Mitbenutzung von Rüstungen.
Die von dem Unternehmer hergestellten Rüstungen sind während ihres Bestehens auch anderen Bauhandwerkern unentgeltlich zur Be⸗ nutzung zu überlassen. Aenderungen an den Rüstungen im Interesse der bequemeren Benutzung seitens der übrigen Bauhandwerker vor⸗ zunehmen, ist der ser . nicht verpflichtet.
311 Beobachtung polizeilicher Vorschriften. Haftung des Unternehmers für seine Angestellten ꝛe.
Für die Befolgung der für Bauausführungen bestehenden polizei lichen Vorschriften und der etwa besonders ergebenden polizeilichen Anord⸗ nungen ist der Unternehmer für den ganzen Umfang seiner vertrag mäßigen Verpflichtungen perantwortlich. Kosten, welche ihm dadurch erwachsen, können der Staatskasse gegenüber nicht in Rechnung gestellt werden.
Der Unternehmer trägt insbesondere die Verantwortung für die gehörige Stärke und sonstige Tüchtigkeit der Rüstungen. Dieser Ver⸗ antwortung unbeschadet ist er aber auch verpflichtet, eine von dem bauleitenden Beamten angeordnete Ergänzung und Verstärkung der Rüstungen unverzüglich und auf eigene Kosten zu bewirken.
Für alle Ansprüche, die wegen einer ihm selbst oder seinen Be⸗ vollmächtigten, Gehilfen oder Arbeitern zur Last fallenden Vernach⸗ läffigung polizeilicher Vorschriften an die Verwaltung erhoben werden, hat der Unternehmer in jeder Hinsicht aufzukommen.
Ueberhaupt haftet er in Ausführung des Vertrages für alle Handlungen seiner Bevollmächtigten, Gehilfen und Arbeiter persönlich. Er hat insbefondere jeden Schaden an Person oder Eigenthum zu pertreten, welcher durch ihn oder seine Organe Dritten oder der Staatskasse zugefügt wird.
Krankenversicherung der Arbeiter. Der Unternehmer ist verpflichtet, in Gemäßheit des Gesetzes über ie Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883 (R.⸗G.-Bl. S. 73) die Verficherung der von ihm bei der Bauausführung be⸗ schäftigten Personen gegen Krankheit zu bewirken, soweit dieselben nicht bereits nachweislich Mitglieder einer den gesetzlichen Anforde— rungen entsprechenden Krankenkasse sind.
Auf Verlangen der bauleitenden Behörde hat er, gemäß S 70 des
genannten Gesetzes gegen Bestellung ausreichender Sicherheit eine den
Vorschriften dieses Gesetzes entsprechende Baukrankenkasse entweder für fein nicht bereits anderweitig versicherten versicherungspflichtigen Arbeiter und Angestellten allein, oder mit andern Unternehmern, welchen die Ausführung von Arbeiten auf eigene Rechnung übertragen wird, gemeinsam zu errichten.
Wird ihm diese Verpflichtung nicht auferlegt, errichtet jedoch die baulestende Behörde selbst eine Baukrankenkasse, so hat er seine nicht bereits anderweitig versicherten versicherungspflichtigen Arbeiter und Angestellten in diese Kasse aufnehmen zu lassen und erkennt das Statut derfelben in allen Bestimmungen als verbindlich an. Zu den Kosten der Rechnungs- und Kassenführung der Baukrankenkasse hat er in diesem Falle auf Verlangen der bauleitenden Behörde einen von der— selben festzusetzenden Beitrag zu leisten.
Unterläßt es der Unternehmer, die Krankenversicherung der von ihm beschäftigten versicherungspflichtigen Personen zu bewirken, so ist er verpflichtet, alle Aufwendungen zu erstatten, welche etwa der bau— leitenden Behörde hinsichtlich der von ihm beschäftigten Personen durch Erfüllung der aus dem Reichsgesetze vom 15. Juni 1883 sich ergebenden Verpflichtungen erwachsen. .
Etwaige in diesem Falle von der Baukrankenkasse statutenmäßig geleistete Unterstützungen sind von dem Unternehmer gleichfalls zu ersetzen.
Der Unternehmer erklärt hiermit ausdrücklich die von ihm gestellte Caution auch für die Erfüllung der sämmtlichen vorstehend bezeich— neten Verpflichtungen in Bezug auf die Arbeiter-Krankenversicherung haftbar.
§ 1a Haftpflicht des Unternehmers bei Eingriffen desselben in die Rechte Dritter.
Für Beschädigungen angrenzender Ländereien, insbesondere durch Entnahme, durch Auflagerung von Erd- und anderen Materialien außerhalb der schriftlich dazu angewiesenen Flächen, oder durch unbe⸗ fugtes Betreten, ingleichen für die Folgen eigenmächtiger Versperrungen von Wegen oder Wasserläufen haftet ausschließlich der Unternehmer, mögen diese Handlungen von ihm oder von seinem Bevollmächtigten, e fer oder Arbeitern vorgenommen sein.
Für den Fall einer solchen widerrechtlichen und nach pflichtmäßiger Ueberzeugung der Verwaltung dem Unternehmer zur Last fallenden Beschädigung erklärt sich derselbe damit einverstanden, daß die bau— seitende Behörde auf Verlangen des Beschädigten durch einen nach Anhörung des Unternehmers von ihr zu wählenden Sachverständigen auf seine Kosten den Betrag des Schadens ermittelt und für seine Rechnung an den Beschädigten auszahlt, im Falle eines rechtlichen Zahlungshindernisses aber hinterlegt, sofern die Zahlung oder Hinter— legung mit der Maßgabe erfelgt, daß dem Unternehmer die Rück— forderung für den Fall vorbehalten bleibt, daß auf seine gerichtliche Klage dem Beschädigten der Ersatzanspruch ganz oder theilweise ab— erkannt werden sollte.
Aufmessungen während des Baues und Abnahme.
er bauleitende Beamte ist berechtigt, zu verlangen, daß über
alle fpäter nicht mehr nachzumessenden Ärbeiten von den beiderseits
vähr
— 8 —
rechnung zu Grunde zu legen nd.
Von der Vollendung der Arbeiten oder Lieferungen hat der Unter— nehmer dem bauleitenden Beamten durch eingeschriebenen Brief Anzeige zu machen, worauf der Termin für die Abnahme mit thunlichster Beschleunigung anberaumt und dem Unternehmer schriftlich gegen Behändigungsschein oder mittelst eingeschriebenen Briefes bekannt gegeben wird.
Ueber die Abnahme wird in der Regel eine Verhandlung auf— genommen; auf Verlangen des Unternehmers muß dies geschehen.
Die Verhandlung ist von dem Unternehmer bezw. dem für den— selben etwa erschienenen Stellvertreter mit zu vollziehen.
Von der über die Abnahme aufgenommenen Verhandlung wird dem Unternehmer auf Verlangen beglaubigte Abschrift mitgetheilt.
Erscheint in dem zur Abnahme anberaumten Termin, gehöriger Benachrichtigung ungeachtet, weder der Unternehmer selbst noch ein Bevollmächtigter desselben, so gelten die durch die Organe der bau⸗ leitenden Behörden bewirkten Aufnahmen, Notirungen ꝛc. als anerkannt.
Auf die Feststellung des von dem Unternehmer Geleisteten im Falle der Arbeitsentziehung (6 9) finden diese Bestimmungen gleich— mäßige Anwendung. .
Müssen Theillieferungen sofort nach ihrer Anlieferung abgenommen werden, fo bedarf es einer besonderen Benachrichtigung des Unter— nehmers hiervon nicht, vielmehr ist es Sache desselben, für seine An⸗ wesenheit oder Vertretung bei der Abnahme Sorge zu tragen.
K . Rechnungsaufstellung.
Bezüglich der formellen Aufstellung der Rechnung, welche in der Form, Ausdrucksweise, Bezeichnung der Bautheile resp. Räume und Reihenfolge der Positionsnummern genau nach dem Verdingungs— anschlag einzurichten ist, hat der Unternehmer den von der bauleiten⸗ den Behörde bezw. dem bauleitenden Beamten gestellten Anforderungen zu entsprechen.
Etwaige Mehrarbeiten sind in besonderer Rechnung nachzuweisen, unter deutlichem Hinweis auf die schriftlichen Vereinbarungen, welche bezüglich derselben getroffen worden sind.
Tagelohnrechnungen.
Werden im Auftrage des bauleitenden Beamten seitens des Unter⸗ nehmers Arbeiten im Tagelohn ausgeführt, so ist die Liste der hierbei beschäftigten Arbeiter dem bauleitenden Beamten oder dessen Vertreter behufs Prüfung ihrer Richtigkeit täglich vorzulegen. Etwaige Aus⸗ stellungen dagegen sind dem Unternehmer binnen längstens 8 Tagen mitzutheilen.
Die Tagelohnrechnungen sind längstens von 2 iu 2 Wochen dem
bauleitenden Beamten einzureichen. Zahlungen.
Die Schlußzahlung erfolgt auf die vom Unternehmer einzu⸗ reichende Kostenrechnung alsbald nach vollendeter Prüfung und Fest⸗ stellung derselben. 1.
lie, ngen werden dem Unternehmer in angemessenen Fristen auf Äntrag nach Maßgabe des jeweilig Geleisteten bis zu der von dem bauleitenden Beamten mit Sicherheit vertretbaren Höhe gewährt.
Bleiben bei der Schlußabrechnung Meinungsverschiedenheiten zwischen dem bauleitenden Beamten oder der bauleitenden Behörde und dem Ünternehmer bestehen, so soll das dem letzteren unbestritten zustehende Guthaben demselben gleichwohl nicht vorenthalten werden.
Verzicht auf spätere Geltendmachung aller nicht aus— drücklich vorbehaltenen Ansprüäche.
Vor Empfangnahme des von dem bauleitenden Beamten oder der bauleitenden Behörde als Restguthaben zur Auszahlung angebotenen Betrages muß der Unternehmer alle Ansprüche, welche er aus dem Verträgsverhältniß über die behördlicherseits anerkannten hinaus etwa noch zu haben vermeint, bestimmt bezeichnen und sich vorbehalten,
widrigenfalls die Geltendmachung dieser Ansprüche später ausge⸗
schlossen ist. Zahlende Kasse.
Alle Zahlungen erfolgen, sofern nicht in den besonderen Be⸗ dingungen etwas anderes festgesetzt ist, aus der Kasse der bauleitenden Behörde.
5 Gewährleistung.
Die in den besonderen Bedingungen des Vertrages vorgesehene, in Ermangelung solcher nach den allgemeinen gesetzlichen Vorschriften sich bestimmende Frist für die dem Unternehmer obliegende Gewähr⸗ leistung für die Güte der Arbeit oder der Materialien beginnt mit dem Zeitpunkt der Abnahme der Arbeit oder Lieferung.
Der Einwand nicht rechtzeitiger Anzeige von Mängeln gelieferter Waaren (Art. 347 des Handelsgesetzbuches) ist nicht statthaft.
§ 16. . Sicherheitsstellung. Bürgen.
Bürgen haben als Selbstschuldner in den Vertrag mit einzutreten.
Cautionen.
Cautionen können in baarem Gelde oder guten Werthvapieren oder sicheren — gezogenen — Wechseln oder Sparkassenbüchern bestellt werden.
Die Schuldverschreibungen, welche von dem Deutschen Reich oder von einem deutschen Bundesstaat ausgestellt oder garantirt sind, sowie die Stamm- und Stamm-⸗Prioritäts-Actien und die Prioritäts⸗ Obligationen derjenigen Eisenbahnen, deren Erwerb Lurch, den preußischen Staat gesetzlich genehmigt ist, werden zum vollen Curs— werthe als Caution angenommen. Die übrigen bei der deutschen Reichsbank beleihbaren Effecten werden zu dem daselbst beleihbaren Bruchtheil des Curswerthes als Caution angenommen.
Die Ergänzung einer in Werthpapieren bestellten Caution kann gefordert werden, falls infolge eines Cursrückganges der Curswerth bezw. der zulässige Bruchtheil desselben für den Betrag der Caution nicht mehr Deckung bietet.
Baar hinterlegte Cautionen werden nicht verzinst. Zinstragenden Werthpapieren sind die Talons und Zinsscheine, insoweit bezüglich der letzteren in den besonderen Bedingungen nicht etwas Anderes bestimmt wird, beizufügen. Die Zinsscheine werden so lange, als nicht eine Ver⸗ äußerung der Werthpapiere zur Deckung entstandener Verbindlichkeiten in Aussicht genommen werden muß, an den Fälligkeitsterminen dem Unternehmer ausgehändigt. Für den Umtausch der Talons, die Ein— löfung und den Ersfatz ausgelooster Werthpapiere, sowie den Ersatz abgelaufener Wechsel hat der Unternehmer zu sorgen.
Falls der Unternehmer in irgend einer Beziehung seinen Ver— bindlichkeiten nicht nachkommt, kann die Behörde zu ihrer Schadlos— haltung auf dem einfachsten gesetzlich zulässigen Wege die hinterlegten Werthpapiere und Wechsel veräußern bezw. einkassiren.
Die Rückgabe der Caution, soweit dieselbe für Verbindlichkeiten des Unternehmers nicht in Anspruch zu nehmen ist, erfolgt, nachdem der Unternehmer die ihm obliegenden Verpflichtungen vollständig erfüllt hat, und insoweit die Caution zur Sicherung der Garantieverpflichtung dient, nachdem die Garantiezeit abgelaufen ist. In Ermangelung anderweiter Verabredung gilt als bedungen, daß die Caution in ganzer Höhe zur Deckung der Garantieverbindlichkeit einzubehalten ist.
31 . Uebertragbarkeit des Vertrages.
Ohne Genehmigung der bauleitenden Behörde darf der Unter— nehmer seine vertragsmäßigen Verpflichtungen nicht auf Andere übertragen.
Verfällt der Unternehmer vor Erfüllung des Vertrages in Coneurs, so ist die bauleitende Behörde berechtigt, den Vertrag mit dem Tage der Concurseröffnung aufzuheben.
Bezüglich der in diesem Falle zu gewährenden Vergütung sowie der Gewährung von Abschlagszahlungen finden die Bestimmungen des z 9 sinngemäße Anwendung.
Für den Fall, daß der Ünternehmer mit Tode abgehen sollte, bevor der Vertrag vollständig erfüllt ist, hat die bauleitende Behörde die Wahl, ob sie das Vertragsverhältniß mit den Erben desselben fort— setzen oder dasselbe als aufgelöst betrachten will.
§ 18. Gerichtsstand.
Für die aus diesem Vertrage entspringenden Rechtsstreitigkeiten hat der Unternehmer — unbeschadet der im F 19 vorgesehenen Zu— ständigkeit eines Schiedsgerichts — bei dem für den Ort der Bau— ausführung zuständigen Gerichte Recht zu nehmen.
§ 19. Schiedsgericht.
Streitigkeiten über die durch den Vertrag begründeten Rechte und Pflichten sowie über die Ausführung des Vertrages sind zunächst der vertragschließenden Behörde zur Entscheidung vorzulegen.
Die Entscheidung dieser Behörde gilt als anerkannt, falls der Unternehmer nicht binnen 4 Wochen vom Tage der Zustellung der— selben der Behörde anzeigt, daß er auf schiedsrichterliche Entscheidung antrage. ⸗
Die Fortführung der Bauarbeiten nach Maßgabs der von der Verwaltung getroffenen Anordnungen darf hierdurch nicht aufgehalten werden. w ne, e , .
Auf das schiedsrichterliche Verfahren finden die Vorschriften der deutschen Civilprozeßordnung vom 30. Januar 1877 §§ 851 bis 872 Anwendung.
Falls über die Bildung des Schiedsgerichts durch die besonderen Vertragsbedingungen abweichende Vorschriften nicht getroffen sind, ernennen die Verwaltung und der Unternehmer je einen Schiedsrichter. Dieselben sollen nicht gewählt werden aus der Zahl der unmittelbar Betheiligten oder derjenigen Beamten, zu deren Geschäftskreis die Angelegenheit gehört hat. .
Falls die Schiedsrichter sich über einen gemeinsamen Schiedsspruch nicht einigen können, wird das Schiedsgericht durch einen Obmann ergänzt. Derselbe wird von den Schiedsrichtern gewählt oder, wenn diese sich nicht einigen können, von dem Präsidenten derjenigen benach⸗ barten Provinzialbehörde desselben Verwaltungszweiges ernannt, deren Sitz dem Sitze der vertragschließenden Behörde am nächsten belegen ist.
Der Obmann hat die weiteren Verhandlungen zu leiten und darüber zu befinden, ob und inwieweit eine Ergänzung der bisherigen Verhandlungen (Beweisaufnahme u. s. w.) stattzufinden hat. Die Entscheidung über den Streitgegenstand erfolgt dagegen nach Stim— menmehrheit. .
Bestehen in Beziebung auf Summen, über welche zu entscheiden ist, mehr als zwei Meinungen, so wird die für die größte Summe abgegebene Stimme der für die zunächst geringere abgegebenen hinzu⸗ gerechnet.
Ueber die Tragung der Kosten des schiedsrichterlichen Verfahrens entscheidet das Schiedsgericht nach billigem Ermessen.
8 2.
Wird der Schiedsspruch in den im 8 S67 der Civilprozeßordn ö aufgehoben, so bat die Entscheidung des 8e. im ordentlichen Rechtswege zu 69
S 20. . Kosten und Stempel.
Briefe und Depeschen, welche den Abschluß und die Ausführung des Vertrages betreffen, werden beiderseits frankirt.
Die Portokosten für solche Geld- und sonstige Sendungen, welche im ausschließlichen Interesse des Unternehmers erfolgen, trägt der Letztere.
Die Kosten des Vertragsstempels trägt der Unternehmer nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen. ;
Die übrigen Kosten des Vertragsabschlusses fallen jedem Theile zur Hälfte zur Last.
Vorstehende Bedingungen werden hiermit öffentlich bekannt gemacht. Berlin, den 19. Februar 1892.
Königliche Ministerial-Baucommission.
Deutscher Reichstag. 179. Sitzung vom Mittwoch, 24. Februar. 1 Uhr.
Am Tische des Bundesraths die Staatssecretäre Dr. von Boetticher und Freiherr von Maltzahn.
Auf der Tagesordnung steht zunächst, die zweite Be— rathung des von den socialdemokratischen Abgg. Auer und Genossen vorgelegten Gesetzentwurfs, betreffend die Abände⸗ rung des Zolltarifgesetzes vom 15. Juli 1879 (Auf— hebung der Zoͤlle für Getreide, Fleisch und Vieh).
Abg. Bock (Soc.); Seine Partei habe für die Handelsverträge gestimmt, weil sie eine Ermäßigung der Kornzölle und andere Ver— kehrserleichterungen gebracht hätten. Trotzdem könne sie den unaus— gesetzten Kampf auf Beseitigung aller Zölle auf Nahrungsmittel nicht aufgeben und müsse daher auch bei der gegenwärtigen Lage ihren An⸗ trag aufrechterhalten. Noch vor einem Jahre habe es aussichtslos ge— schienen, an den Zöllen rütteln zu wollen; der Reichskanzler habe ge— sagt, er werde gegen den Strom schwimmen, er habe es aber mit geringem Erfolg gethan, wie es jedem gehe, der gegen einen starken Strom schwimme. Seine Partei sei. darauf ge— faßt, von der rechten Seite des Hauses dieselben Gründe gegen die Aufhebung der Zölle zu hören, die schon gegen ihre Er— mäßigung vorgebracht worden seien. Sogar der Reichskanzler habe damals einen Nothstand geleugnet und der Ober-Bürgermeister Dr. von Forckenbeck habe ihn unterstützt. Der Abg. Freiherr von Huene aber habe gesagt: nur nicht ängstlich, noch haben wir die Macht, und wir werden von ihr Gebrauch zu machen wissen. Das sei offen und ehrlich, und er wünschte, daß seine Freunde im Lande diesen Machtstandpunkt vertreten möchten; seine (des Redners) Partei erkenne ihn an, habe aber für ihren Antrag Wahrheit und Recht auf ihrer Seite. Ein wirklicher, grausamer Nothstand sei in vielen Gegenden vorhanden und im Zunehmen begriffen, wie zahlreiche unver— dächtige Zeitungsberichte bewiesen. Deshalb sei seine Partei vollberechtigt, ihren Antrag aufrecht zu erhalten, auch trotz des Einwandes, daß sie die Wirkung der Zollermäßigungen erst hätte abwarten ollen. Wenn seine Partei von Nothstand spreche, nenne man das soeial— demokratische Hetze. Aber auch Gegner, auch Landräthe, die, wie z. B. der für den Kreis Johannisburg, Aufrufe erließen, gäben ihn und grauenhaftes Elend zu. Die Getreidezölle hätten, der Landwirthschaft und ihren Arbeitern nicht geholfen, und in ge— werblichen Kreisen sei es nicht besser. Im Gothaischen Wahlkreise seien Löhne von 5—7 6 für die Woche bei vierzehn bis fünfzehn— stündiger Arbeitszeit festgestellt worden, und zwar von national— liberaler Seite. Mit den Getreidepreisen stiegen auch die der anderen Nahrungsmittel, besonders der Kartoffeln. In den letzten Berathungen hätten die Agrarier schon nicht mehr die alten Redensarten vorgebracht, wie: das Ausland trägt den Zoll, oder: die Bäcker sind an der Vertheuerung schuld. Der Zoll vertheuere vielmehr die Lebensmittel genau um den Betrag, der an der Grenze erhoben werde. Das bewiesen die Klagen und Petitionen der Bäcker und Fleischer von der böhmischen Grenze: der Staat solle dagegen einschreiten, daß die armen Leute in den Grenz— ö. sich das billige Brot und Fleisch von jenseits der Grenze zolten. Der Unterschied betrage, nach einem nicht socialdemo⸗ kratischen Blatte, für sechs Pfund Mehl 30 , für sechs Pfund Brot 20 3, für zwei Kilo Speck oder Fleisch 40 . Eine weitere Folge der Schutzzölle fei die Zunahme des Pferdefleischconsums. Zwar hätten sich die Herren vor vier Monaten das Vergnügen gemacht, in Berlin ein e zu veranstalten. Allerdings, die
die Mutter der Verbrechen, und es lehrreich für d AUgrarier, daß gerade in ihrer Domäne, in Ost⸗ und West— preußen, Pommern und Schlesien, in den letzten Jahren der größte Procentsatz an Diebstählen vorgekommen sei, bis zu 50 o 9, wahrend er im Westen bis auf 10 , in Westfalen falle. Die Gefängnisse könnten die Gefangenen gar nicht mehr fassen. Bei der Landwirth⸗ schaft sei am wenigsten von einer Nothlage die Rede. Man erinnere sich wohl noch der Bauernhochzeit im Brandenburgischen, von der letzthin die Zeitungen berichtet hätten. Ueber die beiden moralis verunglückten Pastoren in Schleswig-Holstein habe der „Reichsbote. geschrleben: Beide Pastoren wurden durch das üppige Leben der reichen Bauern ihrer Gemeinden in Versuchung geführt. Das zeuge auch nicht von grausamer Noth der Bauern. Vor kurjer Zeit sei durch die Presse die Schilderung einer Bauernhochzeit gegangen, auf der 170 Theilnehmer ein Rind. mehrere Schweine und viele Centner Karpfen verzehrt hätten. Der Pachtertrag der preußischen Domänen habe sich in den letzten dreißig Jahren um das Dreifach erhöht: beweise das alles einen landwirthschaftlichen Nothstand? Die Lage der Arbeiter aber sei durch die landwirth= schaftlichen Zölle in keiner Weise verbessert worden, wie man in Aussicht gestellt habe. Der Reichskanzler Graf von Caprivi habe zesonders betont, daß der Staat an der Familie des landwirthschaft⸗ lichen Arbeiters einen festen Untergrund habe; aber wenn man mit eigenen Augen zusehe, werde man finden, dan diese Familien nicht geeignet seien, die Zukunft des Staates zu gewährleisten. Im Gothaischen und dem angrenzenden Bezitk der Provinz; Sachfen betrage der Tagelohn fur derheirathete Leute 40 J und die Kost, in einem Dorle nur 30 3 und Kost. In der Ziegenhalfer Gegend werde den Knechten der Lohn von 66 (ις für das Jahr gezahlt, außerdem noch einige Mark zu Fleisch und Butter. Man habe früher in Aussicht gestellt, daß, wenn die Socialdemokraten auf das Lan gingen, die Bauern sie schon heimleuchten würden. benen begriffen sehr gut, daß ihre Lage durch die angewendeten Nitte nicht nennenswerth verbessert werde. Gerade die kleinen Bauen hätten ihm ohne Unterschied erklärt, daß sie von den Getreideʒollen keinen Rutzen hätten, weil sie kein Getreide verkaufen könnten, Ein Bauer, der 25 Äcker Land bewirthschafte, theile ihm mit, aß er nur bei günstiger Ernte einige Centner Getreide zu herauf habe. Die Zahl der Bauern in Deutschland, die 28 Acker Lan
sei aber verschwindend klein. Die Einfuhr von aus lãndischem habe * der Zölle nicht ab⸗, sondern zugenommen, die ung in Deutschland trete immer mehr in den 1 olle auf amerikanischen Speck, auf Fett, Käse, Butter, Oel 7 dieselben Gründe ins Feld geführt wie für die Getreide⸗ Alt. Fürst Bismarck habe die deutschen Arbeiter vor dem uncrikarlschen Speck bewahren wollen, weil der deutsche Sreck schmackhafter sei. Er habe es dahin gebracht, daß der deutsche Arbeiter berhaupt feinen Speck mehr habe essen können,. Das Verbot ber Ginfuhr amerikanischen Specks sei in neusster Zeit auf— „heben, aber nicht der Zoll auf Leinöl und Räböl, das im rigebirge, in Thüringen und Oberbayern ganz besonders als Zusatz ur Kartoffel diene. Dort könnten die armen Leute sich über. aupt nur noch Kartoffeln anschaffen und vielleicht für 8 „ Rüböl zu der Mahlzeit für eine ganze Familie. In Berlin seien in letzter Jeit wiederholt Leute plötzlich Hungers gestorben, und eine große Zahl von Leuten sterbe langsam Hungers, weil sie infolge der Feuren Nahrungsmittel thatsächlich jeden Tag Hunger leiden müßten. Der Abg. Richter habe ausgeführt, daß die Mißernte in Kartoffeln so groß sei, daß vielfach Kartoffeln zum Consum kommen würden, tie fonst nur als Schweinefutter Verwendung fänden. Dieser vom Abg. Richter erst befürchtete Zustand bestehe seit einer Reibe von Tabren; in zahlreichen Familien, die trotz des Nothstandes noch ein Schwein zu halten bemüht seien, würden aus dem Topf Kartoffeln, er die Mittagsmahlzeit der Familie bilde, die kleinen für das Schwein ferausgesucht. Industrielle Unternehmungen freilich, die bis u 40 00 Dividende gäben, ließen die Betheiligten keine Noth leiden. Schutzzöllnerische Blätter selbst schrieben, die Sandelsverträge könnten inen Schaden bringen, 1879 habe man sein Schäfchen ins trockene ebracht. Das arme Volk leide aber sehr unter den Zöllen. z. B. die FNothleidenden, die von der Gemeinde Magdeburg täglich 1 16 40 3 beiögen. Die Regierung erkläre immer, für die Besserung des Familienlebens eintreten zu wollen; sie könne es am besten Durch Abschaffung der Lebensmittelzölle. Alle, die ein Herz für das Wohl tes Volkes hätten, bitte er dem Antrage zuzustimmen, Äbg. Freiherr von Manteuffel (cons : Er bitte mit Rück— sicht darauf, daß die Angelegenheit bei der Berathung der Handels— verträge genügend erörtert und alles, was der Abg. Bock heute vor— gebracht habe. damals schon widerlegt sei, den Antrag Auer abzu⸗ enen. Der Abg. Bock habe bei den meisten seiner Ausführungen die Angabe von Quellen unterlassen, um so leichter könne man ihnen entgegentreten. Wenn der Reichskanzler in den Handelsverträgen die Getreidezölle von 5 auf 3,50 „ herabgesetzt habe, so habe er sich amit nicht dem Strom überlassen, gegen den er vorher schwimmen zu wollen erklärt habe; denn bei jener Erklärung habe er schon wegen der Handelsverträge unterhandelt und gewußt, daß eine Zollherabsetzung nöthig sein werde. Er (Redner) glaube auch ficht, daß in den Handelsverträgen die Beseitigung der Schutz— zöllnerei vorgesehen sei, sondern er sei überzeugt, daß die Reichs— regierung bei dem Zoll von 3 4 50 3 stehen bleiben werde; ohne diesen Schutz der Landwirthschaft würde das deutsche Volk bald in schwere Bedrängniß gerathen. Den Fall, wo die Nahrung einer ganzen Familie für den vollen Tag nur Mehlbrei im Werthe von 0 3 gebildet habe, halte er für apokryph; sollte die Familie wirklich nicht mehr an ihre Rahrung wenden können, so müßte die Armen⸗ unterstützung helfend eintreten; und schließlich — was mache bei 16 3 Reht der Zoll aus! Der vom Landrath des Johannisburger Kreifes proclamirke Nothstand sei nicht auf die Zölle zurückzuführen; das behaupteten die Einwohner dieses Kreises, die sehr eifrige Schutz— zöllner seien, am wenigsten. Der Nothstand, unter dem einige Theile Deutschlands litten, komme nicht von den Zöllen, sondern von der schlechten Ernte: das beweise die Noth in Rußland, einem sonst Getreide ausführenden Land. Durch die Beseitigung der Zölle würde nur eine Verschlechterung der Lage eintreten. Daß mit der größeren Wohlfeilheit des Getreides das Brot nicht billiger werde, folge wohl aus der Thatsache, daß, während Roggen, der vor der Verab⸗ schiedung der Handelsverträge 245 notirt habe, heute 211 stehe, das Gewicht des Brotes sicher nicht im gleichen Verhältniß zugenommen habe. Der größere Roßfleischconsum sei nicht als Zeichen der Noth aufzufassen, sondern dem Wirken der Roßfleischgourmands zuzu— schreiben, die das Roßfleisch zum Volksnahrungsmittel machen wollten, gerade fo gut, wie es Vegetarier gebe, die für ihre Ansicht auch Propaganda machten. Die hohen Preise für Kartoffeln, die uͤbrigens nicht mit belastet seien, nicht auf aus
ur Was
und
seien. Die zum Beweis, der guten Lage berangezogene Bauernhochzeit mit ihrem Massenverbrauch an Fleisch müffe apokryph sein; denn wäre sie wahr, so müßte jeder Theilnehmer außer dem Schweine- und Rindfleisch noch 3 Pfund Karpfen vertilgt baben — und das sei doch wohl unglaublich, Die Höhe der Löhne sei nicht seit zwanzig Jahren unverändert geblieben, sondern der Grund— lohn sei wohl fast durchgehends vermehrt, die Nebenlieferungen, Tan— tismen u. f. w. hätten sich daneben überall vermehrt, der Werth der Naturalleistungen steige fortwährend, sodaß die Löhne seit zwanzig Jahren sich insgesammt um mindestens 50 5/0 vermehrt hätten. Die Beseitigung der Zölle würde in der That nicht nur der Landwirth— schaft, fondern damit auch den Handwerkern und Kaufleuten schweren Schaden bringen. Er bitte, den Antrag abzulehnen.
Abg. Dr. Buhl (nl): Um die Ausführungen des Abg, Bock zu widerlegen, brauche er nur auf seine Rede bei der Berathung der Handeleverträge hinzuweisen. Dort habe er auch einen Bauern er— wähnt, der 35 Morgen Land besitze, also ungefähr in den ökonomi— schen Verhältnissen lebe, wie der Bauer mit 28 Ackern, von dem der Abg. Bock gesprochen, und er wisse sicher, daß jener Mann, dem sein Land das ganze Brotkorn für die aus neun Mitgliedern bestehende Familie liefere, noch 101 Centner Korn verkaufe; danach sei also die Zahl derjenigen, die von den Kornzöllen Nutzen hätten, doch viel eher. als der ö ͤg. Bock zugebe, auch viele kleinere und mittlere Bauern ätten Vortheil davon. Der in mehreren Theilen Deutschlands ein— getretene Nothstand sei um so bedauerlicher, als jene Gegenden häufig in Noth geriethen, aber mit den Zöllen habe das nichts zu thun; namentlich die hohen Kartoffelpreife seien eine Folge der schlechten Ernte. Er gehe nicht so weit, jeden Zusammenhang zwischen Roh⸗— productenpreis und Nahrungsmittelpreis zu leugnen; aber der Ver— gleich zwischen den Großfleischpreisen und den Marktpreisen zeige doch, daß unverhältnißmäßige Unterschiede durch den Zwischenhandel ver⸗ anlaßt seien. Er werde mit seinen Parteigenossen gegen den Antrag stimmen, und während er früher gegen die Einführung der Zölle ge— stimmt habe, hoffe er, nachdem die Verhältnisse sich einmal so ent— wickelten, wie sie jetzt seien, daß die Regierung den Worten des Reichs— fanzlers entsprechend die Getreidezölle auf ihrer jetzigen Höhe halten werde.
Abg. Graf von Behr (Rp): Was wollten denn die Soecial⸗ demokraten eigentlich mit ihrem Antrage erreichen? Der Antrag, der doch, wie sie selbst zugestehen müßten, keine Aussicht auf Erfolg abe, sei schon früher von ihrer Seite besser und eindringlicher vor⸗ getragen worden als heute. Es seien immer wieder dieselben Behaup⸗ tungen, die schon hundertmal widerlegt seien. Was solle man dazu gen, wenn sie behaupteten, die Löhne seien nicht gestiegen? Das sei einfach eine Verneinung, die durch die Thatsachen widerlegt ei Er wolle nicht fagen, daß das überall im Deutschen Reiche utreffe, aber in seiner Heimath z B. seien die Löhne um 50 0 gestiegen.
enn die Socialdemokraten meinten, nur ein kleiner Kreis von Groß grundbesitzern habe Interesse an den Kornzöllen, so sei das auch nicht
richtig; auch die mittleren und kleineren Grundbesitzer und selbst die Arbeiter, die auf Naturallöhne gestellt seien, hätten ein Interesse daran. Daß die Zölle das Korn vertheuerten, sei ebenfalls unrichtig, denn man habe früher bei höheren Zöllen niedrigere Getreidepreise gehabt. Diese Behauptungen seien also sämmtlich widerlegt. Die Socialdemokraten wollten nur die landwirthschaftlichen Zölle aufheben; wenn sie aber conseguent sein wollten, müßten sie doch auch die Aufhebung der industriellen Zölle beantragen. Entweder beides oder keins. (Zu stimmung bei den Socialdemokraten. Dann möchten sie doch einen dahin gehenden Antrag einbringen. Seine Partei stehe nach wie vor auf dem Standpunkt, den sie eingehend bei früheren Gelegenheiten dargelegt habe, und halte es nicht für nöthig, heute näher auf die Be— gründung einzugehen.
Abg. Dr. Bamberger (dfr.): Im Namen seiner Partei erkläre er, daß sie dem Antrage Auer zustimmen werde, und zwar zunächst, um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß sie nach wie vor auf dem Boden dieses Princips stebe. Andererseits glaube er an⸗ nehmen zu dürfen, daß den socialdemokratischen Abgeordneten selbst dieser Antrag nicht so dringend sei, daß sie ihn jetzt eingebracht hätten, wenn er nicht infolge der Geschäftsordnung heute zur zweiten Lesung stände, nachdem er vor beinahe zwei Jahren eingebracht worden sei. Er hoffe übrigens, daß dies das letzte Mal sei, daß sich dieselbe Sessioön über zwei Jahre ausdehne, und daß fie endlich Ostern zu Grabe getragen werde. Als vor ungefähr einem Jahre dieser Antrag zur ersten Lesung gestanden habe, sei gleichzeitig ein von seiner Partei eingebrachter Antrag in Form einer Resolution berathen worden, die darauf hinausgelaufen sei, eine gewisse Aenderung in Bezug auf den Zolltarif herbei⸗ zuführen, und die von der Mehrheit des Hauses abgelehnt sei. Der focialdemokratische Antrag sei in Gestalt eines Gesetzentwurfs ein— gebracht und müsse daher drei Lesungen durchmachen. Wenn seine Fer heute für den Antrag Auer stimme, könne sie sich doch der Erwägung nicht verschließen, daß er nicht einen gangbaren Weg für eine Regierung zeige, selbst wenn sie auf dem Boden des An⸗ trages stehen sollte. Seine Partei habe niemals angenommen, daß bei der heutigen Lage der Dinge man einfach bei einer Reihe von Artikeln sämmtliche Eingangszölle wegstreichen könne, ohne zugleich für Uebergangsmaßregeln zu sorgen. Seine Partei wolle daher auch nicht, indem sie heute für den Antrag stimme, damit erklären, daß sie ihn in diefer Gestalt für annehmbar halte, behalte sich vielmehr vor, bis zur dritten Lesung auf die Modalitäten wieder zurückzukommen, die sie in ihrem Antrag bom 6. Mai 18990 ausgesprochen habe. Heute wolle sie nur bekunden, daß nach ihrer Auffassung eine gerechte und rationelle Wirthschaftspolitik nicht denkbar sei, wenn man nicht zur gänzlichen Abschaffung der Zölle auf nothwendige Lebensmittel komme.
Abg. Bebel (Soc.): Seine Partei habe in dieser Frage von Anfang an eine consequente Haltung angenommen. Das Verwundern des Abg. Grafen von Behr verstehe er daher nicht. Auch der Abg. Dr. Bamberger habe Unrecht, wenn er glaube, die socialdemokratische Partei würde diesen Antrag nicht von Neuem gestellt haben, wenn er nicht schon durch die ganze, Dauer der Session hingeschlerpt worden wäre. Sie würde ihn in jedem Falle gestellt haben. Sie halte die Getreidezölle für ein Unglück; von ihnen habe die große Mehrheit des Volkes Nachtheil, und nur eine kleine Minderheit Vortheil, müsse ihn aber mit den Industriezöllen wieder be⸗ zahlen. Die schlechte Ernte der Kartoffeln habe freilich zu ihrem hohen Preise beigetragen, dieser hänge aber noch von anderen Factoren ab. Die Löhne im Osten seien heute noch an vielen Stellen Hungerlöhne, daher die starke Sachsengängerei und überseeische Auswanderung. Seit geraumer Zeit habe man in Deutsch— land einen Rückgang der Ernährung, wodurch das Volk mehr und mehr einer allgemeinen Degeneration verfallen werde. Der Durch schnittsverbrauch von Brotgetreide für den Kopf sei von 213 auf 165 kg zurückgegangen. Wenigstens hätten das Brennen und die Ausfuhr der Kartoffeln von Staatswegen untersagt werden sollen. . kJ über Die Verschlechterung der letzten Jahre zeige sich in den Angaben über den Fleischverbrauch der großen Städte, z. B. für Berlin, Breslau, Görlitz. Der Verbrauch von Pferdefleisch steige dagegen, weil es billiger sei. Wenn er nicht irre, habe die Stadt Berlin bereits 1 Million Mark ausgegeben, um dem Noth—⸗ stand in der letzten Zeit etwas zu steuern. Jeder, der mit den Massen in Berührung komme, wisse, wie sehr gerade in diesem Winter der Nothstand gestiegen sei. Daß die hohen Lebensmittelpreise doppelt und dreifach gefühlt würden, könne Nie— mandem zweifelhaft sein. Daß die Zollermäßigung eine Ermäßi— gung der Getreidepreise herbeiführe, bewiesen die jüngsten Er— fahrungen mit den Handelsverträgen schlagend. Die Getreide— preise seien jetzt sogar noch bedeutend mehr gefallen, als die Zell— ermäßigung durch die Handelsverträge betrage, weil naturgemäß die Speculanten die Getreidezufuhren bis zum 1. Februar zurückgehalten hätten und danach viel größere Mengen als unter natürlichen Ver— hältnissen ins Land geströmt seien und den Preisdruck ausgeübt hätten. Aber im Frühjahr, namentlich wenn die Ernteaussichten so ungünstig blieben wie jetzt, würden die Preise wieder ganz erheblich in die Höhe gehen. Und wenn die Ernte auch noch so günstig ausfalle, so würde man doch, wenn nicht auch die russische Ernte sehr günstig werde — und das werde sie nicht, sie werde im Gegentheil noch schlechter werden — keine Preisverbesserung zu erwarten haben, weil die russischen Zu— fuhren ausbleiben würden. In dem Maße, wie die Getreidezolle sänken, müßten selbstverständlich auch die Industriezölle fallen. Seine Partei bedauere das Cartell zwischen der Industrie und dem Agrarier— thum, und würde sich freuen, wenn die weitere Entwickelung der Dinge dieses Verhältniß stören würde und die Agrarier einsähen, daß sie sich auf ihre alten Freunde der Industrie nicht mehr verlassen könnten. Der Reichskanzler habe bei der Berathung der Handelsverträge gesagt: solange die Verhältnisse so blieben wie jetzt, werde die Regie rung sich an die gegenwärtigen Getreidezölle für gebunden erachten, aber eine bestimmte Erklärung für die Zukunft kanne er nicht abgeben. Das sei richtig, denn wenn die Nothlage noch schlimmer werde als jetzt, werde die Regierung doch eine weitere Zollermäßigung herbei— führen müuͤssen. Allerdings kämen bei einem Einnahmeausfall an Ge— treidezöllen für den Reichssäckel noch andere Interessen in Frage, namentlich die Frage, woher die Regierung die Mittel zur Auf⸗ rechterhaltung der Wehrkraft hernehmen solle. Jetzt handele es sich nur um Abhilfe für den Nothstand und Beseitigung der Einrich— tungen, welche diesen Nothstand bestärkten, also der ungerechten Steuern, die am härtesten die Klassen träfen, die am wenigsten leisten könnten.
Abg. Graf von Holstein (econs.): Alle Landwirthe vom Groß⸗ grundbesitzer bis zum Tagelöhner und Drescher hätten ein Interesse an möglichst hohen Getreidepreisen, denn Tagelöhner und Drescher erbielten ihren Lohn in natura und verkauften das Getreide. In den dreißiger Jahren habe in seiner Nachbarschaft der Doppelcentner Weizen 68 Sς gekostet. Nach der Theorie der Socialdemokraten hätte das ein herrliches Leben sein müssen, und wie sei es gewesen? Gutsherren und Tagelöhner hätten in zerfallenden Häusern gewohnt, bauen habe man nicht können, dazu habe das Geld gefehlt. Zer— lumpt feien die Leute herumgegangen, und wie hätten die Kinder ausgesehen! Auch in den kleinen Städten sei nichts für die Schulen, auch nichts für Bauten geschehen. In einem schlechten dumpfigen Hause werde die Frau unordentlich und dadurch der Mann zum Trunk verführt. Erst als die Preise in die Höhe gegangen seien, sei es besser geworden. Es seien die Löhne gestiegen und auch der Handwerker habe wieder Arbeit gehabt. Seine Tagelöhner wohn⸗ ten heute in wahren Palästen im Vergleich zu den Wohnungen, in denen die Arbeiter des OSstens, die ihre Heimath verlassen hätten, hier in Berlin in der „Freiheit“ zu hausen gezwungen seien. Das wüßten denn auch die ländlichen Arbeiter sehr gut und würden den socialdemokratischen Agitatoren die Thür weisen.
Abg. Bock (Soc.): Die deutsche Reichsstatistik selbst bringe die Söhe der Lebensmittelpreife mit der zunehmenden Criminalität in Zusammenhang. Allerdings bekomme der Tagelöhner auf dem Lande auch Kost, aber sie sei . danach, höchstens 60 3 werth, sodaß der Tagelohner tãglich 1 1 verdiene. Er bestreite dem Abg. Grafen
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ven Holstein, daß der Tagelöhner auch nur einen Scheffel Getreide verkaufen könne. Er verbrauche alles selbst.
Darauf wird der Antrag abgelehnt.
Es folgt die erste Berathung des Antrages der social⸗ demokratischen Partei auf Annahme folgenden Gesetzentwurfs:
§ 1. Zuwiderhandlungen gegen Bestimmungen des Gesetzes
gegen die game ingefährlichen Bestrelbun gen der Social- demokratie, sowie Zuwiderhandlungen gegen die auf Grund desfelben Gefetzes erlassenen Anordnungen von Behörden sind nicht mehr strafbar. Die wegen derartiger Zuwiderhandlungen schweben⸗
den Strafverfahren sind einzuftellen.
§ 2. Die auf Grund des 57 oder des S 14 des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie beschlag⸗ nahmten Gegenstände (Vereinskassen, für Zwecke des Vereins be— stimmte Gegenstände, Druckschriften, Plaften und Formen) sind, soweit diese Gegenstände nicht vernichtet sind, den Personen, aus deren Besitz oder Gewahrsam diese Gegenstände entnommen sind, oder deren Rechtsnachfolgern auf deren Verlangen zurück— zugeben.
F§ 3. Die auf Grund der S8 23 und 24 des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie ausge⸗ sprochenen Beschränkuñgen der Gewerbefreiheit werden aufgehoben.
Abg. Stadthagen (Soc.): Der Antrag seiner Partei könn nicht alles Elend wieder gut machen, das durch das Soeialistenges herbeigeführt sei: die Summe von Haß und Erbitterung, dadurch heraufbeschworen sei, könne man unmöglich beseitigen. Partei wolle nur die großen Ungerechtigkeiten abschwächen, die das Geseß veranlaßt seien. Für den Gesetzentwurf müßten sei achtens alle diejenigen stimmen, die wünschten und wollten, daß listengesetz, nachdem es begraben sei, nun auch todt bleiben solle. das Socialistengesetz habe sich eine eigenthümliche Interpretationslust der Justizbehörden herausgebildet, das Reichsgericht habe selbst aus⸗ gesprochen, daß die Verbreitung von Flugblättern im Sinne des Socialistengesetzes anders aufzufassen sei als sonst. eine Partei wolle darüber nicht rechten, aber sie verlange wenigstens, daß nach dem Tode des Sorcialistengesetzes nicht Personen in Verfolgung ge⸗ setzt würden, die nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht verfolgt werden dürften. 51 des Gesetzentwurfes verlange, daß Zuwider⸗ handlungen gegen die Bestimmungen des Socialistengesetzes nicht mehr strafbar sein sollten. Das erscheine auf den ersten Blick als etwas Selbstverständliches, aber gegenüber der Auslegung, die jetzt bei den Gerichten üblich sei, müsse dieser Paragraph geschaffen werden. Seine spreche hierbei durchaus nicht
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amten, die vielleicht noch heute bestraft werden müßten, Bestimmungen des Socialistengesetzes nicht richtig ausgeführ In den Gebieten des kleinen Belagerungszustandes seien, entgegen den Bestimmungen des Soeialistengesetzes, Flugblätter vertheilt worden von allen Parteien, aber nur der Socialdemokrat sei angeklagt worden. Was von Socialdemokraten zu fassen gewesen se hätten die Behörden Dank ihrer Verfolgungssucht zur V antwortung gezogen. Viele von diesen Socialdemokraten seie nicht abgeurtheilt. (Präsident von Levetzow: Die haben niemals Verfolgungssucht.) Es schlage Gesicht, eine Handlung zu bestrafen in demselben Augenblick, we man dieselbe Handlung straflos begehen könne. Auch der § 2 des Gesetzentwurfes komme nicht allein der Socialdemokratie zu gute; er gehe dahin, die Heiligkeit des Eigenthums als etwas Wirkliches hinzustellen, und verlange, daß beschlagnahmte Gegenstände den Personen, aus deren Besitz oder Gewahrsam diese Gegenstände ent— nommen seien, oder deren Rechtsnachfolgern auf ihr Verlangen zurück— gegeben würden. Es seien Druckschriften, Kassen von Vereinen u. s. w. beschlagnahmt worden, ohne daß ein Vergehen vorgelegen habe. Eine große Anzahl von Behörden, namentlich in Sachsen, habe erklärt, daß sie diese Gegenstände nicht herausgäben. Man könne doch nicht einen be— schlagnahmten Gegenstand plötzlich aus dem Eigenthum des einzelnen in das Eigenthum des Staats übertragen. Wer auf dem Stand punkt stehe, daß das Eigenthum unverletzlich sei, daß niemand sein Cigenthum verlieren könne als auf Grund, des Gesetzes, der müsse hier den Eigenthümern wieder zu ihrem Eigenthum verhelfen. Auf Grund des Gesetzes habe man auch Beschränkungen der Gewerbe— freiheit eintreten lassen, man habe Bibliotheksinhabern u. s. w. die Genehmigung für ihren Betrieb entzogen. Die Aufrechterhaltung dieser Maßregeln nach Ablauf des Soecialistengesetzes, dieses Schand⸗ gesetzes, sei ein Unrecht. Es widerspreche dem Rechtsbewußtsein des Volkes, jemanden zu bestrafen, der keinerlei Unrecht begangen habe. Präsident von Levetzow: Der Vorredner hat ein vom Kaiser, Bundesrath und Reichstag genehmigtes Gesetz ein Schandgesetz ge— nannt. Ich rufe ihn deswegen zur Ordnung. Abg Klemm -⸗Sachsen (cons.): Er meine, eine der Vorredner an dem Richterstande geübt habe, gehör dieses hohe Haus. Er sei mit seinen politischen Freunden genöthigt, gegen den Antrag Auer zu stimmen, wenn er auch die humane und mildthätige Gesinnung anerkenne, die diesem Entwurf zu Grunde Er sei eben in diesem Punkt durchaus Jurist und werde sich von Bahn nicht entfernen. Man dürfe nicht verwechseln die Zeitdauer, die ein Gesetz, das überhaupt von Hause aus nur auf Zeit gegeben worden sei, Geltung habe, und die Dauer der Folgen — die auf Grund diefes Gesetzes rechtskräftig ergangen seier beiden Dinge hingen nur sehr oberflächlich zusammen, so, daß sie mit einander stehen und fallen müßten.
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handele sich nicht darum, ob das Gesetz rückwirkende Kraft habe, son—
dern nur, ob gewisse Formen strafbarer Handlungen aufg en werden
sollten oder nicht. Diese Aufhebung könne nur entwe im Wege
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zu beschließenden selbständigen Gesetzes. Dazu
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den Antrag 38 zu lehnenden Haltung. . Abg. Spahn (Centr): Das letztere müsse er bestreiten. Das Socialistengefetz sei ein Strafgesetz, es sei abgelaufen, gelte nicht mehr, und die Folge davon sei, daß jedenfalls solche Handlungen, die auf Grund des Socialistengesetzes verurtheilt worden seien, heute nicht als strafbar angesehen werden könnten. Seine Partei ver⸗ halte sich alfo gegenüber dem Antrag nicht ablehnend, glaube aber, daß die ss 1 und 2 des Antrages etwas treffen wollten, was kaum noch nothwendig sei. Die beschlagnahmten Kassen seien nicht vorhanden, die beschlagnahmten Bücher und Drucksachen seien wohl alle zu Grunde gegangen oder vernichtet worden. Anders liege die Sache bei 8 3. Seine Partei halte es für richtig, eine Amnestie gesetzlich auszusprechen, wenn wirklich praktische Fälle vorlägen, wo auf Grund des Socialistengesetzes jemand die Befugniß zur Schank⸗ gerechtigkeit oder zur Verbreitung von Druckschriften entzogen sei. Sie werde deshalb § 3 annehmen, und den ganzen Gesetzentwurf. wenn er ihrer Anschauung gemäß gestaltet werden sellte. Abg. Dr. von Bar (dfr):; Die Frage, eb Verstöße gegen ein Gesetz, das nur auf eine bestimmte Zeit erlassen fei, trotz des Ab⸗ laufes diefer Zeit noch Strafverfolgung nach sich ziehen könnten, fei controvers? Wenn es sich um eine Aenderung der Rechts⸗
überzeugung handele, wie bei dem Soeialistengesetz, von dessen Wirk⸗
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