erwarten zu dürfen. Redner erwähnt ferner der Wanen“, und zwar neigt er sich der Ansicht Blind's zu, daß diese Bezeichnung mit ‚Wasser? zusammenhänge; wahischeinlich hat man es in den Wanen mit den ältesten Anwohnern der Nord und Ostsee zu thun. Nach weiterer Betrachtung der Wanengötter, besonders des bedeutendsten derselben, des Loki, folgt eine Schilderung der Asinnen, der Göttinnen, und schließlich der große Kambf, in welchem die Götter und Menschen unter gehen und die Welt ihr Ende findet. In dem zweiten Theil seines Werkes zeigt der Vortragende zunächst, wie auf dem Gehiete künst— lerischer und dichterischer Darstellung der germanischen Götter und Helden Richard Wagner bahnbrechend gewirkt, und erklärt, daß, was einem Tonkünstler gelungen, doch auch einem Maler und Bildhauer möglich sein sollte. Im Verfolg seiner Ausführungen erwähnt der Vortragende des dänischen Bildhauers Freund, welcher im Jahre 1842 den Untergang der Götter plastisch in einem Kunst⸗ werke darstellte, das leider bei dem Brande des Schlosses Christians⸗ borg dem Untergange anheimfiel. Eine Nachbildung dieses Werkes in halber Größe von der Hand eines Verwandten Freund's findet sich in farbiger Darstellung hier in Berlin an dem Friese des Hauses Unter den Linden 69. Redner gedachte ferner der Arbeiten des Hannoveraners Engelhard, sowie der Darstellung aus der germanischen Göttersage an dem Tiele⸗Winckler'schen Hause in der Regenten⸗ straße und gab der Meinung Ausdruck, daß eine voll⸗ ständige Darstellung des Unterganges der Welt vielleicht einem Maler leichter werden würde, als einem Bildhauer, wiewohl auch für jenen das Studium der isländischen Natur und ihrer gewaltigen Gegensätze zuvor erforderlich erscheine. Nach einer weiteren Besprechung der künstlerischen Darstellungen, zu welchen die germanischen Märchen, ferner die Wagner'schen Schöpfungen Ver⸗ anlassung gegeben, berührte er auch die Dichtungen, welche die Nibelungen zum Gegenstande haben, und sprach sich in aller Kürze dahin aus. daß hier Wagner, Naumann und Feddersen weit hinter Jordan. zurücktreten müßten. Der Vortragende schloß mit dem Ausdruck der Hoffnung, daß die deutsche Helden—⸗ sage noch in ausgedehnterem Maße den Stof für Dar stellungen der Kunst und Dichtung abgeben werde. In der sich an den Vortrag anknüpfenden Diskussion, die indessen im Hin— blick auf die vorgerückte Zeit nicht völlig zum Austrag gelangte, wurden die von dem Vortragenden ausgesprochenen Erwartungen in sofern erheblich eingeschränkt, als einerseits, obage daß ein Widerspruch erfolgte, die bei Wagner in den Vordergrund tretende Sinnlichkeit, welche durchaus ungermanisch erscheine, gekennzeichnet und andererseits darauf hingewiesen wurde, daß wenn nicht die deutsche Helden, so doch die deutsche Göttersage den klassisch Gebildeten ziemlich fern liege und auch derjenigen Plastik entbehre, welche die künstlerische Darstellung der griechischen Götterwelt so günstig berinflußt habe. — Darauf machte der Vorsitzende Hr. Dr. Boetticher sehr interessante Mittheilungen aus dem letzten Bande des Wilbelm Walther'schen Werkes: „Die deutschen Bibelübersetzungen des Mittelalters“. Der Autor, welcher nicht weniger als 122 Handschriften mit einander ver glichen und vielleicht mehr als das Doppelte von allem auf diesem Gebiete bisher Bekannten durchforscht hat, beweist in überzeugender Begründung, daß nicht der bisher dafür gehaltene, in Straßburg eischlenene Eggestein'sche, sondern der ggleich⸗ falls in Straßburg, und zwar im Jahre 1465 her—⸗ gestellte Mentel'sche Bibeldruck als der älteste anzusehen ist. Ferner führt er den Nachweis, daß die bisherige sogen. vierte Bibel, welcher in Wirklichkeit erst der fünfte Platz in der Reihe der Bibeldrucke gebührt, keineswegs, wie von Haupt angenommen wird, Aenderungen enthalte, die in einer katholisch'orthodoxen Tendenz ihren Grund hätten; vielmehr legt er in eingehender Weise dar, daß von einer Aufgabe der waldensischen Richtung bei jenen Aenderungen nicht die Rede sein könne, da es sich lediglich um die Ausmerzung von Druckfehlern bandle. Nach der Walther'schen Darstellung haben sich sodann von 14 noch nicht bekannten, neu entdeckten Bibel⸗Handschriften 10 als Kovien ergeben. Von den vier übrig bleibenden Original handschriften befindet sich eine in der Stadtbibliothek zu Nürnberg, eine zweite in Wolfenbüttel, die dritte ist die Tepler Handschrift und die vierte ist der Freiburger Universitätsbibliothek einverleibt. Als Resultat der bisherigen Forschungen kann gelten, daß der Mentel'sche Druck als wichtigste Quelle für die deutsche Bibelübersetzung zu betrachten ist, — In Erledigung des letzten Gegenstandes der Tagesordnung. Be— theiligung an der Münchener Philologenversammlung in der Pfingst— woche, beschloß die Gesellschaft, event, den Vorsitzenden und ein weiteres Mitglied als Vertreter auf dem Philologentage nach München zu entsenden.
In der vorgestrigen Sitzung des Berliner Zweigvereins der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft sprach Hr. Dr. Leß über Witt erungstvpen mit besonderer Rücksichtnahme auf den Winter 1899/91. Redner wies darauf hin, daß es bisher an einer befriedigenden Metbode gefehlt, die Hauptbilder, welche das Wetter während eines gewissen Zeitraums geboten, zu einem anschaulichen Gefammtbilde zu verwerthen, erwähnte der in letzter Zeit in Frank reich und England hergestellten Wettertafeln und betonte die Schwierig⸗ keiten, denen ein von ihm gemachter. Versuch, ähnliche Wetterkarten für Deutschland herzustellen, begegnet sei, indem er es entweder mit einer geringen Anzahl von charakte⸗ ristischen Bildern oder wiederum mit einer unendlichen Vielheit zu thun gehabt habe. Auch die an sich äußerst schätzbaren Ergebnisse der Seitens der Seewarte erfolgten Zusammenstellungen reichten zur Charakterisirung eines größeren Zeitraumes nicht aus. Man werde daher wohl wiederum zu dem arithmetischen Mittel zurückareifen müssen. Redner geht sodann zu einer Besprechung der von Teisserene de Bort
zusammengestellten Wettertvpen über, in Anlehnung an welche er dreizehn die Witterung wäbrend des Winters 1890 91 betreffende Karten unter Zugrundelegung des arithmetischen Mittels angefertigt hat. Der Vortragende hat sich dafür entschieden, den durch seine Karten dariustellenden Zeitraum auf eine Woche zu bemessen, da nach seinen Beobachtungen innerhalb des Ver— laufes von 6 bis 8 Tagen eine neue Witterungssituation einzu— treten pflege, wie auch nach den Monatsübersichten der Seewarte innerhalb eines Monats drei⸗ oder höchstens viermal ein Wechsel des Witterungscharakters zu verzeichnen sei. An der Hand der dreijebn Wochenkarten, welche unter Benutzung des an mehr als 160 Stationen gesammelten Materials die Witterungsverhältnisse Europas ver⸗ anschaulichen, bespricht darauf der Vortragende die einzelnen Pkasen, welche die Witterung des letzten Winters durch— laufen, unter Kennzeichnung ihrer Maxima, Minima, Trockengebiete und Niederschlagsmengen. Nachdem Redner sodann betont, daß es möglich sein würde, in äbnlicher Weise, wie durch diese Wochenkarten die Witterungstvpen eines Winters fixirt worden, auch hinsichtlich anderer Jahreszeiten zu verfahren, besprach er noch die mit der steigenden Entfernung vom Erdboden wachsende Temperatur abnabme auf Grund von Zablen, welche an der Spitze des Eiffel thurmes, sowie von solchen, welche anläßlich einer in der letzten Februarwoche d. J. unternommenen Ballonfahrt beob achtet worden, und schloß mit dem Ausdruck der Hoffnung, daß die Darstellungen seiner Wetterkarten sich auch als geeignet erweisen würden, theoretische Untersuchungen zu fördern. Dr Aßmann nimmt Gelegenheit, darauf aufmerksam zu machen, daß hinsichtlich der bei Ballonfahrten gewonnenen Beobachtungsresultate einigermaßen kritisch zu verfahren sei. So seien die Resultate der Ballonfahrt, welche Hr. Premier Lieutenant Groß in der letzten Sitzung des Ver eins geschildert, jedenfalls nicht als absolut richtig anzusehen, da die benutzten Instrumente nicht gegen den Ein⸗ fluß der Strahlung geschüßt gewesen seien. Auch sei zu berücksichtigen, daß die geschlossene Wolkendecke, welche der Ballon durchbrochen habe, einen Einfluß auf die Höhe der Temperatur habe ausüben müssen. Redner betont sodann an der Hand der Beobachtungen, welche er bei einer am 13. März unternommenen Ballonfahrt gemacht, daß außer der gleichmäßigen Temperaturabnahme beim Steigen des Ballons auch das Vorhandensein außerordentlich geringer Feuchtigkeit wahrzunehmen ge— wesen sei, doch war dieses Gebiet großer Trockenheit nicht überall vor⸗ handen, sondern zonenweise vertheilt. Prof. Hellmann bezeichnet die von Hrn. Pr. Leß hergestellten Karten als sehr interessant, glaubt aber eine Lücke darin finden zu sollen, daß man aus jenen nicht ersehen könne, wo der Winter am kältesten gewesen und wie die Kälte ver— breitet war. Hr. Dr. Leß führt in seiner Erwiderung aus, daß, wenn das in den Karten gegebene Bild des Winters nicht genügend erscheine, dies in der Beschaffenheit des Materials seinen Grund habe.
Die vorgestrige Sitzung des T. Kongresses für innere Medizin in Wiesbaden war, wie die „Frankfurter Ztg. be— richtet, der Frage nach der Bedeutung des Koch'schen Mittels für die Behandlung tuberkulöser Prozesse gewidmet; fünf Referenten theilten sich in das umfangreiche Thema. -.
Zuerst betrat Curschmann Leipzig die Rednertribüne, um un— gefäbr Folgendes auszuführen: Die ersten kurzen Mittheilungen Koch's auf dem internationalen Kongreß entfachten bei Laien und Aerjten eine Begeisterung obne Gleichen. Koch selbst warnte und bemmte, er stellte große Schwierigkeiten in Aussicht, er batte von Anfang an auf die leichlen Formen hingewiesen, die schweren von der Behandlung ausgeschlossen. Hätte man seine klassischen Publi— kationen mit der pöthigen Ruhe und Kritik gelesen, so wären Miß— deutungen und Mißerfolge ausgeblieben. Die Mißerfolge stammen von der schematischen Anwendung des Mittels, welche die Individualität der Kranken nicht berücksichtigte. Nunmehr ist die Epoche der Be— geisterung und ebenso das Stadium der Depression vorbei, wir be⸗ finden uns in dem dritten, dem kritischen, vorurtheilsfrei prüfenden; die Entscheidung der Frage liegt nicht im Reagensrohr, im Versuchs— thier, sondern am Krankenbett, und ist nur unter Beihülfe patholo— gischer und pathologisch-anatomischer Forschung zu erledigen. Redner faßte seine Ausführungen dahin zusammen: Das Koch'sche Mittel Tuber kulin ist ein Stoff, der auf tuberkulöses, lebendes Gewebe, insbesondere dessen Umgebung eine spezifische deletäre Wirkung ausübt, seine diagnostische Bedeutung ist eine hervorragende, trotz gewisser gebotener Einschränkung; es ist und bleibt eine der größten wissenschaftlichen Errungenschaften der Heilkunde.
Als zweiter Referent sprach von Jaksch-Prag: Redner hat vier Monate lang 7? Kranke mit dem Koch'schen Mittel behandelt; er leugnet nicht die diagnostische Bedeutung des Mittels, dieselbe sei aber noch unsicher. Redner hat ferner fortgeschrittene, mittelschwere und leichte Fälle, die er mit genauen statistischen Angaben, Kurven ꝛc. im Einzelnen bespricht, behandelt, temporäre Heilung in einem Falle beobachtet, außerdem bedeutende Besserungen, allerdings auch Ver⸗ schlimmerungen. Tuberkulose der Haut wurde bei drei Kranken wesentlich gebessert, ebenso ein Fall von Kaochen und einer von Augen-Bindehaut⸗Tuberkulose. Bacillen hat Redner im Blut nie gefunden, auch hohes Fieber, Lungenblutungen nicht beobachtet, weil er sehr vorsichtig in der Dosirung des Mittels war.
An Stelle des verhinderten Professors Birch -Hirschfeld Leipzig sprach sodann Professor Ziegler-Freiburg, der in sehr klarer und anschaulicher Weise die pathologisch⸗anatomischen Befunde aus⸗ einandersetzte.
Der solgende Redner, Professor Heubner-⸗Leipzig, erörtert die Wirkung des Koch'schen Mittels auf die Tuberkulose der Kinder; er erkennt den hohen diagnostischen Werth schon bei sehr kleinen Dosen an und den therapeutischen Werth bei tuberkulssen Affektionen der Drüsen, der Knochen, der Augenbinde⸗ resp. Hornhaut und der Haut selbst; auch sogenannte einfache Skrophulosen sah Vortragender durch Einwirkung des Mittels in fünf Fällen sich bessern. Doch warnt er vor Übertriebenen Hoffnungen, insbesondere vor Anwendung des Mittels bei allgemeiner Tuberkulose und bei Tuberkulose der Schleim—⸗ häute und des Gehirns.
Vom Standpunkt des Kehlkopf⸗Arztes beleuchtete Sanitäts⸗Rath Dr. Moritz Schmidt - Frankfurt in längeren, mit lebhaftem Beifall aufgenommenen Ausführungen die obigen Fragen und berichtete über 54 Fälle eigener Beobachtungen: von 20 leichten Fällen wurden 18 geheilt, von 22 schweren Fällen 1; die übrigen Fälle konnten wegen zu kurzer Kur und anderer Umstände halber in der sehr genauen, durch Abbildungen anschaulich gemachten Statistik nicht be— cücksichtigt werden. Interessant waren die Vergleiche, die der Vortra⸗ gende mit anderen Heilmethoden, über die er fruher berichtet, anstellte. Redner faßt die Ergebnisse seiner Beobachtungen dahin zusammen: Daß das Koch'sche Mittel ein spezifisch auf die Tuberkulose ein wirkendes Agens sei, welches besonders bei Kehlkopfaffektionen um so günstigere Erfolge liefere, als der Kehlkopf ein sehr günstiger Ort für Wegschaffung der Tuberkulosen⸗Massen darstelle. Zu große Dosen und rasche Steigerung seien Schuld an den Mißerfolgen.
Sodann nahm Geheimer Sanitäts-⸗Rath Dr. Dettweiler, der Leiter der Falkensteiner Heilanstalt, das Wort. Sein Vortrag gipfelt in folgenden Ausführungen;
„I) Wir haben die Ansicht gewonnen, daß das Tuberkulin in einer auffallenden, bisher von einem anderen Mittel nicht gekannten und bezüglich seiner selbst noch nicht hinlänglich erkannten Beziehung zur Lungentuberkulose steht.
2) Seine Wirkung in der jetzigen Gestalt und Anwendungsweise ist in jedem therapeutischen Sinne (guten wie schlimmen) un— berechenbar, es fehlen uns noch durchaus die nöthigen sicheren Anhalts⸗ punkte. Selbst bei leichteren Fällen bleibt dieselbe oft sozusagen ein Schuß ins. Dunkle, vorzugsweise aber bei mittleren und schweren Kranken, für welche übrigens der Entdecker selbst die höchste Zurück— haltung in therapeutischer wie prognostischer Hinsicht empfohlen hat.
3) Die diagnostische Kraft ist unsicher, denn bei elner Anzahl zweifellos Tuberkuloser blieb trotz aller zuverlässigen Abänderungs⸗ weisen jede Reaktion aus; bei anderen, die nach Allem, was Er— i. . Untersuchung lehren können, nicht tuberkulos waren, rat sie ein.