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im Herrenhause, welche eine außerordentliche Maßregel gegen die Getreidetheuerung durch Herabsetzung der Eisenbahntarife forderten. Seine Partei hakte den EGisenbahntransport in Bezug auf die Preis. bildung des Getreides für unwichtiger als die Zölle. Der Minister von Boetticher spiele dunkel auf die Spekulation an und exemplifizire auf die Kaffeeschwänze und Kupferringe. Die Kaffeeschwänze sei gekommen und schnell wieder gegangen; sie babe auf die Detailpreise kaum einen Einfluß gebabt, das könne man von den Berliner Kolonialwaagrenhäͤndlern bören. (Widerspruch rechts) Diese unberech ˖ tigten Spekulationen würden bekämpft, indem man den Markt er weitere, die Zufuhr erleichtere; eben dies verlange seine Partei bier. Heute feien in Berlin die Preise niedriger als anderswo in Deutsch= land. Thatsächlich bejable man in Deutschland jetzt den Roggen tbeurer, als der Weizen in England bezablt werde, das verdanke man der künstlichen Theuerung durch die Zölle, welche zu der natürlichen hinzutrete. Was der Minifter von Boetticher in seiner Rede in Stral⸗ fund gejagt habe, stehe mit dem, was der Abg Rickert ausgeführt babe, ganz in Widerspruch. Es bandele sich überhaupt in dieser Frage gar nicht um eine Frage des allgemeinen Vertrauens oder Mißtraueng. Seine Partei habe von vornherein gejagt, daß die aktuellen Verbältnisse iu einer Sutvenston der Zölle drängen müßten, und die Schutzzollanhänger sollten es sich sehr wohl überlegen, ob sie klug daran thäten, sich der Suspension der Zölle noch länger zu widersetzen. Wenn er bloß den Kampf gegen die Getreide ⸗ jölle im Auge haͤtte und nicht, den Nothstand im Lande, so könnte er die gegenwärtige Situation nur wünschen, damit man die Nachtbeile der Zölle in der Vertheuerung der Lebensmittel recht lange und scharf empfände. In Frankreich dachten die Schutzzöllner ganz anders. Da sei es gerade einer der enragirtesten Schutz;zöllner. Meline, gewesen, der der herrschenden Noth wegen und um das Schutzzollspftem nicht für die Zukunft zu diskreditiren, die Saspension der Zölle gefordert habe. Der Minister von Boetticher habe gesagt, die Reglerung werde sich be⸗ mühen, der Sache auf den Grund zu kommen. Das habe er auch vor 22 Tagen im Reichstage erklärt. Wann werde man denn der Sache auf den Grund kommen? Der Minifter von Boetticher habe emeint: man werde zur Suspension schreiten, wenn Noth herrsche. a, es komme darauf an, wieviel Jemand Einkommen habe. Jemand, der nur 2 M täglich zu verzebren babe, stehe der Brot ⸗ theuerung anders gegenüber, als Jemand, der 20 * zu verjebren babe. Für den einfachen Arbeiter, der 2 A täglich verzebre, fei eine Einschränkung der täglichen Broternährung in Verbindung mit den hohen Kartoffelpreisen eine Nothlage, über die man nicht so leicht hinweggehen sollte. 1880 sei der Setteidepreis allerdings auch in die Höhe gegangen wie jetzt, aber damals sei der Ge- treidejoll daran nur mit 16 *, beute mit 50 A schuld gewesen. Wenn das Ausland wirklich den Zoll bezahle, warum gingen denn Tausende von armen Leuten über die Grenze. um ihr Brot dort zu kaufen? In Darzig sei das verzollte Getreide gerade um den Zollsaß tbeurer, als das unverjzollte Getreide. Es sei also falsch, daß das Ausland den Zoll trage. Er wolle an⸗ erkennen, daß die Erklärung des Ministers von Boetticher in dem Sinne seiner Partei etwas gänftiger gellungen habe, als die Er—= klaͤrung des Landwirtbschafts⸗Ministers Nac der letzteren müsse man annehmen, daß die Regierung gar nicht daran denke, Angesichts der jetzigen Preisverhältniffe iu außerordentlichen Maßregeln zu schreiten. Der Minister von Boetticher babe wenigftens die Exentualität einer Zu⸗ sammenberufung des Reichstages ins Auge gefaßt. Die Minister seien unsicher über die vorbandenen Thatsachen und in Bejug auf ihre Mei- nung, wie sie die Thatsachen zu benrtkeilen bätten. Er schließe daraus, die Minister seien unter einander nicht einig. Und bei dieser Unsicherheit am Ministertische sei ein geregelter Handel überhaupt nicht möglich.
Staats⸗Minister Dr. von Boetticher:
Der Herr Vorredner irrt, wenn er annimmt, daß zwischen den Auffassungen meinet Herrn Kollegen, des preußischen Herrn Land— wirthschafts⸗Ministers, und zwischen den meinigen eine Divergenz be⸗ stände, welche darauf hindeute, daß die Regierung nicht wisse, was sie thun solle, und welche nur geeignet sei, die Unsicherbeit im Lande zu vermehren.
Meine Herren, ich möchte Sie bitten, sich doch einmal zu ver⸗ gegenwärtigen, wie denn die Frage gegenwärtig liegt. Der einzige sichere Faktor in der Frage ist bis jetzt der, das wir außerordentlich hohe Getreidepreise haben. Ob es aber unmöglich sein wird, diejenigen Getreidemengen auf unseren Markt jzu jieben, die nöthig sind, um die erforderliche Nahrung bis zur nächsten Ernte zu beschaffen, wie hoch sich die Bestände an Brotkorn im Lande be— laufen, das wissen wir in diesem Augenblicke mit voller Sicherheit noch nicht, und die Herren, die so eifrig sich be— mühen, aus den bohen Getreidepreisen die Nothwendig- keit einer Herabsetzung oder gar Abschaffung der Getreide— zöͤlle herzuleiten, haben auch nicht die Güte gebabt, uns zuverlässige Nachrichten über die Bestände an Brotkorn im Lande zu geben.
Also, meine Herren, die Regierung ist vollständig in ihrem Recht, wenn sie, bevor sie dazu übergeht, an einem woblfundirten, durch die gesetzgebenden Körperschaften im Reich sanktionirten System der Getreidezölle zu rütteln, sich erst die Ueberzeugung davon verschafft, ob wirklich die Lage eine solche ist, daß eine Systemänderung noth— wendig erscheint. Die Regierung würde nicht vorsichtig verfahren und würde das Interesse — wie ich das schon vorhin ausführte — einen der wichtigsten Faktoren unserer vaterländischen Wirthschaft verletzen, wenn sie lediglich an der Hand der einzig feststehenden Thatsache, daß die Getreidepreise hoch sind, dazu überginge einen solchen Wechsel vorzuschlagen. (Sehr richtig! rechts.)
Nun aber weiter, meine Herren, wenn der Herr Vorredner mir einen Vorwurf daraus macht, daß ich jetzt nach 2 Tagen noch nickt klüger bin als damals bei meiner Auseinandersetzung im Reichstage über die Frage der Ermäßigung der Getreidezölle, so habe ich ihm darauf zu erwidern, daß die Regierung inzwischen be—⸗ müht gewesen ist, sergfältige und sichere Nachrichten darüber ein zuzieben, wie es mit der Getreideversorgung im Lande steht, und daß ein Urtheil darüber, ob ausreichende Getreidevorräthe vorhanden sind, nicht früher gewonnen werden kann, als bis diese Nach⸗— richten bei der Regierung eingegangen sind. Die Herren Vorredner von der linken Seite des Hauses haben, soweit ich die Ehre gehabt habe, sie anzubören — also der Hr. Abg. Broemel und der Hr. Abg. Richter —, gemeint, es sei gar nicht zu erwarten, daß diese hohen Getreidepreise, die wir jetzt haben, über⸗ haupt wieder berunter gehen, wenn nicht eine Ermäßigung oder Ab—
schaffung der Getreidezölle eintritt. Nun, meine Herren, das scheint mir doch eine etwas kühne Behauptung zu sein. Sie würde voraus- seetzen, daß die Getreidezölle der einzige Faktor wären, der bei der Preisbildung eine Rolle spielt! Es giebt aber eine ganze Reihe von anderen Faktoren, die einen viel größeren und viel wesentlicheren Einfluß äußern als wie die Zölle, und ich weise in dieser Beziebung nur darauf hin, daß, wenn jetzt auch vielleicht der Nachweis erbracht werden kann, daß die Getreidepreise innerhalb Deutschlands gerade um den Betrag des Zolles höher sind wie außerhalb des Reichs, dieses Verhältniß nicht alle Zeit zugetroffen hat und auch hoffentlich nicht alle Zeit
zutreffen wird. Die Preise hängen eben von Marktkonjunkturen ab, die kein Mensch vorher berechnen kann, und ich gebe mich, auch wenn wir die Getreidezölle aufrecht erbalten, der Hoffnung hin, daß wir auf ein niedrigeres Preisniveau zurückkommen werden. (Zutuf.) — Der Hr. Abg. Broemel bofft das ja auch.
Nun, meine Herren, hat man uns bingewiesen auf Frank= reich und auf die Weisheit der dort getroffenen Maßregeln und darauf, daß einer der hervorragendsten Anhänger der Schutzzollpartei in Frankreich dem Antrage, auf Zeit vom Monat August ab die französischen Getreidezölle herabzusetzen, das Wort ge ⸗ redet hat. Ja, ich für meine Person, obne daß ich mir ein kom ˖ vetentes Urtheil darüber erlauben will, bin doch sehr zweifelhaft, ob dieser Beschluß, den die französischen gesetzgebenden Körper gefaßt haben, wirklich in ausreichendem Maße zum Ziele führen wird, und ich din namentlich sehr zweifelhaft, ob es weise ist, eine Zollermäßigung erst von einem so weit in der Zukunft liegenden Zeitpunkt, wie der 1. August ist, ab zu datiren. Mir würde es viel gerathener erscheinen, wenn man überhaupt aus der gegenwärtigen Preislage eine Veranlassung nimmt, an den Getreidejöllen zu rütteln, dann auch diese Herabsetzung unmittelbar eintreten zu lassen (sehr richtig!), und damit die günstige Wirkung, die man von der Herab⸗ setzung erbofft, obne Verzug hervorzurufen.
Also ich glaube, die Vorwürfe, die man den Regierungen gemacht bat, treffen doch nicht in dem behaupteten Maße zu. Wir verfahren vorsichtig und gründlich, und wir werden seiner Zeit und, wie ich bemerke, zur Zeit das thun, was nothwendig ist, um das Land vor Schaden zu bewahren. (Bravo!)
Abg. Sraf von Kanitz: Die Erfahrungen, welche man mit der sliding scale in England gemacht habe, sollten doch vor der Ein führung einer temporären Ermäßigung der Getreidezölle warnen; die Folge der Ermäßigung sei in England eine kolossale Vertheuerung der Getreidepreise gewesen Die Verbältnisse der Landwirtbschaft hätten seit der letzten Erhöhung der Getreidezölle sich keineswegs gebeffert, sie sei vielmehr noch stärker belastet worden. Durch die Ermäßigung der Getreidezölle würden vielleicht Zebntausende von braven Landwirthen zu Grunde gehen; und doch gebe man keine Aus. kunft über die bejzüglichen Abmachungen in dem Handelsvertrage. Et würde dem Vije⸗Präsidenen des Staats. Ministeriums sehr dank. bar gewesen sein, wenn er s. ner Rede nicht die Versicherung seines Woblwollens für die Landwirthschaft binzugefügt hätte. 1887 sei unisono erklärt worden. die Landwirtbschaft könne obne Erböhung der Zölle nicht bestehen. Er frage, bätten sich die Verhältnisse der Land wirtbschaft seitdem so gebessert, daß man jetzt auf böbere Zölle verzichten könne? Er glaube nicht. Die Landwirthschaft sei jetzt in weit böherem Maße belastet als früher. Er erinnere an die vielen Beiträge der Alters! und Invalidenversorgung. Es würde ihm lieber gewesen sein, es wäre vom Ministertische einfach erklärt worden, man halte die Herabsetzung der Zölle aus irgend welchen Gründen für nöthig, an⸗ statt daß man mit der Versicherung gekommen sei, die Fürsorge der Regierung für die Landwirthschaft sei unverändert geblieben. Diesen an tel hätte der Minister von Boetticher lieber zu Hause lassen ollen.
Staats⸗Minister Dr. von Boetticher:
Nicht, um eingebend auf die Ausführungen des Herrn Vorredners mich einzulassen, sondern nur, um einem Mißverständnisse, das aus meinem Schweigen hergeleitet werden könnte, zu begegnen, ergreife ich noch einmal das Wort.
Meine Herren, ich bin außer Stande, über irgend einen Theil der Handelsverträge, welche wir abzuschließen im Begriff stehen, hier zu diskutiren; ich halte es sachlich auch nicht für nützlich, in eine solche Erörterung einzutreten. Denn der Werth oder Unwerth eines Handelsrertrages muß nach dem ganzen Inbalt des Vertrages beurtkeilt werden, und es ißft nicht richtig, aus der Befürchtung, daß irgend eine Zollposition in diesem Vertrage berabgesetzt werden könnte, die Folgerung berzuleiten, daß der ganze Vertrag, der eine solche Herabsetzung enthält, nichts werth sei. Im GSegentheil, meine Herren, Sie werden erst ein zutreffendes und rich⸗ tiges Urtheil auch über die Fragen, die Ihnen vorzugsweise am Herzen liegen, gewinnen können, wenn Sie den Vertrag in seiner Gesammtbeit vor sich baben. (Sehr richtig) Ick gebe mich der Hoffnung hin, daß der Hr. Abg. Graf Kanitz, wenn erst der Vertrag ihm vorliegen wird, ein freundlicheres Bild gewinnen wird, wie das ist, das er zur Zeit von einem Traktat entrollt, den er absolut noch nicht kennt.
Ich bemerke übrigens, daß ich von einer Herabsetzung des Korn⸗ zolles auf 3,50 M ebenso wenig gesprochen habe, wie von einer Er⸗— mäßigung der Eisenzölle — ich habe das Wort nicht in den Mund genommen. Also Alles das, worüber der Hr. Abg. Graf Kanitz diskutirt hat, hat er nicht aus meinen Mittheilungen geschöpft, son—⸗ dern er hat es aus Preßnachrichten geschöpft, deren Zuverlässigkeit ich für jetzt dahingestellt sein lafsen muß.
Abg. Freiherr von Huene: Er enthalte sich ausdrücklich, auf den Handelsvertrag einzugehen. Diene der Gesammtvertrag zum Wohle detz Vaterland, dann werde sich die Landwirthschaft als Theil des Ganzen zu fügen haben. Die Frage der Getreidevertheue⸗ rung sei überautz ernst. Ob aber gerade das Vorgehen der Abgg. Richter und Broemel zur Yesserung führen müsse, bezweifle er sehr, denn nach den heutigen Erklärungen werde erst recht Jeder sich hüten, Getreide einzuführen; die Anreger der Sache hätten ihre Inter⸗ pellation biz zur Beendigung der angeordneten Erhebungen aufschieben sollen. Der Einfluß deJz Zolls auf die Preisbildung werde ungemein überschätzt, die Möglichkeit, daß die Beseitigung des Zolles ein Sinken detz Preiset zur Folge habe, sei sehr zweifelhaft, im Gegen theil, eine Erhöhung gar nicht ausgeschlossen. Er richte an die Re gierung die dringende Bitte, die Erhebungen so bald wie möglich abzuschließen und so rasch wie möglich die Frage zu beantworten, ob eine Suspension der Zölle erfolgen solle oder nicht. Denn sobald nur erst feststehe, daß eine Sutpension nicht erfolgen werde, würden lohnende Zufuhren ins Werk gesetzt werden können.
Abg. Schultz Eupitz)': Der Abg. Richter hätte seine Be—⸗ schwerde nicht an die Regierung, sondern an die beiden von ihm erwähnten Handelshäuser richten sollen, da würde eine Verminderung der Getreidepreise möglich gewesen sein. Uebrigens sei in Südruß⸗ land noch immer so viel Getreide vorhanden, daß, wenn die Börse die Getreidepreise nicht künstlich boch hielte, es an Getreide nicht fehlen könne.
Abg. von Eynern: Der Minister von Boetticher verlange, man solle der Fürsorge der Regierung vertrauen, und sage weiter, die agrarischen Zölle würden nicht weiter herabgesetzt werden, als die Existenzfähigkeit der Landwirthschaft es ertragen könne. Wo liege denn die Grenze, bis wie weit die Herabsetzung hiernach erfolgen könne? Darüber habe man keine Antwort bekommen. Bei der wachsenden Auftegung der Bevölkerung sei es die Pflicht des Hauses gewesen, die Sache beute hier zur Verhandlung zu bringen und die Debatte sei auch keine verlorene gewesen.
. Hierauf wird ein Schlußantrag angenommen und werden die Einnahmen des Etats des Ministeriums für Handel und Gewerbe bewilligt.
Abg. Lamprecht bringt einen Wunsch, betreffend die Berg—⸗
verwaltung in Rüdersdorf vor, bleibt aber bei der eingetretenen großen Unruhe des Hauses unverftãndlick.
Minister für Handel und Gewerbe Berlepsch:
Meine Herren! Ich befinde mich in der peinlichen Lage, dem Herrn Abgeordneten absolut nicht antworten zu können, weil ich seine Rede nicht verstanden habe. Es ist gewiß nicht seine Schuld, und ich bin weit entfernt, ibm einen Vorwurf zu machen; aber ich kann andererseits aufs Ehrlichste versichern, daß es mir trotz allen Bemühens bei der Unruhe des Hauses nicht gelungen ist, seine Worte zu verstehen. Ich werde aber seine Rede nachlesen, und ich verspreche ihm, wenn ich etwas in derselben finde, was ich heilen kann, daß ich mit Vergnügen darauf eingeben werde. Ich glaube, er hat von den Verkaͤltnissen der Kalkbergwerke in Rüdersdorf ge⸗ sprochen (Widerspruchh; das war das Einzige, was ich glaubte ver ˖ standen zu baben. Diese Sache würde an und für sich zum Berg ⸗Eiat gehören; das soll mich aber nicht abbalten, meinem Versprechen nachzukommen, die Bemerkungen, die er gemacht bat, nachzulesen und mich persönlich mit ihm auseinanderzusetzen, ob und inwieweit ich in der Lage bin, seinen Wünschen zu entsprechen.
Abg. Krah lenkt die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Seeunfälle und bittet, den Vorsitz im Seeamt nicht als Neben «, sondern als Hauptamt zu bebandeln. ;
Unter ˖Staatssekretér Magdeburg erklärt, daß zu einer der⸗ artigen Aenderung keine Veranlassung vorliege. 9
Abg. Rickert verlangt eine größere Berücksichtigung des ge⸗ werblichen Centralvereins für Westpreußen zu Danzig aus dem Dis. positionsfonds des Ministeriums. .
Geheimer Ober ⸗Regierungs⸗Rath Lüders sagt möglichstes Ent gegenkommen zu; allen Wünschen aber werde man bei den be⸗ schränkten Mitteln des Fonds nicht entsprechen können.
Die Abgg. von Eynern und Dr. Sattler treten der Forderung des Abg. Rickert entgegen. Daz heiße Kirchthurms⸗ politik treiben wegen der Vertheilung der Dispositionegelder würde sich der Abg. Rickert besser an die Regierung, als an das Plenum des Abgeordnetenhauses wenden. ö
Abg. Rickert lebnt diese Vorwürfe ab; namentlich von den überreichlich gesättigten Hannoreranern sei es Unrecht, ãrmeren Provinzen eine Erböhung ihrer kümmerlichen Dotation zu miß⸗ gõnnen. . ;
Der Rest dieses Etats wird bewilligt und darauf die Fortsetzung der Gatsberathung vertagt.
Schluß 4 / Uhr. Nächste Sitzung Freitag 11 Uhr. Auf der Tagesordnung stehen: 1) Fortsetzung der dritten Berathung des . betreffend die Feststellung des Staats⸗ haushalts-Etats für das Jahr vom 1. April 1891/92. — 2) Zweite Berathung des Gesetzentwurfs, betreffend die Er⸗ weiterung, Vervollständigung und bessere Ausrüstung des Staats⸗Eisenbahnnetzes.
Freiherr von
Entscheidungen des Reichsgerichts.
Bei der Enteignung eines mit einem wenig rentablen Gebäude versebenen Grundstäcks stebt, Falls eine mögliche höbere Ausnutzung der Baufläche ohne Abbruch des bisberigen Gebäudes nicht zu erreichen ist, nach einem Urtheil des Reichsgerichts, V. Civil senats, vom 1. April 1891, dem Eigenthümer frei, entweder den Werth seines Grundstücks nach seiner bisherigen Benutzungsart oder nur den Werth der Baufläche zu fordern.
Rennen zu Charlottenburg. Mittwoch, 27. Mai.
JL. Preis von Müncheberg. 1000 Æ Flach⸗Rennen. Für 3 jähr. und ältete Pferde, im Besitz von aktiven Offizieren der deutschen Armee und von solchen zu reiten. 40 M Eins., 20 06 Reug. Distanz 1400 m. Lieut. Graf Königsmarc's br. St. Titbit. Bes. J. Lieut. Graf Sierstorpff's schwhr. H. Jochen“ (fr. ‚„Henriot“), Lient. Frhr. v. Senden J, 2. Rittm. v. Boddien's br. SH. ‚Tamberlick“ Bes. 3. Tieut. Graf Montgelas' db. St. . Räthsel“, Lieut. Frhr. v. Reißzenstein, 4. Ganz sicher mit einer balben Länge gewonnen, einen Hals zurück ‚Tamberlick! Dritter, anderthalb Längen vor Rätksel . Werth: 1640 M dem ersten, 460 M dem zweiten, 260 dem dritten, 160 M dem vierten Pferde. ⸗
H. Ebrenvpreis - agd⸗ Rennen. Ehrenpreise den ersten drei Pferden. Herren ⸗Reiten. Zu reiten von deutschen Herren Für ILjäbr. und ältere Pferde. 20 S606 Eins., 10 6 Reug. Distanz 3000 m. Lieut. Dulon's (4. Ul.) br. W. Bacchus Bes. 1. Lieut. Frbrn v. Senden's II. bbr. St. Violet“ Bes. 2. Hptm. Schmidt's F St. ‚Märzblüthe? Hr. v. Hünerbein 3., Rittm. v. Köller's br. W. Amadeus“ Lieut. v. Sydow 4. Ganz sicher mit sieben Längen gewonnen, fünf Längen jwischen . Violet! und ‚März- blüthe“, diese eine Länge vor Amadeus? . Werth; Ehrenpreise den ersten drei Reitern, 1160 4M dem siegenden, 480 4 dem zweiten, 280 * dem dritten, 130 6 dem vierten Pferde. ;.
III. Preis von Wolfsberg. 1500 6 Jockey ⸗Hürden⸗ Rennen. Fur 4 jähr. und ältere Pferde; 40 „ Einsatz, 20 M6 Reu⸗ geld. Distanz 3000 m. rn. A. Röhll's dbr. St. „ Herjogin.? J. Lieut. Baron Blome's br. W. . Graf , 2. Graf Reventlow's F. W. . Westgate“' 3. Im leichtesten Kanter mit vier Längen ge—⸗ wonnen; fünffebn Längen zurück „Westgate! Dritter. Werth: 2020 M dem ersten, 366 M dem zweiten, 160 ½ dem dritten Pferde.
ly. Großes Berliner Jagd- Rennen. Ehrenpreis und 10000 M dem ersten Pferde, Handicap. Herrenreiten. Für 4 *r. und ältere Pferde. 1560 M0 Eins., 50 „M Reug. Dist. 5500 m Kapt. Joß'z br. St. . Vivaeious Mr. Tompson 1, Hrn. 8. Meyer's F. H. „Vignier“' Lient. Frhr. v Reitzenstein 2., Rittm. v. Sydow's F-St. „Cara“ Bef. 3., Lieut. v Waldow's br. St. „Hollandaisen Lieut. v. Grävenitz 4. Siegte, wie er wollte, mühelos mit zwei Längen, eine halbe Lange zwischen ‚Vignierᷣ und „Cara“, diese zwei Langen vor Hollandaise !. Werth: Ehrenpreis und 10850 S6 dem ersten, 1850 M dem zweiten, 850 6 dem dritten, 350 M dem vierten Pferde.
V. Master Willie⸗Jagd⸗Rennen. Preis 2000 6 Jocker⸗ Rennen. Für 4jähr. und ältere inländ., und österr. ungar. Pferde. 60 ½ Eins, 20 1M Reug. Distanz 35090 m. Lieut. Frhrn. v. Kar herr's II. br. O. Atlantic“ J., Hrn. B. Kalbe's F- H. . Kraut junker· 2 Kapt. Jos's schw. W. Mohr“ 3. Siegte mühelos, nach= dem er über die ganze Bahn geführt, mit drei Längen, dreiviertel Längen zurück Motor“ Dritter. Werth: 2640 A dem ersten, 740 M dem zweiten, 340 „ dem dritten Pferde.
Vl Könige dammer Jagd! Rennen. Preis 1899 * Herren ⸗Reiten. Für 4jähr, und ältere Pferde. 40 4 Gins, 20 * Reug. Distanz 3500 m Lt. v. d. Decken's (189. Pal FJ. W. . Craig Gowan“ Bes. J. Rittm. v. Heyden Linden's Er. W. „Dre Tian? Bes. 2. Rittm. v. Schmidt ⸗Pauli's br. W. „ FRingetene- Et .., Scier- stadt 3. Mit zwei Längen gewonnen; ebenso weit zurück Kingsgene“ dritter. Werth: 2180 4 dem ersten, 460 M dem zweilen, 250 Æ dem dritten Pferde.
VI, Don Merxino Hürden⸗ Rennen. PYVreit 1509 A Jockey Rennen. Für 4jähr. und ältere Pferre. 69 , Gins, 20 A Reug. Distanz 3000 m. Hrn. Demutk's br. S. Mirambo' 1. Hrn. Albert's schwbr. W Cotmopolit 2. Oi. J. Saloschin's dbr. H. . Nigůuet' 3. Ganz leich! mit wei Rängen gewonnen; andertoalb Längen zurück Niquet⸗ Dritter. Merth. 194 Æ dem siegenden, 0 Æ dem zweiten, 29 M bem dritten Herve,
M 23.
Statistik und Volkswirthschaft.
Evangelisch⸗sozialer Kongreß.
Im großen Saale des am Johannigtisch belegenen Stadt⸗ missionshauses begannen heute Vormittag die Verhandlungen des Evangelisch-sozialen Kongresseg. Eß waren etwa 300 Personen, die wohl zum großen Theil dem geistlichen Stande i er . anwesend. Die e n feng wurde mit dem Gesange: „in' feste Burg ist unser Gott! und einem von dem Hofprediger a. D. Stöcker ge⸗ sprochenen Gebet eröffnet. Landes Oekonomie Rath Nobbe (Berlin), der die Verhandlungen leitete, bemerkte: Der ch sei nicht berufen worden aus Anlaß irgend eines augenblicklichen Nothstandes, sondern weil die Gefahr, daß dem deutschen Volke der Glaube an den Geist Christi verloren gehe, immer mehr wachse. Der Kongreß betrachte es als seine Aufgabe, die soziale Frage im Geiste Jesu Christi zu lösen. Zweifellos sei die Verantwortung eine große, die Arbeit eine schwierige. „Allein Angesichts des Umstandes,. daß wir im Geiste Christi arbeiten und daß wir bei unseren Arbeiten der Mithülfe unseres erlauchten Kalsers sicher sind, wird uns der Erfolg nicht fehlen. Der Redner schloß mit einem dreifachen Hoch auf Seine Majestät den Kaiser, in das alle Anwesenden dreimal begeistert einstimmten.
Der Vorsitzende theilte alsdann mit, daß in Folge ergangener
inladung der Staats ⸗Minister von Boetticher sein Erscheinen in Aussicht gestellt habe; jedenfalls habe er den Regierungs- Rath Dr. Wilhelmi beauftragt, dem Kongresse beizuwohnen. Der Minister des Innern habe geschtseben, daß er an den Verhandlungen des Kongresses das größte Interesse nehme, er bedauere jedoch, daß er durch Ueberhäufung mit Berufsgeschäften verhindert sei, persönlich zu er scheinen; er werde sich jedoch durch einen seiner Räthe, der in dem Kongresse erscheinen werde, über den Verlauf der Verhandlungen Bericht erstatten lassen. Der Kultut⸗Minister Graf von Zedlitz habe mitgetheilt, daß er den Regierungs⸗Rath Schwarzkopff zu den Verhandlungen entsendet habe; dieser Minister sowohl als auch der i ,. Freiherr von Berlepsch und der Präsident des
vangelischen Qber⸗Kirchenraths Dr. Barkbausen haben außerdem ihr persönliches Erscheinen in Aussicht gestellt. — Es wurde alsdann Geheimer Regierungs Rath Professor Dr. Adolf Wagner zum Ehrenpräsidenten gewählt und eine Reihe von Beisitzern berufen; zu den Letzteren gehören einige Handwerksmeister und der Vorarbeiter Kühn (Dortmund).
Der General⸗Selretär des Kongresses Cand. theol Göhre (Berlin) vermochte bei Erstattung des Jahresberichts zu konstatiren, daß die Bewegung des Evangelisch ‚sozialen Kongresses im letztver⸗ flossenen Jahre große Erfolge zu verzeichnen habe. An Jahres beiträgen habe der Kongreß vereinnahmt 1169 M 50 F, an ein⸗ maligen freiwilligen Beiträgen 1175 66 Der Ausschuß habe beschlossen, außer dem jährlich einmal zu berufenden Kongreß, Gffentliche Versammlungen zu veranstalten, in denen Vorträge sozial⸗ politischen, sozial / ethischen, sozialdemokratischen Inhalts im evangelisch⸗ sozialen Sinne gehalten werden sollen. Außerdem sei beschlossen worden, daß eine Gruppe junger gebildeter Männer die Versammlungen der sozialdemokratischen Fachvereine besuchen soll, um dort auf dem Wege der Diskussion eine Aussöhnung der bestehenden Gegensätze an⸗ an , Proselytenmacherei solle dabei als Ziel ausge⸗
ossen sein.
Den ersten Gegenstand der Tagesordnung bildete: Religion und Sozialdemokratie.“
Professor Dr. Herrmann (Marburg) äußerte sich etwa folgender⸗ maßen: Die Sozialdemokraten hätten zweifellos das Verdienst, die soziale Frage auf die öffentliche Tagesordnung gesetzt zu haben. Auch sei nicht zu leugnen, daß in dem wirthschaftlichen Programm der Sozialdemokratie viele Wahrheiten enthalten seien. Wäre die Sozialdemokratie eine blos wirthschaftliche Partei, dann könnte man sie vlelleicht ganz ruhig gewähren lassen, allein sie beanspraͤche, daß ihre gesammten Forderungen zur allgemeinen Welt⸗ anschauung werden. Sie begnüge sich nicht damit, wirthschaftliche Forderungen zu stellen, sondern greife Alles an, was jedem Christen heilig sei. Es dürfte sich erübrigen, eine Blüthenlese über die An — griffe, die die Sozialdemokratie gegen die Kirche mache, in dieser Versammlung zu geben. Allein auffallend sei es, daß die Sozialdemokraten, während sie die christliche Religion schmäben. die jüdische Religion vollständig unberührt lafsen. Diese auffallende Tbat ache sei nur dadurch zu erklären, daß hervorragende Mitglieder der Sezialdemokraten Juden seien und daß auch die hervorragendsten geistigen verstorbenen Führer der Sozialdemokratie Juden gewesen seien. Die Sotialdemokraten wissen sehr wobl, daß ein Mensch mit sittlichen Grundsätzen und dem Glauben an Gott wohl Sozialist werden, aber niemals dem Sozialismus verfallen könne. Daher der Haß gegen die Religion und die Betonung des Materialismus. Allein selbst Bebel scheine einzusehen, daß es mit der materialistische! Welt⸗ auffafsung nicht so weiter gehe. Bebel entrüste sich über das Gebahren der amerikanischen Geldmänner. Die amerikanischen Geld⸗ männer handelten aber doch lediglich im Sinne der materialistischen Weltaaffassung, der die Sozialdemokraten huldigen. Man sehe also, daß die Sozialdemokraten selbst der Ansicht seien, die materialistische Weltauffassung sei unhaltbar. Wenn man sich im praktischen Leben umsehe, dann werde man zu der Ueber⸗ zeugung gelangen, daß die Arbeiter noch keineswegs der materia listischen Weltauffassung verfallen seien, deshalb dürfe die Kirche nicht verzagen und ihre Hände auch nicht in den Schooß legen. Es müsse die Arbeit bei denjenigen Arbeitern begonnen werden, bei denen ein gutes Familienleben noch anzutreffen sei. Die Zahl dieser Arbeiter sei in Deutschland wahrhaftig keine kleine. Derjenige Mensch, der noch sittlichen Grundsätzen huldige, sei für die Kirche noch nicht verloren. Es sei ja bekannt, daß die grotze Masse sich der Sozialdemokratie angeschlofsen habe, weil sie mit ibrer wirthschaft⸗ lichen Lage unzufrieden sei und durch die Sozialdemokratie Besserung erhoffe. Als Erben der Marx'schen Philosophie betrachteten sich wobl nur sehr wenige Arbeiter. (Heiterkeit Die soꝛialdemokratischen Ar⸗ beiter dächten über Zweck und Ziel des Menschen jeden« falls häufiger nach, als die ungläubigen Gebildeten. Es sei daher zweifellos. daß sozialdemokratische Arbeiter be⸗ deutend eher für den christlichen Glauben gewonnen werden könnten, als die große Zahl der ungläubigen Gebildeten. Die Sozial demokraten sagen: die Religion ist für die Reichen da, d. h. nicht für sie selbst, sondern um die Arbeiter zur Kirche zurückzuführen und sie dadurch gefügiger zu machen. Die Kirche sei eine Bourgeeis⸗ lirche. Diesem Vorwurf müsse die Kirche mit aller Entschiedenheit entgegentreten. Die Kirche müsse zeigen, daß sie für die sozialen Schäden wohl ein warmes Herz habe und keines⸗ wegs eine Kirche der Besitzenden sei. Allerdings sei es auch erforder⸗ lick, daß die kirchlichen Behörden an dieser Arbeit mitwirken. (Rufe: Sehr richtig) Wenn der Evangelische Ober⸗Kirchenrath die Geift = lichen auffordere, der sozialdemokratischen Bewegung ihre Aufmerk · samkeit zuzuwenden, so sei das zu killigen. Wenn aber kirchliche Be⸗ hörden die Geistlichen auffordern, die wirthschastlichen Forderungen der Sozial demokratie zu bekämpfen, dann lade die Kirche zweifelles die Schuld auf sich, die Arbeiter der Kirche zu entfrem den. (Lebbaftes Bravo.) Es sei nur zu bekannt, daß selbst unter den Soꝛial⸗ demokraten der Glaube an Gott noch keineswegs erloschen sei. Deshalb müffe die Kirche mit den Arbeitern Füblung suchen. . Dies kaun geschehen, einmal indem wir jeigen, daß wir
Zweite Beilage zum Deutschen Reichs⸗Anzeiger und Königlich Preußischen Staats⸗Anzeiger.
Berlin, Donnerstag, den 28. Mai
keine Heuchler, sondern vom christlichen Glauben vollständig durchdrungen sind, daß die christliche Religion eine Religion der Liebe ist und auch ein Herz für die Armen und Bedrängten hat. Wenn wir in diesem Sinne unverdrossen handeln, dann wird uns mit Gottes Hülfe der Sieg nicht feblen. (Lebhafter Beifall) Der Redner befürwortete schließlich folgende Leitsätze: I) Die Sozialdemokratie be⸗ findet sich durch ihre materialistische Geschichtsauffassung in einem sachlichen Gegensatz zur christlichen Religion. 2) Diese materialistische Deutung der Geschichte gehört nicht zu den Prinzipien, sondern zu den Agitationsmitteln der Sozialdemokratie. 3) Sie zu überwinden, ist gegenwärtig die wichtigste soziale Aufgabe der christlichen Kirche. 4) Die wirthschaftlichen Ziele, denen die Arbeiter unter Führung der Sozialdemokratie zustreben, im Namen der christlichen Kirche zu bekämpfen, ist unchristlich.“
Professor Cremer (Greifswald): Er könne dem Vortragenden nur vollständig beistimmen und wolle es noch ausdrücklich betonen: die Kirche müßsse in erster Linie eine Volkskirche sein, sie müsse alle Stände mit gleicher Liebe behandeln.
Superintendent Wilke (Angermünde): Die Diener der Kirche seien in erster Linie berufen, die sozialdemokratischen Arbeiter, die noch vielfach innerhalb der Kirche stehen, der Kirche zu erhalten und sie in dieselbe wieder zurückzuführen. Es sei deshalb nothwendig, daß die Geist⸗ lichen und auch die Superintendenten nicht mit Aktenarbeiten überhäuft werden. Der Geistliche müsse sich auch mehr als bisher der Armenpflege widmen und für die Armen immer zu sprechen sein. Der Geistliche dürfe keine Sprechstunde haben; ein Armer habe ihm (Redner) ein⸗ mal gesagt: Der Herr Jesus habe auch keine Sprechstande gebabt. Auch sei es nothwendig, daß die jungen Theologen eine mehr praktische Ausbildung als bisher erhielten. Wissenschaft sei ja eine sebr scksge Sache, jedoch mit der Wissenschaft allein könne der Seißstliche nicht gedeihlich in seiner Gemeinde wirken. Der Fehler sei, daß die Professoren nicht wüßten, wie es in einer Gemeinde aussehe. Es wäre erforderlich, daß jeder Professor zunächst eine Zeit lang Pfarrer sein müsse und nach Verlauf von fünf Jahren müßte er wiederum das Katheder verlassen und ein Pfarramt bekleiden. Auch sei es nothwendig, daß die Geistlichen mittels eh Schulaufsicht Fühlung mit der Kirche, Schule und dem Volke uchen.
5. Hauptversammlung des Deutschen Vereins für Knaben handarbeit.
Eisenach, den 24. Mai 1891.
Die Versammlung fand im hiesigen Gewerbehause statt und be⸗ gann mit einem öffentlichen Vortrage am Abend des 23. Mai durch den Ober⸗Realschul⸗Direktor Noeggerath⸗Hirschberg über Bedeutung und Ziele des Arbeitsunterrichts. Die klaren und treffenden Aus- führungen des Vortra enden wurden von der aus allen Kreisen der Einwohnerschaft Eisenachs und auch von auswärts zahlreich besuchten Versammlung mit großem Beifall aufgenommen. Die sich an⸗— schließende Debatte, welche noch einige Ergänzungen zu dem Gehörten . . allseitige Zustimmung zu den dargelegten Zielen des
ereins.
Am 24. Mai wurde die Hauptversammlung in demselben Raume unter zahlreicher Betheiligung durch den Vorsitzenden des Deutschen Vereins, A. Lammers⸗Bremen, eröffnet Schulrath Eber⸗ hardt ⸗Eisenach begrüßt die Versammlung im Auftrage des Groß⸗ herzoglichen Staats⸗Ministeriums, dessen regstes Interesse für die von den Verein vertretene Sache er nachdrücklich betont, und Bürgermeister Wittrock überbringt die Grüße der Eisenacher Bürgerschaft. Hierauf giebt der Schatzmeister, Ober ⸗Realschul ⸗ Direktor Noeggerath ˖ Hirschberg, einen Bericht über die wirthschaftliche Lage des Vereins. Nach Genehmigung der in Folge der . körperschaftlichen Rechte des Vereins abgeänderten Satzungen, worüber von Schenckendorff ⸗Görlitz berichtet, werden die ausgeloosten Ausschußmitglieder zum größten Theil wiedergewählt. Ueber den Arbeitsunterricht für Knaben im Alter von sieben bis zehn Jahren und zwar über die entsprechenden Arbeiten in und Carton, sowie für das Formen in Plastilina spricht, unter Vor- legung von Modellen, Bürgerschullehrer Hertel Zwickaa, der felbst schon seit längerer Zeit praktische Versuche in der don th geleiteten Handfertigkeiteschule unternommen hat. Er führt aus, daß ein so früher Beginn des Arbeitsunterrtchts zulässig, wünschenfwerth, ja nothwendig sel. Bezüglich der Papier · und Cartonarbeiten werden als geeignet empfohlen das Bildausschneiden das geometrische Aus⸗ fan ben und die Anfertigung feiner Gebrauchs gegenstände. Diese Stoffauswahl wird durch die Darlegung ihres erzieblichen Werthes gerechtfertigt. Weiter wird auf Grundlage eines von 6. bis Gjährigen Knaben angefertigten Lehrganges bewiesen, daß auch das Formen in Plastilina ein geeignetes Bildungsmittel für dieses Alter sei. Ein solches Formen ent pricht den Kräften und Bedürfnissen des Schülers und liegt ebenso im Interesse der Schule, da es den geographischen, naturkundlichen, geometrischen und Zeichenunterricht in e n , . Maße unterstützen kann.
Der zweite Referent, Lehrer und Landtags Abgeordneter Kalb⸗ Gera führt an der hend mehrerer im Geraer Knabenhort hergestellten Arbeiten einen wohldurchdachten Lehrgang für leichte Holzarbeiten vor, bei welchen nur Messer, Hammer, kleine Nägel und eine der Kinderband angepaßte Säge zur Anwendung kommen. Beide Refe⸗ renten finden lebhafte Zustimmung, welche auch durch die nachfolgende Debatte zum Ausdruck kommt. Als Ergebniß derselben gelangt folgende vom Lehrer Groppler ⸗ Berlin beantragte Resolution zur einstimmigen Annahme: „Die fünfte Hauptversammlung des Deutschen Vereins für Knabenbandarbeit hält es für notbwendig, eine Verbindung jwischen den Arbeiten des Kindergartens und denen der Schülerwerkstatt her⸗ zustellen und demnach den Arbeitsanterricht bereits auf Knaben vom ersten Schuljahre ab auszudehnen. Sie begrüßt die in dieser Rich tung bereits in mehreren Orten Deutschlands erfolgreich unternem ⸗ menen Versuche mit Freuden als einen Beweis dafür, datz eine solche Verbindung möglich ist und reiche Früchte zeitigen kann. Sie em pfieblt daher allen deutschen Schülerwerkstätten, praktische Versuche auf diesem Gebiete zu unternehmen, um dadurch zugleich eine weitere Klärung Über die geeignetsten Lehrgänge für die jüngeren Altersstufen berbeizufũhren⸗ ; *
Mit der Hauptversammlung war eine trefflich Ausstellung der tbüringischen Handfertigkeitsschulen zu Eisenach, Gotha, Rubla, Waltershausen, Salzungen, Gerstungen und Meblis verbunden, die saͤmmtlich erft in den letzten Jahren gegründet sind. Die außer- ordentlich ansprechenden Arbeiten bewiesen, daß man auch hier bereits einen guten Anfang zur praktischen Durchführung der von dem Deutschen Verein vertretenen Idee gemacht hat. Ebenso hatte auch eine der ältesten Schülerwerkstätten, nämlich die zu Leipzig, die dort maßgebenden Lehrgänge vorgeführt. Mit der nächstfaͤhrigen, un mittelbar nach Pfingften stattfindenden Hauptversammlung wird der XI. Deutsche Kongreß für erziebliche Knabenbandarbeit verbunden werden, als Ort derselben ist Königsberg i. Pnr. in Aussicht genommen. Mit einem Dankeswort des Vorsitzenden an den Ortsausschuß und die gastfreie Stadt Eisenach wurde die Versammlung geschlossen.
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herauffübren will. Auch wir kalten die gegenwärtigen Wirtbschafts⸗ und nigfach
mitteln und ain Arbeitsertrage,
Zur Arbeiterbewegung.
Im Augenblick liegen neuere Nachrichten von wesentlicher Bedeutung aus den verschiedenen europäischen Ausstands⸗ gebieten nicht vor. Der einzige Ausstand, der gegenwärtig noch mit großer Hartnäckigkeit auf beiden Seiten geführt wird und dessen Ende sich nicht absehen läßt, ist der Ausstand der Buchdrucker in Wien. Arbeitgeber wie Arbeiter wollen den Kampf bis auf das Aeußerste durchführen. In Belgien ist zwar im Kohlenbecken von Charleroi auch noch eine na Tausenden zählende Menge von Bergarbeitern ausständig, doch ist nach allen Berichten aus dieser Gegend anzunehmen, daß der Wider⸗ stand der Bergleute sich mehr und mehr abschwächt und ihre endgültige Niederlage binnen Kurzem zu erwarten steht. Gestern sollen wieder tausende von den dort ausständigen Bergarbeitern die Arbeit aufgenommen haben. Auch der Strike der Kohlenzieher und Heizer beim Norddeutschen Lloyd in Bremerhaven wird voraussichtlich zu Bedenken keinerlei Anlaß mehr bieten, da es der Direktion gelungen ist, die ausständigen Arbeiter überall durch Zuzug von Außen zu ersetzen. In Paris verkehren die Omnibusse seit gestern wieder, die verhafteten Personen sind entlassen und sollen
erichtlich nicht weiter verfolgt werden. Endlich ist auch in London zu erwarten, daß der Frieden zwischen den Schneider—⸗ meistern und den Gesellen bald geschlossen werden wird, da die Meister zu freundlichem Entgegenkommen und Anerken⸗ nung der berechtigten Forderungen sich bereit gezeigt haben. Nicht unbedenklich ist allerdings der Strike der Tischler und Zimmerleute in London, über welchen von der „A. C.“ wie folgt, berichtet wird: „In dem Londoner Bau⸗ gewerbe wurde vorgestern von den Bauunternehmern infolge des Strikes der Tischler und Zimmerleute eine theilweise Arbeitssperre verhängt, welche bis jetzt etwa 2000 Mann in Mitleidenschaft zieht.
Erfreulich ist es zu beobachten, wie die gutgesinnten Arbeiter sich immer stärker unter selbstgewählten Führern zu Vereinen zum Kampf gegen die sozialdemokratischen Arbeiter e innen. und wie von Seiten der Führer nach
öglichkeit dahin gewirkt wird, die durch die sozialistischen Hetzer irregeleiteten Arbeiter aufzuklären über die wahren Ziele der Sozialdemokratie.
Ueber die Berathungen des Gesammtvorstandes der evangelischen Arbeitervereine geht uns der folgende weitere Bericht zu:
Nachdem im Verfolg der gestrigen Verhandlungen eine Anzahl in Vorschlag gebrachter Statutenänderungen beschlossen worden, berichtete Pastor Rahlenbeck⸗ Berlin über:
„Die Heranbildung tüchtiger, redegewandter Arbeiter innerhalb der einzelnen Vereine zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie.“ Der Redner erörterte zunächst seine grundsätzliche Stellung zu der in Rede stehenden Frage, um daran praktische Vorschläge zu knüpfen, bei denen es sich u. A. um die Beschaffung geeigneten Bildungsmaterials han— delte. Seinen grundsätzlichen Standpunkt faßte der Bericht erstatter in folgender These zusammen: „Der Sozial demo—⸗ kratie gilt unser Kampf niht im Sinne oder Dienste einer politis en Partei, eines Wirthschaftsprogrammes, einer Gesellschafts⸗ klasse, sondern lediglich um des Evangeliums willen, zu dem wir uns freudig bekennen als zu dem lauteren Quell wabrer Heilung und Heiligung unseres Volkslebens auch auf dem wirthschaftlichen Gebiete, während die Sozialdemekratie nicht nur mit anderen Rich⸗
s on inen greß gezogen, die entgegengesetzte vertritt, sondern auch mehr oder ntiprechende widerchristliche Weltgestalt
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Geselljchaftezuftar . Sristlichsittlichen Gesichtspunkten für man⸗ igf der defserargs bedürftig, aber auch für verb, rungsfähig urter grandséßzlicher Erbaltung des Sondereigenthums . 4 Arbeits⸗ — eil wir in demselben é. Sinne des gottverlichenen Hausbaltergute; die natürliche Voraussetzung der durch das Erangelium geweihten Gottesordnungen der menschlichen Per⸗ sönlichkeit und der Familien und Volksgemeinschaft erkennen. Soweit noch Zustände da sind, welche den wirthschaftlich Abhängigeren den Segen dieser Gottesordnungen und die Möglichkeit jener ihrer natürlichen Voraussetzung entziehen, erhoffen wir deren allmähliche Ueberwindung von der Gesetzgebung, wie sie durch unser theueres Kaiser⸗ und Königshaus von Gottes Gnaden schon so dankenswerth in Angriff genommen ist, und vor Allem von der für dieselber maßgebenden wachsenden Durchdringung aller Volks⸗ kreise, auch der oberen, mit dem Geiste der aus dem Glauben geborenen lebendigen Selbstzucht und Bruderliebe. Und unser hauptsächlichstes Be⸗ streben ist, daß dieser Geist in uns selbst mächtig werde, uns, unserem Berufs und Familienleben zum Frieden, entgegen dem die Sozial⸗ demokratie treibenden Geiste der Klassenselbstsucht und des Klassen⸗ hasses, der Auflehnung gegen alle übergeordneten Glieder am Volks— körper, des Aberglaubens an einen durch materielle Umwälzung zu schaffenden Himmel auf Erden, entgegen dem Geiste der Zuchtlosig⸗ seit, Vaterlandslosigkeit, Gottlosigkeit.
In der ausgiebigen Besprechung, welche sich an den Be⸗ richt knüpfte, kam neben der grundsätzlichen Bedeutung der zur Berathung stehenden Angelegenheit auch die praktische Seite der Frage zur Erörterung, deren Einzelheiten sich der Bericht⸗ erstattung noch entziehen. Das Ergebniß der Verhandlungen war die einstimmige Annahme folgender Resolution:
„Der Ausschuß erklärt seine Zustimmung zu den prinzipiellen Grundgedanken des Referats, ist dankbar für die Anregung, welche dasselbe gegeben, und spricht seine Freude aus über die theilweise schon erfolgte Beschaffung des Materials zu Ansprachen in der Samm⸗ lung von Ansprachen“, welche bei Bertelsmann in Güters⸗ Loh erschienen ist, hafft auch auf eine Weiterführung der Sache und freut sich endlich (ber die in Werke befindliche Herausgabe eines Leitfadens, welcher die Vorstände der einzelnen Vereine befähigt, tüchtige, redegewandte Arbeiter weiter auszubilden.“
Es solgten verschiedene Anregungen und Anträge aus dem Schooße der einzelnen Vereine heraus. Während ein Theil davon dem leitenden Ausschuß zur Erledigung über⸗ wiesen wurde, beschloß man, die obersten Kirchenbehörden der betheiligten Länder zu ersuchen, bei den Kursen für innere Mission das Programm besonders nach der sozialen Seite auszubilden. Ferner wurde beschlossen, dem Wunsche des internationalen Sonntagsschutz⸗ Comité, mit den evangelischen Arbeitervereinen in Beziehungen zu treten, Folge zu geben; es wird u. A. die Abhaltung eines internationalen Sonntags⸗ schutz Kongresses in Deutschland geplant. Nachdem fich der Ausschuß weiter dahin schlüssig gemacht, die Ver⸗ eine aufzufordern, entweder eigene Hülfs-,, Kranken⸗
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