fahrungsgemäß sind für solche Verträge günstigere Bedingungen zu erzielen, wenn sich eine größere Anzahl von Corporationen zu gemein⸗ samem Vorgehen vereinigt. Das Collegium bittet demgemäß den Herin Mintster, derfelbe wolle eventuell den Centralvereinen gin gemeinsames Vorgehen empfehlen, um Verträge mit bestehenden Insti⸗ futen im Interesse ihrer Beamten zu vereinbaren.“ j
Nach einer Paufe folgten als letzter Gegenstand der Tagesordnung die Jahresberichte der landwirthschaftlichen Centralpereine für 1851. Der Vorfitz war inzwischen an den Unter⸗Staatz secretär Dr. von Marcard übergegangen. Der Berichterstatter für Ackerbau, von Hoppenstedt⸗Schladin war nicht erschienen Ueber die Viehzucht berichtete Herr von Kries-Trankwitz, über die landwirthschaftlichen Nebengewerbe Geheimer Regierungs ⸗ Rath, Professor Dr. Märcker⸗ Halle. Letzterer gab den Übereinstimmenden Klagen der Central= vereine über den Rückgang der Müllerei, der Ziegelei und der Zuckerfabrikation Ausdruck, soweit diese Gewerbs weige als land⸗ Dirthschaftliche Nebengewerbe zu betrachten seien. Ueberall verdränge die eigentlich großkapitalistische Industrie den ö Betrieb, was in vieler Hinsicht, namentlich aber bei der Zucker⸗ fabrikation, keineswegs als ein gesunder Vorgang zu. betrachten sei. In erfreulichem Fortschreiten sei dagegen das Meiereiwesen, speciell dasjenige auf genossenschaftlicher Grundlage. Es bestehen, dem Be⸗ richterftatter zufolge, im Königreich Preußen 1043 Genossenschafts⸗ molkereien mit Dampfbetrieb, welche die Milch von 300 000 Kühen im Betrage von S850 Millionen Liter unter Erzeugung von 30 Millionen Kilogramm Butter verarbeiten. Schleswig⸗Holstein allein zahlt 498 Genossenschaften. Sehr interessante Verhältnisse er⸗ giebt der Bericht des landwirthschaftlichen Centralvereins für Littauen und Mafuren. Im Regierungsbezirk Gumbinnen wurde pro 1891 die beträchtliche Zahl von 399 153 Post⸗ (10 Pfd) Kolli Butter und 6753 solcher Kolli Käse verschickt. Der eigentliche Frachtverkehr in diefen Artikeln betrug nur 380½ jenes Postverkebrs; der Kreis Niederung allein war bei diesem Postberkehr mit 16 828 Ctr. Butter betheiligt, während der gesammte Butterversandt (durch die Post) des Regierungsberirks 57771 Etr. betrug. Die früher vielfach
äußerten Bedenken wegen eines drohenden Preisrückganges für er hätten sich nirgends bewahrheitet; vielmehr würden für die besseren Butterqualitäten bei schlankem Absatz überall an⸗ emessene Preise erzielt. Im Zusammenhang mit dieser Beobachtung fänden die Klagen über die unzuverlässigen, bezw. unrichtigen Preie— notirungen für Butter an der Berliner und Hamburger Producten⸗ börse, gegen deren schädigenden Einfluß vielfach besondere Gegen⸗ maßregeln getroffen seien, so z. B. Durch die Begründung (ines Auctions vereins in der Provinz Schleswig-Holstein, welcher einen Mehrerlößsß von 2 bis 3 e½ für den Centner Butter, von 8 bis 10 6 für feinste Qualitäten erzielt habe. Sehr vortheilhaft sei die Wirksamkeit der wissenschaftlichen Butter⸗ verfuchsstalion. Die von dieser hergestellten Reinculturen von Mikro⸗ organismen zur Eräelung einer gleichmäßigen und fehlerfreien Säue⸗ rung des Rahms benutze bereits eine große Zahl von Molkereien. Zurückgegangen sei die Verwerthung der Magermilch zur Käseberei⸗ kung, was wohl als ein. Vortheil für die Landwirthschaft hinsichtlich der Aufzucht von Jungvieh anzusehen sei. Schließlich verbreitete sich der Referent über die Lage der Spiritus- und Stärke⸗Industrie.
Sodann nahm die Versammlung einstimmig folgende, von dem Referenten gestellte Anträge an:
I. Den Minister für Landwirthschaft zu ersuchen, geneigtest bei den zuständigen Verwaltungen dahin wirken zu wollen, daß I) genaue Ermittelungen über den Post- und Bahnverkehr mit Butter und Käfe der einzelnen Postanstalten und Bahnstationen angestellt werden, da eine solche, von einer Seite vorgenommene Ermittelung zu über⸗ raschenden und wichtigen Ergebnissen geführt hat, 2) dem zuständigen statistischen Amt die Aufgabe gestellt werde, die betreffenden Zahlen so zeitig als möglich einzuziehen und zu verarbeiten, 3) gleiche Er⸗ mittelungen auch für die Verladungen von Vieh veranlaßt werden.
JI. Das Königliche Landes⸗Oekonomiecollegium erkennt an, daß mit der Stärke- und Spiritusindustrie hochwichtige Interessen der Landwirthschaft — vornehmlich der von der Natur weniger gesegneten Gegenden — der Arbeiterbevöllerung, der Volksernährung verbunden sind, und bittet den Herrn Minister für Landwirthschaft, zunächst dahin wirken zu wollen, daß diese Industrie beim Abschlusse von Handelsperträgen und bei der Steuergesetzßzebung die ihr im Interesse der Volkswohlfahrt gebührende wohlwollende Behandlung und Förderung finde
Hierauf berichtete Professor Sch moller-⸗Berlin über den volks⸗ wirthschaftlichen Theil der Jahresberichte. Er äußerte sich ins⸗ besondere auch über die Air beiterfrage und wies darauf hin, daß ein⸗ zelne Landestheile — Littauen. Brandenburg, Hann eber. — eine Besserung der Arbeiterverhältnisse anerkennen. Mit Rücksicht auf den Umstand, daß die Jahresberichte vielfache Wiederholungen enthielten, weil nicht jedes Jahr Stoff zu neuen Angaben darbiete, beantragte Redner: es möchte ein Turnus eingeführt werden, nach welchem derselbe Gegenstand (Genossenschaftswesen, Arbeiterfiage, Meliora⸗ tionen u. f. w. nur alle zwei bis drei Jahre besprochen werden solle. Dieser Antrag wurde angenommen, ebenso ein solcher des letzten Referenten, Sber⸗Forstmeisters Danckelmann⸗Eberswalde, welcher zu dem Gegenstande „Forsteultur' beantragte: es möge eine Er⸗ heb ung über die zur Aufforstung geeigneten Oedländereien veranlaßt werden. .
Mit diesem Gegenstande war die Tagesordnung erledigt, und der Vorsitzende schloß hierauf die diesjährige Session des Landes⸗Ocko⸗ nomiecollegiums.
. in Italien. Die diesjährige Hanfernte in Itallen hat nach dem „Bolletino di Notizie agrarier 585 783 Doppel- Centner gegen 710762 im Vorjahre ergeben. Auf die verschiedenen Regionen vertheilt sich dieselbe wie folgt: 1892 1891 42790 16801 48 472 1616 408 808 23 399 12 9409 6021 11698 130 595 8 422
Piemont
Lombardei
Venetien
Ligurien
Emilien
Marken und Umbrien ... Toskana
Latium
Adriatische Südregion. .. 10264 Mittelmeer Südregion . . 104966 Sizilien
Gesundheitswesen, Thierkrankheiten und Absperrungs⸗ Maßregeln.
Cholera.
Mit. Bezug auf. die jüngste Veröffentlichung des Geheimen Medizinal Raths Professors von Pettenkofer in München (ogl. Nr. T3 des „M. u. St. l.) hat sich der Geheime MedizinglRaih Professor virchemn wie die ‚Voss. Itg.“ mittheilt, in seiner jüngsten Vorlesfung etwa folgendermaßen ausgesprochen: Es ist schon wieder holt vorgekommen, daß man Mikroorganismen unberechtigt die Schuld an Krankheiten zugeschrieben hat; so ist es 3. 3 duch dem Gährungepilz ergangen, bis man sich durch den Thierverfuch von der Unschaͤdlichkeit desselben überzeugte. Was nun die bon Pettenkofer hervorgehobene Wichtigkeit der ortlichen Verhältnisfe betreffe, so sei diese auch früher keineswegs verkannt worden; allein das einzig Wichtige sei die locale Disposttion nicht. Denn aus dem Ümflande, daß an einer Stelle der Erde sich ein Fichtenwald, an einer anderen ein Tannenwald befände, könne man zwar auf eine besondere Disposition dieser Stellen für das betreffende Wachsthum schließen, jedoch kamen diefe Bäume auch an anzeren Orlen fort; das wichtigste dabei sei eben, daß die Träger des Lebens, Keime, Sanien und Sporen, dorthin gelangten. Se sei es auch mit der Cholera und den Sh r er e bar, ken Diese letzteren seien das
*
wichtigste, fänden aber in dem einen Organismus die günstigen Be⸗
machung er asen
dingungen zur Erzeugung der Cholera. während sie den anderen 2 ohne Schaden anzurichten. Die Baeillen seien also wohl die Ürfache der Krankheit, machten aber die Krankheit nicht aus; fie feien nicht die Krankheit selbst, sondern diese bestehe vielmehr in den unter günstigen Bedingungen durch sie hervorgerufenen Reactionen.
Hamburg, 19. November. Der Senat hat eine Bekannt⸗ worin Allen, die zur Bekämpfung der eigetragen haben, namentlich auch für die von auswärts aus anderen Staaten und. Städten Dꝛeutsch= lands geleistete reiche hie durch Hilfscomitès, Aerzte und Krankenpfleger der herzlichste Dank des Senats ausgesprochen wird. Gleichzeftig wird angeordnet, daß am nächsten Bußtage, 25. November, in allen Kirchen des hamburgischen Staatsgebiets ein allgemeines Dankfest stattfinden soll. .
Pe st, I8. Nobember. In den letzten 24 Stunden sind hier fünf Perfonen an Cholera erkrankt und zwei gestorben.
Die Einfuhr von Lumpen, alten Kleidern, gebrauchtem Bettzeug und gebrauchter Leib⸗ und Bettwäsche aus Frankreich nach Elsaß⸗Lothringen, welche unterm 31. Juli d. J. mit Rücksicht auf die Choleragefahr, verboten worden war, ist infolge einer Anordnung des Ministeriums für Elsaß⸗Lothringen künftig wieder zugelassen.
Choleraseuche
Frankreich.
Die französische Regierung hat angeordnet, daß Herkünfte aus deutschen Häfen fortan nur so lange Zeit in Quarantäne ge⸗ halten werden sollen, als zur Vornahme der sanitätspolizei—⸗ kichen Controle und der vorgeschriebenen Des infections⸗ maßreg eln erforderlich ist.
Portugal.
Durch eine im „Diario do Goberno“ vom 14. November 1892 veröffentlichte Verfügung des Königlich portugief ischen Ministeriums des Innern werden die Häfen Lorient und Toulon für „von Cholera
verseucht“ erklärt. . Griechenland.
Die Königlich griechische Regierung hat verfügt, daß Postkolli und Muster ohne Werth aus choleraverdächtigen Ländern fortan in Griechenland wieder zugelassen werden. (Vergl. R. A.. Nr. 221 vom 19. September 1892) Desgleichen ist die Einfuhr von trockenen Fellen wieder gestattet worden. (Vergl. R. A.“ Nr. 235 vom 5. Oktober 1892.)
Theater und Musik.
Königliches Opernhaus.
Der dritte Symphonie-Abend der Königlichen Kapelle, welcher gestern unter Leitung des Königlichen Hofkapellmeisters Wein⸗ gartner stattfand, wurde mit Mendelssohn's poesievoller Ouverture jum „Sommernachtstraum“ eröffnet. Dann folgte die Symphonie bon Brahms (PD-dur), welche von den zahlreich erschienenen Zuhörern mit Begeisterung aufgenommen wurde. Wenn schon bei vielen Com⸗ positionen dieses Meisters die Annäherung an die Gedankentiefe Beerkoben's empfunden wird, so ist es bei dieser Symphonie ganz befonders der Fall. Jedes der vielen verschiedenen, von großer Selbständigkeit der Erfindung zeugenden Motive der beiden Hauptsätze ist stets ein Glied in der Kette einer organisch zufammengefügten Gedankenentwickelung, sodaß der Eindruck des Einheitlichen nie verkoren geht. Der dritte, durch sprudelnden Humor fesselnde Allegrosatz wurde auf Verlangen wiederholt. Daß Brahms iel eher die allgemeine Anerkennung seiner Werke erlebt, als es Beethoven vergönnt war, ist zum en Theil der ausgezeichneten Ausführung durch unsere in neuerer Zeit so vervollkommneten Drchester zu verdanken. Den Beschluß des Abends machten Weber's Ouverture zu „Abu Hassan? und die vierte Symphonie von Beethoven CB. dur). Beide Werke wurden mit einer folchen Virtuosität und Tiefe der Auffassung vorgetragen, daß auch ihnen rauschender Beifall folgte. — Der vierte Symphonie⸗Abend findet am 2. Dezember statt.
Lessing⸗Theater.
Die erste Aufführung des Schauspiels „Ralsen wider Ralfen“ von R. Grelling fand gestern Abend bei einem sehr freundlich gestimmten Publikum eine wohlwollende Aufnahme. Man hat in jüngster Zeit so oft Vorgänge aus dem Gebiet der Pathologie als dramatische Bebel auf der Bühne erscheinen sehen, daß es nicht per⸗ wunderlich erschlint, wenn nun einmal verwickelte gesellschaftliche Fragen, die eigentlich nur eine Betrachtung vom Moralstand⸗ punkte aus vertragen, der Abwechselung halber vom Stand. punkte des praktischen Juristen aus dramatisch behandelt werden. Der Verfasser des neuen Schauspiels, selbst Jurist, ist wohl veranlagt, die Tragik eines Menschenschicksals, wie es sich etwa aus den Aeten eines Prozesses ergiebt, bühnengerecht und kunstgerecht zu gestalten. Er bemüht sich in seinem neuen Werk unter dem Deckmantel eines Prozeßhandels eine schon oft aufgeworfene heikle Frage, ob nämlich ein Mädchen einen Makel eingestehen müsse, ehe es einem Gatten die Hand xeicht, zu beant⸗ worten. Der juridische Standpunkt giebt hier den Ausschlag. Der Verfasser erläutert, daß jedem Verbrecher ein Ver⸗ schweigen und Leugnen seiner Schuld als ein selbstverständliches Recht zugestanden werde. und dieses Recht nimmt er auch für das gefallene und verlassene Weib in Anspruch. Der sa, Ralsen wider Ralsen? wird also durch eine Versöhnung der eiden Gatten ab⸗ geschlossen. Inwiefern diese juristische Auffassung mit der Sittenlehre in Uebereinstimmung ebracht werden kann, davon schweigt der Ver fasser; aber das Publikum scheint er trotz der aufgewen⸗ deten Menge kluger und scharfsinniger Gedanken, klang⸗ voller Reden und leidenschaftlicher emüthsausbrüche nicht von seiner Meinung überzeugt zu haben. Die Zuhörer zeigten sich wohlwollend, aber nicht ergriffen, obwohl der Verfasser seine Ansicht nicht nur juridisch mit großem Scharfsinn, sondern auch künstlerisch mit bedeutendem dramatischen Geschick verfochten hat.
Der Gatte, der belastende Liebesbriefe seiner Frau nach fünf— jähriger glücklicher Ehe entdeckt, wendet sich Rath fordernd gerade an den Rechtsanwalt Marks, der der Urheber jener unheilvollen Epistel ewesen ist; die Frau verlangt von ihrem früheren Geliebten, daß er ö. altes Unrecht jetzt, selbst auf Kosten seiner eigenen Ehre, wieder
Et mache; daraus entwickelt sich ein zweites tragisches Motiv, das die heilnah me fast lebhafter in Anspruch nimmt, als das erste. Das Stück endet, wie schon angedeutet, mit der Versöhnung der Gatten, und der vor seinem Gewissen ehrlos gewordene Rechtsanwalt, der seinen eigenen Mandanten , irre geführt hat, verschwindet stumm von der
Bühne; in diesem Abschluß taucht es wie ein Dämmerschein von sittlicher Gerechtigkeit auf, da der Hauptschuldige seinen inneren Ge⸗ wiffensqualen überliefert wird, während den anderen beiden doch noch ein Erdenglück zu winken scheint.
Der Handlung fehlt, es also im allgemeinen keineswegs an dramatischer Kraft; aber die mangelhafte Ableitung und Begründung des Conflictes erscheint als ein die Wirkung abschwächender Factor. Der Gatte entdeckt die voreheliche Schuld seiner Frau durch ein Päckchen Briefe im Nachlasse seiner Schwiegermutter; der Rechts⸗ anwalt Marks wird dem betrogenen Gatten und vertrauenden Elienten gegenüber ebenfalls durch Briefe, die der spitzbübische Heer orf er Lips aufgestöbert hat, in seiner Ehre bloßgestellt. Die Theilnahme der Zuschauer für die seelische Entwickelung und die Willensentscheidungen der Menschen, die durch rein äußerliche Zufällig⸗ keiten beeinflußt werden, blieb daher fortgesetzt gering. Die Charaktere büßten den allein fesselnden Rei; des wirklichen Lebens ein und, er—= schienen wie Scheingestalten, die sich als blutlose Träger eines klug ersonnenen Gedankens über die Bühne bewegten.
Sehr sorgfältig, etwas breit aber offenbar genau nach der Wirk— lichkeit hat der Verfasser in seinen scenischen Bildern den . grund für seine Hauptpersonen gezeichnet. Das Leben im Bureau eines Rechtsanwalts, das Treiben in den Vorsälen des Gerichts konnte wohl kaum in den äußeren Umrissen wahrheitsgetreuer wieder- gegeben werden; da aber, wo der Verfasser mit wenigen
2 einen Charakter zeichnen will, versagt seine Kraft; die ren Rechtsanwälte, von denen im ditten Act wohl ein Dutzend vorgeführt werden, machen in. ihrer Unter⸗ haltung einen erschreckend oberflächlichen und leichtfertigen Eindruck. Glänzende Beredsamkeit, bewundernswürdigen Scharfsinn und Fein⸗ heit des Gedankens entwickelt inmitten aller Rechtsanwälte, die über die Bühne schwirren, nur ein Weib, Frau Ralsen, die im letzten Aufzuge ihrem Gatten gegenüber mit vollem Erfolge für ihre Frei⸗ sprechung vlaidirt. l Die Hauptrollen waren den besten Darstellern der Bühne, zuge= theilt worden. Fräulein Reisenhofer als Frau Ralsen schmeichelte und flehte in den weichsten Tönen mit bestrickendem Sinnenreiz; sie war die rechte Vertreterin für eine Frau, die den Willen eines von ihrer Jugend und Schönheit unterjochten, älteren Mannes beugen will; shrer zornigen Entrüstung, dem unerbittlichen, gebieterischen erlangen ö dem früheren Geliebten wohnte aber eine eisige alte, eine despotische Rachsucht inne, die mehr dem Verstande und der Willenskraft der unglücklichen Frau entspringen, als ihrem Herzen. — Ein volles, warmes Herz trug nur der Gatte in der Brust, und
das brachte Herr Molenar in der stockenden. s merzbewegten Rede
glücklich zur Geltung. Herr Reicher hatte als Rechtsanwalt Marks eine doppelte Maske zu tragen; er sollte den leichtsinnigen Lebemann mit dem ernsten Arbeiter in einem hohen Beruf verbinden, und so weit dies möglich war, gelang es ihm überraschend gut; je mehr das Pflichtbewußsein im Verlaufe der Handlung den Leichtsinn zurückdrängt, um fo mehr trat die schauspielerische Kraft des Darstellers in dem lebendigen Mienenspiel hervor, das den Gedanken widerspiegelt. In kleineren Rollen leisteten noch die Herren Höcker und Schönfeld Anerkennenswerthes. .
Der Verfaffer wurde wiederholt vor die Gardine gerufen, um die Anerkennung der Zuschauer entgegenzunehmen.
Am Mentag geht im Königlichen Opernhause „Die Hoch⸗ zeit des Figaro! mit den Damen Leisinger, Herzog, Dietrich, Kopka und hell unt Bräm, den Herren Bulß, Krolop, Stammer, Lieban und Michaelis in Scene. Am Dienstag gelangt Djamileh' mit den Damen Rothauser und Urhanska den erren Philipp. Schmidt und Lieban zur Aufführung Darauf folgt „Gavalleria rusticana“ mit den Damen Pierson, Dietrich und Lammert, den Herren Sylva und Fränkel, den Beschluß bildet das Tanzbild ‚Slavische Brautwerbung.. — Herr Kapellmeister Weingartner hat seine Oper „Genesius“ zurückgezogen.
Der Spielplan der Königlichen Oper für die Zeit vom 20. s 26. November lautet: Sonntag: „Lohengrin“, Montag: „Die Hochzeit des Figaro“, Dienstag: Djamileh', Cavalleria rusticana?*, Slavische Brautwerbung“, Mittwoch: „Meistersinger von Nürn berg‘, Donnerstag: „Carmen“, Freitag: Cavalleria rusticana, „Der Barbier von Sevilla“, Sonnabend: „Tannhäuser“
Am Mittwoch bringt das Königliche Schauspielhaus als Neuheit Mollsre s Lustfpiel ‚Die gelehrten Frauen“ in der Ver⸗ deutschung von Ludwig Fulda. Als Anfangsstück . an diesem Abend der neu einstudirte Geiger von Eremong. von Francois Ceppöée, überfetzt von Wolf Grafen Baudissin, gegeben. Tiese Vorstellung, wird am Freitag und Sonnta wiederholt. Auch der Montag ist Molière gewidmet 3 die Aufführung des Lustspiels „Der eingebildete Kranke“. Voraus gehen diesem „Das Buch Hioh' und Die Prüfung“. Am Dienstag wird „Donna Diana“, am Donnerstag Der neue Herr“ gegeben. 235 Sonnabend bringt nach längerer Pause Schiller's Wilhelm Tell).
Im Deutschen Theater werden morgen Der Misanthrop! und „Die Neuvermählten', am Montag „College Crampton“ gje— geben. Für die weiteren Tage der Woche ist der Spielplan folgen⸗ dermaßen festgestellt: Dienstag „‚Lolo's Vater‘, Mittwoch „Die Räuber“, Donnerstag Der Pfarrer von Kirchfeld', Freitag Der Misanthrop“, vorher „Die Geschwister“ Sonnabend „Loöolo's Vater“.
Im Berliner Theater geht das Sardou'sche Schauspiel Dora“ am Montag, Dienstag, Donnerstag und Sonnabend in Scene. Morgen Abend wird „Julius Cäsar' mit Ludwig Barnay in der Rolle des Marc Anton aufgeführt; diese Sonntagsvorstellung beginnt ausnahmsweise bereits uin ] Uhr, da der kirchlichen Todten⸗ feier wegen die dies malige Nachmittagsvorstellung am Sonntag aus⸗ fällt. In dem seit längerer Zeit nicht dargestellten 6 . der mit Ludwig Barnay in der Titelrolle am Mittwoch zur Auf⸗ führung kommt, wird Anna Haverland zum ersten Male die Rolle der Margarethe spielen. Für Freitag (13. Abonnements · Vorstell ung) ist ‚Wallenstein's Tod“ mit Ludwig Barngy als Wallenstein angesetzt.
SEleonera Duse beginnt am Montag ihr Gastspiel am Lessing⸗Theater mit der ‚Cameliendame“, um sodann am Mitt woch als zweite Gastvorstellung die Gräfin Clothilde in Fernande!, am Freitag als dritte Rolle die Nora“ und am Sonnabend als vierten Gastspiel⸗Abend Sardou s Schauspiel Fedora! zur Darstellung zu bringen. Für die übrigen Tage der Woche ist der Spielplan dahin festgestellt, daß am Dienstag .Die Orientreise. gegehen wird während am Donnerstag eine Wiederholung von Richard Grelling? Schauspiel ‚Ralsen wider Ralsen“ stattfindet.
Im Walll⸗ er Theater gelangt mergen Hermann Sudermann? Schauspiel Die Ehre“ zur ersten . und wird am Montag wiederholt. Im übrigen lautet der Spielplan der neuen Woche wie folgt: Dienstag: „Bie Großstadtluft'; Mittwoch: „Die Chre' Donnerstag: „Die Großstadtluft“; Freitag; Sodoms Ende!; Sonn⸗ abend: „Die Ehre“; Sonntag: „Die. Großstadtluft ..
Im Friedrich⸗Wilhelmstädtischen Theater werden morgen „Vas Mädchen von Elisonzo', „Der Ehemann vor der Thüre“ und „Dorothea! einmalig gegeben. .
Der Spielplan des KroÜllischen Theater für die laufende Woche ist folgender. Sonntag: „Fidelio. (egnore; Frau Moran⸗ Olden als Gast); Montag: „Der Freischütz.: Dienstag; „4 Santa Lucia“ mit Gemma Bellineicni (Rosella, Roberto Stagno Ciceillo? und Juan Luria. Totonnoh); Mittwoch: Concert von Felix Bevier unter Mitwirkung von Frau Moran-Olden, der Hof Pianistin Elisabeth Jeppe und des Herrn Theodor Bertram; Donnerstag: unbestimmt; Freitag zum ersten Male: „Mala Vita? Melodrama in 3 Acten von Umberto Gigrdano, in den Hauptpartien mit Gemma Bellineioni, Frau Moran-Qlden, Roberto Stagno und Juan Lurig; Sonnabend: Concert von Felix Berber.
Im Belle⸗Allignee⸗Theater wird am morgigen Todten · sonntag zu ermäßigten Kassenpreisen (Balcon 1 1, Parquet 1 , 30 3 u. s. w.) das Schauspiel Am Altar' nach dem gleichnamigen Roman von E. Werner gegeben.
Ihm A dolph⸗Ernst⸗Theg ter gelangt morgen, am Todten · sonntag, statt des Repertoirestücks „Die wilde Madonna Berlin, wie es weint und lacht“ von Kalisch zur einmaligen Aufsührung.
Die morgige Aufführung von „Der Einsam' im Thomas⸗ Theater ist die letzte Sonntags vorstellung dieses Volksstücks. Herr Director Hofpauer wird mit seiner Gesellschaft bereits im Laufe der neuen Weoche eines der humoristischen Stücke seines Spielplans zur Aufführung bringen. ;
Fräulein Fanny Gopea wird in ihrem am Dienstag Abend 8 Uhr in der Sin g⸗KÄkä dem e stattfin denden Concert außer, der Kerker⸗-Arie aus Bolto's „Mefistofele! und Arditi's arla· Walzer Lieder von Bach, Schumann, Schubert, Franz, Raff. Petri und Bizet zu Gehör bringen. — Für das Goncert der Sopranistin Fran Milly Martina im Saal Bechstein am 2. d. M., Abends 7. Uhr, hat der Violinvirtuose Herr Sema Pick-Steiner seine, Mit wirkung zugesagt; die Congertgeberin wird u. a. die Rosen⸗ Arie aus Figaros He ch zelt. die Prochtschen Variationen und eine Reihe Grieg'scher Lieder zu Gehör bringen,. ;
Pere gen ee räh un? veranstaltet am Mentag einen Schnbert; Beethoven⸗Abend. Das Programm wird die Symphonie Nr. 2. Badr, von Schubert, die Ouverture Rosamunde bon Schw ert, Lieder aus dem Eyclus „Die schöne Müllerin“ von Schubert, ge ungen don Fräulein Clara Nitschalk, die Duverturen „Leonore IIl und zu Fidelio‘ von Beethoven zc. enthalten.
M 275.
Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten.
3. Sitzung vom 18. November 1892.
Der Sitzung wohnen bei der Präsident des Staats Ministeriums, Minister des Innern Graf zu Eulen— burg, der Finanz⸗Minister Dr. Miquel, der Minister für ö. und Gewerbe ö von Berlepsch und der Minister der öffentlichen Arbeiten Thielen.
Auf der Tagesordnung steht die erste Berathung des Gesetzentwurfs wegen Aufhebung dire cter Staats—⸗ steuern in Verbindung mit der Denkschrift über die Steuerreform.
Finanz⸗Minister Dr. Miquel:
Meine hochverehrten Herren! Gestatten Sie mir, Ihre Ver⸗ handlungen durch einige Bemerkungen einzuleiten. Sie haben seit zehn Tagen die Ihnen zugegangenen Drucksachen in der Hand, welche die Gesetzentwürfe im einzelnen und den Gesammtplan der Reform nach allen Richtungen motiviren, und ich kann mich daher auf einige ergänzende und noch weiter erläuternde Ausführungen beschränken. Zuvörderst, meine Herren, darf ich wohl mit Ihrer Aller Zustimmung feststellen, daß dieses Reformwerk, welches Ihnen jetzt zur Beschluß⸗ fasfsung vorliegt, die getreue Erfüllung derjenigen Zusagen und Ver— sprechungen ist, welche die Staatsregierung bei der Berathung der⸗ jenigen Gesetzentwürfe, die den ersten Schritt auf der Bahn der ge⸗ rechten Vertheilung der Staats⸗ und Communalsteuern bildeten, Ihnen gegeben hat.
Von vornherein hat die Staatsregierung ausgesprochen, daß es bei diesem Reformwerk ihre Absicht nicht sei, die Einnahmen der Staatskasse zu erhöhen, daß sie vielmehr die Mehrerträge, welche die reformirte Einkommensteuer bringen würde, lediglich zu verwenden gedächte, um die weiteren Reformen zu erleichtern. Nun, meine Herren, dies Wort löst hiermit die Staatsregierung ihrerseits ein. Trotzdem, daß sich inzwischen die Finanzlage des Staats — ich werde darauf noch zurückkommen — in keiner Weise verbessert hat, vielmehr augen⸗ blicklich ein, im ganzen, trübes Gesicht zeigt, hält sie an dieser Zusage im vollen Maße fest. Auf der anderen Seite, meine Herren, brauche ich Ihnen, die Sie die Lage der Staatsfinanzen kennen, auch nicht auseinanderzusetzen, daß es geradezu unverantwortlich wäre, wenn in der gegenwärtigen Lage des Staats die Staatsregierung auf feste, sichere Einnahmen verzichten wollte, welche sie in den Realsteuern besitzt, ohne dafür den entsprechenden vollen Ersatz zu haben. So lange diese Anschauung nicht bestritten wird, glaube ich darauf nicht weiter zurückkommen zu sollen. Wir müssen uns Alle klar machen, meine Herren, wie auch die Staats⸗ regierung schon in den Motiven zum Einkommensteuergesetz von vorn⸗ herein betont hat, daß jede Reform des Steuerwesens ihre natürliche Schranke in der allgemeinen Lage der Staatsfinanzen findet, daß dieser Gesichtspunkt auch heute maßgebend bleiben muß. Wenn Sie nicht geneigt wären, der Staatsregierung in der Richtung entgegenzukommen, so ist die Reform, wie sie Ihnen hier vorgeschlagen wird, undurch⸗ führbar. (Sehr richtig! rechts.)
Meine Herren, aber auch nach einer andern Richtung, nach der eigentlich materiellen Seite der Reform, bewegt sie sich nach der Ueberzeugung der Staatsregierung vollständig in dem Kreise derjenigen Anschauungen, derjenigen Wünsche, derjenigen Anträge, welche hier seit Jahrzehnten im Landtage, wie im Abgeordnetenhause so im Herrenhause, so vielfach beredten Ausdruck gefunden haben, und die sich schließlich verkörpert haben in der Gesetzesbestimmung des § 82 des Einkommensteuergesetzes.
Wer die . Hauses durchgelesen hat, der wird sich leicht überzeugt haben, da seit dem Jahre 1865, wo bereits damals in dem Berichte der Budgetcommission mehr oder weniger bestimmt, mehr oder weniger klar die Nothwendigkeit einer allmählichen Um⸗ wandlung der Grund⸗ und der Gebäudesteuer in communale Steuern ausgesprochen war, — daß, sage ich, seit dieser Zeit fast in jeder Session von den hervorragendsten Rednern, bei den verschiedensten Gelegenheiten und aus allen Parteien heraus der Gesichtspunkt der Nothwendigkeit der Verminderung der Bodenbelastung auf der einen Seite, und auf der anderen Seite die Erleichterung der Communen in den Vordergrund gestellt worden ist. Ich werde zur Zeit darauf nicht näher eingehen; aber ich kenne kaum einen hervorragenden Redner der vor mir sitzenden Herren, der diesen Gesichtspunkt nicht aus— gesprochen hätte.
Nun, meine Herren, ich will nicht behaupten, daß diese Gedanken, die aus einem Gefühl vorhandener Mißstände entsprangen, vollständig klar gewesen wären, daß man einig gewesen wäre über die Richtung und die Art der Ausführung. Gewiß nicht! Wir werden Gelegenheit haben, später darauf zurückzukommen. Der eine Redner stellt bei der Forderung der Ueberweisung von Grund⸗ und Gebäudesteuer den Gesichtspunkt der Erleichterung der Communen in den Vordergrund; der andere Redner denkt nicht an die Communen, sondern an die Kreise, der dritte an die Provinzen; der vierte will theilen unter diesen verschiedenen Körperschaften. Wieder andere Redner stellen in den Vordergrnnd den Gesichtspunkt der Beseitigung der Doppelbesteuerung, der Vorbelastung des Grund und Bodens und der Gewerbe. Der eine will wirklich auf die Realsteuern verzichten, um dieselben in Communalsteuern zu
verwandeln; der andere will den Communen Zuwendungen in be⸗
stimmten Beträgen machen aus den Erträgen dieser Steuern, die dann vollständig bestehen blieben. In allen diesen Beziehungen ist weder Klarheit noch Uebereinsätimmung. Und ganz naturgemäß! Weil eben der Zeitpunkt praktischer Ausführung noch zu weit von uns lag, weil man sich noch nicht eine concrete Situation denken konnte, unter welcher die Ausführung solcher Pläne möglich war. Nun, meine Herren, die bis dahin noch mehr oder weniger unreifen Gedanken sind nach der Meinung der Staatsregierung jetzt reif geworden. Wir sind in den wesentlichsten Punkten, wie ich glaube, einig, und ich glaube auch nicht, daß in der großen Mehrheit des Hauses große Spaltungen und Meinungsverschiedenheiten über die Grundlagen des vorliegenden Reformplans vorhanden sind.
Zweite Beilage
zum Deutschen Reichs⸗Anzeiger und Königlich Preußischen Staats⸗Anzeiger.
Berlin, Sonnabend, den 19. Novenhber
Meine Herren, wenn wir jetzt in den Zielen und Wegen im allgemeinen einig sind, so haben wir glücklicherweise in diesem Augen⸗ blick ein Zusammentreffen von Umständen, welche die Ausführung auch finanziell möglich machen. Wir werden ja auf diese Frage nachher noch zurückkommen. Ich möchte Ihnen nur ans Herz legen, meine Herren, wenn Sie diesen gegenwärtigen Augenblick, wo wir 40 Millionen in der Hand haben, welche noch nicht zu andern Zwecken des Staates verwandt oder bestimmt sind, wo wir die Mittel aus den Ueber⸗ weisungen der Korn⸗ und Viehzölle an die Kreise verwenden können für die Reform, wenn Sie diesen Zeitpunkt vorübergehen lassen, wenn Sie über diese Mittel disponiren, ohne daran eine grundlegende Re⸗ form zu knüpfen in dem Sinne, den das Abgeordnetenhaus selbst immer vertreten hat, dann müssen Sie sich sagen, daß ein solcher Zeitpunkt vielleicht niemals wiederkehren wird, (sehr richtig! rechts) jedenfalls nicht bei unsern Lebzeiten, daß, wenn Sie diese Reform jetzt zurückziehen, dilatorisch behandeln, sie wahrscheinlich auf immer un⸗ möglich sein wird. (Sehr wahr! rechts.)
Nun, meine Herren, wenn man die bestehenden Einrichtungen und Zustände umgestalten will, so muß man vor allem sich klar sein über die Uebel und Mißstände, welche zu beseitigen sind, über ihre Gründe sowie über die Mittel, welche uns dazu zu Gebote stehen.
Worin haben nun in Betreff unseres staatlichen Steuersystems bisher die Klagen und Beschwerden bestanden? Sind diese Beschwerden allmählich geringer oder stärker, berechtigter oder unberechtigter ge⸗ worden? Meine Herren, der erste Satz in den Motiven zum neuen Einkommensteuergesetz lautet dahin: wenn die Einkommensteuer, die Personalsteuer, in dem Sinne dieses Gesetzes reformirt wird, so wird diese Personalsteuer die Hauptträgerin des ganzen staatlichen Steuer⸗ systems; in den Vordergrund wird die Leistungsfähigkeit treten, die Per⸗ sonalbesteuerung wird die Realbesteuerung überragen und wird schließ⸗ lich mit ihr, weil beide auf entgegengesetzten Principien beruhen, völlig unverträglich werden, die eine oder die andere würde in Zukunft weichen müssen. Wir stehen vor der Frage, auf welche Seite wir uns neigen wollen.
Ich will die in der Denkschrift skizzirte Geschichte der Entwicklung des preußischen Staatssteuersystems hier nicht wiederholen. Meine Herren, Sie werden sich so viel jedenfalls aus der Denkschrift über⸗ zeugt haben, daß dies gemischte Staatssteuersystem das Nebeneinander⸗ bestehen der Realsteuern und Personensteuern, in Preußen nicht aus berechtigten, auch nicht damals berechtigten volkswirthschaftlichen Gesichtspunkten, sondern aus fiscalischen Rücksichten entstanden ist. Erträglich ist ein solcher Zustand, so lange die Personalsteuer noch unbedeutend, das Einkommen nicht voll erfaßt ist. Unerträglich wird ein solcher Zustand aber, wenn, wie heute, das volle Einkommen, einerlei aus welchen Quellen es auch hervorgeht, durch die Personal⸗ steuer erfaßt wird, und zwar mit Sätzen, die bis zu 40 des Ein⸗ kommens steigen.
Meine Herren, in der Denkschrift ist ausgesprochen: Der Aufbau der Staatssteuern auf dem Princip der Leistungsfähigkeit ist absolut unverträglich mit dem Bestehen der Realsteuer neben der Personal⸗ steuer. Die Personalsteuer untersucht die Steuerkraft des einzelnen Steuerpflichtigen und berücksichtigt die persönlichen Verhältnisse sogar über die Differenz des Einkommens hinaus. Die Realsteuer kümmert sich gar nicht um die persönlichen Verhältnisse des einzelnen Steuer⸗ pflichtigen; sie belastet bestimmte Objecte nach angeblich richtigen, aber auch noch sehr ungleichen Durchschnittssätzen ohne alle Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit des zeitweiligen Besitzers dieses Objects. Des⸗ wegen können da auch nicht Berücksichtigungen der persönlichen Ver— hältnisse stattfinden, wie das ja bei der Grundsteuer ebensowenig wie bei der Gebäudesteuer und bei der Gewerbesteuer nur in unvollkommenem Maße thatsächlich der Fall ist. Deswegen können die Schuldenzinsen nicht abgezogen werden; deswegen wird der kleine und große Grund⸗ besitzer gleichmäßig belastet, deswegen zahlt der verschuldete und un⸗ verschuldete genau dieselbe Summe; deswegen wird der Gewerbe⸗ treibende, der mit fremdem Kapital arbeitet, ebenso zur Steuer heran⸗ gejogen wie der in viel besserer Lage befindliche, der mit eigenem Kapital arbeitet — da ist also voller Gegensatz gegen das Prineip der Leistungsfähigkeit.
Meine Herren, es kommt aber hinzu, daß gerade besonders unser Realsteuersystem noch sehr unvollkommen ist, ungleich und unvoll⸗ ständig, und zweitens, meine Herren — ich glaube das in der Denk⸗ schrift klar bewiesen zu haben —, daß wir nicht in der Lage sind, in Preußen das bestehende Realsteuersystem wesentlich zu verbessern.
Unsere Grundsteuer — das ist allgemein anerkannt — ist schon ursprünglich ungleich veranlagt, wie das auch kaum in einem Staate von der Größe Preußens mit so verschiedenartigen klimatischen Boden⸗ und Verkehrsverhältnissen anders zu erwarten war. Es giebt auch in der Grundsteuer selbst nach den Principien der Grundsteuerveranlagung ganz überlastete Distriete; aber die Grundsteuer, schon ursprünglich ungleich, ist noch immer ungleicher geworden durch die inzwischen einge⸗ tretenen Verschiebungen in den Ertrags- und Werthverhältnissen des Grund und Bodens.
Die Gebäudesteuer wird alle fünfzehn Jahre neu veranlagt. In der Zwischenzeit ist sie völlig stabil.
Die Gewerbesteuer hingegen wird nun wieder nach ganz anderen Principien angelegt: bei der Grundsteuer durchschnittliche Ertrags⸗ fähigkeit des Bodens, bei der Gebäudesteuer Durchschnitt der erhobenen Miethen, bei der Gewerbesteuer endlich Jahresertrag und Anlage⸗ und Betriebskapital. Eine Harmonie in dies Steuersystem zu bringen, diese Realsteuern untereinander gleichmäßig zu gestalten, ist nach meiner Ueberzeugung ein ganz vergeblicher Versuch und wird niemals gelingen. Nun, meine Herren, ist aber das Realsteuersystem daneben durchaus unvollständig geblieben. Wenn man einmal den Besitz als solchen treffen will, so ist nicht abzusehen, warum da nicht auch die Kapitalrentensteuer eingeführt ist; das Kapital hätte eine solche Vor⸗ belastung, da es nur schuldenfrei versteuert werden würde, vielleicht noch am ersten ertragen können. Die Versuche sind in dieser Be⸗ ziehung gemacht, meine Herren, aber nicht an dem schlechten Willen, sondern an den inneren Schwierigkeiten gescheitert, namentlich an der
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wohl fast unüberwindlichen Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Rentenkapital und gewerblichem und Betriebskapital im einzelnen Falle.
Meine Herren, ich glaube auf diese Frage nicht weiter eingehen zu müssen, um Ihre Aufmerksamkeit nicht zu lan in Anspruch zu nehmen; denn ich bin der Ansicht, daß die Meinung, das Realsteuer⸗ system wäre an sich rationeller neben dieser jetzt hochentwickelten Personalsteuer, im hohen Hause nur sehr wenig vertreten ist. Ich bin der Meinung, meine Herren, daß selbst diejenigen, die der Bei⸗ behaltung dieses gemischten Systems im ganzen geneigt wären, doch sich sagen müßten, daß dann eine gründliche Reform sowohl der Grund⸗ und Gebäudesteuer, als der Gewerbesteuer wieder nothwendig werden würde; — und daß diese in Preußen unausführbar ist, meine Herren, dieser Gesichtspunkt hat die Staatsregierung dazu führen müssen, daß sie sagt: mit halben Maßregeln ist es in diesem Falle nicht gethan; eine gründliche Reform ist nur dann befriedigend und heilt die vor⸗ handenen Uebelstände der Ungleichheiten, wenn sie eine Reform an Haupt und Gliedern ist.
Meine Herren, die Realsteuern sind innerhalb des Staats starr, ich möchte sagen todt, unentwicklungsfähig; wirken sie im Com⸗ munalverbande, so würden sie lebendige Glieder des Finanzwesens der Gemeinden werden können. Da ist Entwickelungsfähigkeit möglich; da können die Veränderungen, die im Werth und in den Ertrags⸗ verhältnissen im Laufe der Zeit oder local sich entwickeln, zweckmäßig berücksichtigt werden; — hierhin gehören die Realsteuern! Wenn die Klagen über die Noth der Gemeinden berechtigt sind, wenn dieses ins ungemessene Heranwachsen der Zuschläge zur Personalsteuer für die Gemeinden heißt: sichere und steigende Ausgaben und „zufällige, ganz schwankende, unsichere Einnahmen, — dann, meine Herren, wird kein anderer Weg übrig bleiben, als daß der Staat auf die Realsteuern zu Gunsten der Gemeinden verzichtet. Dieser Verzicht bildet die einzige Möglichkeit grundlegender Reform des Communalsteuerwesens.
Meine Herren, wenn Sie bei Ihren Gedanken bleiben, die so lebendig und selbst heftig und vorwurfsvoll, damals völlig unbegründet, hier im Hause und von den nach links gravitirenden Parteien am allerheftigsten ausgesprochen wurden, daß auf die Dauer die Einkommen⸗ steuer ohne eine von der Gerechtigkeit geforderte Unterscheidung zwischen fundirtem und nicht fundirtem Einkommen zu den größten Beschwerden und Prägravationen führen müsse, die Steuerkraft nicht richtig treffen würde, — wenn Sie, sage ich, dabei bleiben, so kommen Sie wieder auf die Frage der Arfhebung der Realsteuern. Denn ohne Beseitigung der Realsteuern ist eine Besteuerung des fundirten Einkommens nach dem Nettoeinkommen nicht möglich, und eine gleichzeitige Besteuerung desselben Besitzes in der Form der Bruttobesteuerung und der Netto⸗ besteuerung ist undenkbar. Wo Sie dabei auch hinsehen, meine Herren, überall kommen Sie auf denselben Satz: das System muß geändert werden, man muß die Realsteuern aus dem Staatssteuersystem aus⸗ scheiden. 45.
Nun, meine Herren, sind ja auch gegen diesen nach meiner Mei⸗ nung als ein Ergebniß der modernen Entwicklung sich darstellenden Satz erhebliche Bedenken aufgeworfen und bereits vielfach erörtert worden. Ich will einige von diesen Bedenken berühren.
Ein natürliches, aus der Gewohnheit und eigentlich aus ver⸗ gangenen Zeiten stammendes Gefühl macht Viele bedenklich bei dem Aufgeben der Realsteuer, namentlich der Grund- und Gebäudesteuer, weil man sich sagt, das ist doch eine so sichere und feste Grundlage der Staatsfinanzen, daß es doch sehr kühn sein würde, darauf zu ver⸗ zichten. Nun, meine Herren, dem erwidere ich, wie die Erfahrung lehrt, daß auch die Einkommensteuer, namentlich in ihrer heutigen Gestalt, eine recht sichere, durchgängig gleichmäßige, mit dem Wehl⸗ stande des Volkes steigende Steuer ist. Die Realsteuern hatten im Jahre 1820 eine sehr große Bedeutung, sie machten 18 0½ der damaligen gesammten Staatsausgaben aus, heute ohne Berücksichti⸗ gung der Betriebsausgaben nur noch 8 oο, während andererseits die Einkommensteuer allein mit 124 Millionen sämmtliche Realsteuern bereits wesentlich überragt. Die Grundsteuer kann nicht mehr wachsen, sondern nur noch abnehmen. Meine Herren, die Einkommensteuer, soweit sie früher bis in die alleruntersten Stufen, ging, hatte zwar längst nicht eine so sichere Einnahme für die Staatskasse wie die Grundsteuer, aber heute, wo wir von 900 66 anfangen, und unten sehr bedeutend degressiv sind und geringe Sätze erheben, das Schwer⸗ gewicht des Einganges dieser Steuern in die obersten Stufen gelegt ist, meine Herren, da hat diese Frage ein ganz anderes Gesicht be⸗ kommen. Wenn 3 oso der gesammten Steuerpflichtigen von dem Mehr, was jetzt die Einkommensteuer gebracht hat, allein 28 Millionen zahlen und der Rest des Mehr, soweit es auf die physischen Personen fällt, auf 97 der Steuerpflichtigen sich vertheilt, so ergiebt sich von selbst, daß heute die Einkommensteuer einen ganz anderen Charakter bekommen hat.
Meine Herren, ich glaube also, vom finanziellen Standpunkt aus kann man Bedenken gegen den Verzicht des Staats auf diese Real⸗ steuer nicht erheben. Nun sagt man: ja, die Grundsteuer und zugleich auch die Gebäudesteuer, jedenfalls die Grundsteuer hat den Steuer⸗ charakter überhaupt gänzlich verloren, sie ist eine reine Rente geworden. Ein großer Theil der jetzigen Besitzer, derjenigen, die die Grundstücke erworben haben nach Veranlagung der neuen Grundsteuer, haben diese Grundstücke bereits erworben abzüglich der Grundsteuer. Wenn also diesen jetzt die Grundsteuer erlassen wird, so ist das eine Schenkung an diese Besitzer, und wie kommt der Staat dazu, der⸗ artige Schenkungen ohne jeden innern Grund zu machen! Meine Herren, wenn Sie das Ueberweisungssystem wählen sollten, wenn Sie die Hälfte der Grundsteuer an die Gemeinden wieder vertheilten, so könnte allerdings dieser Gesichtspunkt von Bedeutung sein; dieser Reform gegenüber, meine Herren, paßt aber der ganze Einwand nicht, denn die Reform geht nicht dahin, die Steuerpflichtigkeit der Objecte aufzuheben, sondern lediglich umzugestalten. Wir wollen im wesentlichen die Realsteuern des Staats in Communalsteuern ver⸗ wandeln. Daß dabei die Gesichtspunkte des neuen Verbandes ent⸗ scheidend sein jnlissen für das Verhältniß der Personal- zur Real⸗