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beschlossen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu empfangen, sondern ihm nur durch einen Adjutanten sagen zu lassen: daß Seine Majestät jetzt vom Fürsten die Bestätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris schon gehabt, und dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe.
Seine Majestät stellt Eurer Excellenz
— das ist der damalige Bundeskanzler Graf Bismarck — anheim, ob nicht die neue Forderung Benedetti's und ihre Zurück⸗ weisung sogleich sowohl unseren Gesandten als in der Presse mitgetheilt werden sollte.
Der hochselige König Wilhelm läßt also dem Grafen Bismarck den Sachverhalt darlegen und stellt ihm anheim, ob nicht zwei Dinge geschehen sollten, die Forderung Benedetti's und ihre Zurück⸗ weisung den Gesandten und der Presse mitzutheilen. Das ist geschehen.
Ich finde hier in den Acten eine Depesche, die Graf Bismarck Vater einem Beamten dictirt hat. Sie lautet:
Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der Kaiserlich franzöfischen Regierung von der Königlich spanischen amtlich mitgetheilt worden sind, hat der französische Botschafter in Ems an Seine Majestät den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisiren, daß er nach Paris telegraphire, daß Seine Majestät der König sich für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Candidatur wieder zurückkommen sollten. Seine Majestät der König hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß Seine Majijestãt dem Botschafter nichts weiter mitzutheilen habe.
Also, nachdem Seine Majestät der König Wilhelm dem Kanzler anheimgegeben hat, diese zwei Dinge mitzutheilen, führt der Graf Bismarck diesen Auftrag aus und erläßt am 13. Juli 1 Uhr 15 Mi—⸗ nuten Abends die Depesche, die ich eben vorgelesen habe und die, wenn man sie der anderen gegenüberstellt, sich lediglich als eine Ausführung der Königlichen Anheimgabe charakterisirt, an die Ge— sandten in Dresden, München, Stuttgart, Karlsruhe, Darmstadt und Hamburg. Noch in derselben Nacht aber, am 14. Juli früh 2 Uhr 13 Minuten geht in demselben Wortlaut die Depesche an die Ge— sandten in London, Petersburg, Florenz, Brüssel, Haag, Wien, Bern und Konstantinopel. Es kann hier von einer Fälschung keine Rede sein; der Bundeskanzler führt aus, was der Monarch ihm aufgetragen hat, und führt das vollkommen correct aus.
Um nun aber der Insinuation, als sei der Hochselige Kaiser Wilhelm nicht mehr der Mann gewesen, der selbst für seine An— sichten eingetreten wäre, entgegenzutreten, will ich noch einen zweiten Beweis liefern, einen Beweis von demselben Tage.
Nach der Unterhaltung mit Benedetti bekam der König Wilhelm ein Schreiben von dem damaligen Gesandten Herrn von Werther aus Paris vom 12. Juli — ging ein in Eins am 13. Juli —, in welchem Herr von Werther eine Unterhaltung schildert, die er mit französischen Ministern gehabt hat, und die auch darauf hinauskommt, daß man sich mit der Hohenzollernschen Entsagung auf den spanischen Thron nicht zufrieden geben könne, sondern noch einen weiteren Schritt verlange. Es ist hier ein eigenhändiges Billet des Kaisers
Wilhelm an Herrn Abeken in den Aeten enthalten von demselben
13. Juli:
Es ist doch nothwendig, an Werther zu chiffriren, daß ich indignirt sei über die Grammont-Ollivier'sche Zumuthung und mir das Weitere vorbehalte. (Lebhaftes Bravo.)
Es bleibt mir nun noch übrig, nachdem ich von dem Grafen Bismarck den Verdacht der Fälschung abgelenkt habe, nachdem ich gezeigt habe, daß Kaiser Wilhelm nicht der schwache Mann war, son— dern daß er in seiner treuen Pflichterfüllung auch hier das Richtige getroffen hat — (Bravo!) — der Beweis dafür, daß Europa damals die Sache so auffaßte, wie Deutschland und wie Kaiser Wilhelm. Ich habe zwei Depeschen hier, die eine von dem Grafen Bernstorff, der damals unser Botschafter in London war, an das Auswärtige Amt vom 13. Juli, abgegangen aus London 7 Uhr 20 Minuten Nachmittags, Ankunft 8 Uhr 30 Minuten Nachmittags:
London, den 13. Juli 1870. Abgang? Uhr 20 . Ankunft 8 Uhr 35 Nachmittags. Der Botschafter des Norddeutschen Bundes an das Auswärtige Amt.
Lord Lyons telegraphirt von gestern Abend, daß die französische Regierung mit dem Rücktritt des Prinzen von Hohenzollern nicht befriedigt sei und heute in einem Conseil über weitere Beschlüsse berathen werde. Er habe stark remonstrirt. Lord Granville hat zugleich zurücktelegraphirt, um den Botschafter anzuweisen, noch vor dem Conseil bestimmt zu erklären, daß Frankreich befriedigt sein müsse.
Herr Gladstone, der mir dies eben vertraulich sagt, ist der Meinung, daß wir bis an die äußerste Grenze der Versöhnlichkeit gegangen sind, und Frankreich im flagrantesten Unrecht sein würde, wenn es trotzdem den Krieg anfinge.
Bernstorff. (Hört! Hört)
Ein zweites Document: der Kanzler Fürst Gortschakow war damals in Berlin, zugleich war unser Gesandter in Petersburg, Prinz Reuß, in Berlin. Prinz Reuß zeichnet auf — es ist von der Hand des Prinzen Reuß hier in den Acten:
Berlin, den 13. Juli 1870. 6 Uhr Abends.
Fürst Gortschakow hat soeben in meiner Gegenwart ein Telegramm an Okuniew und Brunnow dictirt folgenden Inhaltes.
Ich will den französischen Text hier nicht verlesen, sondern die deutsche Uebersetzung, wie sie sich in einem Telegramm des Grafen Bismarck an die deutschen Gesandten findet, wiedergeben:
Berlin, 14. Juli 1870.
„Fürst Gortschakom, welcher hier ist, hat heute Abend an russischen Vertreter in Paris aus London extra Folgendes telegraphirt:
Wir begreifen nicht, daß nach der freiwilligen und vollständigen Verzichtleistung des Erbprinzen von Hohenzollern die französische Regierung den preußisch⸗französischen Zwischenfall nicht als erledigt ansieht, im Interesse des Friedens, den Frankreich, wie man uns versichert, will. —
Ich könnte außer diesen beiden Depeschen auch aus anderen Hauptstädten von anderen Regierungen ähnliche Depeschen vorlesen.
Ich halte hiernach für erwiesen, daß, nachdem die Candidatur Hohen⸗ zollern zurückgezogen war, nicht allein in Deutschland, sondern auch außerhalb Deutschlands die Ansicht die herrschende war, daß nunmehr für Frankreich kein Grund vorläge, mehr zu verlangen. Wenn Frank⸗ reich trotzdem mehr verlangte, so konnte es nur entweder den Krieg oder die Demüthigung Deutschlands wollen. Daß es das nicht erreicht hat, verdankt es den Männern, die damals an der Spitze Preußens standen. Es wäre aber auch nach meinem Dafürhalten für Deutschland nie möglich gewesen, eine Demüthigung, wie sie Frankreich uns zumuthete, hinzunehmen. (Bravo)
Die Sache ist für den Augenblick von Belang und steht auch mit der Militärvorlage in einer gewissen Verbindung, wenn man in Betracht zieht, daß wir Mittel fordern, um unsere Wehrkraft zu verstärken, und dabei versichern, daß diese Mittel einem aggressiven Zwecke nicht gelten, daß wir sie nur zu unserer Selbstvertheidigung fordern. Uns ist es nicht gleichgültig, ob gleichzeitig von einer anderen Seite der Verdacht erregt wird, als hätten wir vor zwanzig Jahren provocatorische Absichten gehabt. Das würde auf uns zurückwirken, und um der sides der deutschen Regierung willen, um des Vertrauens willen, das Deutschland selbst braucht, das Ausland von uns braucht, habe ich Werth darauf gelegt, diese Depeschen zu veröffentlichen. (Bravo)
Auch nach einer anderen Richtung sind diese Depeschen doch wohl lehrreich, wenn sie uns ins Gedächtniß zurückrufen, daß wir ohne jeden äußeren Anlaß, nachdem wir bis an die äußerste Grenze des Möglichen entgegengekommen sind, von Frankreich mit Krieg überzogen worden. Was geschehen ist, kann wiederum geschehen, und es liegt in diesem Verhalten eine Mahnung für uns, auf unserer Hut zu sein, und nicht die Hände in den Schoß zu legen. Das lehrt uns ohnehin die Entwickelung, die die Dinge seit dem Jahre 1870 in Europa genommen haben. Es ist ja heikel, von diesen Sachen zu sprechen, und ich thäte es lieber nicht; ich sehe aber ein, daß ich es nicht vermeiden kann. Ich habe Ihnen auch nichts Neues zu er— zählen. Ich kann Ihnen nur die Lage, wie sie sich allmählich ent⸗ wickelt hat, und wie sie sich schon unter meinem Amtsvorgänger ent— wickelt hatte, und von dem Ihnen geschildert ist, diese Lage kann ich nur in Ihr Gedächtniß zurückrufen.
Wir haben nach 1870 Elsaß-Lothringen in Deutschland ein⸗ verleibt. Die deutschen Fürsten und ganz Deutschland haben dies ein— stimmig nicht allein als eine Sühne für den Krieg, sondern auch als eine Folge der jahrhundertelangen Geschichte der Grenzhändel, die diese ursprünglich deutschen Lande uns genommen hatten, ange— sehen. Aber, wenn auch jetzt die Neigung der Franzosen, den Frank— furter Frieden nicht als definitiv anzusehen, sich in der Hauptsache an die Worte „Elsaß-Lothringen“ knüpft, so werden wir Alle doch nicht verkennen können, daß auch, wenn wir Elsaß-⸗-Lothringen nicht ge⸗ nommen hätten, der französische Revanchegedanke derselbe sein würde. (Sehr richtig!)
Unsere westlichen Nachbarn haben das Talent, Dinge geschmack— voll einzukleiden; ihr Revanchegedanke hat oft Ausdruck gefunden in dem Bilde der beiden Töchter, die von der Mutter gerissen sind, ein sehr hübsches Bild; aber an Revanche würde man in Frankreich auch dann denken, wenn die Töchter der Mutter erhalten geblieben wären. Unausgesetzt hat die französische Nation — und das gereicht ihr nach meiner Ueberzeugung zur Ehre — seit dem Kriege 1870 kein Opfer gescheut, um ihre Rüstung zu vervollständigen.
Es ist nicht meines Amtes hier, in militärische Einzelheiten ein—⸗ zugehen, das wird von den militärischen Vertretern der verbündeten Regierungen seiner Zeit geschehen. Ich kann aber als ein Factum, das Sie wahrscheinlich alle zugeben werden, anführen, daß in der Weise, in der die französische Rüstung sich ihrer Vollendung näherte, auch das französische Selbstbewußtsein stieg; mit dem steigenden Selbstbewußtsein kam der Gedanke: sind wir jetzt wohl wieder bündnißfähig? — und mit der Bejahung dieses Gedankens der Wunsch, ein Bündniß zu schließen. Daß, wenn Frankreich heut zu Tage ein Bündniß schließt, der Gedanke, der es dabei leitet, nur der sein kann, eine Revision der europäischen Karte vorzunehmen, ist zweifellos. Daß also ein solches Bündniß, das Frankreich schlösse, nicht wie die Bündnisse, die wir geschlossen haben, einen defensiven Charakter tragen würde, ist ebenso zweifellos.
Anders liegen unsere Verhältnisse nach der anderen Grenze. Von Alters her haben Rußland und Preußen freundschaftliche Beziehungen mit einander verbunden. Es giebt nicht den mindesten realen Streitpunkt zwischen Rußland und Deutschland, nicht das Mindeste, was wir von Rußland begehrten, und daß Rußland zur Zeit ge⸗ neigt sein sollte, von uns etwas zu begehren in einer Zeit, wo es mit seiner eigenen Unifikation noch so stark beschäftigt ist, glaube ich nicht. Wenn schon hierin eine Bürgschaft dafür liegt, daß wir im Grunde in guten Beziehungen zu Rußland weiter leben könnten und müßten, so liegt nach meiner Ansicht eine noch stärkere in der Person Seiner Majestät des Kaisers von Rußland. Der jetzige Kaiser von Rußland ist durch seine hochherzige und friedliche Gesinnung einer der stärksten Factoren für die Erhaltung des Friedens in Europa. (Bravo!)
Und ich freue mich aussprechen zu können, daß ich auf Grund guter Autorität weiß, wie der Kaiser von Rußland die friedliche und loyale Politik, die ich auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers führe, zu würdigen weiß. (Bravo!)
Ich bedaure, daß diese Hochschätzung des Zaren in Deutschland nicht allgemein getheilt wird, nicht einmal so weit getheilt wird, daß unsere Presse Anstand nähme, sich an der Person dieses Monarchen zu vergreifen. Ich habe vor wenigen Wochen mit aufrichtigem Be⸗ dauern in einem Witzblatt eine Zeichnung gesehen, die geeignet war, den hohen Herrn in einem — ich will mich milde ausdrücken: sehr falschen Lichte darzustellen, und ich habe noch mehr bedauert, daß unser Preßgesetz uns nicht die Möglichkeit gab, gegen diese Aus— schreitung vorzugehen. (Bravo! rechts. Hört, hört! links.)
Aber bei all diesen Momenten, die auf der russischen Seite in die Waagschale des Friedens fallen, kann ich doch nicht verkennen, daß andere Momente da sind, die in die andere Waagschale fallen.
Es ist in den weitesten Kreisen der russischen Nation eine Ver— stimmung verbreitet, eine Verstimmung, die sich gegen uns richtet, deren innere Gründe schwer abzusehen sind. Sie datirt in ihren Anfängen wohl zurück auf den Krimkrieg; sie ist dann vermehrt worden durch den Haß, den man in Rußland gegen die in Rußland lebenden Deutschen hatte, einen Haß, der sich dann über die Grenzen fortpflanzte und der auch stieg mit unseren Waffen erfolgen und leider auch mit den diplomatischen Erfolgen, die mein
Herr Amtsvorgänger im Interesse Rußlands davongetragen hat. Wir müssen mit dieser Verstimmung rechnen, wie mit einer elementaren Kraft, sie wirkt mit der Sicherheit eines Naturgesetzes. Und wenn wir auch die Hoffnung nicht aufgeben können, daß sie einmal rückläufig werden wird, so ist bis jetzt doch davon keine Spur vorhanden. Die russische Politik ist gewohnt, mit großen Zeiträumen zu rechnen. Auch die russische Militärverwaltung rechnet mit längeren Zeiträumen, als andere, und sie geht periodisch, aber sicher und zielbewußt in ihren Rüstungen weiter. Sie ist noch nicht am Ende; sie ist jetzt auf ein Procent der Bevölkerung angekommen mit ihrem Friedens⸗ präsenzstande, ich halte es für wahrscheinlich, daß das noch weiter gehen wird; sie ist organisatorisch nicht am Ende; sie ist technisch nicht am Ende, sie ist im Begriff, ein neues Gewehr einzuführen. Aber das, was sie bis jetzt gemacht hat, reicht schon hin, um unsere ernste Aufmerksamkeit zu verdienen. Nicht daß das, was geschehen ist, darauf schließen ließe, daß wir in naher Zeit vor einem Kriege mit Rußland stünden; aber es läßt darauf schließen, daß Rußland glaubt, sein nächster Krieg werde nicht nach Süden, sondern werde nach Westen geführt werden.
Zielbewußt geht die russische Militärverwaltung ganz langsam in ihren Dislocationen weiter und wird dabei sichtlich von dem ja ganz verständlichen, natürlichen Motiv geleitet, den Mängeln, die das russische Eisenbahnnetz für den Kriegsfall bietet, allmählich mehr und mehr dadurch abzuhelfen, daß die Truppendislocation sich diesem Eisenbahnnetze anpaßt. Allmählich formirt man neue Trupxentheile, schiebt minderwerthige Reserveformationen, Localtruppen in das Innere von Rußland und zieht dafür immer mehr gute Truppen nach dem Westen. Ganz zielbewußt hat die russische Regierung uns gegenüber ihre Grenzen von Kowno an über Grodno längs der Narew und Weichsel immer mehr befestigt. Zielbewußt hat die russische Regierung
ihre Cavalleriemassen an unsere Grenzen gelegt; wahrscheinlich wird
sie sich nicht dem Glauben hingeben, damit wesentliche militärische Resultate zu erreichen. Sie wird aber hoffen, daß es ihr gelingt, auf diesem Wege unsere Mobilmachung zu stören.
Es liegt also ein Zustand vor, der heute ebensowenig etwas Be⸗ sonderes und Aengstliches hat, wie er es vor einem Jahre hatte, ein Zustand aber, der, wenn wir die Augen dagegen schlössen, uns gefähr⸗ lich werden müßte, und der uns zur Pflicht macht, mit einem Krieg gegen Rußland zu rechnen.
Bei aller Hochachtung und Werthschätzung der Friedensliebe des jetzt regierenden Kaisers von Rußland darf doch nicht vergessen werden, daß zu einer Zeit, wo unser alter Kaiser Wilhelm noch lebte und durch eine innige Freundschaft mit dem Kaiser Alexander II. ver⸗ bunden war, von meinem Herrn Amtsvorgänger, hier von einer voll⸗ ständigen Kriegs drohung von Rußlands competentester Seite ge⸗ sprochen worden ist. Ich glaube, daß auch heute die Verhältnisse der beiden Monarchen so gut wie möglich sind, daß ebensowenig ein realer Kriegsgrund vorliegt, wie zu der Zeit, von der der Fürst sprach. Aber auch das kann wiederum geschehen; es kann der jetzt regierende Kaiser von Rußland in eine Lage kommen, wo es ihm als dem Souverän eines großen Staats nicht anders möglich ist, als zum Krieg zu schreiten.
Man hat der jetzigen Regierung den Vorwurf gemacht, wir hätten den Draht zerrissen, der uns mit Rußland verbunden hätte. Dem widerspreche ich ganz bestimmt. (Hört! hört!) Wir haben alle Sorgfalt darauf verwendet, diesen Draht zu er⸗ halten; wir wünschen nur nicht, daß er uns den Strom aus den— jenigen Leitungen nimmt, die uns mit Oesterreich⸗ Ungarn und Italien verbinden. (Sehr guth
Es ist zweifellos, daß zwischen Rußland und Frankreich eine innere Annäherung stattgefunden hat, und nicht erst, seitdem die jetzige Regierung am Ruder ist; die Anfänge dieser Annäherung werden auf die siebziger Jahre zurückdatirt, nur ist sie mit der Zeit immer sichtbarer hervorgetreten; sie ist so sehr hervorgetreten, daß es wohl möglich war, ihre Symptome wie Kronstadt und andere unbedeutendere Ereignisse so auszulegen, als wenn in der That ein festes Bündniß zwischen Rußland und Frankreich existirte, und immerhin sind die Aeußerungen auch der russischen Presse in dieser Beziehung doch beachtenswerth. Ich bin nicht der Meinung, daß die russische Presse Druckerschwärze ist, sondern ich bin der Meinung, daß gerade in einem Lande, wo die Staatsgewalt noch so stark ist, die Preßäußerungen um so eher Beachtung verdienen, als es der Re⸗ gierung leickt sein würde, sie zu hindern. (Sehr richtig.)
Ich kann nicht verkennen, daß die Haltung der russischen Presse gegen uns seit der Annäherung an Frankreich nicht an Freundlichkeit gewonnen hat. Ich will dabei auch nicht verschweigen, daß auch unsere Presse, wie mir scheint, nicht selten über das Maß hinaus— gegangen ist. Immerhin läßt sich ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Auftreten der russischen Presse und der Annäherung an Frankreich nicht leugnen.
Ein französisches Blatt brachte vor einiger Zeit einen Artikel, der war überschrieben: Flirt on Alliance, Kurmacherei oder Ehebündniß. Das Blatt wußte selbst nicht, in welchem Verhältnisse es sich Frankreich zu Rußland denken sollte, und wenn es die Fran— zosen selbst noch nicht wissen, können wir annehmen, daß der Bund noch kein allzu enger geworden ist; eine Annahme, für die auch sehr gewichtige andere Anzeichen sprechen. Aber immerhin, zwei Liebende spielen mit Feuer, sie zünden von Zeit zu Zeit Freudenfeuer an, deren Funken über unsern Hof fliegen, und wir haben allen Anlaß, unser Löschgeräth in Stand zu halten, und wenn es uns nicht vollständig genug scheint, es zu er— gänzen. Wir können gegenüber einer Annäherung von Frankreich an Rußland weder Elsaß⸗Lothringen aufgeben, noch unsere Beziehungen zu Oesterreich⸗Ungarn und zu Italien preisgeben. Ich wiederhole: es liegt auch in diesen Verhältnissen nichts Acutes, aber es sind elementare Kräfte da, deren Schwergewicht immer mehr dahin drängt, daß wir genöthigt sind, uns die Frage vorzulegen: ist unsere Wehrkraft den künftigen Aufgaben noch gewachsen, oder ist sie es nicht mehr? Wenn wir unsere Wehrkraft verstärken und dabei auch an Rußland denken, so liegt darin nicht das mindeste Moment, was für Rußland be⸗ drohlich sein könnte. Ich will nur daran erinnern, daß wir nach dem Jahre 1815, zurückkehrend aus einer Campagne, die wir mit Rußland zusammen durchgemacht haben, anfingen, unsere Festungen nach dem Osten zu bauen, wir haben die Garnisonen vermehrt, unser Eisen⸗ bahnnetz darauf mehr eingerichtet, noch in den letzten Jahren unsere Dislocationen vermehrt, ohne irgend eine aggressive Absicht gegen Ruß⸗ land zu haben. In demselben Rahmen bleiben wir auch jetzt: wir wollen weder Frankreich noch Rußland angreifen, wir wollen aber
für den Fall, daß diese beiden Staaten sich mehr einander nähern
sollten, alle Mittel aufbieten, die uns zur Verfügung stehen, um einen etwaigen Angriff zurückweisen zu können. Wir stehen vor der Noth⸗ wendigkeit, wenn wir an einen künftigen Krieg denken, uns den mit zwei Fronten zu denken, und zwar nicht als die Ausnahme, sondern als den wahrscheinlichen Fall. Schon in der Vorlage zu dem Gesetz behufs Vermehrung der Wehrkraft von 1888 haben die verbündeten Regierungen ausgesprochen, daß der Krieg mit zwei Fronten ins Auge gefaßt werden müßte, und von dieser Stelle hier ist Ihnen das aufs nachdrücklichste und wirksamste vorgeführt worden. Es liegt ja auch auf der flachen Hand, daß, wenn Rußland die Neigung haben sollte, uns mit Krieg zu überziehen, das Bündniß von Frankreich ihm jeden Tag zur Verfügung steht.
Ob, wenn Frankreich uns angriffe, ein russischer Angriff eben so sicher und mit derselben Schnelligkeit zu erwarten wäre, das will ich dahingestellt sein lassen. Immerhin aber würde das Dasein von Ruß⸗ land uns nöthigen, an unserer Grenze Kräfte stehen zu lassen, die dem, was wir gegen Frankreich aufzubieten haben, abgehen würden.
Ich glaube, gegen die Erwägung, daß wir mit dem Kriege mit zwei Fronten zu rechnen gezwungen sind, läßt sich schwer etwas ein—⸗ wenden, und ich darf mich auf die Ausführungen meiner militärischen Herren Collegen beziehen, wenn ich die Behauptung aufstelle, daß wir dem nicht gewachsen sind. Auch das letztere ist ziemlich allgemein anerkannt worden, man hat aber gesagt: Ja, wenn wir einen Krieg mit zwei Fronten führen sollen, so werden wir niemals stark genug werden, um nach beiden Seiten zu schlagen. Das ist ein Motiv, was ich mit tiefer Betrübniß gelesen habe; denn in seiner Consequenz würde dies doch nichts anderes heißen, als: Wenn wir, einmal mit Uebermacht angegriffen würden, so wollen wir uns gar nicht vertheidigen. Das ist doch ein für Deutsche unmöglicher Gedanke und ich will nur erinnern an die Männer von 1813, die vom Jahre 1807 bis 1813 unaufhörlich im kleinen Preußen schufen, die Wehrkraft zu vermehren suchten, bis sie sie auf zwölf Infanterie⸗Regimenter gebracht hatten. Was würden die Männer gesagt haben und welch' heiliger Zorn würde sich von den Zungen dieser Männer auf uns ergießen, wenn sie uns von der Möglichkeit sprechen hörten, daß,
weil wir einmal nicht so stark wären, wie andere, wir unsere Ver—⸗
theidigung aufgeben wollten. Diese Männer haben damals im kleinen Preußen gegen die Weltmacht eines Napoleon gerüstet und sind zum Erfolg gekommen, und wir sollten nicht weiter gehen, als wir bisher gegangen sind, wir sollten nicht an die äußerste Grenze des Mög— lichen in Bezug auf unsere militärische Leistungsfähigkeit zu gehen bereit sein, bloß weil Fälle denkbar sind, in denen andere noch stärker sind? Das halte ich für unmöglich.
Ueberdies ist das ja klar: unsere ganze Machtstellung, unsere Weltstellung hängt von unserer militärischen Leistungsfähigkeit ab. Jede politische Frage reducirt sich zuletzt auf einen militärischen Factor. Auch das größte politische Geschick wird in seinen letzten Handlungen gebunden durch die Frage: welche militärischen Consequenzen kann ich meinen Entschließungen geben, und es liegt auf der Hand, daß, je stärker wir sind, um so eher werden wir auch in schwierigen Fällen auf Bundesgenossen rechnen können. Wir können aber schon heute auf Bundesgenossen rechnen und auf Bundesgenossen, deren Werth ich sehr hoch schätze. Der Dreibund ist vielleicht in keiner der drei Nationen so populär wie bei uns, und ich glaube, die Nation rechnet es meinem Herrn Amtsvorgänger als eines seiner größten Werke an, daß er diesen Dreibund geschaffen hat. (3ustimmung links.)
Wir halten an dem fest und sind überzeugt, daß unsere Ver⸗ bündeten ebenso fest daran halten. Daraus folgt aber wiederum nicht, daß wir nun nicht mit uns zu Rathe gehen müßten, ob wir wirklich stark genug sind, ob der Dreibund als Ganzes auch stark ist, und ich glaube, daß Ihnen da wiederum von militärischer Seite wird der Nachweis geführt werden können, daß, wenn Sie den Dreibund an— sehen, er nicht diejenige Truppenzahl aufzubringen im stande ist, die Frankreich und Rußland aufzubringen vermögen. Man hat jetzt viel — und zu meinem Bedauern viel von unberufener Seite — über diese Dinge geschrieben. Da sind die merkwürdigsten Behauptungen aufgestellt worden: der Dreibund läge militärisch sehr glücklich, er wäre auf der inneren Linie und es wäre nichts leichter, als die Italiener, wenn es nothwendig wäre, hierher zu bringen, uns auch vielleicht nach Italien, um dann gemeinsam irgendwo über einen schwächeren Gegner herzufallen. Es kann meine Aufgabe nicht sein, hier einen Cursus über Strategie zum besten zu geben. Ich kann mich auf die Versicherung beschränken, daß bei diesen Erörterungen An⸗ sichten zu Tage gekommen sind, die, wenn sie jemand vorbrächte, der das Examen zur Kriegs⸗Akademie machen soll, er sicherlich nicht zu⸗ gelassen werden würde. Jeder Coalitionskrieg hat seine Schwierig⸗ keiten. Wir haben Schwierigkeiten, die ein einfacher Blick auf den Atlas ergeben kann: auf der einen Seite springt das Gouvernement Warschau sehr tief zwischen Galizien und Ostpreußen ein und auf der anderen Seite die Schweiz mit ihrer international⸗garantirten und unantastbaren Neutralität. Das allein sind Umstände, die einen gemeinsamen Gebrauch der Truppen überaus erschweren würden, selbst wenn man in einen solchen gemeinsamen Gebrauch überall ein⸗ willigte. Auch hier hat man einen Einwand gemacht und hat gesagt: ja, warum soll Deutschland immer weiter rüsten, nun laßt doch einmal die Italiener und Oesterreicher antreten und es Sache der deutschen Regierung sein, daß sie dafür sorgt, daß Oesterreich und Italien auch das Ihrige thun. Ich glaube, daß das das Verkehrteste wäre, was wir thun können. Die deutsche Regierung hat sich von jeher gescheut, in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzu⸗ greifen, sie hat diese Scheu auch noch jetzt, und ob wir etwas Anderes durch solche vermeintlichen guten Rathschläge erreichen würden als unsere Verbündeten zu verstimmen, ist mir sehr fraglich. Ich glaube, es ist viel besser, daß sie sich auf uns verlassen, ebenso wie wir uns auf sie verlassen, und sind ebenso überzeugt, wie sie es sein können, daß, wenn einmal der große Krieg kommen wird, alle drei Staaten ihr Bestes einsetzen werden. Uebrigens lassen fich solche Bündnisse in Betreff auf die Truppenzahl gar nicht con- tingentiren. Wenn Deutschland und Oesterreich eine Campagne in Schleswig-Holstein anfangen, so kann man sehr wohl sagen: ich stelle so viel und du stellst so viel. Das ist bei einem Zukunftskriege ausgeschlossen, das ist ausgeschlossen bei einem Bündniß, das nicht auf den Krieg geschlossen ist, sondern auf die Erhaltung eines langen Friedens. Wenn wir wirklich besätimmte Zahlen im Bündniß fest⸗ gesetzt hätten, wer stände uns dann dafür — den Fall, daß unsere Bundesgenossen nicht gewillt sein sollten, sich gegenseitig mit dem Aeußersten zu unterstützen, halte ich allerdings für undenkbar, — daß
doch nicht einmal einer sagt: ich brauche so und so viel Armee⸗Corps, um meine Küsten zu schützen, oder um da und da eine Reserve⸗ Armee aufzustellen. Gegen eine solche Verwendung würde auch eine Contingentirung des Bündnisses niemals schützen können. Immer wird das bestehen bleiben, daß wir im Dreibund, wenn es zum Kriege kommt, die Hauptlast auf unsere Schultern zu nehmen haben. Das ist auch insofern keine Unbilligkeit, als wir von den drei Staaten der einzige sein werden, der genöthigt ist, nach zwei Seiten zu schlagen. Wenn man nun die Sache so ansiebt, wie ich versucht habe, es hier zu entwickeln, so entsteht die weitere Frage: wie ist es nun gekommen, daß Deutschland in eine Lage versetzt worden ist, in der es die militärische Suprematie über Europa, die es in den Jahren 1870/71 hatte, verloren hat? Das ist gekommen auf eine sehr einfache Weise, ohne jede Schuld seitens Deutschlands und der deutschen Verwaltung. Die deutsche Armee und das deutsche Volk haben seit dem Jahre 1870 nicht auf ihren Lorbeeren geruht, sie haben mit einem Fleiße gearbeitet, wie ihn die Armee vorher noch nie gesehen hat, mit einem Fleiße, betreffs dessen man Bedenken haben kann, daß ein Theil der Kräfte von Offizieren und Unter— offizieren zu früh ruinirt werden wird. Ich muß auch anerkennen, daß von Seiten des Reichstags das Möglichste geschehen ist, um die Mittel für die Armee zu beschaffen, die die verbündeten Regierungen für nöthig hielten; aber ist es denn nicht ganz natürlich, daß nach
einem großen und schweren Kriege, der bald auf zwei andere Kriege ge—
folgt war, der Sieger weniger die Neigung hat, Opfer zu bringen, als der Besiegte?
Naturgemäß kommt der Sieger mit dem Gefühl nach Hause, daß er satt ist, wir Deutsche überdies mit dem glücklichen Gefühl, daß wir endlich geeinigt waren. Wir haben auf diese Einigung auch in der Beziehung von je her gehofft, daß wir annahmen: ist erst Deutschland geeinigt, so wird dieses große einige Volk eine hinreichende Armee aufstellen können, ohne daß einzelne Theile so unverhältnißmäßig schwer belastet werden, wie das früher war. Es ist natürlich, daß man nach Sedan in einer anderen Stimmung ist, wie nach Jena und Auerstädt. Es ist natürlich, daß der Sieger sich die Frage stellt, mit welchem Minimum von Leistungen kann ich die Früchte meines Sieges erhalten, während der Besiegte sich fragt, welches Maximum von Leistungen kann ich aufbringen, um das, was ich verloren habe, wiederzubekommen. Es ist also, wenn die deutsche Suprematie nach und nach in ein Gleichgewicht mit unseren Nachbarn übergegangen ist, der Grund lediglich darin zu suchen, daß unsere Nachbarn ihre Wehr⸗ kraft in einer Weise gesteigert haben, die wir nicht vorhersahen.
Aus diesem Unterschied zwischen Sieger und Besiegten ist denn
auch naturgemäß die Weise, wie wir unsere Wehrkraft entwickelt
haben, zu erklären.
In Frankreich, und in Rußland nach dem Türkenkrieg, wo die Russen zwar Sieger, aber nicht überall von ihren eigenen Zu— ständen befriedigt waren, hat man sich die Frage vorgelegt, welches System werden wir annehmen, worauf werden wir abzielen, in langen Jahren, und man hat systematisch Schritt für Schritt die Wehrkraft verstärkt. Wir scheuten uns, wir nahmen Rücksicht auf die wirth— schaftlichen, auf die finanziellen Verhältnisse — durchaus be— rechtigte Rücksichten, aber Rücksichten, die uns nach und nach dahin führten, daß wir einmal mit „Augen rechts“ und einmal mit „Augen links“ immer einen kleinen Schritt vorwärts machten, daß wir das Bestreben hatten, nicht von rechts oder links überflügelt zu werden, daß wir nachhinkten, statt systematisch vorzugehen. So sind wir zu einer Reihe von Nothbehelfen gekommen, die an sich wirksam waren, zum theil aber wirksam ad hoc, die in Lagen ergriffen wurden, in Momenten, wo man glaubte, man stehe vor dem nahen Kriege, wo man schnell eine Abhilfe traf. Da wir jetzt nicht glauben, vor einem nahen Kriege zu stehen, da wir aber doch auf der anderen Seite glauben, mit einem Kriege rechnen zu müssen, so schlagen wir Ihnen Maßregeln vor, die nicht ad hoc getroffen sind, die langsam und sicher, aber besser wirken werden.
Eine der ersten Maßregeln, die man ergriff, war die — und zwar fing das in Preußen schon bald nach der Reorganisation der Armee an —, daß man die Zahl der Dispositionsurlauber ver⸗ mehrte. Man hatte in alten Zeiten, am Ende der 50er Jahre, 5 Königsurlauber für die Compagnie der Infanterie. Man erkannte bald, daß man damit nicht im stande war, den Beurlaubtenstand zu schaffen, den man für den Kriegsfall brauchte. Es bot sich ein einfaches, kostenloses Mittel: man vermehrte die Zahl der Dis— positionsurlauber. Man bekam also immer weniger Leute, die drei Jahre dienten, und immer mehr Leute, die zwei Jahre dienten. Die Maßregel hat sehr verschieden gewirkt, konnte auch sehr verschieden ausgeführt werden, und bei allem Bestreben der militärischen Be⸗ hörden, gerecht zu sein, ist es nicht möglich, vom militärischen Stand— punkt aus zu beurtheilen, zu vergleichen: ist der Mann aus diesem Kreise zu Hause nöthiger wie der Mann aus einem anderen Kreise ? Sehr viel spielt die mehr oder weniger lebhafte und farbenvolle Darstellung der häuslichen Verhältnisse mit, wenn über Dispositions⸗ urlaub entschieden wird. Wir sind dadurch nach und nach zu einem System gekommen, von dem die allgemeine Meinung doch wohl da— hin geht, daß es nicht länger beibehalten werden kann.
Ein zweites Auskunftsmittel war die Schöpfung der Ersatzreserve. Zuerst erfand man sie, und dann erfand man ihre Uebungspflicht. Man ließ also alle Jahre eine gewisse Anzahl von Infanteristen auf zehn Wochen ein zweites Jahr weniger, ein drittes Jahr noch weniger üben, um damit unsere Cadres im Kriegsfalle auszufüllen. Auch das Mittel war kein glückliches, denn in zehn Wochen kann man heut zu Tage aus einem Mann, der aus der Heimath kommt, einen Soldaten unmöglich machen. Indessen das Mittel wirkte immerhin insofern, als es uns schnell eine gewisse Anzahl von Leuten gab, die wie Sol⸗ daten aussahen und wenig kosteten.
Das dritte Mittel wurde im Jahre 1888 gewählt, erst recht ein Mittel ad hoc, ein Mittel, das man ergreifen konnte und ergreifen mußte, wenn man, wie das damals der Fall war, vor einem nahen Kriege zu stehen glaubt; man gab einfach ein Gesetz, das die Landwehr zweiten Aufgebots wieder aufleben ließ.
Nun bitte ich mit Ihren Erinnerungen zurückzugehen auf die preußische Reorganisation vom Jahre 1861. Der Grund zu dieser Reorganisation lag darin, daß man in den Jahren 1848/50 und bei der Mobilmachung von 1869 erkannt hatfe, daß Landwehr und Linie in dieselben Verbände zu stellen nicht räthlich sei. Wir hatten bis zum Jahre 1861 jede Infanterie⸗Brigade formirt aus einem Infanterie⸗Regiment und einem Landwehr⸗Regiment. Dem Uebel⸗ stande sollte abgeholfen werden: Man wollte die Landwehr ihrer
ursprünglichen Bestimmung, das Land zu wahren, mehr zuwenden; sie sollte die Festungen besetzen, sie sollte aber nicht mehr in erster Linie mit ins Feld geführt werden. Das Gesetz vom Jahre 1867 gab dem Ausdruck. Allmählich verschwanden die älteren Jahrgänge der Landwehr aus den Listen unseres Beurlaubtenstandes. Es sollte nur bleiben das, was früher Landwehr ersten Aufgebots gehießen hatte, und die sollte für Besatzung der Festungen bestimmt sein. Mit dem Gesetz vom Jahre 1888 glaubte man, wie es damals gesagt wurde eine vierte Großmacht von 700 000 Mann schnell zu schaffen. Ich habe Zweifel, ob dieses Mittel die Wirkung einer vierten Großmacht gehabt haben würde, ich gebe aber zu, wie die Verhältnisse damals lagͤͤn, war es das Einzige, was schnelle Abhülfe schaffen konnte. Man verlängerte also die Dienstpflicht bis auf das 39. Jahr, nachdem man sie bei der Reorganisation bis auf das 32. herunter— gebracht hatte, und man verlängerte die Landsturmpflicht bis auf das 45. Jahr. Mit diesen Maßregeln waren Uebelstände verbunden, Uebelstände nicht bloß militärischer Art, sondern Uebelstände, die auf die Nation im ganzen zurückwirken mußten. Man hatte sich von der allgemeinen Wehrpflicht getrennt; es waren Ungleich⸗ heiten in Bezug auf die Pflichten eingetreten, nicht bloß Ungleich⸗ heiten, wie wir sie jetzt bestehen lassen wollen zwischen Menschen, die reiten, und Menschen, die zu Fuß gehen, sondern Ungleichheiten in denselben Truppentheilen. Man hatte in einem Infanterie⸗Regi⸗ ment in einer Compagnie Leute, die 3 Jahre dienten, dann kamen Leute, die 2 Jahre dienten, dann kamen Einjährige und dann kamen Ersatzreser⸗ visten mit 0 Wochen. Das war eine Einrichtung, die das Volksbewußt⸗ sein verletzte, und die nicht dahin führen konnte, den alten preußischen Grundsatz aufrecht und dem Volke lieb zu erhalten, daß die Verthei⸗ digung des Vaterlandes mit der Waffe die höchste Ehre für den Mann ist. Durch diese Ungleichheiten in der Dienstpflicht kam ein Bestreben hinein, loszukommen, ein Bestreben, das die Armee und das Volk in ihrem innersten Wesen schädigen mußte. Es wurde dieses verschärft durch die kurze Dienstzeit der Ersatzreservisten, es wurde dadurch auch ein Nachtheil in die Truppe gebracht, denn natur— gemäß fragt sich der Mann, den man drei Jahre bei der F behält, wenn man andere nach zehn Wochen entläßt, warum muß ich denn 3 Jahre dienen? und die Neigung, nach Hause zu kommen, wird in der Armee immer mehr verstärkt. Man hatte also Mitteln gegriffen, die sittlich nach meiner Ueberzeugung für Volk und für die Armee nicht unbedenklich waren.
Noch mehr fteigerte sich dieses dadurch, daß man sich vornahm, im Kriege alte Leute einzuberufen, während iunge Leute entweder zu Hause blieben, oder erst allmählich einberufen wurden, und vor dem Feinde erschienen sein würden, wenn die Alten ihr Blut bereits ver— gossen hatten. Im Jahre 1889 erkannte der damalige Kriegs— Minister die Nothwendigkeit, eine durchgreifende Reform einzuführen und mit diesen Uebelständen, soweit es möglich wäre, zu brechen, die Armee zu vermehren, sie in den Stand zu setzen, daß sie nicht, schon in den ersten Augenblicken nach Ausbruch des Krieges genöthigt wäre, ihre ältesten Leute gegen den Feind zu führen. Im Sommer 1889 hatten zwischen dem damaligen Kriegs⸗Minister und dem damaligen Reichskanzler Verhandlungen stattgefunden, die in einem Schreiben des Kriegs-Ministers von Verdy am 8. März 1890 ihren Abschluß fanden, in welchem er sagt, „daß wir nicht länger zögern können, auch unsererseits alles aufzubieten, wollen wir nicht die Zukunft des Deutschen Reichs gefährdet sehen. Und dann:
Es hat sich bei unseren Mehrforderungen in den letzten Jahren stets darum gehandelt, durch verhältnißmäßig kleine Maßnahmen das Gleichgewicht der Kräfte zu erhalten. Jetzt läßt es sich nicht länger hinausschieben, unsere Heeresorganisation wesentlich zu er⸗ weitern.
Am Tage darauf hielt das preußische Staats-Ministerium eine Sitzung ab. Der General von Verdy entwickelte das Project und that dabei dar, daß die fortlaufenden jährlichen Kosten sich bei Durch—⸗ führung des Projects auf 117 Millionen Mark belaufen würden. Der Fürst Bismarck äußerte sich, daß es sich bei der bevorstehenden Vermehrung unserer Wehrkraft nicht um die Abwehr einer ein— maligen Bedrohung handele, sondern um die dauernde Abwehr etwaiger Bedrohungen, zu welchen die Lage Deutschlands Veranlassung geben könnte. Es würde daher erforderlich sein, die Einnahmen dauernd zu erhöhen, um sie den militärischen Bedürfnissen anzupassen. Am 12. März 1890 fand über denselben Gegenstand die zweite Sitzung des Staats⸗Ministeriums statt, und das Staats⸗Ministerium be schloß, daß die Vorlage mit thunlichster Beschleunigung bearbeitet und vorgelegt werden sollte.
Ich befinde mich ganz auf demselben Standpunkt, auf dem sich hier der Fürst Bismarck und General von Verdy befunden haben. Ich habe ganz dieselbe Ueberzeugung von der Nothwendigkeit und Unaufschiebbarkeit der Vermehrung unserer Wehrkraft. Aber ich habe mir gesagt und bin darin durch den Verlauf der Session 1890 mit den Windthorst'schen Resolutionen bestärkt worden: das, was hier als Project vorlag, ist nicht durchzusetzen mit diesem Reichstag; wir werden uns den Verhältnissen anpassen und untersuchen müssen: was ist das unumgänglich Nothwendige? wie können wir das Pro⸗ ject beschränken, um wirthschaftlich und finanziell den gebotenen Rück⸗ sichten gerecht zu werden? Wir haben den Gedanken nicht wieder fallen lassen, er ist immer weiter fortgepflegt worden und hat in dieser Vorlage seinen Ausdruck gefunden. Wir haben noch heute personell nach meiner Ueberzeugung die Ueberlegenheit über jede andere Armee; unsere Generale sind besser, unsere Offiziere sind besser und unser Mann ist besser. Wir haben die Möglichkeit, unsere Stellung zu er⸗ halten; aber woran es fehlt, das ist die Stärke und die Orga— nisation. Wir sind zu schwach, zu alt und zu lose in Bezug auf unsere Kriegsorganisation, und wir wollen verstärken, verjüngen und verbessern.
Wir wollen verstärken. Die Vorlage, die Ihnen gemacht wird, giebt die Zahl an. Wir wollen in Bezug auf die Gemeinen auf eine Zahl von 492 068 Mann als Jahresdurchschnitt hinkommen. Die Erhöhung beträgt, die Unteroffiziere inbegriffen, 83 854. Das sind er— hebliche Zahlen. Aber ich möchte — ohne mich auf militärische Er— örterungen, auf Zahlenvergleiche mit anderen Staaten einzulassen — zunächst einen Einwand abzuwenden suchen, den man gemacht hat. Ich selber habe dasz französische Wort rage des nomhres. in diesem Reichstag eingeführt, und man hat in der Presse weidlich auf diesem Pferde herumgeritten und behauptet: wie kann dieselbe Re⸗ gierung, die von der rage des nombres gesprochen hat, jetzt mit einer solchen Vermehrung des Heeres kommen? Zunächst mchte ich da⸗ gegen erwidern, daß, wenn man einen hohen Werth auf die Güte der
Truppen legt, doch zuletzt immer ein Maß kommt, in dem die Zahl