wurden, weil sie die Bahn zu hoch ankauften. Daß zu jener Zeit manches hinter den Coulissen vorgegangen ist, bekundet auch die, Magde⸗ burger Zeitung“ aus jenen Tagen. ie schrieb: Eine Geschichte jener Vorgänge werde erst geschrieben werden müssen und erst die Zukunft würde den Schleier von den Vorgängen in den Ministerialbureaus ziehen. Ich habe in der That nichts weiter gesagt, als ich von Coulissenverhandlungen sprach, und darüber ist ein Entrüstungssturm ausgebrochen, wie er sonst nicht, auszu⸗ brechen pflegt. (Lachen. Durch den. Eisenbahnankauf ist der Volkswohlstand in unerhörter Weise geschädigt worden. Selbstverständlich war man zur rechten 34 davon unter⸗ richtet, daß die Bahnen angekauft werden sollten, die Actien wurden niedrig aufgekauft, unser Volk hatte den Schaden und die Finaneiers einen doppelten Nutzen bei Gründung und bei Verkauf der Bahnen. Es ist jetzt schwer, aus den Bilanzen herauszuziehen, welche Bahnen Ueberschüsse bringen und welche noch Zuschüsse verlangen.
Präsident von Levetzow: Herr Abg. Ahlwardt, ich bitte Sie, bei der Sache zu bleiben. Welche von Ihren Behauptungen wollen Sie durch diese Ausführungen beweisen?
Abg. Ahlwardt (fortfahrend): Ich will dadurch beweisen, daß der Invalidenfonds durch Ankäufe von Obligationen in große Gefahr gekommen ist und nur dadurch gerettet werden konnte, daß der preußische Staat die Bahnen ankaufte. ⸗ .
Präsident von Levetzow: Sie haben frühere oder gegenwärtige Mitglieder des Reichstags oder des Bundesraths beschuldigt. Wollen Sie bei dieser Sache bleiben? .
Abg. Ahlwardt (fortfahrend): Dann kann ich über das Referat des Abg. Dr. von Cuny nicht weiter sprechen. Ich gehe über zu dem Referat des Abg. Dr. Porsch. Das von mir vorgelegte Actenmaterial besteht aus Originalen, Abschriften, Originalcopien und zerrissenen Briefen. Der Referent hat sich darüber aufgehalten, daß von den Abschriften noch einmal Abschriften angefertigt seien, und daß darin ein Name wegradirt oder weggelassen sei. Den , Vorwurf einer absichtlichen Täuschung muß ich entschieden zurückweisen. Die Meißner'schen Originale oder Abschriften befanden sich bei mir zu Hause. Ich ließ sie durch einen jungen Mann abschreiben, und zwar zu dem Zweck, um sie denjenigen Abgeordneten vorzulegen, deren Unterschriften ich für meinen Antrag haben wollte. Das Original war in meinem Hause, und ich begreife nicht, wie der Referent auf die Vermuthung kommen konnte, daß das Weglassen oder Wegradiren eines Namens für den Werth oder Unwerth der Abschriften irgend eine Be— deutung hätte. Der Abschreiber hat sich natürlich ebenso gut darüber ge—⸗ wundert, daß der Name Meißner neben Miquel stand, wie ich und die Commission. Ich kam auf die Vermuthung, Meißner hätte seinen Namen nur als Beweis dafür hingeschrieben, daß die Abschrift mit dem Original übereinstimmte. Nachher hat sich die Sache auf— geklärt. Die rumänische Bahn war von hr. Strousberg gegründet worden. Da Strousberg glaubte, er würde in Rumänien wenig Vertrauen finden, verband er sich mit dem Fürsten von Pleß, dem Herzog von Ratibor und dem Grafen Lehndorf. Strousberg wurde dann plötzlich in Rußland verhaftet. Die Bahnen in Rumänien waren natürlich ebenso schlecht und theuer gebaut, wie ähnliche bei uns. (Rufe: Zur Sache!) . .
Präsident von Levetzow: Sie verlassen wiederum den Gegen— stand der Verhandlung. ͤ ,
Abg. Ahlwardt (fortfahrend):; Ich komme auf einen wichtigen Widerspruch, der sich herausgestellt hat zwischen dem preußischen Finanz-Minister und mir. (Stürmische Heiterkeit, Man hat es so dargestellt, als ob die Rumänische Bahn seitens der Digcontobank und von Bleichröder nur übernommen sei, um das deutsche Kapital zu retten, da der rumänische Staat mit Confiscation der Bahn gedroht hätte. Thatsache ist, daß der rumänische Staat sich bereit erklärt hatte, entweder die Bildung einer Gesellschaft zu gestatten und die Bahn mit Staatsgarantie weiter zu bauen oder noch lieber die Bahn selbst zu übernehmen und sämmtliche Strousberg'schen Actien mit 4060 zu verzinsen. Wäre das geschehen, dann wäre das deutsche Kapital nicht gefährdet worden. Nun bildete sich aber durch Herrn von Bleich⸗ röder und die Discontogesellschaft die Rumänische Eisenbahngesellschaft, und zwar dadurch, daß diese bisher ganz unbetheiligten Häuser die Actien kauften und außerdem in der Generalversammlung eine ganze Anzahl von Firmen gewannen. Nun, nachdem die Gesellschaft sich constituirt hatte — das ist hochwichtig — wurde Herr von Bleich⸗ röder Vorsitzender des Aufsichtsraths und die Herren von Hansemann und Miquel Mitglieder des Aufsichtsraths. Als Directoren wurden zwei Leute eingesetzt, die bisher Beamte bei der Discontobank gewesen waren, und zwar als Erster Director ein ehemaliger Unteroffizier beim Kaiser Alexander⸗Regiment und als Zweiter Director ein Herr Mitze. Zweifellos waren diese beiden eigentlich nur Strohpuppen. In den Büchern sind Ausgaben für die Presf⸗ angeführt, ganz erhebliche Be⸗ träge. Es ist von den Notizen, die in die Presse gebracht wurden, in den Commissionsberichten nur eine abgedruckt, die eine offenbare Un⸗ wahrheit enthält, wenn sie von einem Ueberschuß von sieben Millionen Mark redet, und die nur darauf ausgeht, das Publikum zu täuschen. (Präsident von Levetzow: Ob die Presse bestochen worden ist, ist uns hier ganz gleichgültig und hat mit der Sache nichts zu thun.) Was dann die Erklärung des preußischen Finanz⸗Ministers Dr. Miquel bezüglich der Zeichnung der 1060 000 „ betrifft, die nicht eine persön⸗ liche Zeichnung von ihm, sondern von Auftraggebern sei, so muß ich bemerken, daß mir die Sache nicht ganz ,,, ist. Es würde doch viel leichter gewesen sein, in die Zeichnungen der Disconto— gesellschaft die der , mit hineinzubeziehen. Im übrigen ist mir hochwichtig, daß Zeichnungen auch dann gemacht werden, wenn der Zeichner selbst sie nicht fuͤr rentabel hält. Bezüglich des Eides des Herrn Miquel ist hier gesagt worden, daß der Eid das nicht ent— halte, was ich in denselben hineinlegte. Aus dem Abdruck desselben in Beta's ‚Gründungsschwindel en gros“ ersehe ich, daß der Eid im großen und ganzen mit dem stenographischen Bericht übereinstimmt. Der Eid des Herrn Miquel ergiebt, daß seines Wissens 40,0 Zinsen und oo Provision gezahlt worden sind. Das ist nun irrthümlich, denn es sind nicht I 6, sondern 1 0 Provision gezahlt worden. Bezüglich des Zinssatzes ist eine Meinungsverschiedenheit entstanden zwischen dem Referenten und mir. (Gelächter. Es wurden für das Darlehn Ho o Zinsen und 40/0 Provision für drei Monate verlangt: bei Pro⸗— longirung sollte die Provision auf o/ herabgesetzt werden. Würde das Geschäft auf ein Jahr prolongirt sein, dann würde der vom Referenten berechnete Zinsfuß herausgekommen sein. 40, Provision für das Vierteljahr macht 160½ für das ganze Jahr und dazu 60 Zinsen macht 22 0nJ0. In einem anderen Falle sind monatlich 27/50 /o Provision bezahlt worden, macht jährlich 284536, dazu 60 Zinsen, im ganzen also 348 30/09. Ob die nothleidende Gesellschaft dadurch über⸗ wuchert ist, ist eine Frage, die jeder sich selbst beantworten muß. Ich bin allerdings nicht in der Lage gewesen, in der kurzen Zeit die Acten auseinanderjzuhalten und die einzelnen Punkte herauszugreifen. Ich hatte mir Zeichen hineingelegt, aber die Acten sind durcheinander ge—⸗ worfen worden. Da dies nicht in der Commission geschehen sein soll, so muß es vorher geschehen sein. Ich hatte bei der Uebergabe der Acten dringend gewünscht, daß dieselben vorher von anderen Personen nicht geöffnet werden möchten. ö
Sen ert von Levetzow: 9. nicht zwei Blätter haben in den Acten ihre Stelle gewechselt. Ich habe expreß dahin Verfügung ge⸗ troffen, daß man sich in Acht nehmen solle, auch nur das Kleinste an den einzelnen Blättern zu ändern. (Hört! Hört!)
Abg. Ahlwardt (fortfahrend): Es lagen auch noch andere, schon in, Briefe von Herrn Kalindero in Originalcopien vor. (Große Heiterkeit.) Diese beweisen ihrem Inhalte an, ungefähr das⸗ selbe, als der zerrissene. Mein Zeuge Meißner war verschwunden. (Lachen. Zuruf: Krähahn! Genau so wie Krähahn. Am Tage vor seiner Abreise nach Catania ist er in Gemeinschaft mit einem Herrn n worden, welcher ihm Gelder zur Reise gegeben haben soll.
us welchem Fonds, kann ich allerdings nicht nachweisen. Der Brief beweist aber rxücksichtslose Bestechung. (Ruf: Oho!) Ich muß aber erklären,. daß dieser Brief mit der Person des preußischen Finanz⸗Ministers Dr. Miquel in keine Beziehung gebracht werden kann. Ich bedauere diesen Punkt meiner Behauptung und ziehe ihn mit Bedauern zurück. (Heiterkeit) Ich komme nun
auf die Commission und auf die Erfahrungen, welche ich in der Commission gemacht habe. (Große Heiterkeit. Ich bedauere, daß auch der Abg. Dr. Horwitz in der Commission war, gegen welchen ich den Vorwurf erhoben hatte, daß er als Strohmann in den General⸗ versammlungen gedient hat. Das ist aber bei weitem nicht das Schlimmste. Ein Mitglied der Commission hat, bevor noch der Referent mit dem größeren Theil seines Referats fertig war, mich rücksichtslos zer lich angegriffen und von moralischem und physischem Ekel und von frivolen Angriffen meinerseits gesprochen. Ein Gericht, bei dem ein einzelnes Mitglied einem Angeklagten . . . . (Heiterkeit. ) Ich muß mich doch in diesem Fall als einen Angeklagten ansehen (sehr richtig!), und in der Commission war immer von einem Rechtsspruch Lig Rede. Diese Handlungsweise ist mit der. Ge⸗ rechtigkeit nicht in Verbindung zu bringen. Andere Commissions⸗ mitglieder oder Personen, welche den Verhandlungen beiwohnten, haben mich in der Oeffentlichkeit zu schänden versucht. (Große Heiterkeit.) Wenn so viele Personen über einen Einzelnen zu Gericht sitzen, sollten doch allein schon der Uebermacht wegen die gesetzlichen richtigen und anständigen Mittel allein ausreichen, um diese Person zu be⸗ kämpfen. Der Abg. Dr. Lieber hat die Theilnehmer an meinen Ver⸗ sammlungen als Mob“ bezeichnet. Diese Besucher müssen ebenso als anständige Leute betrachtet werden wie die Besucher anderer Ver— sammlungen. Ich habe in antisemitischen Versammlungen noch nichts Unanständiges erlebt. (Heiterkeit links) Ich kann mich dem Richter— spruch der Commission nicht beugen und, da der preußische Finanz⸗ Minister erklärt hat, daß er klagen werde, wenn ich diese Dinge außerhalb des Hauses verbreite, so habe ich die ganzen Sachen dem Druck übergeben und sie werden in einigen Tagen erscheinen. Ich werde mich dann meiner Immunität als Reichstags⸗Abgeordneter ent⸗ äußern und mich dem Gericht stellen. Daß ein hoher Zins ge⸗ zahlt ist, ist bewiesen. Eine Eingabe wegen Erlasses von Stempelkosten ist ebenfalls vorhanden. Wenn ich in einigen Punkten meine Behauptungen zurückziehen muß, weil mein Zeuge fehlt, so ist das zwar bedauerlich, aber ich hatte nicht angenommen, daß mir dieser Zeuge so schnell entschwinden würde. (Heiterkeit) An den Gründungen jener Zeit sind ungezählte Summen verloren, und diese Gründungen waren nur möglich durch das Actiengesetz, das durch die Herren Lasker, Bennigsen und Miquel 1869 zur Durchführung gebracht wurde. Es sind infolgedessen große Volkskreise verarmt und prole— tarisirt worden. Ich bin es meinen Wählern schuldig, gegen solche Zustände zu kämpfen mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln. Dieser Kampf ist kein leichter, zumal ich hier im Hause von Anfang an dem entschiedensten Mißtrauen entgegentrat. (Heiterkeit. ) Der Einzelne hat immer einen schweren Stand, zumal, wenn er von ver⸗ schiedenen Seiten des Hauses in einer Weise bekämpft wird, die nicht einem ehrlichen und wirklichen Kampfe entspricht. (Präsident von Levetzow ruft den Redner wegen dieses Vorwurfs gegen einen Theil des Hauses zur Ordnung.) Die Thätigkeit des Herrn Miquel habe ich angreifen müssen, weil er am hervorragendsten thätig gewesen ist in der Zeit der Gründungen und im Zusammenhang stand mit den großen kapitalistischen Kreisen. Um einer weiteren Ausbreitung der kapitalistischen Herrschaft entgegenzutreten, mußte ich diesen An⸗ griff ausführen. Ob ich bei Ihnen damit durchdringe, ist wohl sehr zu bezweifeln. (Sehr richtig! Heiterkeit, Dem einstimmigen Beschluß der Commission wind ein einstimmiges Urtheil des Volkes folgen. Herr Miquel ist an einer sehr großen Zahl von Gründungen betheiligt gewesen, an denen viel Geld verloren ist, die aber auf meine Acten keinen Bezug haben. (Heiterkeit Wenn ich mich in dem einen oder anderen Fall irre, erkenne ich meinen Irrthum gern an. Aber hier habe ich mich nach meiner eigensten Üeberzeugung in wesentlichen Punkten nicht geirrt. Ich muß diesen Kampf ö und werde ihn fortsetzen, auch wenn ich, persönlich angegriffen werde und mein guter Wille angezweifelt wird. Das glaube ich meinen Wählern und den rein productiven Volkskreisen schuldig zu sein. . .
Darauf schließt der Präsident die Discussion, da sich niemand mehr zum Wort gemeldet hat. ;
In seinem Schlußwort weist der Berichterstatter Abg. Dr. von Cuny darauf hin, daß der Invalidenfonds von den Eisenbahnprioritäten keinen Nachtheil, sondern einen Gewinn gehabt hat. . .
Abg. Dr. Porsch lehnt es ab, auf die Angriffe des Abg. Ahl⸗ wardt gegen die Commission irgend etwas zu erwidern; wenn der Abg. Ahlwardt sich vor der Uebermacht der 21 Mitglieder fürchte, so müsse er darauf aufmerksam machen, daß die Commission auf Wunsch des Abg. Ahlwardt selbst eingesetzt worden ist. Die Acten selbst sind auf das Sorgsamste gehütet worden; wenn sie in Unordnung gekommen sind, so kann das nur durch den Abg. Ahlwardt selhst geschehen sein, der der Commission etwas aus den Acten zeigen wollte, aber sich nicht zurechtfinden konnte. So ist also von allen schweren Anschuldigungen des Abg. Ahlwardt nichts übrig geblieben. Ich meine am Schluß dieser so peinlichen Verhandlung, wie sie Gott sei Dank der Deutsche Reichstag in seinen Mauern noch nicht gesehen hat, daß wir dem preußischen Finanz⸗Minister unseren besonderen Dank dafür aussprechen, daß er, der die Bedenklichkeit einer Betheiligung des Bundesraths an unseren Verhandlungen in der Commission nicht verkannt hat, diese Be⸗ denken hintansetzte und an unseren Verhandlungen theilnahm im Interesse der öffentlichen Moral und des öffentlichen Vertrauens und zur Warnung, und wenn möglich, zur Belehrung für den von einem solchen Manne irregeführten Theil des Volkes. (Beifall). .
Darauf werden die Anträge der Commission einstimmig angenommen. (Abg. Ahlwardt hat schon einige Zeit vorher den Saal verlassen.)
Schluß gegen 6 Uhr.
Preusßischer Landtag. Herrenhaus. 13. Sitzung vom Dienstag 2. Mai.
Bei Fortsetzung der Generaldiscussion über die Novelle zum Wahlgesetz (s. den Anfangsbericht in der gestr. Nr. d. Bl.) nahm nach dem Freiherrn von Stumm das Wort der
Präsident des Staats⸗Ministeriums, Minister des Innern Graf zu Eulenburg:
Meine Herren! Ich hatte unmöglich erwartet, daß wir bei Ge⸗ legenheit der Berathung des Wahlgesetzentwurfs eine Erörterung über die Vorfälle bei dem letzten Strike im Saarkohlengebiet haben würden, verbunden mit recht scharfen Angriffen gegen meinen Herrn Collegen, der an der Spitze der Handels⸗ und Gewerbeverwaltung steht. Ich kann nach den Regeln, welche über die Behandlung der Geschäfte in diesem Hause bestehen, nicht auf die Einzelheiten eingehen, die hier vorgebracht sind, und muß es meinem Herren Collegen überlassen, wenn in seiner Gegenwart diese Angriffe erfolgen, sie in der Weise zurückzuweisen, wie ich glaube, daß es möglich ist. Von meinem Standpunkt aus muß ich aber schon heute sagen, daß die Unterstellung, als ob bei den Maßregeln bei dem letzten Ausstand im Saargebiet irgend ein Mangel an Energie oder ein gewisses Maß von Schwäche zu Tage getreten wären, durchaus der Begründung entbehrt. Es hat sich um Erwägung von Zweckmäßigkeitsfragen gehandelt, und da muß ich dem Herrn Freiherrn von Stumm sein Urtheil freigeben, ob er die Maß⸗ regeln für zweckmäßig hält oder nicht; er hat aber kein Recht dazu, der Regierung oder ihren Organen vorzuwerfen, daß sie aus Schwäche oder Feigheit gehandelt haben; sie haben nach bestem Wissen und Gewissen das gethan, was sie im Interesse der öffentlichen Ordnung
und nach der Richtung glaubten thun zu müssen, daß das socialdemo⸗ kratische Element unter den Bergarbeitern nicht überwuchere.
Ich nehme gern Act von der Aeußerung des Herrn Freiherrn von Stumm, daß er zufrieden gewesen sei mit der Aeußerung, die einst der Herr Staatssecretär von Boetticher dahin gemacht hat, daß er sagte: Ob Socialdemokraten am Nord⸗Ostsee⸗Kanal arbeiten oder nicht, weiß ich nicht; jedenfalls machen sie keinen Gebrauch davon. Dieser Standpunkt ist in der That ein richtiger; ich bitte Sie aber, ihn auch für das Saarkohlenrevier gelten zu lassen, und wenn die Bergarbeiter von der Soeialdemokratie keinen Gebrauch machen, dann liegt auch für die Bergverwaltung keine Veranlassung vor, gegen sie einzuschreiten. (Sehr richtig!)
Nach diesem Gesichtspunkt ist dort verfahren worden, und ich hoffe, daß dies auf die Dauer den Erfolg nicht verfehlen wird; denn ich zweifle nicht, daß der Herr Freiherr von Stumm mir bestätigen wird, daß der colossale Rückgang, welchen der Rechtsschutzverein im Saarrevier erlitten hat, eine wesentliche Folge der Maßregeln ge⸗ wesen ist, die damals ergriffen wurden.
Ueber die Zukunft zu streiten, ist schwer, und ich bin am wenigsten geneigt, mich optimistischen Illusionen über die Bewegung in der Arbeiterwelt hinzugeben, aber ich glaube, nach den vorliegenden Resultaten hat Herr Freiherr von Stumm nicht ein Recht darauf, dies pessimistisch zu beurtheilen.
Meine Herren, wenn ich nun zurückkehre wie der Herr Vorredner zu dem Gegenstand, um den es sich hier handelt, so muß ich sagen, bin ich im höchsten Maße erstaunt gewesen, aus seinem Munde eine Andeutung nach der Richtung zu hören, daß der Entwurf der Regierung eine Connivenz der Socialdemokratie gegenüber enthalte. Wenn Sie den Regierungsentwurf ansehen wollen, so muß ich sagen, es wird Ihnen schwer werden, auch nur eine Andeutung nach dieser Richtung hin, irgend ein Symptom zu finden, welches sich in dieser Weise deuten ließe. Nein, meine Herren, die Regierung ist von Hause aus — und das er⸗ widere ich dem Herrn Grafen von Frankenberg — der Meinung gewesen, daß bei der Lage, in der die Steuerreform sich befindet, und bei der Entwickelung, die sie genommen hat, unabweisbar eine Aenderung in unserem Wahlsystem stattzufinden habe, nicht grundlegender Natur, aber sich anpassend an die Verschiebungen, die durch die Steuerreform eintreten. Das ist, meines Erachtens, so natürlich und auf der Hand liegend, wie nur möglich. Denn, wenn man ein Wahlgesetz hat, welches auf Steuerleistungen beruht, und in diesen Modificationen eintreten, wenn diese Steuerleistungen sich wesentlich ändern, so ist auch eine entsprechende Aenderung des Wahlgesetzes angezeigt; ich glaube, man braucht diesen Satz nur auszusprechen, um ihn bewiesen zu haben.
Herr Graf von Frankenberg hat, glaube ich, im Anschluß an einen viel besprochenen Aufsatz in der „Deutschen Revue“, von neuem hervorgehoben, die Regierung hätte sich durch das Abgeordnetenhaus drängen lassen und ganz plötzlich in den Weihnachtsferien den Gesetz⸗ entwurf ausgearbeitet, um diesen Anforderungen zu genügen. Ich bitte, nur auf eins aufmerksam machen zu dürfen, um die Haltlosigkeit dieser Auffassung nachzuweisen. In der Thronrede anfangs November ist ausdrücklich und mit deutlichen Worten die Vorlage des Wahlgesetzes angekündigt worden, also in einem Augenblick, wo das Abgeordneten⸗ haus noch gar nicht in der Lage war, sich darüber zu äußern. Es würde übrigens kein wirklicher Vorwurf für die Regierung sein, daß, wenn ein berechtigtes Ansinnen vom Abgeordnetenhause gestellt wird, sie dem Folge gebe, ebenso wie sie im gleichen Falle bereit sein wird, einem solchen Ansinnen seitens des Hauses, in dem ich die Ehre habe, zu sprechen, ebenfalls Rechnung zu tragen. Was nun die Sache selbst betrifft, so ist der Gedanke, welcher dem Wahlgesetz⸗ entwurf der Regierung zu Grunde liegt, ein doppelter. Der eine dieser Gedanken hat auch hier keine Anfechtung gefunden, nämlich der, daß es nöthig sei, wenn infolge der Steuerreform die Grund⸗, Ge— bäude⸗ und Gewerbesteuer fortfallen, einen Ersatz dafür zu schaffen, damit der berechtigte Einfluß des Grundbesitzes und Gewerbebetriebes — auf den Herr Freiherr von Stumm mit Recht so großes Gewicht
legt — nicht einen wesentlichen Nachtheil erleide, und dafür bot sich kein anderer Weg, als die Mitanrechnung der Gemeinde⸗ , Kreis⸗ und Provinzialsteuern, weil eben in den⸗
selben die für den Staat ausscheidenden Realsteuern zu einem großen Theil wieder zur Erscheinung kommen. Meine Herren, ich glaube, dies verräth doch in der That keine Neigung, socialistischen Ideen Folge zu geben, sondern im Gegentheil, die Fundamente zu erhalten, welche geeignet sind, einen Damm gegen diese Elemente zu schaffen. Nun, meine Herren, war aber die zweite Erwägung, die bei dem Wahlgesetz zu verfolgen war, eine andere; nämlich durch die Steigerung der Steuerleistungen drr höheren Klassen in Verbindung mit dem Zunehmen der Concentrirung großer Ver— mögen in einer Hand ist der Fall eingetreten, daß unser jetziges Wahl⸗ gesetz nicht mehr das bedeutet, was es bei seinem Erlaß bedeutete, sondern daß das Uebergewicht, welches einzelnen Personen oder einer geringen Anzahl von Personen in der ersten und zweiten Wahl—⸗ abtheilung beigelegt ist, sich ganz außerordentlich gesteigert hat. Dies auf das bisherige Maß zurückzuführen, das war der zweite Gedanke des Gesetzentwurfs, eine Aufgabe, welche ebenso nothwendig war wie die erste, wenn man eben das erreichen will, was der Herr Vorredner so entschieden betont hat, das heißt, ein haltbares Wahl⸗ gesetz zu gewinnen, mit dem allen Eventualitäten gegenüber getreten werden kann. Nun, meine Herren, will ich Sie nicht ermüden mit den zahlenmäßigen Ermittelungen — was sehrx leicht wäre —, sie sind in großem Umfange vorhanden — daß meine Behauptungen richtig sind. Aber ich bitte Sie, aus Ihrer eigenen Erfahrung sich einmal zu vergegenwärtigen, ob das nicht ein richtiger Gedanke ist, daß, nachdem wir im Jahre 1891 eine Einkommensteuer belommen haben, welche in ihren höheren Sätzen bis zu 40 anstcigt, nachdem wir im Begriff stehen, eine Gewerbesteuer zu bekommen, welche unter Freilassung aller kleinen Gewerbebetriebe eine sehr viel stärkere Heran⸗ ziehung der großen Betriebe herbeiführt, wenn wir einer Gesetzgebung entgegensehen, die eine Ergänzungssteuer einführen will (hört, hörth, wenn das alles vorliegt, dann es doch in der That nicht ein uner— hörtes Beginnen ist, daß man für die erste Abtheilung statt der bis herigen vier Zwölftel nunmehr fünf Zwölftel aller Steuern verlangt. Nein, meine Herren, das ist noch knapp ein Ausgleich für das, was durch die Steuergesetzgebung theilweise bereits verändert worden ist und theilweise noch verändert werden wird. Und, meine Herren, ich kann nur dringend empfehlen, diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen zu verlieren; Sie werden wahrhaft conservativ handeln, wenn Sie diesen Gesichtspunkt berücksichtigen, nicht aber, wenn Sie auf dem
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bisherigen stehen bleiben, ohne zu berücksichtigen, daß die Grund lagen vollständig verändert worden sind. Das sind die Gedanken, von denen die Regierungsvorlage ausgegangen ist. Ich bin der Meinung, daß die Regierung damit ihre Schuldigkeit gethan hat, und zwar in einer Weise, daß sie die staatserhaltenden Elemente zu stärken geeignet ist. Anders allerdings steht die Sache mit den Beschlüssen des Abgeordnetenhauses. Die Angriffe, die gegen diese Aenderung erhoben worden sind, kann ich nur als berechtigt anerkennen. Ich habe denselben Standpunkt bereits im anderen Hause in der Com— mission und im Plenum verfochten und habe auch jetzt keinen Anlaß, davon Abstand zu nehmen. Die Bestimmung, daß die sämmtlichen Erträge, die an Staatseinkommensteuer über 2000 ½ gezahlt werden, und die Zuschläge der Gemeindesteuern hierzu nicht in Anrechnung
kommen sollen, hat die Richtung, den Einfluß großer Ver— mögen abzuschwächen, aber sie verfolgt diesen Zweck in einer übermäßigen und prineiplosen Weise (sehr richtigh
und trägt endlich einen Widerspruch in sich selbst; denn die Bestimmung sagt nicht etwa, daß alle Steuerbeträge, die gezahlt werden, auf ein gewisses Maß redueirt werden sollen, sondern sie sagt dies nur in Bezug auf die Einkommensteuer. (Sehr richtig) Da begegnet man schon sehr großen Bedenken; z. B. in Berlin würde, was an Staatseinkommensteuer und an Gemeindezuschlägen über 2000 M erhoben wird, weggestrichen werden, aber was an Mieths⸗ steuer gezahlt wird, würde voll angerechnet werden. Die Sache hat also ihre großen Bedenken. Ich kann daher nur auf dem Standpunkt stehen bleiben, daß diese Bestimmung durchaus ungerechtfertigt ist. (Sehr richtig!)
Ich habe mit Absicht und meiner Ueberzeugung entsprechend diese Gründe ganz ohne Rücksicht auf die politische Wirkung hervorgehoben und ich will das letztere jetzt auch nur ganz beiläufig thun, denn ich bin der Meinung und es ist das Bestreben der Regierung gewesen, daß, so nothwendig es ist, das staatserhaltende Princip in dem Wahl⸗
gesetz zum Ausdruck zu bringen, ebensoseht man davon fern— bleiben muß, das Parteipolitische dabei mitwirken zu lassen. Das letztere ist verschieden und wandelbar nach Zeit und Ort. Es kann passiren, daß ein Wahlgesetz, welches
basirt ist auf augenblickliche Constellationen, in kurzer Zeit ganz andere Wirkungen hervorbringen kann, mögen solche Gründe maßgebend gewesen sein oder nicht; erwähnen will ich aber doch: diese Bestimmung, die das Abgeordnetenhaus hinzugesetzt hat, ich weiß nicht, welche Wirkung sie bei den politischen Wahlen haben wird, das aber weiß ich, daß es eine große Reihe von Städten, von industriellen Gemeinden des Westens giebt, wo die Parteiverhältnisse bei den Communalwahlen dadurch geradezu umgekehrt werden würden. (Sehr richtig!)
Ich denke, es wäre nicht besonders einladend, sich solchen Be— stimmungen anzuschließen, wenn man mit offenen Augen den Erfolg voraussieht.
Ich bitte Sie daher, den Vorschlägen, welche der Herr Ober— Bürgermeister Becker gemacht hat, und die im wesentlichen auf die Wiederherstellung der Regierungsvorlage hinauskommen, Folge zu geben; aber wenn Sie sich nicht dazu entschließen können, dann kann ich wenigstens nicht dazu rathen, den Vorschlag des Abgeordneten— hauses anzunehmen. (Bravo!)
Ober⸗Bürgermeister Becker⸗Köln betr. die Zwölftelung wiederherzustellen.
Freiherr von Stumm protestirt dagegen, den Ausdruck „Feigheit“ gebraucht zu haben. Der Rückgang des Rechtsschutzvereins, von dem der Minister auch gesprochen, habe mit dem Verhalten der Behörden nichts zu thun.
Minister-Präsident Graf zu Eulenburg:
Es ist durchaus nicht meine Absicht gewesen, die Behauptung auf— zustellen, daß Herr Freiherr von Stumm das Wort, Feigheit“ gebraucht hat. Wenn er aber der Königlichen Staatsregierung Weichheit gegen diese extremen Bestrebungen vorwirft, so ist das der Vorwurf der Feigheit und diesen Vorwurf habe ich zurückweisen müssen. Wenn Herr Freiherr von Stumm einen Vergleich zieht mit den Angriffen, die gegen ihn in seiner Abwesenheit gemacht worden sind, so bedauere ich das außerordentlich. Das trifft aber nicht die Regierung; diese hat ihn nicht angegriffen. Er aber hat in der Abwesenheit des Herrn Handels Ministers dessen Maßnahmen einer sehr scharfen Kritik unterzogen. (Sehr richtig) Ich habe nur angedeutet — ich weiß ja, daß es Verhältnisse giebt, wo man sich auch dazu versteht, anders zu handeln —, Herr Freiherr von Stumm hätte die Gelegenheit finden können, über diese Dinge in Gegenwart des Herrn Handels-Ministers zu sprechen. (Freiherr von Stumm: Zur thatsächlichen Bemerkung) Die Möglichkeit, zu beweisen, daß der Rückgang des Rechtsschutzvereins mit den Maßregeln, die seitens der Bergverwaltung im Saarrevier; getroffen worden sind, im Zusammenhange steht, ist nicht vorhanden; ebensowenig ist aber Herr Freiherr von Stumm im stande nachzu⸗ weisen, daß er nicht damit zusammenhängt.
Freiherr von Stumm entgegnet darauf, daß allerdings Herr von Berlepsch ihn angegriffen habe.
Graf Schlieben bedauert, daß ein Compromiß der vorliegenden
Art zwischen Centrum und Conservativen im anderen Hause zu wenigstens dem
stande gekommen sei, meint indessen, daß man Antrage von Wedel zustimmen solle, um in dem einen der beiden Differenzpunkte dem anderen Hause entgegenzukommen.
Graf Pfeil /⸗Hausdorf: Das geltende. Wahlrecht führt zu Ungeheuerlichkeiten und ist gar nicht reformfähig. Nur der Umstand, daß es nicht das definitive Wahlgesetz ist, was uns vorliegt, kann mich veranlassen, dafür zu stimmen. Das Wahlgesetz ist revolutionären Ursprungs; es hat keinen Zug davon, daß der Staat aus einer Summe noebeneinanderstehender wirthschaftlicher Interessen⸗ reise besteht, sondern entscheidet ganz äußerlich nach, dem Najoritätsprincip und der Steuerlast. Die Interessenvertretung ist das allein Berechtigte, sie zu verwirklichen im Parlament muß unser Hauptziel sein. Corporative Geltendmachung der Interessen ist der stärkste Damm gegen die Soecialdemokratie. Im Volk drängt man jetzt wesentlich hin zur Interessenvertretung. Ich will diesen Gedanken hiermit angeregt und der Discussion unterbreitet haben. Will man ihn nicht weiter verfolgen, so sollte man das Ab⸗ geordnetenhaus aus den Provinzial⸗-Landtagen wählen lassen, wie diese aus den Kreistagen hervorgehen.
; Freiherr von Du xant hält es zwar für zweifelhaft, ob es nützlich sei, die eben in die Debatte geworfenen Gedanken bei dieser Gelegen⸗ heit zu verfolgen; doch verdiene Graf Pfeil den besten Dank. Nichts sei klarer, als daß der corporative, genossenschaftliche Gedanke die 9llendetst und zudem eine echt deutsche Grundlage des Wahlrechts bilde. Schon die Kaiserliche Botschaft von i8s1' habe dieses Ziel angedeutet.
Ober⸗Bürgermeister Becker-Köln empfiehlt die Wiederherstellung der Regierungsvorlage bezüglich der Zwölftelung, die allein dem Wahl? geseß einige Dauer verleihen könne. Die 600 MS, Grenze sei rein willkürlich. Die Rückkehr zur Brittelung, oder vielmehr die Bei—
beantragt, die Vorschrift
behaltung derselben werde die Wählerzahl in der ersten und zweiten Klasse, namentlich der rheinischen Communen unverhältnißmäßig ver⸗ ringern. Was gegen die 2009 ½⸗Grenze spreche, spreche . gegen die Anrechnung zur Hälfte. Niemand werde verstehen, weshalb nicht auch die andern Steuern über 2009 6 außer Betracht gelassen oder nur zur Hälfte angerechnet werden sollen.
Rittergutsbesitzer von Bemberg-Flamersh eim bedauert leb—
haft, daß die Beschluͤsse des andern Hauses nicht allein sachlichen Rücksichten entsprungen seien und also auch dem Landesinteresse nicht dienen könnten. Redner steht auf dem socialpolitischen Standpunkt des Freiherrn von Stumm; er warnt vor zu starker Heranziehung des Kapitals, welche Vielfach schon eine wachsende Gleichgültigkeit gegen das allge— meine Staatswohl zur Folge gehabt habe. Wer einmal ein größeres Kapital besitze, der dürfe nicht noch von Staatswegen schaͤrfer als ein anderer Steuerzahler herangezogen werden, das sei eine Ungerech— tigkeit. Die Commission habe diese beseitigt, und das Haus möge der Commission beistimmen. „Maister des Königlichen Hauses von Wedel hält ein Bedürfniß für die Zwölftelung nicht, jedenfalls für die allermeisten ländlichen Wahl— kreise nicht für vorliegend. Die Verschiebungen im Westen, wo allerdings starke Vermögensansammlungen stattgefunden, seien allerdings so erheblich, daß an Abhilfe gedacht werden müsse. Der Vorschlag des Abgeordneten“ hauses gehe viel zu weit; es werde genügen, die Einkommensteuer über 2900 66 mit der Hälfte anzurechnen. Sei dieser Vorschlag principlos, so sei es die Zwölftelung doch auch. Seitdem ein Sa von 3 66 den Nichtveranlagten angerechnet werde, sei es . nur eonseguent und ein 3 dieses Princips, auch nach oben hin eine Grenze zu ziehen.
Graf von der Schulenburg-Beetzendorf: Das Wahl— gesetz stehe in verhängnißvollem Zusammenhange mit der Grund— steuergesetzgebung und mit der Militärvorlage. Das habe sich 1861 gezeigt und zeige sich heute. Unter den heutigen Verhältnissen dürfte das Beste sein, die Commissionsvorschläge anzunehmen, da die unver— änderte Annahme der Regierungsvorlage ausgeschlossen sei.
Damit schließt die Generaldiscussion.
Zu § 1 liegen die schon erwähnten Anträge Wedel und Becker vor.
Referent Graf Klinckowström erwähnt noch, daß die Ablehnung des Antrags von Wedel in der Commission mit 8 gegen 7 erfolgt sei.
Ober -Bürgermeister Bender-Breslau: Mit der Zustimmung zu dem Commissionsvorschlage wird nichts gewonnen. Die Vorlage der Regierung hält ungefähr den status quo des Wahlrechts des Einzelnen aufrecht. Der Antrag von Wedel ist ebenso ungerecht, wie es die Anrechnung nicht gezahlter Realsteuern sein würde. Redner bittet, die Vorlage der Regierung unverändert anzunehmen.
Minister von Wedel: In Consequenz des Grundsatzes des Vor— redners „Wahlrecht nach Steuerpflicht“ hätte er doch die Drittelung empfehlen müssen. Er tritt aber trotz dieses Grundsatzes für die Zwölftelung ein. Diesen Widerspruch kann ich nicht auflöfen.
Ober⸗Bürgermeister Bender: Wir haben kein Wahlrecht nach der Steuerpflicht, sondern nach fingirten Steuern. Diesem foll ja gerade die Zwölftelung als Correctiv dienen.
Präsident des Staats-Ministeriums, Minister des Innern Graf zu Eulenburg:
Ich bedauere, mit Kerrn von Wedel mich in der Beziehung nicht in Uebereinstimmung befinden zu können, daß er dem Vorschlage der Regierung entgegensetzt, es würde damit verlassen das Princip der Abmessung des Wahlrechts nach der Steuerleistung. Ich glaube, bei der Zwölftelung bleibt dasselbe Princip ebenso herrschend, wie bei der Drittelung, und es wird nur das Maß des Uebergewichts in den höheren Klassen etwas vermindert. Es besteht das Uebergewicht nach wie vor in starker Weise fort und es bleibt nach wie vor bei dem Princip der Abmessung des Wahlrechts nach der Steuerleistung. Ich bitte den Herrn Ober⸗Bürgermeister Becker um die Erlaubniß, die Angabe, die Herr von Wedel vermißte, ergänzen zu dürfen auf Grund der Mittheilung, die mir von dem Herrn Ober-Bürgermeister gemacht worden ist. Herr von Wedel vermißte das Ergebniß für Köln, wenn sein Vorschlag angenommen werden würde. Das geht dahin, daß in der ersten Abtheilung 395 und in der zweiten 2284 Wähler sich befinden würden. Das geht also, was die zweite Abtheilung betrifft, unter den Stand von 1892.93 herunter und ist, was die erste betrifft, nur um 25 höher, als das damalige Verhältniß; es bleibt aber sehr weit zu⸗ rück hinter dem Vorschlage der Regierung, welcher 538 für die erste und 3230 Wähler für die zweite Abtheilung herbeigeführt.
Meine Herren, ich habe nur diese wenige Zahlen noch einmal angeführt, um darauf aufmerksam zu machen, daß durch den Vor— schlag des Herrn von Wedel, wonach zur Hälfte angerechnet werden soll, was über 2000 ƽ Einkommensteuer hinausgeht, durchaus nicht auch nur annähernd das erreicht wird, was durch die Annahme der Zwölftelung in der Regierungsvorlage herbeigeführt wird. Im übrigen ist es richtig, daß bei dem Vorschlage des Herrn von Wedel die Ab⸗ hilfe an den Stellen, wenigstens in einigem Maße, herbei— geführt wird, wo sie am dringendsten nöthig ist, und daß er die ländlichen Bezirke des Ostens fast gänzlich unberührt läßt. Meine Herren, das kann ja bis zu einem gewissen Grade damit motivirt werden, daß in diesen länd⸗ lichen Bezirken der Einfluß der Steuerreform viel weniger stark sein wird als im Westen und in den Städten. Das ist zuzugeben; immerhin aber ist dieser Einfluß auch dort soweit vorhanden, daß nach meiner Ansicht eine Abhilfe geboten sein wird. Nun ist es ja sehr leicht, wie Herr Graf von Klinckowström gethan hat, eine Anzahl von Fällen anzuführen, wo die Wirkung des Ersatzes der Drittelung durch die Zwölftelung sehr stark sein würde. Ich bestreite das
keineswegs und würde selbst diese Beispiele noch erheblich vermehren können, aber ich muß doch bitten, daß man bei einem Gesetze, das für das ganze Land bestimmt ist, das Städte und flaches Land zugleich umfaßt, einen gewissen Durchschnitt zieht und danach die Wirkung beurtheilt. Ich könnte den Fällen des Herrn Referenten eine viel größere Anzahl gegenüberstellen, wo auch nicht das geringste Bedenken in Bezug auf die Wirkung des Gesetzes auch auf dem flachen Lande eintreten würde. Ich werde die Zahlen nicht vorlesen — sie entziehen sich zu schnell dem Gehör —, aber wenn Sie die Zusammenstellung vergleichen wollen, die dem Abge⸗ ordnetenhause unter Nr. 85 der Drucksachen vorgelegt ist, so tritt ja deutlich hervor der Unterschied zwischen den Vorschlägen Ihrer Com⸗ mission und denen, die die Regierung gemacht hat gegenüber dem Zu— stande im Jahre 1888. Da werden Sie sehen, daß ein einziger Wahl kreis vorhanden ist, nämlich Schlawe⸗Rummelsburg, wo diese Wirkungen einigermaßen weitgehend sind und in dem einen oder anderen Urwahlbezirk vielleicht zu Bedenken Anlaß geben. Bei allen übrigen Wahlbezirken und darunter zwei großen ländlichen des Ostens, Grimmen⸗Greifswald und Neisse⸗Grottkau, tritt nur eine Verschiebung ein, die man kaum anders bezeichnen kann, als Wiederherstellung des Zustandes, wie er der Wahlordnung von 1849 zu Grunde liegt und wie er sich im Laufe der Zeit allmählich verschoben
Von
hat; da, glaube ich, würde es Herrn von Wedel schwer
werden, nachzuweisen, daß durch die Vorschläge der Regierung Verschiebungen herbeigeführt werden würden, wie sie seit Existenz des Wahlgesetzes niemals bestanden haben. Meine Herren, ich bitte Sie, zu berücksichtigen, daß annähernd, bei Beginn der Wirk- samkeit der Wahlordnung von 1849, durchschnittlich gegen 5 o der Wähler in der ersten und etwa 14 bis 150, in der zweiten Abthei⸗ lung sich befanden. Wenn Sie nun einen Blick werfen auf die von mir erwähnte Zusammenstellung, wo die Wirkungen der Regierungs⸗ vorlage dargestellt sind, so werden Sie sehen, daß dieses Verhältniß noch nicht erreicht wird; also ich glaube, man wird nicht behaupten können, daß durch Annahme der Regierungsvorlage etwas Unerhörtes und noch nicht Dagewesenes herbeigeführt wird.
Ich kann nur dabei bleiben, daß ich sage: es ist nach eingehenden Erwägungen und mit der vollsten Absicht, nicht etwas herbeizuführen, was zu Bedenken Anlaß geben könnte, die. Combinirung der Vor⸗ schläge, die in der Regierungsvorlage enthalten sind, gewählt worden, und ich habe mich nicht davon überzeugen können, daß sie nach irgend einer Richtung hin zu wesentlichen Bedenken Veranlassung geben.
Ober -⸗Bürgermeister Struckmann-⸗Hildesheim will im Interesse der Schaffung eines Gesetzes, das auch eine Gewähr für die Dauer biete, vor allem die Fiction beseitigen, daß gewisse Steuerbeträge nicht oder nur zur Hälfte angerechnet würden. Nach ein paar Jahren würde die Entstehungsgeschichte dieser Clausel ganz vergessen fein, und immer von neuem würde auch die Nichtanrechnung der überschießenden Be⸗ träge aller anderen Steuern verlangt werden. Mit dem Antrag von Wedel werde der Todeskeim in das Gesetz gelegt. .
Nach einer kurzen Erwiderung des Ministers von Wedel wird die Debatte geschlossen.
Der Antrag Becker wird mit beträchtlicher Mehrheit abgelehnt, ebenso nach Probe und Gegenprobe der An⸗ trag von Wedel.
Sz 1 wird sodann in der Fassung der Commission an— genommen (Drittelung des Steuerbetrags und Fortfall jeder Nichtanrechnung).
Der Rest des Gesetzes wird ebenfalls ohne erhebliche De— batte angenommen.
Ober-Bürgermeister Struckmann-⸗Hildesheim wendet sich bei der Discussion noch in längerer Rede gegen die besonderen Abtheilungs— listen in jedem Urwahlbezirk.
In der Gesammtabstimmung gelangt das Gesetz hierauf mit großer Mehrheit zur Annahme. Da dieses Gesetz die Verfassung abändert, so wird nach drei Wochen eine noch— malige Abstimmung stattfinden.
Gegen 4 Uhr wird die Sitzung auf Mittwoch 12 Uhr vertagt. (Beschlußfassung über die geschäftliche Behandlung der demnächst aus dem Abgeordnetenhause zu erwartenden Steuervorlagen; Gesetzentwurf, betreffend die Ruhegehaltskassen für Volksschullehrer; Petitionen.) ĩ
Haus der Abgeordneten. 73. Sitzung vom Dienstag, 2. Mai.
Im weiteren Verlauf der zweiten Berathung des Com⸗ munalabgabengesetzes (s. den Anfangsbericht in der gestrigen Nummer d. Bl.) bemerkte zu 75 und den dazu eingebrachten Anträgen von Richthofen und von Zedlitz der Finanz⸗Minister Dr. Miquel:
Meine Herren! Ich glaube, daß das Haus wohl im großen und ganzen den Eindruck haben wird, daß namentlich die Entscheidung über den Antrag des Herrn von Richthofen von so feinen juristischen Voraussetzungen abhängt, daß es schwer ist, hier im Plenum darüber gleich sich eine Meinung zu bilden. Jedenfalls wird es kaum möglich sein, die Consequenzen, die diese Bestimmung haben wird, auf allen Gebieten zu übersehen. Ich glaube, schon aus diesem Grunde wird es sich empfehlen, daß der Antrag gegenwärtig wenigstens nicht an— genommen wird.
Was den Antrag des Herrn von Zedlitz anbetrifft, so ist gegen die Annahme desselben kein Bedenken. Daß ein klares einfaches Princip, wie es bei den Gemeinden zur Anwendung gekommen ist, ausgedehnt wird auf die Kreise, wird unbedenklich sein. Ich habe über—⸗ haupt den Eindruck, daß es sich empfehlen werde — ich höre, daß der Herr Präsident der Commission dies beabsichtigt —, daß über diese und ähnliche feinere juristische Fragen die Commission zwischen der zweiten und dritten Lesung nochmals wieder zusammentritt und dann vielleicht dem Hause die betreffenden Vorschläge macht. Ich glaube, das wird die Sache sehr wesentlich abkürzen. Meine Herren, es kann ja sehr möglich sein, daß die Consequenzen der Einführung dieses Communal⸗ steuergesetzes auf die Verhältnisse der Kreise demnächst es nothwendig oder wünschenswerth machen werden, in dieser Beziehung mit einer kleinen Novelle nachzuhelfen, wenn man erst nach der Richtung hin nähere Erfahrungen gesammelt haben wird, und auch aus diesem Grunde glanbe ich, daß man nicht diesen einzelnen Fall hier herausgreifen sollte, der, wenn ich es recht übersehe, zu der Consequenz führen wird, daß das Prineip der Contingentirung, welche wir nun den Landgemeinden auch freigeben wollen, doch zum theil hier wieder durchbrochen wird. Ich würde bitten, den Antrag vorläufig wenigstens abzulehnen und, wenn die Commission wirklich noch einmal diese Frage in Berathung nehmen will, dann einen wohlvorbereiteten Antrag in dieser Richtung in dritter Lesung zu erwarten.
Abg. Freiherr von Huene (Centr.) ist hiermit einverstanden, und Abg. Freiherr von Richthofen zieht infolge dessen seinen An⸗ trag zurück.
Abg. von Buch (eons.) empfiehlt, daß die Commission dabei a. noch andere streitige Fragen mit in den Kreis ihrer Berathungen ziehen möge.
Abg. Bohtz Cons.) regt an, daß die Vertheilung der Provinzial⸗ steuern auf die Kreise nicht nach Maßgabe des Aufkommens an Staatssteuer des laufenden, sondern des vorhergegangenen Jahres erfolgen solle.
Geheimer Ober⸗-Regierungs⸗Rath Noell glaubt, daß dieser An⸗ regung keine Folge zu geben sei, ist jedoch damit einverstanden, daß auch diese Frage bei den weiteren Commissionsberathungen nochmals geprüft werde.
Abg. Dr. Friedberg (nl.) erklärt namens seiner Partei die Zustimmung zu den Grundsätzen des § 75.
S 75 wird hierauf mit dem Antrage von Zedlitz an⸗ genommen.
Zu S 75a bemerkt
Abg. Dr. Meyer (dfr), daß lediglich der Commission dieser Paragraph zu danken sei; die Regierungsvorlage habe denselben nicht enthalten. Der Paragraph stelle die Landhunde den Stadthunden gleich; so nützlich aber die ersteren seien, so unnütz bewiesen sie sich in der Stadt. Dieser Paragraph gereiche dem Gesetze nicht zur Zierde, er bitte ihn abzulehnen.
„Abg. von Waldow (eon) erklärt sich gleichfalls gegen die Ein . führung der Hundesteuer; mindestens müßten die nöthigen Arbeitshunde steuerfrei bleiben.