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wan diesen Gedanken verfolgt, muß die Rente ablssbar
sein und sie muß amortisiert werden, sie muß sogar in nicht zu ferner Frist amortisiert werden, damit in späteren Erbfãllen wieder eine Theilungsmasse vorhanden ist. Tritt man diesem Gedanken näher, so muß der mit einer Rente abgefundene Erbe in die Lage versetzt werden, diese Rente in Kapital umsetzen zu können. Es wird sich der Gedanke aufdrängen, ob, wenn man im Interesse der ganzen Familie und des Familienbesitzes dahin strebt, einem Erben das Gut zu einem mãßigen Preis zu überlassen, man nicht auch zu verhindern sucht, daß er eigennũtzig diesen Vortheil sich zu nutze macht. Es wird sich serner die Nothwendigkeit ergeben, auch an Gelegenheit für einen verbesserten Personal · und Realkredit für den Anerben zu denken.
Wenn ich die ganze Entwickelung und Beurtheilung dieser Frage übersehe, so habe ich den Eindruck, daß in einer mich selbst über⸗ raschenden Art und Weise von Jahr zu Jahr die Zahl derjenigen steigt, welche dazu neigen, die Nothwendigkeit anzuerkennen, daß auf dem Gebiete des ländlichen Erb⸗ und Verschuldungsrechts eine Aende⸗ rung und Besserung durch den Uebergang vom Hypotheken zum Rentensystem stattfinden muß.
Meine Herren, wenn die Staatsregierung anerkennt, daß auf diesem Gebiete der Versuch gemacht werden muß, die bessernde Hand anzulegen, so ist sie sich darüber klar gewesen, daß die Verhäͤltnisse in den verschiedenen Landestheilen doch theilweise so verschieden liegen, daß eine derartige umfassende und schwierige Aufgabe nicht mit den vorhandenen Organen allein gelöst werden kann, sondern, daß sie dazu der vollsten Mitwirkung des zu organisierenden Berufs⸗ standes der Landwirthe bedarf, und deshalb hat sich die Staats- regierung entschlossen, in dem Sinne dem landwirthschaftlichen Berufsstande eine organisierte Vertretung zu geben und sie obligatorisch zu machen.
Die Einzelheiten des Gesetzes, welches demnächst ja zur Ver⸗ theilung gelangen wird und bereits gedruckt vorliegt, will ich nur kurz stizzieren. Es ist geplant, für jede Provinz eine Landwirthschafts⸗ kammer zu bilden, jedoch ist die Möglichkeit offen gelassen, da, wo die Verhältnisse dazu nöthigen, auch in einer Provinz mehrere Kammern einrichten zu können.
Die Details eines Gesetzes für die Landwirthschaftẽ kammern oder für die Organisation der Landwirthschaftskammern lassen sich nicht wie bei den Handelskammern durch ein Gesetz sofort ganz herstellen, weil eben in den einzelnen Landestheilen die Verhältnisse verschieden sind; sondern durch das Gesetz läßt sich bloß der Rahmen geben, und die Ausgestaltung muß durch Stututen erfolgen. Für diese Statuten ist Königliche Verordnung nach Anhörung der Provinzial⸗Landtage vor⸗ gesehen. Es ist selbstverstãndlich, daß die Feststellung der Statuten unter ausgiebiger Mitwirkung der vorhandenen landwirthschaftlichen Vereine und der sonstigen Interessentenkreise stattfinden wird. Der Entwurf schlägt ein indirektes Wahlrecht vor. Das Wahlrecht lehnt sich an die Größe des Grundbesitzes; das Gesetz zieht bloß die Grenze, von welcher an mindestens jeder Grundbesitzer am Wahlrecht be⸗ theiligt sein soll, und zwar von einem Umfang an, welche die Haltung von Zugvieh nach dem Umfang des Besitzes an sich nothwendig macht, während den Statuten überlassen bleiben muß, diese Grenze nach unten zu erweitern.
Im übrigen sind die Landwirthschaftskammern als solche in ihrer ganzen Gestaltung und Gebahrung möglichst unabhangig gedacht, und es ift ihnen ein beschränktes Besteuerungsrecht beigelegt.
Die Aufgaben, welche die Landwirthschaftstammern haben sollen, sind in Kürze: die Vertretung aller Interessen der Landwirthschaft, eine Mitwirkung bei Vorbereitung respektive Anhörung derselben über Gesetze, welche die Landwirthschaft interessieren, eine Förderung der landwirthschaftlichen technischen Aufgaben, eine Unterstũtzung oder Insichaufnahme der landwirthschaftlichen Zentralvereine.
Meine Herren, wenn die Regierung Ihnen einen derartigen Gesetzentwurf vorlegt und dabei die Erklärung abgiebt, daß sie an die Lösung dieser Agrarfrage heranzutreten bereit n fo n sie sich der Tragweite dieses Schrittes voll bewußt und sich darũber klar, daß hiermit der augenblicklichen ¶ Nothlage vieler Landwirthe nicht abgeholfen werden kann. Zunãächst aber ist es für die Regierung, wenn sie überhaupt in die Prüfung dieser Frage eingetreten ist, das Entscheidende, daß sie an der Stelle und bei den Gründen, in denen sie die Hauptquellen der Nothlage sieht, einsetzt und auf die dauernde Gestaltung besserer Verhäãltnisse bedacht ist. Für mich, meine Herren, konnte, sobald die Staatsregierung entschloffen war, den Agrarfragen in dieser Beziehung ernsthaft näher zu treten, kein Zweifel darüber bestehen, daß die Frage der fakultativen Einrichtung der Landwirthschaftskammern, wie sie bisher in landwirthschaftlichen Kreisen ventiliert und vorzugsweise gefordert war, nicht aufrecht zu erhalten sei, weil für diese Zwecke fakultative Kammern nicht genügen, sondern eine organisierte Einrichtung für und über das ganze Land nothwendig ist. Ich hoffe, wenn der Gesetzentwurf zur Verabschiedung gelangen sollte, daß die landwirthschaftlichen Zentralvereine in Anerkennung der für die Landwirthschaft in Frage stehenden Interessen den An⸗ schluß an die Landwirthschaftẽ kammern finden und Hand in Hand mit ihnen arbeiten werden. Wir waren darüber nicht zweifelhaft, daß auch die fakultative Einrichtung von Landwirthschafts⸗ kammern zur Ueberführung aller landwirthschaftlichen Vereine in Landwirthschaftskammern mit Nothwendigkeit führen müsse. Desto mehr ist die Hoffnung berechtigt, daß auch jetzt die landwirthschaft · lichen Zentralvereine einer derartigen Entwickelung gegenüber sich nicht ablehnend verhalten werden, sondern daß sie im gemeinschaft⸗· lichen Interesse der ganzen Landwirthschaft auch sich mit dem Gedanken der obligatorischen Landwirthschafte kammern versõhnen und zu einer einheitlichen Aktion gelangen werden.
Meine Herren, erkennt man die Nothwendigkeit fũr unser ganzes Staatswesen der Erhaltung eines leistungsfãhigen und unabhängigen Grundbesitzerstandes auf dem platten Lande in allen Besitzthums⸗ abstufungen an, so ergeben sich die weiteren Konsequenzen in meinen Augen von selbst, und der erste Schritt, um zu besseren Verhãltnissen zu gelangen, ist die Errichtung und die Bildung von korporatip organisierten Landwirthschaftẽ kammern.
Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf bei der ferneren parlamen⸗ tarischen Behandlung eine wohlwollende Aufnahme zu gewãhren. ¶ Braxo )
iu dem 2 veröffentlichten Entwurf eines Gese es,
etreffend , ern,, . ts⸗ verfassungsges und der Strafprozeszordnung.
In dem Entwurf eines m . Aenderungen und Er⸗
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digt
hrnehmung ist, nachdem zu stande gekommen, auch noch emacht worden. Da die feit Ein⸗ ae . Zeit von vierzehn Jahren ewährung derselben und über das nach Neuerungen auf. Grund der gefammelten Gr⸗ fahrungen ein zuberlãssiges Urtheil zu gewinnen, fo erschien es angezeigt, nunmehr wiederum in eine Prüfung der Strafproʒeß⸗ ordnung und der mit ihr im Zusammenhang . Theile des Serichts verfassungsgesetzes einzutreten. Diese Prüfung bat zu dem Ergebnisse geführt, die in dem vorliegenden Entwurf vorgeschlagenen enderungen und Ergänzungen zu beantragen. Dieselben sind zum theil mit den Vorschlägen des Entwurfs von 1885 identisch; theil betreffen sie Fragen, welche früher noch zurückgestellt worten oder erst in der neuesten Zeit in den Vordergrund getreten sind, oder solche Fragen, welche nach den inzwischen . Erfahrungen in . . dem früheren Entwurfe abweichenden Sinne zu beurtheilen ein dürften.
Unter diesen Abänderungsvorschlägen sind einige von so hervor ⸗ ragender Wichtigkeit, daß es sich empfiehlt, dieselben, ahnlich wie in dem Entwurf von 1885 geschehen, abweichend von der Ordnung der gem erben. vorweg im Zusammenhange zu erörtern. Dies sind namentlich
I) die Einführung der Berufung gegen die Urtheile der Straf⸗ kammern in erster Instanz; die Entschädigung unschuldig Verurtheilter und in Verbindung damit die Einschränkung des Wiederaufnahmeverfahrens; die Aufhebung einiger der zum Ersatze für die mangelnde Be⸗ 6 eingefübrten sogenannten Garantien des Verfahrens; die Ausdehnung des Kontumazialverfahrens; veränderte Vorschriften über die Beeidigung der Zeugen; die Einführung eines abgekũrzten. N, Verfahrens für gewisse, eine schleunige Behandlung erheischende Strafthaten (d6lits flagrants); Hi ; Veränderungen in der sachlichen Zuständigkeit der
erichte;
*
die anderweitige Regelung der Geschäftẽvertheilung und Geschãfts⸗
behandlung bei den Kollegialgerichten. . söttt 1) Einführung der Berufung gegen die Urtheile der ; ,, , , in erster In tanz. Bereits in der Begründung des Entwurfs von 1885 ist anerkannt worden, daß die Erwartungen, welche an die Wirkfamkeit der in nn Straproʒ ordnung mit Ruͤcksicht auf den Wegfall der Berufung den Angeklagten gewährten Garantien geknüpft waren, sich nur unvoll⸗ stãndig erfüllt hätten, und 9 auch die Hoffnung, die zur endgültigen Ents . über tbatsächliche Fragen berufenen Richter würden in dem Gefühle erhöhter Verantwortlchkeit in der Beweiswürdigung mit um so größerer Genauigkeit und Strenge zu Werke gehen, wenigstens hic überall ihre Bestãtigung gefunden zu haben scheine “y. Ebenda ist hervorgehoben, daß schon zur damaligen Zeit die auf Ein- fübrung der Berufung gegen die Urtheile der Strafkammern gerichteten Bestrebungen in immer weiteren Kreisen, namentlich auch im Reichs⸗ tag, Unterstũtzung gefunden hätten. Wenn der erwähnte Entwurf denngch von der ursprün lich schon damals beabsichtigten Einführung der Berufung schließlich Ubftand nahm, so geschah dies aus esprochener⸗ maßen nur wegen der Kürze der Zeit seit Geltung der? eichs⸗Justiz⸗ gesetze und in der Hoffnung, 6. die Eingewöhnung der Bevölkerung und der Gerichte in die neue g ng von selbst dazu führen Efe einen großen Theil der erhobenen Klagen verstummen zu assen“.
Diese Hef ung hat sich nicht erfüllt. Im Gegentbeil sind die erwähnten Klagen allgemeiner geworden. Auch der Reichstag hat seitdem wiederholt wegen einer Aenderung des Rechtsmittel systems in der bezeichneten Richtung von neuem die Initiative ergriffen.
Vergleiche Drucksachen
56. Legislaturperiode 2. Session 1885/85 Nr. 11, ; ö. 2. ö 1885/86 84 . 2. 1887/88 ö 2. 1887/88 i . 1890/92 . 1890/92
. 1890/92 h . e .
iesen For rungen kann eine Berechtigung nicht abgesprochen werden. Es mag dahin gestellt bleiben, ob aus theoretischen, dem Wesen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit des Verfahrens“ ent⸗ e ,. Gründen der Ausschluß der Berufung ausreichend zu recht⸗ fertigen ist. ; ;
Die prakti schen Erfahrungen, welchen das entscheidende Gewicht beigelegt werden muß, haben jedenfalls zu einem solchen Er⸗ eech nicht gefuhrt. Selbst wenn man die vielseitig erhobenen Be⸗ chwerden über Mangelhaftigkeit der , , der Strafkammern hinsichtlich der Thaffrage unentschieden lassen will, so steht durch die Erfahrung jetzt doch so viel fest, daß auch bei aller Sorgfalt in den thatsäãchlichen Feststellungen eine wirksame Gewähr gegen eine un—⸗ richtige Entscheidung der Thatfrage nur durch die . der⸗ selben durch einen anderen Richter erzielt werden kann, während die Garantien in der ersten Instanz, welche nach der Ansicht der Ver⸗ fasser der Strafprozeßordnung einen entsprechenden Ersatz leisten sollten, keine gleichwerthige Sicherung gegen Irrthum oder mangelnde Einsicht des Richters darbieten. Diese Erfahrung liegt auch in der Natur der Sache begründet. Die Entscheidung der Thatfrage bietet im allgemeinen mindestens eben o, viel Schwierigkeiten, wie diejenige der Rechtsfrage. Insbesondere stellt sie an die Hier ener lf die Unbefangenheit, die Erfahrung und das Urthell des Richters nicht selten nforderungen, deren Erfüllung schwerer ist, als die Aus⸗ legung des Gesetzes. Die Forderung mehrerer Instanzen für die Thatfrage hat daher an sich eine ebenso große Berechtigung, wie die noch niemals bestrittene, daß der Rechtspunkt nicht der Ent⸗ scheidung eines ein igen Richters überlassen werden dürfe. Die Be⸗ schränkung des Rechtsmittels auf die Rechtsfragen ist nur aus einer Unterschãtzung der Bedeutung der Thatfragen im Stra rozeß einer⸗ seits und einer , . der Wirkungen der Mündlichkeit anderer- seits zu erklären. Daß die Mündsichkeit elne beffere Beweigwürn ung sichert, als ein schriftliches Verfahren, ist außer Zweifel. 26 sie aber die Beurtheilung der Thatfragen zu einer immer leichten und einfachen macht, ist 9 bestreiten. Auch bei der mündlichen Ein. vernehmung sind Irrthümer über die Glaubwürdigkeit von Angeklagten und Zeugen, über das Maß iber enen ,, gens uber die thatsachlichen Elemente der subjeftiven erschuldung des An⸗ geklagten. die Neberzeugungskraft sachverstãndiger Gutachten, die thatsächliche Auslegung bon Augsagen, Erklãrungen und Ge⸗ ständnissen leicht möglich. Die Mündlichkeit der Vernehmungen sichert keineswegs die Richtigkeit und Gleichmäßigkeit der an dense ö bis zu einem gewissen Grade von den versönlichen An⸗
chauungen des einzelnen ichters beeinflußten Eindrücke, Ser
Einungg austausch über die erwähnten thatsächlichen Momenie pflegt daher auch erfahrungsmäßig in den Berathungen der strafgerichtlichen Kollegien einen viel breiteren Raum einzunehmen und weit mehr im Vordergrunde zu stehen, als derjenige über die meist einfach zu erledigenden Rechte punkte. Weil oft schwieriger und verwickelter darf also die That⸗
e die r gkeit einer diese Nothwendigkeit an sich Thatfragen aus inneren Gründen im bejahenden Sinne
Wenn die Frage au fluß persönlicher Anschauun der freien
. sich
3 * che dazu
ere Erf ies dürfte a 1 um so mehr, bei ihr handel überhaupt zu
Bei Berathun die Berufung erh it gewesen.
Der Regierungsenkwurf wollte nur au äßig wenige ge in Sachsen,
ö. erster des t. in ter ung, entgegen altung der Ber ĩ
prochen. Die
3 !
vertretungen ein⸗
i te der Justizbehörden, durch Be⸗ schlüsse des Anwaltstages und durch Petitionen von Privatyerfonen.
Der Berücksichtigung dieser Ümstäͤnde kann fich der Gesetzgeber, selbst wenn sich vom juristischen Standpunkt aus über die Berechtigung der Berufung streiten läßt, nicht entziehen, da das bffentliche Vers trauen in die Gestaltung der Strafrechtspflege eine wesentliche Vor— aussetzung für deren gedeihliche Wirkfamkeit bildet.
Der EFrwägung werth ist, daß dem Schritte, welchen das Reich mit der Beseitigung der Berufung im Jahre 1877 unternommen hat, das Ausland nicht gefolgt ist. 6 alle zur Vergleichung heran⸗ zuziehenden europäischen Staaten haben die Appellation bis auf die Gegenwart beibehalten. Namentlich haben auch legislatorische Arbeiten, die der deutschen Strafprozeßordnung zeitlich . ind, dieses Rechtsmittel nicht aufgegeben; so der belgische Entwurf von 1885, das niederländische Wetboek van Strafvordermg von 1886, der ungarische Entwurf von 1888 und die neue norwegische Strafprozeßordnung vom 1. Juli 1887. Die Niederlande, welche die Berufung früher abgeschafft hatten, haben dieselbe im Jahre 1574 wieder eingeführt. Es darf hiernach angenommen werden, daß im Auslande die gemachten nen bis auf die neueste Zeit zu Gunsten der Berufung prechen.
Es erscheint hiernach angezeigt, zu dem früher in dem über⸗ wiegenden Theile Deutschlands und jetzt noch in dem weitaus größten Theile des Auslandes herrschenden Rechtszustande durch Einführung der Berufung gegen die in erfter Inftan; gefällten Urtheile der Straf⸗ kammern zurück kehren. .
Daf die Schwurgerichte außer Betracht bleiben müssen, bedarf keiner besonderen Auseinandersetzung.
Die spezielle Gestaltung des Hechtemittels ist von zu großer Be⸗ deutung für seine Wirksamkeit, um an dieser Stelle vollstãndig ũber⸗ gangen und in den besonderen Theil der Begründung verwiesen zu werden, Vielmehr sind die Grundzüge hier bereits mitzutheilen.
Die Entscheidung über die Berufung foll grundsätzlich den Ober⸗ Landesgericht n übertragen werden. BVies erscheint als ein unerläßliches Erforderniß, wenn der unternommen? . Schritt wirklich zu dem angestrebten Ziel führen soll, das offentli Vertrauen in den Prozeßgang zu stãrken beziehungsweise wieder herzustellen.
Der Streit, ob die Ober⸗Landesgerichte oder die Landgerichte zur Entscheidung über die Berufung geeigneter seien, ist ein after und in der Wissenschaft, in der politischen Tagespresfe und in esetzgẽbenden Körperschaften mit einem Aufwande von Gründen . welchem kaum noch etwas Neues hinzugefügt werden kann. In früherer Zeit, als die ersten Bestrebungen zu Gunsten der Berufung stattfanden, schien die überwiegende Meinung für die Wahl der Land⸗ gerichte . sein. Auf diesem Standpunkte stand auch noch der erste, dem Bundesrath vorgelegte Entwurf von 1885 (Druck sachen des Bundesraths Nr. B, Session 1885), der die Ein⸗ führung der Berufung beabsichtigte, mĩt biesem Verlangen jedoch die Zustimmung der Mehrheit nicht fand. Es ist dies derjenige Stand⸗ punkt, der in der 3. lediglich eine erneute Sachverhandlung vor einem anderen Richter erblickt und die . einer solchen Verhandlung unter Wahrung der Grundsäͤtze der Mündlichkeit vor den Ober ⸗Landesgerichten wegen der Größe der Bezirke derselben in Abrede stellt. . Standpunkt wird von dem vorliegenden Entwurfe nicht eilt.
geth
(Schluß in der Dritten Beilage)
M 16.
Dritte Beilage
zum Deutschen Reichs⸗Anzeiger und Königlich Preußischen Staats⸗Anzeiger.
E894.
Berlin, Freitag, den 19. Januar
8 der Allgemeinen Begründung zu dem. Gesetz, betreffend enderung en und Ergänzungen des Gerichtsverfassungs⸗ gesetzes c., aus der Zwelten Beilage)
Das innerste Wesen der Appellation beruht nicht nur in einem Wechsel in der Person des erkennenden Richters, sondern zugleich auch in der Konstruktion der zweiten Inftanz als der oberen. Der zweite Richter muß ein höherer, d. h. ein Richter sein, welchem in der Volksmeinung ein größeres Maß von Erfahrung und Unbefangen⸗ heit beigemessen wird. Die Gründe, aus welchen? man diesen Satz bestreitet, . nicht stichhaltig. Denn mit der wiederhosten Sachverhandlung in der Berufungsinstanz ist nothwendig auch eine Kritik der Entscheidung des ersten Richters verbunden, welche folge⸗ richtig nur von einem Richter geübt werden kann, der im allgemeinen inen weiteren Gesichtskreis hat und den Einflüsfen des Orts der ersten Aburtheilung entrückt ist. Wie dem aber auch sein möge, das Ent⸗ scheidende ist, daß jedenfalls eine in vielen Gebieten des Deutschen Reichs verbreitete Volksanschauung in dem Berufungsrichter den höheren Richter sieht und für denselben eine entsprechende Stellung verlangt. Die Berufung von einem Landgericht an das andere, oder gar von einer Kammer desselben Landgerichts an die andere, würde voraussichtlich von dem größten Theile der Bevölkerung nicht als eine wirkliche Appellation angesehen werden und an diesem Mangel des öffentlichen Vertrauens scheitern. Gleich geordnete Richter oder gar Mitglieder desselben Kollegiums erscheinen einem großen Theile der Bevöl terung zur Nach⸗ prüfung der Urtheile ihrer Amksgenossen nicht geeignet, weil ihnen eine bewährtere, als die schon im Gericht erster Instan; vertretene Einsicht nicht zugetraut wird, und weil die Enge der zwischen ihnen und ihren in erster Instanz rechtsprechenden Kollegen bestehenden Lebensbeziehungen leicht ihre Unparteilichkeit beeinträchtigen kann. Mit Vertrauen erfüllt die Rechtnehmenden nur das Bewußtsein, daß die weitere Prüfung der Sache durch das obere Gericht stattfindet, bei welchem sie die tiefere Einsicht und die größere Unbefangenheit voraus⸗ zusetzen geneigt sind. Man kann diese Anschauung nicht als unberechtigt bezeichnen. Wenn in Frankreich bei Berathung des Gesetzes vom 13. Juni 1856, durch welches die Entscheidung über die Appellation allgemein den Appellhöfen übertragen wurde, Regierung und gesetz⸗ gebender Körper sich darin einverstanden erklärten, daß die Appellation mit ernstlichen Garantien nur dann umgeben sei, wenn das mit ihr befaßte Gericht einen höheren Rang gegenüber dem ersten ein- nehme, und daß die Appellhöfe wegen der Zahl und Vorzüge ihrer Richter eine bessere 3 gewährleisteten, da diese Richter vorher an den Tribunalen mitgewirkt und dort eine so hervorragende Tüchtigkeit bewiesen, sowie solche Erfahrungen gesammelt hätten, daß sie diesen Umständen ihre Beförderung zu Ayyellrichtern verdankten, so kann man diesen Satz auch für die inländischen Verhältnisse und für die Gegenwart noch im allgemeinen gültig anerkennen. Die Vor⸗ würfe, welche gegen die Rechtsprechung der Kriminalsenate der früheren preußischen Appellationsgerichte erhoben worden, sind theils übertrieben, theils auf eine wohl vermeidliche unrichtige Zusammensetzung der bezeichneten Gerichtsabtheilungen, theils endlich auf die in dem damals geltenden Gesetze enthaltenen weit⸗ ehenden und einer Ausschließung nahekom menden Beschränkung der Iren e n und Unmittelbarkeit der Verhandlungen zurückzuführen.
Die erwähnte Anschauung entspricht auch der historischen Ent⸗ wickelung der Appellation in Deutschland, welche mit fehr vereinzelten und vorübergehenden Ausnahmen stets die Entscheidung über die Be— rufungsbeschwerde einer höheren Instanz übertragen hat. In neuerer Zeit haben von den jetzt preußischen Landestheilen nur die Rhein⸗ provinz und Hannover eine entgegenfetzte Einrichtung besessen. Ueber die dort gemachten Erfahrungen ist man, wie die Berichte der Justiz⸗ behörden bezeugen, verschiedener Meinung. Jedenfalls erscheinen diese vereinzelten Vorgänge nicht geeignet, einen richtigen Maßstab für die voraussichtliche Bewährung im ganzen Deutschen Reich abzugeben.
Auch das europäische Ausland kennt, wie in der bereits erwähnten Anlage A. näher dargestellt ist, nur die Berufung an ein höheres
Gericht. Die beiden einzigen Staaten, welche früher ein ent egen⸗
gesetztes System befolgt haben, nämlich Frankreich und Belgien, haben dasselbe seit 1856 beziehungeweise seit 1846 aufgegeben und leiten seit⸗ dem die Appellation ausschließlich an die Appellhõfe. ö . Bei Wahl der Landgerichte als Berufungsgerichte würden sich Unzuträglichkeiten Finsichtlich der Einheitlichkeit und Kollegialität der Landgerichte infolge der Erhebung, eines Theiles ihrer Mit⸗ 2 zur oberen Instanz für die übrigen nicht überall ausschließen assen. Namentlich aber würde der Mangel an geeignetem Per⸗ sonal zur Bildung von Berufungskammern bei den kleineren Land—⸗ gerichten einpfindlich fühlbar werden. Die Entscheidung über die Be⸗ rufung würde bei diesen oft nur mit acht Richtern, einschließlich der . besetzten Kollegien, wenn man nicht zu einer großen, durch das Arbeitsmaß nicht gerechtfertigten Personalvermehrung
. schreiten wollte, in der Regel den sonst lediglich in Zivilsachen be⸗
schäftigten Mitgliedern übertragen werden müßsen. .
Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung namentlich hinsicht lich der Strafzumesfung würde durch die Schaffung vieler kleiner Berufunge. gerichte beeinträchtigt werden, da insoweit eine Nachprüfung des Revi⸗ sionsgerichts ausgeschlossen ist. ö . .
Es würde nicht folgerichtig sein, gegenüber den Klagen über Mängel in der Rechtfprechung der Strafkammern, welche zu dem Verlangen nach Einführung der Berufün Anlaß gegeben haben, zwar diesem Verlangen stattzugeben, das Rechtsmittel a er denselben Ge⸗ 66 zur Entscheidung zu überweisen, gegen welche sich die Klagen lichten. Daß diesen Gerichten eine nähere Kenntniß der Personen und Verhältnisse beiwohne als den Ober⸗Landesgerichten, wird in dieser Allgemeinheit nicht zuzugeben fein. Uebrigens läßt sich die Frage auf⸗ werfen, ob für die Berufungsgerichte nicht gerade die Freiheit von einer näheren örtlichen Verbindung mit den Bezirkseingesessenen wünschenswerth ist, insofern sie auf eine größere Unbefangenheit hin⸗ zuwirken geeignet ist. . . ; .
Die n, d echte bilden die Beschwerdeinstanz für die Beschlüfse der Landgerichte und werden diefelben auch in Zu⸗ kunft bilden. Auch aus diesem Grunde würde es unzweckmäßig sein, die Entscheidung ber die Berufung gegen die Urtheile der Land⸗ gerichte den Ober⸗-Landesgerichten vorzuenthalten und fie jenen Gerichten selbst zu übertragen. Vielmehr ist es angezeigt, daß Berufung und Beschwerde parallel laufen. ; .
Die Ober⸗Landesgerichte sind nach dem jetzt geltenden Gesetze mit Strafsachen nur in geringem Ümfange, nämlich als Beschwerdegerichte und als Revisionggerichte hinsichtlich der nur spärlich an sie e,, . Urtheile der Strafkammern! in der Berufung s instanz gegen schöffengerichtliche Ertenntnisse, befaßt. Ihre Mitglieder entwöhnen sich daher eicht der strafrechtlichen Praxis, was als ein Uebelstand empfunden wird, zumal aus diefen Mitgliedern ein Theil des Erfatzes für die Straffenate des Reichsgerichts entnommen weiden muß.
Die Größe der Bezirke vieler der jetzigen Ober⸗Landesgerichte zürfte der Wahl der letzteren zu Berufungsgerichten nicht entgegen- stehen. Allerdings liegt in dieser Größe eine if Schwierigkeit für die Durchführung des Grundsatzes der Mündlichkeit, insofern die unmittelbare i e nz der oft in weiterer Ferne wohnenden
sugen am Sitze des Ober, Landesgerichts in manchen Fällen nur mit
Weiterungeu für die Betheiligten und mit nicht unbetrãchtlichen Fosten zu bewerkstelligen fein wird. Es könnte in. Frage kommen, ob in der Berufungsinstanz eine volle Durchführung der Mündlichkett unbedingt nothwendig ift, und ob nicht, wie es in anderen europäischen
Staaten Rechtens ist, gewisse Beschränkungen der Mündlichkeit für diese Instanz statthaft und angeselgt erscheinen. Ser Entwurf hat jedoch geglaubt, von dem Prinzip der Unmittelbarkeit der Verhandlung nicht in erheblich weiterem Umfange abweichen zu follen, als dies in dem bestehenden Berufungsberfahren gegen schöffengerichtliche Urtheile der Fall ist. Die aus der Größe einzelner Ober Landesgerichts prengel srwachsenden Schwierigkeiten lassen sich im wesentlichen durch die im Artikel 1 5 124 vorgesehene Errichtung auswärtiger Strafsenate be⸗ seitigen, indem es auf diese Weise da, wo das Bedürfniß besteht, möglich werden wird, die Spruchbezirke der einzelnen Berufungssenate ungefähr auf den Umfang der Sprengel der ehemaligen preußischen Apvellationsgerichte zu bringen, bei welchen sich ernste Unzuträglich⸗ keiten in Betreff der mündlichen Vernehmung der Zeugen und Sach⸗ verstãndigen nicht herausgestellt haben. Eine ähnliche Institution be⸗ steht bereits jetzt in den durch 5 78 des Gerichts verfassungsgesetzes zugelassenen detachierten Strafkammern der Landgerichte, welche in Preußen in größerer Zahl errichtet worden sind. Um den Uuzuträg⸗ lichkeiten vorzubeugen, welche durch das häufige Zureisen einer größeren Zabl von Mitgliedern der Ober- Landesgerichte zu den Sitzungen dieser auswärtigen Senate hervorgerufen werden würden, mußte die Be⸗ setzung der letzteren auch durch Richter der betheiligten Landgerichte zugelassen werden. Doch wird im allgemeinen dafür zu sorgen sein, daß jedenfalls der Vorsitz von einem Mitglied des Ober⸗Landesgerichts geführt wird. Durch diesen Vorschlag, welcher sich einer im Reichstag gegebenen Anregung *) anschließt, wird eine beträchtliche Herabminderung der Ausgaben an Jeugengebühren erzielt und den Betheiligten die Er⸗ reichung des Gerichtssitzes erleichtert werden.
Die Schwierigkeiten, den Gerichtssitz zu erreichen, dürfen aber gegenüber den jetzigen Verkehrsmitteln überhaupt nicht zu hoch an⸗ geschlagen werden. Weitaus die meisten Gegenden werden mit dem Sitze des Berufungssenats bequem durch die Eisenbahn verbunden sein, und wenn der Wohnort einmal verlassen werden muß, macht es für die Betheiligten meist keinen erheblichen Unterschied, ob die Eisen⸗ bahnfahrt eine kurze Zeit länger dauert. Auch trifft die Nothwendigkeit, in Strafsachen Zeuge in der Berufungsinstanz zu sein, doch nur einen kleinen Bruchtheil der Staatseinnohner. Uebrigens werden die unter Umständen für Einzelne erwachfenden Unbegquemlichkeiten vor der Fürsorge für eine zweckentsprechende Entscheidung über das Rechts⸗ mittel zurücktreten müssen.
Eine mäßige Vermehrung des . der Ober⸗Landesgerichte wird in einzelnen Bundesstaaten a erdings nicht zu umgehen sein. Diese Vermehrung wird aber voraussichtlich ausgeglichen werden können durch eine entsprechende Ersparniß von Beamtenkräften bei den Landgerichten. .
Auf die Einzelheiten der Kostenfrage, die sich für jeden Bundes⸗ staat verschieden gestalten wird, ist hier nicht einzugehen.
Das Verfahren in der Berufungsinstanz ist — wie bereits er— wähnt — als ein mündliches gedacht und gegenüber dem bisherigen Gesetze nicht wesentlich verändert. Doch wird für die Zulassung des Rechtsmittels eine Rechtfertigung durch Angabe bestimmter Beschwerde⸗ punkte verlangt, um einem frivolen Gebrauch desselben einigermaßen zu begegnen. Auch wird entsprechend dem Vorgange der hannoverschen Strasprozeßordnung vom 5. April 1855 (G 217) und fast aller außer⸗ deutscher, auf dem Grundsatze der Mündlichkeit des Verfahrens be⸗ ruhender Strafprozeßgesetze, um einen Mißbrauch bei der Stellung von Beweisanträgen und eine zu weitgehende Belastung der Staats⸗ kasse zu verhüten, das Gericht zur Wiederholung der Vernehmung der in erster Instanz abgehörten Zeugen und Sachverständigen nur insoweit zu verpflichten sein, als es diese nach Lage der Sache für noth⸗ wendig erachtet.
Y Entschädigung für unschuldig erlittene Bestrafung und
Einschränkung der Wiederaufnahme des rechtskräftig ge⸗
schlossenen Strafverfahrens auf Grund neuer That⸗ sachen und Beweismittel. .
Seit länger als einem Jahrzehnt ist der Reichstag fast in jeder Session mit Anträgen befaßt gewesen. welche bejweckten, in der Reichs⸗ gesetzgebung den Grundsatz zur Anerkennung zu bringen, daß der Staat verpflichtet sei, Schadensersatz für die Nachtheile zu gewähren, welche
jemand infolge eines ohne sein Verschulden gegen ihn eingeleitet en Strafverfahrens erleidet. Drucksachen 5. Legislaturperiode II. Session 1882 5 IV. 6. 1 6. II.
.
T.
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( . *.
V. ö ;
. 8. ö II. ö 189795 18 21 Hierbei machten sich übrigens mehrfache Meinungs verschieden heiten geltend, namentlich in der Richtung, ob es sich empfeßble, auch für die
erlittene Untersuchungshaft eine Entschädigung zu gewähren, und ob.
es nicht richtiger sei, nur die Fälle einer zu Unrecht geschehenen Straf- bollstreckung ins Auge zu fassen, ob jedem im Wiederaufnahmeverfahren Freigesprochenen ein Anspruch auf Entschädigung zuzugestehen sei oder nur demjenigen, dessen Unschuld zu Tage getreten; ob die Entschädigung auf den Ersatz der herne er ff gen Nachtheile, welche durch die Strafvollstreckung verursacht sind, zu beschrãnken, sowie endlich darüber, wie das Verfahren für die Geltendmachung des Entschädigungöansfpruchs zu gestalten sei. U . =
Während diese Meinungsverschiedenheiten in den von den Kom⸗ missionen des Reichstags gefaßten Beschlüssen bald in diesem, bald in jenem Sinne entschieden sind, hat der Reichstag selbst in den von ihm angengmmenen Gesetzentwürfen unter Ablehnung weitergehender Anträge sich dafür ausgesprochen, daß eine Entschädigung nur den im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Personen zu gewähren und daß dieselbe auf den Ersatz der vermögensrechtlichen durch die Straf⸗ vollstreckung verursachten Nachtheile zu beschränken 1
Stenographischer Bericht 1886 S. 1475 ff. 1886 S. 1497, x 1888 S. 1357. . ö
Eine große Mehrheit hat sich zu dem Verlangen vereinigt, daß der Anspruch auf Schadensersatz innerhalb der vorbezeichneten Be⸗ grenzung nicht nur gesetzlich anzuerkennen, sondern daß demselben auch der Charakter eines gerichtlich derfolgbaren Rechts beizulegen sei.
Wenn der Bundesrath Anstand genommen hat, den beschlossenen Gesetzentwürfen seine Zustimmung zu ertheilen, so geschah das nicht etwa infolge der Auffassung, daß wirklich unschuldig Verurtheilten eine Entschädigung aus öffentlichen Mitteln r, ,. zu versagen sei. Im Gegentheil ist in dem Beschlusse hom 157. März 1357 in Verbindung mit der Ablehnung des mittels Schreibens des Präsidenten des Reichstags vom 13. März 1886 übersandten Gesetzenlwurfs das Vertrauen ausgesprochen, . .
daß in den Bundesstaaten überall in ausreichender Weise für die Beschaffung der Geldmittel Sorge getrdgen werde, welche erforderlich sind, um den bei Handhabung der Strafrechtẽ⸗ pflege nachweisbar unschuldig Verurtheilten eine billige Ent- schädigung zu gewähren.
Die Gründe der ablehnenden Haltung des Bundesraths beruhten vielmehr darin, daß es bei der gegenwärtigen Lage der Gesetzgebung auch Schuldigen gelingen kann, durch Benutzung veränderter Umstãnde ihre Freisprechung im Wiederaufnahmeverfahren zu erreichen, und daß
) Antrag Munckel⸗Träger, Drucks. Nr. 99 II. Sess. 1885/86.
* *
. ö es gegen die Rechtsordnung und das öffentliche Recht sbewußtsein ver⸗
stoßen würde, solchen Personen einen Anspruch auf Entschadigung zu gewähren. Das Gewicht dieser Gründe war übrigens im Jahre 1836 vom Reichstag selbst dadurch anerkannt worden, daß 2 mit dem die Entschädigung für erlittene Strafen bezielenden esetzentwurf ein weiterer Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung und e, . der Vorschriften der Strasprozeßordnung über die Wiederaufnahme des Verfahrens, zur Annahme gelangte.
Ergab sich hiernach vom Standpunkte der verbündeten Regierungen die Nothwendigkeit, bei Gewährung der Entschädigung unter den im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Perfonen zu unterscheiden, so gab andererseits die Frage, welcher Behörde bei Gestaltung des Anspruchs auf Schadenserfatz als eines gerichtlich verfolgbaren Rechts die Entscheidung zu übertragen sei, zu schwerwiegenden Bedenken Anlaß. Diese Entscheidung dem im Wiederaufnahmeverfahren er⸗
kennenden Gerichte zu übertragen, verbietet sich schon aus dem Grunde,
weil eine solche, im schwurgerichtlichen Verfahren übrigens kaum denk⸗ bare Einrichtung die Wirkung haben müßte, diejenigen Freigesprochenen, welchen ein Entschädigungsanspruch nicht zuerkannt würde, in der öffent⸗ lichen Meinung mit einem Makel zu behaften und damit wenigstens zum theil die Uebelstände wieder ins Leben zu rufen, die mit der früheren sogenannten absolutio ab instantia verbunden waren. Nicht wesentlich anders aber wird die Sachlage, wenn die hier in Frage stehende Ent⸗ scheidung von einer anderen richterlichen Behörde getroffen wird. Sobald dem Freigesprochenen ein Anspruch gewährt wird, der von der gerichtlichen Anerkennung seiner Unschuld abhängig ist, bildet es eine Ehrensache für ihn, diesen Anspruch durchzusetzen, und es wird, wenn ihm das nicht gelingt, fortdauernd der Verdacht der strafbaren Handlung auf ihm lasten.
Mit Rücksicht auf die vorstehend angedeuteten Bedenken erschien der Standpunkt gerechtfertigt, die Gewährung des Schadensersages im einzelnen Falle von dem Ermessen der Justizperwaltung abhängig zu machen. Wenn die Gewährung hiermst mehr den Charakter einer Gnadenbewilligung erhielt, fo ließ fich dafür geltend machen, daß es gerade der Beruf der Gnade ist, im einzelnen Falle da einzutreten, wo, von einem höheren Standpunkte aus beurthellt, Unrecht geschehen ist, obwohl das, was geschehen, auf formellem Rechte beruht.
Diese Erwägungen haben indessen nicht vermocht, den Reichstag zu einer Aenderung seiner Stellung zu bestimmen. Vielmehr liefern die Beschlüsse, welche der Reichstag gefaßt hat, nachdem der von ihm 1886 angenommene Gesetzentwurf durch den Bundesrath abgelehnt war, sowie die bis auf die neueste Zeit, und zwar von Mitgliedern verschiedener Parteien, gestellten Anträge den Beweis, daß seitens der Mehrheit nach wie vor daran festgehalten wird, den einem unschuldig Verurtheilten zuzugestehenden Anspruch auf Schadensersatz mit dem Charakter eines gerichtlich verfolgbaren Rechts zu bekleiden. Es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser Standunkt, der inzwischen auch in der österreichischen Gefetzgebung zur Geltung gelangt ist .
vergl. Gesetz vom 186. März 1892, betreffend die Entschadigung für ungerechtfertigt effolgte Verurtheilung), in weiten Kreisen der o getheilt wird.
Diese Wahrnehmung mußte Veranlassung geben, gelegentlich der vorliegenden Reform der Strafprozeßordnung von neuem in die Prü⸗ fung der Frage einzutreten, ob es nicht angängig sei, innerhalb der in dem Gesetzentwurf vom 13. März 1886 vom Reichstag selbst ge— zogenen Grenzen dem Verlangen desselben zu entsprechen. Das Ergebniß dieser Prüfung bilden die Bestimmungen im Art. IJ FS§ 399 ff. des vorliegenden Entwurfs. Derselbe geht davon aus, daß darüber, ob die Voraussetzungen der staatlichen Entschädigungspflicht vorliegen, end— gültig von den Gerichten zu entscheiden ist. Alsdann empfiehlt es sich aber, den Anspruch auf Entschädigung im wesentlichen von einem lediglich formalen Umstande, der nachträglichen Freisprechung im Wiederaufnahmeperfahren, abhängig zu machen. Bie Gründe, aus denen es unthunlich erscheint, den Änspruch auf Schadensersatz an die Bedingung zu knüpfen, daß durch den im Wiederaufnahmeverfahren erkennenden Strafrichter oder in einem besonderen nachfolgenden gericht⸗ lichen Verfahren die Unschuld des früher Verurtheilten sestgestellt sei, oder daß wenigstens alle gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe für beseitigt erklärt seien, sind bereits erwähnt. Ist hiernach die Noth⸗ wendigkeit begründet, als Voraussetzung des Entschädigungs⸗ anspruchs lediglich die Freisprechung im Wiederaufnahmeverfahren hinzustellen, so ergiebt sich daraus die dringende und gegebenenfalls das Rechtsgefühl verletzende Gefahr, daß auch folchen Personen eine Entschädigung zu theil werden kann, welche im Wiederaufnahme⸗ verfahren ihre Freisprechung erzielt haben, obwohl das Er ee t des ersten Verfahrens dem Sachverhalte thatsächlich entsprach. Will 'man dieser Gefahr entgehen, so bietet sich kein anderer Ausweg, als ab⸗ weichend von der jetzigen Gesetzgebung, das Wiederaufnahmeverfahren so zu gestalten, daß dasselbe voraussichtlich nur Unschuldigen zu gute kommt. . . .
Der Entwurf trifft demgemäß durch die veränderte Fassung des § 399 Nr. 5 der Strasprozeßordnung Art. II Vorsorge dahin, daß fortan nur solche Verurtheilte die Wiederaufnahme des Verfahrens erlangen können, deren Un schuld, für dargethan zu erachten ist, fei es in Betreff der That überhaupt, sei es hinfichtlich eines die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes und folgeweise eine , . Bestrafung begründenden Umstandes. Er befindet sich hierbei in Uebereinstimmung mit Anträgen, welche desfalls wiederholt im Reichstag gestellt worden sind. . (
Vergleichende Drucksachen des Reichstags
8. Legislaturperiode J. Session 1890 Nr. 144, 5. ; 1. isg93 / 63 Rr. 18.
Das Bedürfniß einer A bänderung der Vorschrift des 5 399 Nr. 5 der Strafprozeßordnung muß übrigens schon an sich und unabhängig von der Frage einer den im Wiederaufnahmeverfahren Freigesprochenen zu gewährenden Entschädigung als ein dringendes anerkannt werden. Durch die jetzige Fassung des 5 399 Nr. 5 ist die Möglichkeit eröffnet, daß rechtskraͤftig Verurtheilte auf Grund neuer That fachen oder Beweismittel die Wiederaufnahme des Verfahreng bereits dann erlangen, wenn diefe Thatsachen oder Beweismittel allein oder in Verbindung mit den früheren Beweisen geeignet sind, ihre Freisprechung oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung zu rechtfertigen. Gelingt es dem Verurtheilten auf Grund dieser Bestimmung, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken, so kann er insbesondere dann, wenn eine Reihe pon Jahren seit der Verurtheilung verflossen ist, auf seine le. mit einiger Wahrscheinlichkeit rechnen. Denn bei der neuen Verhandlung darf das Gericht nur aus dem ihm in Dieser Verhandlung vorgeführten Material seine Überzeugung schöpfen., Es liegt aber in der Natur der Sache, daß selbft foiche Ereignisse und ö welche zur Zeit der Urt e . in zweifelsfreier Weise aufgeklärt und festgestellt waren, nach Ablauf eines längeren Zeitraums zweifelhaft werden, insbesondere wegen Todes oder abgeschwaͤchter Grinnerung der Hauptbelastungszeugen. Der Schuldbeweis wird sich daher nach Wiederaufnahme des erfahrens häufig nur in ungenügender Weife erbringen lassen und die Folge muß eine Freisprechung sogar dann sein, wenn die neuen Thatsachen oder Beweismittel, auf Grund deren das Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet war, sich schließlich als bedeutungslos herausftellen.
Diese Möglichkeit ist nach zuverlässigen Mittheilungen unter der Herrschaft der Strafprozeßerdnung nicht selten ausgenutzt worden; es darf nach den in der Gerichtspraris gemachten Wahrnehmungen ange= nommen werden daß der größere Tbeil derjenigen Perfonen, welche seit ls7ꝛ7 im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens nachtrãglich ihre
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