1894 / 24 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 27 Jan 1894 18:00:01 GMT) scan diff

bringen. Es ist uns gesagt worden: jedenfalls sind die Matrikular⸗ beiträge früher liquide wie die Ueberweisungen an die Einzelstaaten und die Reichs⸗Finanzverwaltung, beziehungsweise der Reichskanzler ist wohl befugt, pränumerando die Zahlung der Matrikularbeiträge zu fordern. Ich bemerke zunächst, daß mir hier ein Schreiben vorliegt, inhalts dessen der preußische Herr Finanz⸗Minister mit aller Be⸗ stimmtheit es abgelehnt hat, die Matrikularbeiträge wie bisher zur größten Prägravation Preußens vorauszubezahlen, besonders aber in anderem Modus wie die übrigen Bundesstaaten. Wir haben jetzt nur mit dem vorhandenen Betriebsfonds wirthschaften können, weil Preußen diese erheblichen Vorschußzahlungen leistet, und wir haben nur deshalb wirthschaften können mit diesem Fonds, weil die Einzelstaaten längst vor der Abrechnung über die Zölle und Steuern, die etwa sechs bis acht Wochen nach dem jedes maligen Quartalschluß stattfindet, schoön im Laufe des Monats die Einnahmen aus den Zöllen und Steuern an die Reichs⸗Hauptkasse abgeführt haben, abzüglich der für Rechnung des Reichs geleisteten Zahlungen. Ich glaube, daß jene staatsrechtliche Auffassung, daß die Matrikularbeiträge früher liquide sind wie die Ueberweisung an die Einzelstaaten, richtig war, solange wir keine Ueberweisungsgesetze hatten. Die staatsrechtliche Lage hat sich aber geändert durch die clausula Franckenstein und die demnächst ergangenen Ueberweisungsgesetze. Früher hatten die Einzelstaaten thatsächlich gegenüber der Reichs⸗ Finanzverwaltung kejne Gegenforderung. Durch Erlaß der Ueber⸗ weisungsgesetze haben sie aber Gegenforderungen bekommen, die meines Erachtens vollkommen pari passu mit den Matrikular⸗ beiträgen gehen; und ich glaube, daß es sich deshalb nicht begründen läßt, die Ueberweisungen erst sechs bis acht Wochen nach dem Quartalsschluß zu zahlen, die Matrikularbeiträge aber fort⸗ gesetzt pränumerando zu fordern. Der Zustand, der sich jetzt heraus⸗ stellt, daß die Matrikularbeiträge und die Zölle und Steuern vor— schußweise eingezahlt werden und dann erst auf Grund der Abrechnung nach den Quartalabschlüssen das Saldo zu Gunsten des Reichs oder der Bundesstaaten beglichen wird, bedingt thatsächlich ein Hin⸗ und Herschicken, was gegen jeden Grundsatz modernen Kassen⸗ verkehrs spricht. Von einem Redner ist bei der vorigen Berathung dieses Gesetzentwurfs dieser Zustand als ein geradezu vorsintfluthlicher bezeichnet worden. Jeder Privatmann gleicht mit seinen Konto⸗ korrenten in der Art und Weise die Forderungen aus, daß er viertel⸗ jährlich oder in einem kürzeren Zeitraum abrechnet und nun das Saldo gezahlt wird. Diesen Zustand wollen wir jetzt auch herbeiführen, indem wir mit dieser Vorlage bitten, uns den Betriebsfonds in der Höhe zu gewähren, daß wir ein Vierteljahr lang ohne Vorschüsse wirthschaften und dann die Matrikularbeittäge gegen die Ueber

weisungen abrechnen können.

Es sind nun gegen dieses Verfahren auch noch verschiedene staats— rechtliche Bedenken geltend gemacht. Ich bemerke zunächst: wenn wir auf die Matrikularbeiträge ferner hingewiesen wurden, so können wir jetzt bei dem gesteigerten Bedarf an Betriebsmitteln nur dadurch auskommen, daß die Matrikularbeiträge nicht mehr zu ein Drittel am Anfang des Monats und im Reste am Schlusse oder im Laufe des Monats bezahlt würden, sondern wir müssen stärkere Quoten gleich am Anfange des Monats erheben. Aber auch dieser Modus hat seine ernsten Bedenken; kommen wir in eine kritische Zeit, so sind wir gezwungen, auch für die Zahlungen, die dann sofort erforderlich sind, die Bestände in den Kassen der Bundesstaaten in Anspruch zu nehmen. In je höherem Maße wir deshalb die Matrikularbeiträge pränumerando fordern, desto mehr schwächen wir die Bestände in den Bundeskassen und desto weniger werden die

Bundeskassen in der Lage sein, in kritischen Augenblicken Zah⸗

lungen in größerem Maße für das Reich zu leisten. Würden wir deshalb nicht auf anderem Wege Abhilfe schaffen, so würden die Bundeskassen aller Voraussicht nach gezwungen sein, ihrerseits sich

Betriebsmittel für die Zwecke des Reichs anzuschaffen. Es sind, meine Herren, aber auch staatsrechtliche Bedenken erhoben, budgetmäßige Bedenken: Man hat eingewendet, das Budgetrecht des Reichstags wäre schon ein so schwaches, daß es sich nicht empfehlen möchte, dieses Budgetrecht noch in irgend einer Form abzuschwächen. Würde man dem Reich Betriebsmittel in der Höhe gewähren, daß die Reichs Finanzverwaltung die Matrikularbeiträge abrechnen könnte gegen die Ueberweisungen, so würde der Gedanke der clausula Franckenstein ganz verloren gehen, das Gefühl würde sich immer mehr abschwächen, daß die Matrikularbeiträge thatsächlich in der Höhe zu zahlen sind, wie sie vom Reichstag als Einnahme bewilligt sind. Ich glaube, dieses Bedenken ist doch akademisch konstruiert; es steht doch fest, daß die Matrikularbeiträge, soweit sie im Etat stehen, erhoben werden, daß den Bundesstaaten auf Grund des Ueberweisungsgesetzes bestimmte Beträge zufließen müssen; und wenn sich bei irgend jemand durch dieses rein kassamäßige Verfahren das Gefühl für die clausula Franckenstein abschwächen würde, so könnte es doch nur bei den Kassabeamten sein, bei uns Anderen steht doch die Rechtslage ganz unzweifelhaft fest.

Es ist ferner gesagt worden: ja, es könnte der Fall eintreten, daß die verbündeten Regierungen, die Reichsregierung, in einen Konflikt mit dem Reichstag kämen, daß dann die Zahlung der Matrikularbei⸗ träge versagt würde, und daß dann die Reichsregierung in Besitz von Mitteln wäre, die etatsmäßig nicht bewilligt seien. Der Gedanke dieses Einwands kann doch nur der sein, daß dadurch, daß uns ein Betriebsfonds in Höhe von 67 Millionen bewilligt wird, wir uns im Fall eines Konflikts vielleicht ein paar Wochen länger über Wasser halten können, ohne Einziehung von Matrikularbeiträgen. Nun meine ich wirklich: wir können diese Frage ganz ruhig be— trachten; auf einen Konfliktsfall kann man, glaube ich, keine Gesetze bauen. Wenn eben ein Konflikt eintritt, so ist der Nachweis geführt, daß die bestehende Gesetzgebung nicht ausreicht, um die vorhandenen Differenzen zwischen Regierung und Volksvertretung auszugleichen. Das ist ein ganz außerordentlicher Fall, der, Gott sei Dank, in dieser Schärfe so selten eintritt, daß man daraus kein Mißtrauen votum herleiten kann, derart der Reichsverwaltung die nöthigen Betriebs⸗ mittel, die sie unzweifelhaft braucht, zu versagen.

Es würde uns also, wenn uns nicht die verfügbaren Fonds aus dem Reichs⸗Invalidenfonds überwiesen werden, nichts übrig bleiben, wie entweder die Einziehung der Matrikularbeiträge in stärkeren Quoten die Bedenken dagegen habe ich bereits klar gelegt oder verzinsliche Schatzanweisungen in höherem Maße auszugeben dagegen liegen dieselben Bedenken vor, wie gegen die stärkere Ein⸗ ziehung der Matrikularbeiträge oder endlich wir müßten in Höhe von 67 Millionen eine Anleiheschuld aufnehmen; die Reichs—⸗

am allerwenigsten.

zu zerbrechen, wie sie es macht.“

Etatsberathung sei darauf hingewiesen worden, daß die Vorlage das Budgetrecht des Reichstags schmälere, wie dieses schon durch die Ueberweisungen geschmälert worden sei. Diese Bedenken seien aber mehr theoretischer Natur. Als praktische Thatsache falle doch gewiß ins Gewicht, daß einzelne Staaten und speziell Preußen . die bisherige Gepflogenheit schwerer belastet werden wie andere Staaten. Dennoch erscheine der nationalliberalen Partei die Vorlage zur Zeit nicht als annehmbar und zwar wegen des Mittels, welches zur Ab- hilfe vorgeschlagen werde. Der Invalidenfonds solle ja nicht etwa eine Anleihe 3 sondern er solle definitiv 67 Millionen ab geben, und es bleiben von dem laufenden Ueberschuß des Fonds von 72 Millionen nur noch 5 Millionen übrig. Danach seien eine große Menge von Wünschen der verschiedensten Art über die Ausdehnung der Zweckbestimmungen des Fonds laut geworden, welche natürlich nur aus diesem Ueberschusse befriedigt werden könnten. Es sei eine allgemeine Erhöhung der Pensionen, eine Erhöhung der Ver⸗ stümmelungszulagen, es sei die Ausgleichung verschiedener Ungleichheiten, eine Regelung des Invalidenwesens, die Anrechnung einer größeren Anzahl von Kriegsjahren, es sei endlich die ewährung eines Ehrensoldes an alle Kombattanten aus 1870/71 in Anregung ge⸗ bracht. So lange nicht alle berechtigten Anforderungen der Invaliden aus diesem Kriege erfüllt seien, könne er sich für die Abzweigung einer so bedeutenden Summe nicht erklären; man müsse das Geld, welches da sei, auch für die Invaliden erhalten. Wir haben heute einen Tag, wo das Volk sich wieder einmal selbst ehrt, indem es seine großen Männer ehrt (Lebhafter Beifall bei den Nationalliberalen), wo es einen . Mann aus jener großen Zeit mit Jubel empfängt. (Wiederholter Beifall. Diese Gelegenheit fordert doppelt heraus, auch der Männer des Volkes zu gedenken, welche jene große Zeit haben gestalten helfen.

Abg. Fritzen (Zentr) hält mit dem Vorredner den gewählten Weg nicht für den richtigen. Im Prinzip müsse darauf gehalten werden, daß der Fonds die Mittel behalte, welche der Bestimmung des Gesetzes gemäß verwendet werden sollen. Redner schließt sich dem Antrage auf Kommissionsberathung an.

Abg. Graf Roon (dkons.) ist namens seiner Fraktion mit der Vorberathung der Vorlage in einer Kommission einverstanden, und theilt für seine Person vollständig die Bedenken des Abg. Grafen von Oriola gegen die beabsichtigte Abzweigung einer so großen Summe aus den für die Invaliden bestimmten Reichsgeldern.

Abg. ,, (Soz.) protestiert gegen die Art, wie der Abg. Graf von Driola Gelegenheit genommen habe, den Fürsten Bismarck zu feiern. Redner vertritt ebenfalls die Ansprüche der Invaliden, und ist mit Kommissionsberathung der Vorlage einverstanden.

Der Gesetzentwurf geht darauf an die Budgetkommission.

Es folgt die zweite Berathung der Novelle zum Unter⸗ stützungswohnsitz, welche von der VII. Kommission im wesentlichen unverändert angenommen worden ist. Referent ist der Abg. Schröder.

Staatssekretär Dr. von Boetticher:

Ich empfinde nach dem lichtvollen Vortrag des Herrn Referenten nur das Bedürfniß, meinem Dank dafür Ausdruck zu geben, daß die Kommission so verständnißvoll die Annahme der Regierungs⸗ vorlage empfiehlt.

Die einzige Abänderung, die von der Kommission beschlossen worden ist, betrifft den 5 29. Die Gründe für diese Abänderung hat Ihnen der Herr Referent soeben auseinandergesetzt, und ich glaube namens der verbündeten Regierungen auch ohne daß bisher ein Beschluß gefaßt ist, für den aber im zustimmenden Sinne zu wirken ich mich anheischig mache das Einverständniß der verbündeten Re⸗ gierungen zu dieser Abänderung in Aussicht stellen zu können. Ich kann deshalb nur empfehlen, daß das Haus dem Vorschlag der Kom⸗ mission folgt.

Nr. L des Art. 1 der Vorlage (Verlegung der Alters⸗ grenze für den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes vom 24. auf das 18. Lebensjahr) wird ohne Debatte genehmigt.

Nr. H des Art. 1 ändert den 5 29 des bestehenden Gesetzes dahin ab, daß Personen, welche gegen Lohn oder

alt in einem Dienst- oder Arbeitsverhältniß stehen, oder deren ihren Unterstützungswohnsitz theilenden Angehörigen oder, wenn Lehrlinge am Dienst⸗ oder Arbeitsort erkranken, durch den Ortsarmenverband Kur und Verpflegung auf 15 (statt bisher 65 Wochen zu gewähren ist. Ein An⸗ spruch auf Erstattung der entstehenden Kur⸗ und Verpflegungskosten, beziehungsweise auf Uebernahme des Hilfsbedürftigen gegen einen anderen Armenverband erwächst in diesem Falle nur, wenn die Krankenpflege länger als 13 Wochen fortge et würde, nur für den über diese Frist hinausgehenden Zeitraum. Die gesperrten Worte sind Zusatz der Kommission.)

Nr. L des Art. 1 wird darauf angenommen, desgleichen ohne wesentliche Debatte Nr. II. V des Art. 1 nach den Kommissionsbeschlüssen.

Zu Nr. V des Art. 1 8 32a, welcher lautet:

Sofern nach Bestimmung der Landesgesetze einzelne Zweige der öffentlichen Armenpflege den Landarmenverbänden übertragen sind, gehen auf diese die Rechte und Pflichten der Ortsarmen⸗ derbände über“

beantragt der Abg. von Holleuffer (8kons.) das Wort „Sofern“ durch das Wort „Soweit“ zu ersetzen. Staatssekretär Dr. von Boetticher:

Ja, meine Herren, die Heiterkeit, mit der der Antrag vorhin aufgenommen wurde, als er verlesen wurde, ist eigentlich nicht be⸗ gründet. Es kann zwar auf den ersten Blick erscheinen, als ob die Worte sofern“ und „soweit“ gleichbedeutend seien. Allein hier ist dies nicht ganz der Fall. Der Antrag bezweckt, einen Zweifel, der bei der Anwendung des § 32a in der Praxis entstehen kann, zu be⸗ seitigen. Der Herr Vorredner hat ganz recht: Es ist die Absicht dieses Paragraphen, die Rechte und Pflichten der Ortsarmenverbände den weiteren Verbänden nur soweit zu übertragen, als sie nach Be⸗ stimmung der Landesgesetze mit der Fürsorge für gewisse Kategorien von

Unterstützungsbedürftigen beauftragt sind, und nicht etwa weiter. Es wird

verwaltung ist aber nun schon seit längerer Zeit bemüht, den Anleihetitel möglichst zu beschränken und möglichst alle Ausgaben aus dem ordentlichen Etat zu bestreiten; und ich glaube, gerade nachdem jetzt anerkannt ist, wie bedenklich es ist, unsere Schuld fortgesetzt zu vermehren, für die eine gesetzliche Tilgung nicht besteht, empfiehlt sich der Weg, die Bekriebsmittel durch neue Anleihekredite zu schaffen,

Die verbündeten Regierungen richten deshalb an den Reichstag die Bitte, die Vorlage einer wohlwollenden Prüfung zu unterziehen; jedenfalls bitten wir aber den Reichstag, sich nicht auf den Standpunkt zu stellen, auf den sich ein Redner bei der letzten Debatte über diesen Gesetzentwurf stellte, der einfach erklärte: „Die Reichsregierung ist ja bisher ausgekommen, sie wird wohl auch weiter auskommen und Mittel und Wege hierzu finden, und wir brauchen uns nicht den Kopf

Abg. Graf von Oriola (n.) beantragt die Verweisung des Entwurfs an die Budgetkommission. In der ersten Berathung der⸗ selben Vorlage in dem vorigen Reichstage und bei 6 der

also, wenn Sie das Wort sofern' durch soweit“ ersetzen, jeder Zweifel

graphen wäre, die Verpflichtung der weiteren Verbände über den Rahmen des Landesgesetzes hinaus auszudehnen. Das ist nicht die Absicht, und das Wort soweit“ trifft also die gesetzgeberische Absicht

Sie den Antrag des Abg. von Holleuffer annehmen.

Das Haus stimmt mit großer Majorität dem Antrag Holleuffer zu.

Nach Art. 2 soll 8 361 des Strafgesetzbuchs eine Er— 1 dahin erfahren, daß mit Haft bestraft werden kann, „wer, obschon er in der Lage ist, diejenigen, zu deren Er⸗ nährung er verpflichtet ist, zu unterhalten, sich der Unter— haltungspflicht trotz der Aufforderung der zuständigen Behörde derart entzieht, daß durch Vermittelung der Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß“.

t Molkenbuüuhr (Soz.): Diese Fassung eines neuen straf⸗ baren Verschuldens könnte leicht Unschuldige in Strafe bringen. Wenn die Ehefrau eine schlechte Hausfrau ist und das Geld verthut, könnte der Mann noch obendrein bestraft werden, während die Frau die Schuldige ist. Aber sehr leicht könnte der praktische ra die Absicht dieses Strafgesetzes in ihr Gegentheil verkehren; ein Mann, der noch Arbeit hat, könnte sie leicht, wenn er auf Grund dieser Vorschrift bestraft wird, verlieren; dann könnte man ihn zwar nicht mehr bestrafen, aber die Folge wäre doch, daß dann von ihm garnichts mehr zu haben sein würde. Bedenklich sei auch, daß hier nicht bloß Haft bis zu 6 Wochen, sondern Korrektionshaft bis zu 2 Jahren verhängt werden kann. Wir werden gegen das ganze Gesetz stimmen, wenn es nur mit dieser Bestimmung zu stande kommen kann. Die bestehende Gesetzgebung ist vollständig ausreichend.

Staatssekretär Dr. von Boetticher:

Es ist ja ganz richtig, daß der Abg. Molkenbuhr sich schon bei früherer Gelegenheit gegen die Ihnen hier vorgeschlagene Vorschrift gewendet hat; ich glaube aber bemerkt zu haben, daß er heute nicht mehr auf dem absolut ablehnenden Standpunkt gegenüber dem Vor⸗ schlage einer Bestrafung derjenigen steht, welche die Fürsorge für ihre Angehörigen vernachlässigen. Der Herr Abgeordnete hat nun heute zur Begründung seiner Auffassung, wonach es sich empfiehlt, die Vor⸗ schrift des Artikels 2 nicht anzunehmen, sich auf eine Nummer des 361 des Strafgesetzbuchs bezogen, wönach es unter gewissen Um— ständen allerdings schon jetzt zulässig ist, solche Personen, welche die Alimentenpflicht gegenüber ihren Angehörigen vernachlässigen, zu be⸗ strafen. Nach §5 361 Nummer 5 ist nämlich straffällig, wer sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalt hin giebt, daß er in einen Zustand geräth, in welchem zu seinem Unterhalt oder zum Unterhalt derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittelung der Behörden fremde Hilfe in

Anspruch genommen werden muß.

Der Herr Vorredner ist der Meinung ich entnehme das wenig⸗ stens aus seinen Ausführungen daß er gegen diesen Paragraphen und seine Anwendung nicht allzuviel zu erinnern hat; er hält diese Vor⸗ schrift aber für ausreichend, da sie ja eine Waffe gegen die— jenigen Leute gewährt, welche ihre Angehörigen hilflos verlassen, ob⸗ wohl sie zu ihrer Ernährung verpflichtet sind.

Meine Herren, diese Waffe genügt nicht. Die Erfahrung lehrt, daß in neuerer Zeit bei der Fluktuation unserer arbeitenden Bevölke⸗ rung immer häufiger Arbeiter in die großen Städte ziehen, Frauen und Kinder daheim zurücklassen und nun von ihrem Verdienst, er mag gering oder er mag gut sein, nichts zur Unterstützung ihrer Angehörigen gewähren. Das ist ein sozialer Uebelstand, und wenn sich der Herr Vorredner die Folgen dieses Zustandes klar macht, so glaube ich, kann er auch von dem sozialpolitischen Progamm seiner Partei aus nicht wünschen, daß dieser Zustand größere Dimensionen annimmt; auch er müßte, wenn ich anders seine sozialpolitischen Ziele recht verstehe, danach hinstreben, daß eine schärfere Waffe gegen diesen Zustand, der jedenfalls kein normaler ist, gegeben wird.

Die Sache steht in der Praxis so, daß junge Leute, die geheirathet und Kinder in die Welt gesetzt haben, ihre Heimath dann verlassen und in die großen Städte ziehen; dort sind sie natürlich den Ver⸗ lockungen der großen Städte ausgesetzt und finden, daß der bessere Verdienst, den sie in den großen Städten haben und den man ihnen ja auch im vollen Maße gönnen kann, sich auch zu an— deren Dingen nützlich verwenden läßt, als gerade zur Unter— haltung der Angehörigen. Meine Herren, ich habe bereits früher daran erinnert und ich glaube, es steht auch in den Motiven zum Gesetzentwurf daß hier in Berlin in einem einzigen Jahre 600 solcher Fälle konstatiert sind, in denen an die Angehörigen von arbeits⸗ fähigen Personen mit gutem Verdienst Unterstützungen aus öffentlichen Mitteln, und zwar zumeist auf die Dauer, gewährt werden mußten. Es braucht ja der Fall nicht immer so zu liegen, daß die Unmöglichkeit oder der mangelnde Wille, für die Unterstützung der Angehörigen zu sorgen, durch eine unwirthschaftliche Frau herbeigeführt wird. Wie gesagt, die Fälle, die ich Ihnen bezeichnet habe und deren die Praxis sehr viele zu Tage fördert, sind, glaube ich, bezeichnend und sollten nothwendigerweise dazu führen, daß man nach einer Remedur auf diesem Gebiet sucht. Und deshalb, meine Herren, möchte ich Sie bitten, diesen Paragraphen doch in Uebereinstimmung mit den Be— schlüssen Ihrer Kommission die Zustimmung zu geben.

Selbstverständlich gelangt die Strafvorschrift nicht zur Anwendung, wenn der Fall so liegt, daß billigerweise von dem betreffenden Ernährer nicht verlangt werden kann, daß er von seinem Lohne etwas zur Unterhaltung seiner Familie abgiebt. Eine absolute Garantie wird sich ja in dieser Beziehung nicht schaffen lassen; aber auf der andern Seite muß es angestrebt werden, daß der, der eine Familie gründet, auch für die Unterhaltung dieser Familie sorgt. Und da wir die Erfahrung gemacht haben, daß die bisherigen Vorschriften hierzu nicht ausreichen, so empfehle ich Ihnen wiederholt die Annahme der in Vorschlag gebrachten neuen Bestimmung, damit die Mißstände, von denen ich gesprochen habe, beseitigt werden.

Abg. Molkenbuhr (Soz.) leugnet nicht, daß diese Fälle viel⸗ fach vorkommen. Man dürfe aber nicht annehmen, daß diese deute auch sofort die i von der Ferne aus ernähren können; sie ziehen aus, um Arbeit zu suchen und haben erst eine Reihe anderer Ausgaben zu decken, ehe sie an ihre Familie denken können. In den verschiedenen Landesgesetzen bestehe auch die Verpflichtung, daß Kinder ihre Eltern zu ernähren haben; auf Grund dieses Paragra— phen könnten also auch Kinder, die schon selbst Familie haben, zur Ernährung ibrer Eltern angehalten werden. Auch frage sich, denn der gewollte Zweck erreicht werde. Die Armen jen wür h durch die Anwendung diefes Paragraphen nicht besser gestellt sein. Es würden viele Verurtheilungen stattfinden, und unter denselben würden sich cbenso viel Unschuldige wie Schuldige befinden. Cin folches Gesetz

könne er nicht mitmachen.

nach der Richtung ausgeschlossen, als ob etwa die Absicht dieses Para-

besser als das Wort sofern'. Ich kann daher nur empfehlen, daß

Art. 2 wird darauf unverändert angenommen,.

Nach Art. 3 soll die Novelle am 1. April 1894 in Kraft treten; der Reichskanzler wird ermächtigt, eine neue Text⸗ redaktion des veränderten Gesetzes herauszugeben. Der Artikel wird genehmigt. ; .

In einer Resolution empfiehlt die Kommission, die ver⸗ bündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstag bald⸗ möglichst eine Vorlage zu machen, betreffend die Ausdehnung des Gesetzes von 1870 auf Elsaß⸗Lothringen. Die eingegangenen Petitionen sollen durch die gefaßten Beschlüsse für erledigt erklärt werden. .

Abg. Weber-⸗Heidelberg (ul) empfiehlt die Resolutien zur An nahme, da die Erklärung der elsässischen Regierung, daß sie die be⸗ züglichen gesetzgeberischen Vorarbeiten in Angriff nehmen werde, ihm nicht genügt und er sich, von einem ausdrücklichen Beschlusse des Reichstags eine größere Wirkung verspricht.

Staatssekretär Dr. von Boetticher:

Ich habe mich schon bei der ersten Berathung des vorliegenden Gesetzentwurfs dahin ausgesprochen, daß die Einführung unseres Unterstützungswohnsitzgesetzes in Elsaß⸗Lothringen auch von uns als ein Bedürfniß anerkannt wird und daß auch die elsässische Regierung sich garnicht der Ueberzeugung verschließt, daß die Einführung dieses Gesetzes im Lande wird erfolgen müssen. Ich theile daher nicht die Auffassung des Herrn Vorredners, daß es der elsaässischen Regierung nicht Ernst sei mit dieser ihrer Meinungsäußerung, und habe im Gegentheil aus einem neuerdings mir zugegangenen Schreiben des Kaiserlichen Herrn Statthalters die Ueberzeugung gewonnen, daß die elsässische Regierung in dem Moment die Ein⸗ führung des Unterstützungswohnsitzgesetzes in den Reichslanden in An⸗ griff nehmen wird, wo die Vorbedingungen für diese Einführung er— füllt sein werden. .

Schon früher habe ich mir als Grund, weshalb man in Elsaß⸗ Lothringen bisher mit der Einführung des Unterstützungswohnsitz⸗ gesetzes nicht vorgegangen sei, anzuführen erlaubt, daß die gegenwärtige Verwaltungsorganisation des Landes und auch die gegenwärtige Steuergesetzgebung der Durchführung der Armenpflege auf dem Boden des Unterstützungswohnsitzgesetzes große Schwierigkeiten und Hindernisse bereitet. Die Regierung von Elsaß ⸗Lothringen nimmt aber an, daß, wenn sie erst die von ihr beabsichtigte neue Gemeindeorganisation durchgeführt haben wird und damit auch den Einzelgemeinden ein Besteuerungsrecht über den Rahmen des jetzigen hinaus verliehen haben wird, dann der Einführung des Unterstützungswohnsitzgesetzes ungleich geringere Hindernisse im Wege stehen werden, als das zur Zeit nech der Fall ist.

Der Herr Statthalter, der mich mit diesem Schreiben beehrt hat, spritht seine Ueberzeugung dahin aus, daß die Bewohner von Elsaß Lothringen zwar in so fern kein Interesse an der Einführung jenes Gesetzes hätten, als die Armenpflege innerhalb der Reichs lande nicht bloß eine ausreichende, sondern sogar eine ausgiebige sei; er erkennt aber gleichwohl an, daß man sich der Einführung des Reiche gesetzes über den Unterstützungswohnsitz nicht widersetzen dürfe, vielmehr alles thun müsse, um auf diesem Gebiet zu demselben Recht zu gelangen, das im übrigen Deutschland in Geltung sei. Ich glaube hiernach, daß wir, wenn auch vielleicht nicht in so kurzer Frist, wie es der Herr Vorredner wünscht, doch über kurz oder lang zu dem Ziele ge⸗ langen werden, welches er anstrebt. -

Wenn in der Resolution in Anregung gebracht ist, daß durch die Reichsgesetzcebung die Einführung des Unterstützungswohnsitz. gesetzs in Elsaß - Lothringen erfolgen soll, so will ich einräumen, daß dieser Weg allerdings nicht ausgeschlossen ist. Es ist aber mit Rücksicht auf die Bedenken und auf die Schwierig keiten, die aus der zur Zeit bestehenden Steuergesetzgebung und Gemeindegesetzgebung hergeleitet werden, immerhin fraglich, ob es nicht vielleicht den Vorzug verdienen würde, wenn Elsaß Lothringen sich selber dazu entschließen könnte, im Wege der Gesetzgebung die erwünschte Rechtseinheit herbeizuführen. Sollte das aber nicht geschehen, und sollte nach der Ueberzeugung der Reichsregierung die Lösung der Frage sich zu lange Zeit verzögern, so bin ich meinerseits gern bereit, zu prüfen, ob nicht auf dem Wege der Reichsgesetzgebung vorzugehen sein wird, um der Resolution gerecht zu werden.

Abg. Gröber (Sentr.) wendet sich gegen die Resolution. Er

kann nicht anerkennen, daß das Gesetz den speziellen Bedürfnissen der Reichslande entspreche, und will einer Ausdehnung desselben um so weniger das Wort in einer Zeit reden, wo der Prinzipienkampf zwischen Unterstützungswohnsitz und Heimathrecht noch immer tobe und von der Entscheidung noch weit entfernt sei. Daß die Reichs⸗ länder mit ihrer Gesetzgebung ganz zufrieden seien, hätten die reichk⸗ ländischen ö die leider heute im Saale vermißt würden, oft genug ausgesprochen. ö ; f * . (Soz.): Wenn der Abg. Gröber glaubt, die elsässischen Abgeordneten hier vertreten zu müssen, so erlaube ich mir, ihm aus meiner Partei zwei elsässische Abgeordnete zu präsentieren. Man darf die Stimmen einzelner Abgeortneter nicht als die Stimmen der Bevölkerung ansehen. Diese Bevölkerung kennt die Armengesetzgebung als solche garnicht, sie kennt nur die Wirkungen der Armenpflege. Wenn der Abg. Winterer und der Kaiserliche Statthalter sich für die bentitz Armengesetzgebung erklären, so erwidere ich darauf mit der Berufung auf die Broschüre des früheren Kreisdirektors Sittel, daß diese Gesetzgebung den Bedürf nissen des Landes nicht mehr entspricht, daß die freiwillige Armen⸗ pflege ungenügend ist. Auch 1887 haben bei gere ,. Moh⸗ runger Petition die elsässischen Abgeordneten die reiwillige Armen. pflege sehr gerühmt; seitdem aber ist durch die schlechteren Zeiten, durch die Auswanderung vieler Reichen die freiwillige Armenpflege fo geringfügig geworden, daß sie auch nur den dringendsten Bedürfnissen nicht mehr genügt. Früher sprach man davon, daß die Steuergesetzgebung reformiert sein müsse, ehe das Unterstůtzungs⸗ wohnsitzgesetz . werden könne; jetzt heißt es plößlich, auch die neue Gemeindeordnung müsse zuvor durchgeführt sein. Gegen eine Regelung der Steuergesetzgebung hahen wir nichts, aber die Gemeindegesetzgebung hat mit dem Unterstũtzungswohnsitz garnichts emein. Will der Reichstag so lange warten, so wird der Unter⸗ , wohl nie eingeführt werden. Wir sind für die Ein⸗ führung des Ünterstützungswohnsitzgesetzes. Die evölkerung wird auch nicht sagen können, daß ihr das Gesetz mit Gewalt aufgedrangt wird, wenn wir nur in die Lage kommen, ihr die Vortheile desselben klar zu machen, wenn man uns die Versammlungen dazu gestattet. Aber wir haben noch ganz andere Klagen, die bis jetzt berhinderten, daß Elfaß fich an die Brust der Mutter Deutschland werfen konnte; wir kranken an den vielen Ausnahmegesetzen. Die müssen Sie uns aufheben helfen, dann wird es besser werden! . ö

Abg Gröber (3: Der Abg. Bueb hat einen Beweis dafür, daß die Bevölkerung hee bisherige Armenpflege nicht mehr brauchen könne, nicht geführt. Das Bedürfniß der Soꝛialdemolrati⸗ sei nicht das n, . der reichsländifchen epölkerung, Für die Beseitigung der Ausnahmegesetze werde auch das Zentrum stimmen.

Abg. Bueb (Soz.): Ich habe meine Behauptung gegen die Behaupkung des Abg. Gröber aufgestellt; er hat für seine esichte Punkte auch keine Bewesse erbracht. Wenn das lothringische Volt sich für irgend etwas interessieren soll, was irgendwie nach Politit aussieht, ann kann es nur durch Versammlungen u. s. w. dazu

geführt werden. Diese werden aber durch die , , . und die Diktatur unmöglich gemacht. Das Volk „verlangt nach einer Aenderung des bestehenden Zustandes, davon bin ich überzeugt; 2 hat sich aber bisher um diefe Dinge überhaupt nicht kümmern önnen.

Abg. Fritzen (Zentr.) theilt als Rheinländer auch den dringen⸗ den Wunsch und glebt sich der Hoffnung hin, daß die verbündeten Regierungen mit den Reichslanden in Verbindung treten werden, um in irgend einer Weise dem Uebelstande ein Ende zu machen.

Mit einer kurzen Erwiderung des Abg. Gröber gegen die letzte Bemerkung des Abg. Bueb schließt die Debatte. Die Resolution wird angenommen. Ueber die Petitionen wird erst in der dritten Lesung abgestimmt werden. Darauf wird die Vertagung der Sitzung beschlossen. Schluß nach 5 Uhr. Nächste Sitzung Montag 1 Uhr. (Reichs⸗ Finanzreform.) / ]

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 6. Sitzung vom 26. Januar 1894.

Bei Fortsetzung der Besprechung der Interpellation der Abgg. von Kröcher und Genossen (. den Anfangs⸗ bericht in der gestr. Nr. d. Bl.) nimmt nach dem Abg. Grafen Strachwitz (Zentr.) das Wort der .

Abg. Ehlers (frs. Vg.): Auf die internationale Doppel⸗ währung bezog fich die gestrige Antwort des Ministers wohl nicht; man darf aber wohl annehmen, daß die Regierung diesen. Weg nicht für gangbar hält. Wenn die Konservativen eine Bedingung für die Annahme eines russischen Handelsvertrags aufstellen, so wäre es beffer gewesen, im Reichstage mit den verbündeten Regierungen darüber zu verhandeln. Es ist übrigens schade, daß den Herren diese Bedingung nicht schon früher eingefallen ist. Ob die Entwickelung eine richtige ist, daß der Bund der Landwirthe als oberste Instanz über die Handelsverträge befindet, lasse ich dahingestellt. Die Interpellatiß'n enthält die Anfrage, was die Regierung zu thun gedenke, um die Landwirthschaft rentabler zu machen. Ich habe auch ein Interesse an der Landwirthschaft, denn ich habe als Stadt⸗ kämmerer von Danzig mit mehreren hundert Pächtern zu thun, welche Ländereien, die der Stadt gehören, gepachtet haben. Die Stadt Danzig würde es sehr schmerzlich empfinden, wenn die Ein⸗ nahmen aus diesem Landbesitz sich vermindern würden, Es ist gesagt worden auf die Bemerkung Nickert's, daß auch die Rhederei sich in ungünstiger Lage befindet: ja, das liege daran, daß der Bauer kein Geld habe. Aber ich muß feststellen, daß die Rhederei doch sehr

ute Geschäfte machen kann, auch wenn es den Bauern schlecht geht. Von einem einzelnen Berufsstande kann man nicht behaupten, daß von ihm das Gedeihen der Allgemeinheit abhänge. Die Mißstände in der Landwirthschaft sind eine ö der großen Umwälzungen des Verkehrs und der sonstigen Verhälinisse. Man spricht immer von der monarchischen Gesinnung und dem Patriotismus der Landwirthe. Es ist nicht richtig, daß solche Eigenschaften wie Tugend, Patrio· tismus, Niederträchtigkeit sich immer nur bei einem gewissen Stande zeigen. Die Rhederei hat jede Subvention . und wenn Herr Meyer in Bremen sie schließlich angenommen hat, so bat er es nur gethan, weil sonst die Hamburger sie genommen hätten. Nicht bloß der Stol; der Rheder war entscheidend, sondern auch ihre wirthschaft⸗· ssche Einsicht, weil sie sich saßten, solche Staatshilfe nütze doch nichts. Auf die Auseinandersetzung, ob ein Nothstand der Land⸗ wirthschaft vorliege, will ich nicht eingehen. Wenn es der Land⸗ wirthschaft auch sehr gut ginge, und es zeigte. ich en Weg, wie es ihr noch besser gehen könnte, dann würde ich diesen Weg ein⸗ schlagen. Entscheidend ist nicht, ob die Landwirthschaft sich in einer Nothlage befindet, sondern ob die Mittel, welche man vorschlägt, geeignet sind, die Verhältnisse zu bessern. Es ist, sehr auffällig, daß eine so große Partei, die bei den Ministern, in allen Parla⸗ menten n. f. w. die große Mehrheit hat, so unzufrieden ist. Das läßt tief blicken. Sollte das nicht daher kommen, daß die Forde⸗ rungen dieser Unzufriedenen nicht erfüllt werden können von den Männern, welche die Verantwortung dafür zu übernehmen hätten? In erster Reihe hat man die Ablehnung des russischen Bandels vertrages vorgeschlagen. Der 5 Mark-Zoll für Getreide und der Zollkrieg sollen aufrecht erhalten werden. Ich lasse mir nicht einreden, daß das im Interesse der Landwirthschaft liegen kann. Für die Landwirthschaft giebt es nichts Schlimmeres, als die Auf⸗ rechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes. 2st⸗ und Wesipreußen müssen, um an den Markt zu kommen, große Wege machen, und alle Staffeltarife, die von den Landwirthen des Westens bekämpft werden, heifen dabei nichts. Der Handelsvertrag mit Rußland ist eine Sache, die man früher für ziemlich unerfüllbar hielt. Jetzt wird ein solcher Vertrag angekündigt, und nun nimmt man die Aufhebung des Differentlalzolles zum Vorwand, um ihn zu verwerfen! Die Herren im Reichstag werden sich aber die Sache wohl noch erst einmal überlegen; jedenfalls müssen sie sich den Handelsvertrag erst einmal forgfältig ansehen. Denn mit der Ablehnung des Vertrages ist absolut nicht geholfen. Ich habe die Pacht für ein Pachtgut der Stadt Danzig von 200 t auf 8000 e ermäßigen müssen. Der Pächter hatte vor 12 Jahren unzweifelhaft zu hoch gepachtet; darin lag der Fehler. Wenn die Nothlage der Landwirthschaft wirklich so groß ist,

wie sie geschil dert wird, dann ist die Landwirthschaft zu Grunde gegangen,

ehe die komplizierte Frage der Doppelwährung gelöst ist. Ich bin nicht zu der Ueberzengung gekommen, daß durch die Vorschläge, die bier gemacht find, die Zustände meiner Pächter sich verbessern würden. Eine Erleichterung für die Landwirthschaft des Ostens würde die Aufhebung des Identitätsnachweises sein. Die Frage ist leider jetzt so kom⸗ pliziert geworden, daß zu befürchten ist, sie bleibt jetzt auch wieder im Sande stecken. Die ostpreußischen Landwirthe würden dadurch wieder ihre alten Märkte in Skandinavien und England erreichen können. Der Finanz⸗Minister Scholz, den wir bei seiner Auwesenheit in Danzig über diese Frage einmal interpellierten, erklärte damals: Eine solche Maßregel würde ein Loch in das Netz der Schutzzölle reißen, und wenn eln solches Loch einmal vorhanden sei, dann wisse man nicht, was hindurchschlüpfe. Ich will das Bild von dem Netz auf⸗ nehmen; dann muß ich aber sagen: das Netz ist aufgespannt, um schädliche Einfuhr von Deutschland fernzuhalten. Es wird aber mancher Verkehr in das Netz mit eingefangen, der ein sehr nützlicher ist. Ich würde jetzt gern den Finanz⸗Minister Miquel, wenn er an— wesend wäre, darüber interpellieren, wie er sich zur Aufhebung des Identitätsnachweises stellt. Ich vermuthe aber, er würde nicht ant⸗ worten. . . Abg. von Schalscha (Zentr.) bemerkt zunä jst, daß die Partei des BVorredners nur eine sehr kleine sei, also im Lande kein Gewicht habe; das müsse festgestellt werden, damit man seinen Worten kein so großes Gewicht beilege. Dann fährt Redner. fort; Daß die Rhederei vom Staate keine Subvention nehmen will, ist begreiflich. Die Rhederei beruht nicht bloß im Inlande, sie macht ihre Verdienste im Auslande und ist unabhängig von der Scholle, während der Bauer abhängig ist von der Scholle. Statt der Nothlage der Land⸗ wirthschaft abzuhelfen, hat man die Handelsverträge zu ihrem Schaden abgefchlossen. Man hat der Landwirthschaft den guten Rath ge⸗ eben, sie möge 50 o abschreiben. dr fen hätte eigentlich der . protestleren müssen; denn was soll aus seinem Vermögen⸗ t

euergefetz werden, wenn die Landwirthe 59 90 / abschreiben? Redner e . * sodann gegen die gestrigen Ausführungen Broemel's, Er erklärt, daß die , ,, . ich soviel wie möglich einschränken.

her fie könnten den Arbeitern, welche sie beschäftigen, den Schmacht⸗ 4 nicht enger ziehen; da habe die n nun! eine Grenze. Redner wendet sich auch gegen die Ausführungen des Staats sektetãrs Freiherrn von Marschall im Reichstage. Er kadelt es besondert, daß man die Handelsverträge auf so lange Zeit abgeschlossen habe. Die Stabilität könne nicht ausschlaggebend sein; denn die Stabilität sei

jetzt eine Stabilität des Elends, und diese brauche nicht konserviert zu

*

werden. Jedenfalls sollte man jetzt den russischen Vertrag nicht auf längere Zest binden, sondern eine jaͤhrliche Kündigung stipulteren. Der Tandwirkhschafts. Minister sage ja nichts; er glaube ein Arcanum in der Tasche zu haben in den Landwirthschaftskammern. Aber der Doktor folle noch geboren werden, der im stande sei, durch ein noch so flarkes Elixir einen Kadaver wieder zu beleben. Die Landwirth⸗ schaftskammern würden nicht helfen, wenn nicht im Bundesrgth das⸗ jenige mehr zur Geltung komme, was der Landwirthschafts-Minister im Herrenhause gesagt habe, als das, was der Handels Minister im Abgeordnetenhause gesagt habe. 2

Abg. Rickert (frf. Vg); Herr von Schalscha scheint es schmerz⸗ lich zu empfinden, daß so biele von uns reden. Von den Freunden der Interpellation sind noch eine ganze Reihe gemeldet; wir werden immer mit unseren Antworten folgen, damit nicht der Schein er⸗

weckt wird, als wenn hier Gründe vorgebracht würden, die wir nicht

widerlegen können. Die Reden sind ziemlich kleü Aut geworden. Herr von Erffa hat den Rückzug gegenüber der Regierung maskiert durch eine Kanonade gegen uns. Er meinte, der Reichstag werde das Votum des Landtags beachten. Bringen Sie doch einen Antrag ein! Vor diefer Interpellation wird sich der Reichstag nicht fürchten. Was wollen Sie denn eigentlich? habe ich Herrn von Heydebrand schon gefragt. Aus den Reden. so sehr man sie auch preßt, kommt nicht ein Tropfen brauchbares Oel heraus. Der Handels⸗Minister hat auch gesagt: Ich möchte ja gern einen Weg gehen, aber welchen denn? Was wollen Sie denn eigentlich? Der Vertrag mit Oesterreich legt den GetreidezolUl auf 12 Jahre fest; diese Ermäßigung kommt allen meistbegünstigten Staaten zu gute. Wird die Landwirthschaft nun weiter geschädigt, wenn die Grenzen gegenüber Rumänien und Rußland geöffnet werden? Wird der östlichen Landwirthschaft genützt durch die Aufrechterhaltung des Zollkrieges? Sie werden sich hüten, diese Frage zu beiahen. Einen Vertrag mit jährlicher Kündigung abzuschließen, wird niemand im Lande billigen; dann lieher gar keinen Handelsvertrag. Herr pon Erffa hat mich angefahren deswegen, weil ich gesagt habe: Wer für den österreichischen und rumänischen Handelsvertrag ge stimmt habe, könne nicht gegen den russischen Vertrag stimmen. Ich habe nur dasselbe wiederholt, was Graf Kanitz in seiner Broschũre ausgesprochen hat; auch Herr Kropatscheck hat erklärt: wer beim öfferreichischen Handelspertrag A gesagt habe, werde das ganze Alphabet durchbuchstabieren müssen, bis er zum russischen Handels= vertrag komme. Graf Mirbach hat vor einem Jahre noch gesagt: wenn Rußland der Zoll von 3,50 „M konzediert würde unter gleich⸗ zeitiger Aufhebung des Identitätsnachweises, dann würde die Land⸗ wirthschaft im Ssten besser stehen als jetzt. Gerade die Freunde des Grafen Mirbach haben die Annahme des Identitätsnachweises verhindert; erst jetzt begreifen sie, daß es sich um die Interessen der Landwirthschaft handelt. Ich fürchte, daß es jetzt nicht leicht fein wird, zu einem Ergebniß zu gelangen. Der Zollkrieg mit Rußland ist ruinierend für die östlichen Provinzen. Wenn der Zollkrieg verlängert wird durch Ablehnung des Handels⸗ vertrags, dann wird aus der wirthschaftlichen Frage eine eminent politische. Wer die Bevölkerung jenseits der russischen Grenze kennt, der weiß, daß der Verkehr nicht eingeschränkt werden kann. Der Landwirthschafts⸗Minister schweigt. Das finde ich begreiflich; er hat eine schwere Stellung. Es wird mir“ mitgetheilt, daß die Regie⸗ rungs. Präsidenten an die Sparkassen die Frage gerichtet, haben, wie sie fich stellen würden zu einer Umwandlung ihrer Hypotheken auf Landgütern in Rentenschulden. Dadurch muß die Beunruhigung in weite Kreise getragen werden. Ist eine solche Untersuchung von der Zentralstelle angeordnet worden? Durch solche unklaren Pläne wird die Unzufriedenheit ers gt und den Sozialdemokraten Wasser auf ihre Mühle geliefert. Gründe sind gegen den Handelspertrag nicht vor⸗ geführt worden. Ich habe die Meinung, daß ein Handels ertrag mnit Rußland eines der bedeutendsten wirthschaftlichen und politischen Werke des Jahrhunderts sein wird. Die Regierung kann stolz darauf sein, daß sie etwas zu stande gebracht hat, was Fürst Bismarck durchzusetzen nicht mächtig genug gewesen ist. .

ÄÜbg. Freiherr von Hammerstein (kons.): Herr Rickert kann immer die Gründe der Gegner nicht erkennen; es ist wirklich kaum mehr möglich, mit ihm zu debattieren. Ich habe in seiner Rede gar keine sachlichen Gründe gehört. Er verwundert sich über die natürlichsten Dinge. Liegt es nicht in der Kompetenz der Re⸗ gierungs⸗Präsidenten, sich um Auskunft an die kompetenten Stellen zu wenden bezüglich eines Projekts, welches von der Regierung aut gegangen ist? Herr Rickert fragt, ob durch den Handelsvertrag mit Rußland die Landwirthschaft noch weiter geschädigt wird als durch die früheren Handelsverträge. Die letzteren hält Herr Rickert für einen Vortheil, während wir gerade wegen der Bindung der Verträge aj I Jahre diefelben für einen Nachtheil halten, weil wir dadur wehrlos sind gegenüber einem Preissturz und einer Verschlechterung der Währungsverhältnisse. Die Landwirthschaft wird geschädigt dadurch, daß Rußland wegen seiner schlechteren Valuta eine Ausfuhr⸗ prämie für sein Getreide Oesterreich gegenüber erlangt hat. Paasche bestreitet das, aber Professor Adolph Wagner bestätigt das, und jeder, der in Rußland gelebt hat, hat es erfahren. Man hat unfere Interpellation getadelt: sie sei nur eingebracht, um der Regierung Verlegenheit zu bereiten. Das ist nicht richtig. Es ist nicht zu leugnen, daß jwischen der konservativen Partei im Reichstag und dem Reichskanzler eine Divergenz in sozialpolitischer und wirthschaftlicher Beziehung besteht, die nicht leicht auszugleichen ist. Wenn der Reichskanzler erklärt hat, daß Deutschland zu einem Industriestaat sich entwickeln müsse, um die zunehmende. Beyöl⸗ kerung zu ernähren, und daß es die Pflicht der Landwirthschaft sei, die erforderlichen Opfer zu bringen, so steht das schroff in Wider⸗ spruch mit unserer Anschauung, daß die Landwirthschaft die Grund⸗ lage des ganzen Staatslebens sei. Solche Anschauungen lassen sich nicht vereinigen; darüber giebt es keine Verstän⸗ digung. Wenn wir uns an die pieußische Staatsregierung wenden, ihren Einfluß im Bundesrath geltend zu machen, dann thun wir nur etwas, wozu wir im Interesse des Staats und unseren Wählern gegenüber verpflichtet sind. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß das preußische Staats⸗Ministerium niemals Gelegenheit gehabt hak, rechtzeitig und in allen Stadien der handelspolitischen Ver⸗ tragsverbandlungen Stellung zu nehmen. Als wir 1887 im Reichs⸗ tag einen Gesetzentwurf wegen Erhöhung der Getreidezölle erhielten, enthielten die Motive den Satz, daß die Landwirthschaft dieser Hilfe unverzüglich bedürfe. Wenn das Staats. Ministerium dann ISH die Zustimmung dazu gegeben hat, daß diese so motivierten Zölle ermäßigt werden, dann müßte doch entweder die Lage der Landwirthschaft fich gebessert haben oder die Lage der In⸗ dustrie inzwischen eine so gefährdete geworden sein, daß im Interesse der wirthschaftlichen Interessen Preußens und des Reichs die neue Handelspolitik nothwendig war. Von der Bes⸗ serung der Lage der Landwirthschaft ist aber nirgends etwas zu be merken gewesen; im Gegentheil, die Regierung erkennt in den Mo⸗ tiven zum Landwirthschaftskammer⸗Gesetz den Nothstand an, Daß die Industrie nicht gelitten hat, zeigen die Dividenden großer Fabriken (die Redner zusammengestellt hat), die durchschnittlich z o/o Dividende ergeben haben. Woher sind die Motive gekommen, welche das preußische Staats Ministerium veranlaßt haben, der Handelspolitik des neuen Kurses zuzustimmen? Ich muß annehmen, daß es dem preußischen Staats Ministerium nicht möglich gewesen ist, seine An⸗ ficht wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Ich muß annehmen, daß diese Verhandlungen von Reichs wegen geführt sind, und daß der Regierung mehr oder weniger faits accomplis vorgelegt worden sind. Graf Ballestrem hat. erklärt, daß die Industrie⸗ zölle nicht so wie die Getreidezölle erhöht sind. Ich fordere den Grafen Ballestrem auf, einen einzigen Fall anzuführen, wo die Industrie einen größeren Zollschuß verlangt hat, dem wir nicht zugestimmt haben. Die Industrie bat uns im Stich gelassen. Hätte sie sich gegen die Handelsverträge erklärt, so würden . nicht angenommen worden iin. Denn die Stimmen der Konservativen haben dabei nicht den Ausschlag gegeben. Graf Ballestrem meint, daß man aus der Land⸗ wirthschaft mehr Geld herausschlagen könne, wenn man kleinere

Pachthöfe einrichte. Ja, wenn man die Landgüter nur als Finanz

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