1894 / 50 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 27 Feb 1894 18:00:01 GMT) scan diff

überzeugt, daß keine Regierung in Deutschland die Verantwortlichkeit für ein solches Vorgehen übernehmen würde. (Sehr richtig! links.)

Man mag Einwendungen gegen diesen Vertrag machen, man mag finden, daß da zu viel gegeben, am anderen Platz zu wenig erreicht ist, dieser Kritik zu unterliegen, ist das Schicksal aller Tarifverträge. Aber die eine Thatsache bringt man nicht aus der Welt, die bestebt und bleibt bestehen, daß dieser deutsch⸗russische Vertrag in der Ge⸗ schichte der europäischen Handelspolitik einen Markstein bilden werde von weittragender Bedeutung für die ganze Entwickelung derselben. (Sebr richtig) Und, meine Herren, wenn heute der Unmuth sich in bitteren Worten Luft macht, ich sehe mit voller Ruhe dem Tage ent- gegen, wo auch bei uns die Erkenntniß allgemein wird, daß es für unsere deutsche Politik ein richtiger Weg war, der mit diesem Vertrag seinen logischen Abschluß gefunden hat. Zum ersten Mal hat Rußland seit seinem Bestand mit diesem Vertrag einen er⸗ heblichen Theil seines Tarifs auf lange Zeit hinaus einem anderen Staate gegenüber gebunden und sich damit bei aller Aufrechterhaltung seines Schutzzollsystems von einem System losgesagt, das es bisher unentwegt festgehalten, von dem System des autonomen Zolltariss; und es ist ein Zeichen unserer Zeit, daß in dem Augenblick, wo Ruß— land diese entscheidende Wendung in seiner Zollpolitik vornimmt, hier in Deutschland die verbündeten Regierungen scharfen Angriffen aus—⸗ gesetzt sind und der Herr Vorredner hat sie wiederholt weil wir in Deutschland nicht die umgekehrte Wendung gemacht haben, daß wir festgehalten haben an der Vertragspolitik, die traditionell ge⸗ wesen ist in Preußen, im Zollverein, in Deutschland, und daß wir uns weigerten, ein System anzunehmen, das Deutschland allezeit fremd war, und das heute das große, mächtige Rußland als un⸗— möglich und unhaltbar preisgiebt. (Sehr richtig! aus der Mitte und links.)

Auf die prinzipielle Frage: Vertragstarif oder autonomer Tarif? gehe ich nicht mehr ein; die Frage ist auf zehn Jahre entschieden, wir haben sie wahrhaftig gründlich und erschöpfend hier behandelt, und ich erkläre mich für völlig unfähig, zu dieser Frage irgend einen neuen Gedanken beizubringen und konstatiere mit Genugthuung aus den Ausführungen des Herrn Vorredners, daß er sich genau in derselben Lage befindet. (Heiterkeit)

Nur ein Wort darüber: Wer sich davon überzeugen will, zu welchem Resultat es führt, wenn für das handelspolitische Verhältniß zweier Staaten, die nach ihrer geographischen Gestaltung und nach ihren Wirthschaftsbedingungen auf einen regen Güterverkehr angewiesen sind, keine andere Norm herrscht, als die Waffe der gegenseitigen Autonomie, der prüfe sorgfältig die Geschichte der handelspolitischen Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland in den letzten 20 Jahren, und wer wissen will, in welchem Maße unter diesem System unsere deutsch⸗nationale Arbeit während dieser Zeit gelitten hat (sehr richtig!), dem könnte ich werthvolles Material zur Ver⸗ fügung stellen aus meinem Amt in der Form von über 120 Akten bänden mit der Ueberschrift „Schädigung der deutschen Industrie durch die russische Zollpolitik'. (Hört, hört! Ich erwähne das nicht, um Rekriminationen anzustellen; dazu habe ich kein Recht, denn jeder Staat treibt die Zollpolitik, die er entnimmt seiner Tradition und seines eigenen Urtheils über die Bedürfnisse des Landes.

Aber ich sage: Wenn wir klar und unbefangen erkennen wollen,

was mit diesem Vertage erreicht ist, so müssen wir einen Rückblick werfen auf das, was gewesen ist, und allerdings auch einen Vorblick auf das, was sein würde, wenn dieser Vertrag nicht zu stande kommt.

Fünfmal hat Rußland in den letzten 20 Jahren seinen Zolltarif allgemein erhöht; dazwischen liefen eine Menge Er— höhungen für deutsche Artikel, dazwischen trat ein die differentielle Be⸗ handlung für deutsches Eisen, deutsche Kohle. Wir haben in den letzten 20 Jahren dagegen reklamiert, wir haben Beschwerde erhoben, wir haben wiederholt mit Rußland erfolglos verhandelt, mehr als einmal die Errichtung von Kampfzöllen in Berathung genommen und wir haben endlich dreimal, 1879, 1885 und 1887, die Zölle auf russische Waaren erheblich erhöht, und die Geschichte wird einst zeigen, daß der vielumstrittene 5 M ⸗Zoll nicht entsprungen ist allein den Be⸗ dürfnissen der Landwirthschaft, sondern in erster Reihe der Noth⸗ wendigkeit, Rußland ein Paroli zu bieten für die Erhöhung der Eisenzölle im Frühjahr 1887 ((hört, hört! aus der Mitte) und für die Einführung der Differentialzölle auf Kohlen und Eisen. (Hört, hört) Das ist unsere Antwort gewesen, und wir handeln der Bestimmung dieses 5 M. Zolls entsprechend, wenn wir ihn heute herabsetzen, nachdem Rußland uns Konzessionen ge⸗ macht. Wenn somit der Hauptbeschwerdepunkt unserer Industrie in der fortwährenden Veränderung der Zollsätze nach oben bestand, so finde ich die werthvollste Errungenschaft dieses Vertrags darin, daß der Industrie gegeben wird, was sie am schmerzlichsten vermißt hat und am nothwendigsten braucht, wenn sie einen fremden Markt sich erobern und erhalten will: das ist die Stabilität der Zollsätze auf eine längere Zeit hinaus. (Sehr richtig! links Wenn man einen Industriellen fragt, was ihm lieber sei: ein hoher Zollsatz, sofern er eine gewisse Grenze nicht überschreitet, auf längere Jahre hinaus ge— bunden, oder ein niederer Zollsatz, der nach drei Monaten erhöht werden kann, jeder Industrielle wird die erste Alternative vorziehen.

Nun, meine Herren, hat man die Stabilität angefochten mit der Frage: Was ist das für eine Stabilität, nur 140 Sätze sind ge⸗ bunden und drei oder mehr Hundert können von Rußland noch frei erhöht werden? Ich werde mich über diesen Vorwurf in so lange trösten, als mir ein Tarifvertrag gezeigt wird, in dem ein Staat seine Zölle insgesammt einem anderen Staat gegenüber bindet. Unter diesen nicht gebundenen Positionen im russischen Zolltarif sind die russischen Finanzzölle. Kein Staat bindet seine Finanzzölle. Es sind eine Menge von Positionen, die uns garnicht interessieren; es sind aller⸗ dings auch solche Positionen darunter, die an sich für uns schon Werth hätten, aber nicht die Bindung, weil sie prohibitiv sind, sondern eine wesentliche Herabsetzung. Wir haben die Herabsetzung nicht verlangt, einmal, weil wir Rußland nicht zumuthen konnten, auf gewisse In⸗ dustrien vollständig zu verzichten, und dann, weil von dieser Er—⸗ mäßigung nicht wir, sondern andere Länder in erster Reihe Vortheil gehabt hätten. So, meine Herren, glaube ich, daß dieses Bedenken nicht begründet ist.

Der Herr Vorredner hat nun auf die Fabrikationsprämien in Rußland hingewiesen und darauf, daß ja hier und da Verbote gegen die Benutzung von ansländischem Eisenbahnmaterial erlassen seien. Die Fabrikationsprämien haben bis 1891 in Rußland bestanden, sie sind seitdem aufgehoben worden; allerdings hindert dieser Vertrag ihre Wiedereinführung nicht. Wir haben die Frage in Erwägung gezogen,

ob in dieser Beziehung eine Konzessiou von Rußland zu verlangen sei. Wir haben dies verneint, weil es ganz unmöglich ist, eine Formu⸗ lierung zu finden, die auf der einen Seite alles trifft, was getroffen werden soll, und auf der anderen Seite den beiderseitigen Regierungen doch nicht zu enge Schranken setzt. Meine Herren, wenn wir mit einem Vertrag vor Sie hingetreten wären, worin Rußland auf seine Fabritationsprämien verzichtet und wir etwa darauf verzichtet hätten, staatliche Vortheile direkt der Landwirthschaft zu gute kommen zu lassen, ich glaube, wir hätten bei Ihnen einen sehr schlechten Empfang gefunden.

Ich werde es einer berufeneren Stelle überlassen, die Konzessionen auf industriellem Gebiet des näheren noch darzulegen.

Wenn man darauf hinweist, daß dieser russische Zolltarif immer noch sehr hoch ist, so ist das ganz richtig, es beweist aber man könnte beinahe sagen: weniger als nichts, wenn man gegen den Ver— trag damit ankämpft, daß man diesen Zöllen die Zölle anderer Länder gegenüberstellt. Ein Zoll in Oesterreich⸗Ungarn kann mit 2 Gulden für die deutsche Industrie absolut prohibitiv sein, und ein Zoll von 10 Rubeln in Rußland kann für denselben Artikel der deutschen Industrie noch einen reichlichen und lukrativen Absatz ermöglichen. Damit ist also garnichts bewiesen.

Und nun, meine Herren, nur noch zwei Fragen! Sind wirklich heutzutage die auswärtigen Absatzgebiete für unsere Industrie so reichlich vorhanden, sind insbesondere unsere überseeischen Märkte in dem Maße auf Jahre hinaus gesichert, daß wir leichthin auf ein aufnahmefähiges europäisches Absatzgebiet von 100 Millionen Ein wohnern verzichten können? Und kann man im Ernst glauben, daß irgend ein Theil unseres wirthschaftlichen Körpers gewinnen kann, wenn wir auf der russischen Landesgrenze auf eine Entfernung von über 1300 Km eine Barrière errichten, über die nichts herüber, nichts hinüber kann, wenn wir den Handel, die Rhederei in dem einen deutschen Meere vernichten? Ich glaube, meine Herren, die Antwort auf diese Frage ist einfach.

Alles dies könnte mich nicht bestimmen, für diesen Vertrag mit Wärme einzutreten, wenn ich die Ueberzeugung hätte, daß durch den— selben die deutsche Landwirthschaft Schaden leiden würde. Ich wüßte nicht, was meiner Ueberzeugung so zuwider wäre, als hier mit einem Argument aufzutreten, dem man entgegenhalten könnte: es beruhe auf dem Gedanken, wenn nur Handel und Industrie blühen, dann mag die Landwirthschaft leiden. Im Gegentheil, ich stehe auf dem Grund⸗ satz, daß die Interessen von Landwirthschaft und Industrie identisch sind, und ich habe es für eine werthvolle Errungenschaft ge⸗ halten und für eine gedeihliche Garantie für die Weiterentwickelung unserer wirthschaftlichen Gesetzgebung, als im Jahre 1879 die Ge— meinschaftlichkeit der Interessen dieser beiden wichtigsten pro⸗ duktiven Stände ihren Ausdruck fand. Wohl mag es schwierig sein, auf einem Gebiete, wo der berechtigte Egoismus eine maßgebende Rolle spielt, einen Ausgleich zu finden; aber wenn dies möglich gewesen ist im Jahre 1887, als die Industrie ohne jede Wider rede eintrat für die erheblichen Erhöhungen und Zölle auf landwirth⸗ schaftliche Produkte, von denen sie keinen Vortheil bezogen hat, so wird es auch hier möglich sein, wenn die Landwirthschaft diesen Ver— trag in gleichem Geiste behandelt; und den Gedanken, von dem ich ausgehe, wird niemand als unbillig bezeichnen können. Wenn ich sage, wenn auf der einen Seite feststeht, daß Industrie, Handel und andere Erwerbszweige bei Verwerfung dieses Vertrages und bei Fort— dauer des Zollkrieges schweren und unersetzlichen Schaden erleiden, so ist es auf der anderen Seite eine ernste und gebieterische Pflicht, die Frage: wie wirkt dieser Vertrag auf die Landwirthschaft? empor zuheben aus dem Gewirre der Stimmungen, der Strömungen, der Leidenschaften und überzuführen auf den Boden einer ruhigen und sachlichen Diskussion. Und darüber täusche man sich doch nicht: wenn zur Verwerfung des Vertrages kein anderes Material herbeigeschafft werden kann, als das, was wir bisher zu sehen bekommen haben, wenn auf Grund dieses Materials die Verwerfung dieses Vertrages erfolgt, dann setzt man allerdings die Identität der Interessen von Landwirthschaft und Industrie einer Belastungsprobe aus, unter der sie sicher und wahrhaftig nicht zum Wohle der Landwirthschaft zu⸗ sammenbrechen wird.

Was nun die Wirkung dieses Vertrages auf die Landwirthschaft betrifft, so stellt sich die Frage dahin: hat denn dieser Differentialzoll, wie er heute besteht, auf die russischen landwirthschaftlichen Produkte, unserer deutschen Landwirthschaft einen Nutzen gebracht? Denn nur wenn diese Frage bejaht wird, wird die andere Frage bejaht werden können, daß aus der Genehmigung dieses Vertrages unserer Landwirth— schaft ein Schaden erwachsen wird. Ich gehe in der Beziehung, was die Getreidezölle betrifft, von einem Satze aus, den niemand bestreiten kann. Ich sage, die Frage, welche Wirkung übt die Er—⸗ mäßigung eines Getreidezolles einem einzelnen Lande gegenüber auf unseren inländischen Getreidemarkt aus? muß verschieden beant⸗ wortet werden, je nachdem dieses Land das erste ist, dem ich diese Ermäßigung gewähre, während ich sie anderen versage, oder das letzte, nachdem alle anderen Staaten bereits im Genuß des niederen Zolls sind. Ich verstehe, daß, wenn erstmals einem Land die Ermäßigung des Getreidezolls von 5 ½ auf 3,50 AMS konzediert wird, in landwirth⸗ schaftlichen Kreisen die Befürchtung entsteht, es könne nun ein großer, vielleicht größter Theil des importierten Getreides durch dieses eine billige Thor bei uns eindringen, zoll an den übrigen Grenzen des Landes illusorisch werden; denn das Getreide hat naturgemäß die Tendenz, die schützende Zollmauer an der Stelle zu überschreiten, wo sie am niedrigsten ist. Was ich aber nicht zu verstehen vermag, ist, wie man umgekehrt glauben kann und das wird ja gegenwärtig in der ganzen Welt verbreitet daß, nachdem alle Staaten, bis auf einen, im Besitz dieser Konzessionen sind, dieser 5 Mark⸗-Zoll an einer Grenze noch irgend einen besonderen Schutz für die Landwirthschaft bilden kann. (Zuruf rechts. Auch nicht für Roggen! Meine Herren, dieser Glaube beruht auf einer vollkommenen Ignorierung der heutigen Gestaltung unseres Getreidehandels und beruht auf der Verkennung der wirthschaftlichen Erfahrung, daß kein Mensch in der Welt eine Waare mit 5 S oder 7,50 verzollen wird, wenn er die⸗ selbe Waare in der gleichen Quantität und Qualität für 3,90 M ins Land bringen kann. (Zurufe rechts.) Ja, meine Herren, Sie befürchten von der Aufhebung des Differential⸗ zolles gegen Rußland Ueberschwemmung mit Roggen. (Sehr richtig! rechts) Sie vindizieren also dem Differentialzoll die Fähigkeit, den Preis zu halten und ihn zu steigern. In der gegenwärtigen Kon⸗ junktur würde ich geneigt sein, das direkte Gegentheil zu behaupten

und damit der Fünf⸗Mark⸗

und die Frage, wie wirkt der gegenwärtige Kampfzoll auf russisches Getreide? dahin zu beantworten: er vermehrt den Preisdruck, er läßt speziell beim Roggen keine günstige Konjunktur aufkommen und er ist einer der Faktoren, auf denen die heutige Stagnation unseres Getreide⸗ markts beruht.

Gestatten Sie mir, das näher zu begründen. Das springende Moment in den Argumentationen der Gegner ist, daß man fort⸗ während die einzelnen Länder, die uns Getreide importieren, gesondert betrachtet, als ob heutzutage die Preisbildung beim Getreide eine nationale sei, als ob die Wirkung des Getreidezolls sich länderweise vollziehe und ich einen Konsumenten los werde, sobald ich ihm meine Grenze versperre. Das ist eine Auffassung, die vor 50 bis 60 Jahren richtig gewesen sein mag, in der Periode, die wir die gute alte Zeit“ nennen, die aber unhaltbar ist heute im Zeitalter der Dampfschiffe, der Telegraphen, der Eisenbahnen und aller der modernen Verkehrs⸗ mittel, an deren Hand sich im Getreidehandel das herausgebildet hat, was wir gemeinhin den Weltmarkt nennen. (Sehr wahr! aus der Mitte; Widerspruch. Meine Herren, Sie stoßen sich an dem Worte Weltmarkt‘. Ich bin der letzte, der in diesem Weltmarkt eine Art Vorsehung betrachtet, deren Geboten wir uns unbedingt zu fügen hätten: im Gegentheil: ich theile die Auffassung derer, die in dieser modernen Entwickelung der Dinge eine ernste Gefahr für unsere deutsche Landwirthschaft erblicken, und es für die Pflicht halten, schützende Maßregeln dagegen zu ergreifen. Aber die Vor⸗ aussetzung ist doch in erster Linie, daß man nicht den Kopf in den Sand steckt, um die Dinge nicht zu sehen, die man nicht sehen will, sondern daß man den Dingen fest ins Auge sieht, daß man zum Ausgangspunkt nicht die heute so beliebten ‚Suggestionen“, sondern die Thatsachen nimmt; denn wenn man das nicht thut, kommt man auf den Abweg, der zu Maßregeln führt, die der Landwirthschaft garnichts nützen, sondern nur dazu taugen, weite Kreise unseres Er⸗ werbslebens schwer zu schädigen. Und zu solchen Maßregeln rechne ich die Erhaltung des Differentialzolls auf russisches Getreide oder, was dasselbe ist, die Verewigung des Zollkriegs mit Rußland. (Zuruf rechts) Ja, meine Herren, ich verstehe leider nicht, was Sie da sagen! Worin besteht denn eigentlich das charakteristische Merkmal dessen, was wir Weltmarkt“ nennen? Man wird mir antworten: das weiß jedermann. Das ist richtig; aber ein großer Theil der Menschen meidet es mit ängstlicher Sorgfalt, von dieser Kenntniß Gebrauch zu machen. Das charakteristische Merk- mal des Weltmarkts besteht jedoch darin, daß infolge moderner Kommunikationsmittel wir in der Lage sind, beliebige Quan— titäten Getreide auf beliebige Distanzen zu befördern, sie auf telegraphische Ordre da und dort hin zu schieben, daß infolge dessen die Preisbildung des Getreides eine interna tionale ist nach Maßgabe des Produktionsüberschusses der ganzen Welt auf der einen Seite und des Bedürfnisses der Länder, die mehr konsumieren als produzieren, auf der anderen Seite; daß also der Handel, der das Importbedürfniß eines Landes befriedigen will, nicht angewiesen ist auf den russischen oder rumänischen Roggen, sondern den Produktionsüberschuß der ganzen Welt zur Verfügung hat; und die weitere Folge ist, daß wenn ich einer Provenienz die Grenze sperre, diese nicht etwa im Innern des Landes konfumiert wird, sondern auf den Weltmarkt geht, andere Absatzgebiete aufsucht, sich billiger anbietet und daß bei Konjunkturen wie die heutiige ist, die Preisausgleichung nicht nach oben, sondern nach unten sich vollzieht. In diesem Sinne, meine Herren, ist nicht nur der Weizen ein Weltmarkt⸗ artikel, sondern auch der Roggen. (Widerspruch rechts.) Der Herr Abg. von Staudy sagt nein?“. Beim Roggen trifft die wesentliche Voraussetzung zu, die einen Artikel zum Weltartikel macht, nämlich eine Mehrzahl von Produktionsgebieten, die ihren Produktionsüberschuß anbieten, und eine Mehrzahl von Konsumtionsgebieten, die diesen Pro⸗ duktionsüberschuß begehren. Die Annahme, daß das Roggengeschäft sich vornehmlich zwischen Deutschland und Rußland vollziehe, und daß die Bildung des Roggenpreises ein Internum zwischen beiden Staaten sei, ist unhaltbar seit den Erfahrungen, die wir vor drei Jahren ge⸗ macht haben, wo in der Zeit der höchsten Roggennoth, als Rußland seinen Roggen nicht hinausließ, wir von anderen Staaten mit Roggen versehen worden sind: von den Vereinigten Staaten, von Rumänien, aus der Türkei und Bulgarien. Und auch das ist heute nicht einmal mehr richtig, daß wir der vornehmste Abnehmer von russischem Roggen sind. In den 80 er Jahren ist allmählich der Prozentsatz zurück— gegangen, und wir werden heute kaum mehr als 30 bis 40 von der Gesammtmenge von Roggen aufnehmen, den Rußland in einem Jahre exportiert. Der größte Theil von russischem Roggen geht anderwärts. Und wenn dieser Differentialzoll auf russischen Roggen fortbesteht, dann wird es so kommen, daß die meistbegünstigten Länder uns ihren Roggen schicken und diesen durch russischen Roggen ersetzen. Dieser Prozeß ist bereits im Gange. Bereits jetzt wird belgischer Roggen den Rhein hinauf zu uns gebracht und durch russischen ersetzt. Wenn man diesen ganzen Mechanismus betrachtet, wenn man sieht, welche ungeheure Schwankungen des Preises vorkommen infolge der unberechenbarsten Faktoren, die es giebt, nämlich von Wind und Wetter, von Sonne und Regen, dann, meine Herren, kann man sich eines gewissen Staunens nicht erwehren, daß heutzutage Deutschland man kann ohne Uebertreibung sagen in zwei feindliche Lager gespalten ist ob der Frage, ob der Zoll auf russisches Getreide 5 oder 3,50 S6 betragen soll. (Sehr richtig! links) Meine Herren, ich bin stets ein Anhänger der Getreidezölle gewesen und habe diese Ansicht nicht geändert; ich erachte den Getreidezoll für den paratesten und relativ wirksamsten Schutz gegenüber der geschilderten modernen Entwickelung. Aber allerdings der Getreidezoll ist nicht das einzige Mittel, das der Landwirthschaft helfen kann, er ist nur ein Palliatip— mittel; Hand in Hand mit ihm muß das gehen, was ich die agrarische Reform nenne, mit dem Ziele, der zunehmenden Belastung der Land⸗ wirthschaft einen Einhalt zu thun und allmählich die Entlastung der Landwirthschaft anzubahnen. (Widerspruch rechts.)

Daher wird die Frage der Höhe des Getreidezolls heute, ich mußt es offen sagen, maßlos übertrieben. Denn eine Erfahrung, die wir seit bald 15 Jahren gemacht haben, könnte wohl die hochgehenden Wogen etwas glätten. Das ist die Erfahrung, daß der Getreidezoll die intensioste Wirkung auf den Inlandspreis des Getreides übt, wenn die Nachfrage sehr stark, das Angebot gering ist, die Preise also im Steigen begriffen sind; und daß da des Guten leicht zu viel ge⸗ schieht, haben wir 1891 gesehen, daß umgekehrt selbst ein hoher Ge⸗ treidejoll in dem Maße seine Wirkung abschwächt, als infolge über⸗ wiegenden Angebots die Preise sinken, daß also der Getreidezoll gerade dann seine Wirkung am wenigsten ausübt, wenn es

am nothwendigften ist. Und darum bleibe ich dabei, daß ein Zoll von 3,50 M ein genügender ist, insbesondere dann, wenn man die gesetzlichen Maßregeln ergreift, die nothwendig sind, damit auch dieser Zoll im Inlandspreise des Getreides in demjenigen Theil Deutschlands zum Ausdruck kommt, wo mehr Getreide produziert als konsumiert wird, daß man den Zustand beseitigt, der heute besteht, daß die Qualitäten von Getreide, die wir im Inlande zum Uebermaß produzieren, im Lande festgehalten werden, daß wir sie uns gegen⸗ seitung auf den Hals werfen, während man künstlich verhindert, daß diese Qualitäten ins Ausland geschafft werden, wo sie begehrt sind und gut bezahlt werden, daß man endlich die Privilegien, die man jetzt dem ausländischen Getreide gewährt, auch dem inländischen Ge—⸗ treide gewährt. Unter dieser Voraussetzung halte ich einen 3,50 4 Zoll für einen wirksameren Schutz für die Landwirthschaft als den 5 M -Zoll, bei dem, wie es bisher geschah, es dem Zufall überlassen ist, ob und bis zu welchem Betrage er überhaupt zur Entscheidung kommt.

Meine Herren, diese Weisheit, die ich eben darlege, verdanke ich wesentlich einer Anregung des Herrn Vorredners, des Herrn Grafen von Mirbach (Hört, hört! links), der sich im vorigen Jahre in diesem Sinn ausgesprochen hat. Ich habe inzwischen die Frage genauer ge⸗ prüft und habe gefunden, daß der Herr Abg. Graf von Mirbach recht hat. Ich bedauere lebhaft, aus seinen heutigen Aeußerungen ent— nommen zu haben, daß er inzwischen die Sache auch geprüft und nun zu der Ueberzeugung gekommen ist, daß er damals Unrecht gehabt hat. Ich fürchte also, wir werden uns auf diesem Gebiet nicht finden.

Nun wird man sagen: das ist alles Theorie, in der Praxis voll⸗ ziehen sich die Dinge anders, also lassen Sie uns auf das Gebiet der praktischen Erfahrungen übergehen.

Wenn der Differentialzoll auf russisches Getreide der Landwirth⸗ schaft wirklich einen Vortheil bietet, so muß das doch jetzt seinen Ausdruck gefunden haben, wo wir gegen Rußland seit dem 1. August v. J. nicht nur einen 5 S ⸗Zoll, sondern einen 7,50 M- Zoll ein⸗ geführt haben. Wenn schon der 5 M ⸗Zoll die Landwirthschaft wirk⸗ lich schützen soll, so muß es noch viel mehr der 7,50 „S Zoll thun. Nun, meine Herren, habe ich hier verschiedene interessante Tabellen. Die eine enthält eine Zusammenstellung der Getreidepreise auf allen deutschen Getreidemärkten seit dem Juli v. J., und daraus ergiebt sich, daß so ziemlich mit Beginn des Zollkrieges mit Rußland der Getreidepreis auf allen deutschen Märkten ganz erheblich, um 20 bis 30 S pro Tonne, gefallen ist. Und merkwürdig, dieser Fall war am intensivsten an den Plätzen, die dem russischen Getreide am nächsten waren, die also in erster Reihe von dem Schutz, den angeblich der Kampfzoll gegen Rußland gewährt, Vortheil haben sollten.

Dann eine andere Tabelle! Sie enthält eine Vergleichung der Weltmarktpreise mit den Inlandspreisen des Getreides während der selben Periode. Der Getreidezoll, wenn er seine Schuldigkeit thut, soll bekanntlich dahin führen, daß der Inlandspreis des Getreides sich zusammensetzt aus Weltmarktpreis und Getreidezoll, daß mit anderen Worten die Differenz zwischen Inlandspreis und Weltmarktpreis annähernd die Höhe des Getreidezolls erreicht.

Aus dieser Zusammenstellung, die ich hier habe, ergiebt sich nun, daß an keiner Stelle von Deutschland nach dem 1. August v. J. diese Differenz zwischen Weltmarktpreis und In landspreis höher gewesen ist als 35 M Ü(Hört, hört! links), daß also in ganz Deutschland die Preisbildung nach Einführung des Kampfzolls auß russisches Getreide sich nach Maßgabe des 3,50 M Zolls vollzogen hat. (Hört, hört! links.)

Ich habe noch eine dritte Tabelle, die noch interessanter ist: eine Zusammenstellung der Preise während derselben Periode für Inlands⸗ getreide, Weizen und Roggen, und für russischen unverzollten Weizen und Roggen in Königsberg und Danzig. Ausweislich dieser Tabelle hat seit dem 1. August v. J. diese Differenz zwischen russischem und deutschem Getreide nicht 765, auch nicht 50, auch nicht 35 M betragen, sondern sie variierte zwischen 20 und 30 ½. (Hört, hört! links.)

Wie ist das nun zu erklären? Gestatten Sie mir, einmal eine Hypothese aufzustellen. Wenn wir am 1. August vorigen Jahres nicht den Kampfzoll gegen Rußland eingeführt hätten, sondern den Konventionalzoll, der Bund der Landwirthe hätte gleich gewußt, wie diese Erscheinung zu erklären sei; er hätte gesagt: Da seht ihr die leichtfertige Regierung! Am 1. August führt sie den Konventionalzoll ein, natürlicherweise fällt der Preis, und der Preis⸗ fall ist um so intensiver, je näher man der russischen Grenze kommt. Nun haben wir aber nicht den Konventional“, sondern den Kampfzoll gegen Rußland eingeführt wie ist das nun zu erklären? Eine so einfache Logik, wie sie das post hoc, ergo propter hoc gewährt, kann ich nicht anwenden. Mir genügt es, daß diese Zahlen die Be— hauptung widerlegen, daß der Kampfzoll auf russisches Getreide irgend einen Schutz unserer Landwirthschaft gewähre —; daß im Gegentheil gerade in der Zeit des starken Angebots dieser Kampfzoll als Schutz⸗ mittel vollständig versagt hat.

Dasselbe Ergebniß, meine Herren, finden wir, wenn wir die Vorgänge auf dem russischen Getreidemarkt ins Auge fassen. In dem Augenblick, als wir den Kampfzoll gegen Rußland einführten, war der russische Getreidepreis außerordentlich hoch, eine natürliche Folge der vorhergegangenen Mißernten; und die Antwort, welche der russische Getreidemarkt auf unseren Kampfzoll gab, war ein rapides Sinken der Preise, und zu diesen tiefen Preisen hat Rußland sein Getreide nach dem Ausland exportiert. An Weizen hat es in dieser Zeit nach dem Kampfzoll mehr exportiert als im Durchschnitt der 80 er Jahre (Hört! hört! links) und an Roggen ungefähr 70 0o.

Wenn der Herr Vorredner von den ungeheuren Vorräthen an Roggen gesprochen hat, die jetzt in Rußland lagern sollen, so kann ich ihm sagen, da ist er ein Opfer einer Legende geworden. (Lebhafter Widerspruch rechts) Von ungeheueren Roggenvorräthen in Rußland ist gar nicht die Rede; ich werde Ihnen in der Kommission die be⸗ treffenden Ziffern geben. Und selbst wenn noch größere Vorräthe an Roggen in Rußland wären, so könnten sie heute gar nicht nach Deutschland gebracht werden, weil heute der russische Roggenpreis, obgleich er für den russischen Bauern bereits ruinös ist und sich unter den Produktionskosten befindet, doch noch zu hoch ist, um nach Deutschland gebracht und hier mit 3,50 M verzollt zu werden. Wenn Sie heute russischen Roggen, sei es in Odessa, sei es in Kiew oder an irgend einem anderen Marktplatze kaufen und ihn nach Berlin oder nach Königsberg bringen und dort mit 3,50 M verzollen, so stellt sich der Preis per Tonne 6 bis 10 ½ höher als der Inlands— preis des Getreides, und angesichts dieser Zahlen spricht man von der

bevorstehenden Ueberschwemmung mit russischem Roggen! Den deutschen Markt mit russischem Roggen überschwemmen wird nur derjenige, der absolut sein Geld verlieren will, und so bösartige Menschen giebt es selbst im Roggenhandel meines Wissens nicht. (Heiterkeit)

Aber, meine Herren, nun kommt ein entscheidender Punkt. Alles das, was ich dargelegt habe, beruht auf der Voraussetzung, daß es uns gelingt, den direkten Zugang des russischen Roggens abzuhalten; das ist uns bisher im Wege der Ursprungsatteste gelungen. Ob das auf die Dauer möglich sein wird, ist mir zweifelhaft; denn dieser Kampf ist naturgemäß ein weniger intensiver, so lange Verhand⸗ lungen schweben, als wenn durch ein Votum des Reichstags feststeht, daß dieser Zollkrieg jahrelang dauern soll. Dann bin ich überzeugt, wird der Handel Mittel und Wege finden, um, wie man zu sagen pflegt, vierspännig durch die ganzen Ursprungsatteste durchzufahren und auf eine ganz legale Weise. Wer kann dann hindern, daß russischer Weizen, russischer Roggen, russisches Getreide nach meistbe⸗ günstigten Ländern gefahren, dort zu Mehl verarbeitet und von dort bei uns eingeführt wird. (Sehr richtig) Nach unseren Verträgen, und zwar nicht nur nach den neuesten, auch nach den früheren Verträgen haben wir die Verpflichtung, dieses Mehl dann als Gewerbeprodukt des betreffenden Landes mit dem Meist— begünstigungssatze einzulassen, und dann hat die auswärtige Schiffahrt die Frachten, der auswärtige Handel die Spesen, die auswärtigen Mühlen die Arbeit, und im Inlande hat die Landwirthschaft das russische Getreide in Mehlform zum Meistbegünstigungssatze, und die Industrie hat die Kampfzölle nach Rußland. Das ist die Bilanz der Verwerfung des russischen Handelsvertrags. (Sehr richtig! Bravo! links.)

Der Herr Vorredner hat die Valutafrage nur gestreift, und auch ich will heute darauf nicht näher eingehen; wir werden ja noch manche Gelegenheit finden, diesen interessanten Punkt des näheren zu beleuch— ten. Der Herr Abg. Graf von Mirbach hat sich gleichfalls für einen Zuschlagszoll ausgesprochen. Ich könnte dieses Projekt einfach dahin kritisieren: ein Differentialzoll bleibt ein Differentialzoll, auch wenn er in der Verkleidung eines Valutazuschlagszolls einhermarschiert (sehr richtig! links), und er ist genau so wirkungslos wie der Differential⸗ zoll, von dem ich eben gesprochen habe.

Was nun das Verhältniß zwischen der russischen Valuta und dem Getreidepreis betrifft, so ist es ja richtig, daß ein und derselbe Getreidepreis, ausgedrückt in russischen Kreditrubeln, eine höhere Summe darstellt in dem Goldpreis des Weltmarkts, wenn der Rubel⸗ kurs hochsteht, und eine niedere Summe, wenn der Rubelkurs tief steht. In diesem Sinne kann man allerdings davon sprechen, daß die Valuta den Getreidepreis beeinflußt. Aber das ist doch nur ein Faktor; nebenher gehen noch eine ganze Reihe von anderen Faktoren, die den Getreidepreis viel intensiver beeinflussen, die die Wirkung des Valuta⸗ faktors paralysieren und dem Getreidepreis eine ganz andere Tendenz geben. Der Herr Abg. von Kardorff scheint anderer Ansicht. Ich werde dem Herrn Abgeordneten durch eine graphische Darstellung in der Kommission den Nachweis führen, daß sehr häufig der Getreide⸗ preis hochsteht und der Rubelkurs niedersteht, und umgekehrt. (Sehr richtig! links) Es geht somit der ganze Vorschlag, Zuschlagszölle einzuführen, von einer falschen Voraussetzung aus und führt zu einem nicht gewollten und geradezu widersinnigen Ergebniß, daß nämlich unter Umständen, wenn der Getreidepreis sinkt, wir unseren Zoll er⸗ niedrigen müssen, und wenn der Getreidepreis steigt, wir unseren Zoll erhöhen müssen.

Man hat davon gesprochen, daß man überhaupt mit einem fremden Staate keinen Vertrag schließen könne, so lange dieser Staat eine schwankende Valuta habe; man dürfe nur Verträge schließen mit solchen Staaten, die eine unbedingte Sicherheit für die Aufrecht⸗ erhaltung ihrer Valuta bieten. Ich erwidere darauf: eine solche Sicher⸗ heit giebt es überhaupt nicht. Es giebt keinen Staat in der Welt, der auf zehn Jahre hinaus die vertragsmäßige Gewähr übernehmen kann, daß er niemals eine Schwankung seiner Valuta haben wird. (Sehr richtig! links So lange es Kriege giebt, so lange es Miß— wachs u. s. w. giebt, so lange es die Faktsren giebt, die ihrer Natur nach auf die Valuten eines Staates einwirken, so lange sind auch derartige Schwankungen möglich, und es wäre ein eigenthümlicher Zustand, wenn in diesem Augenblick nun alle Verträge eines Staates außer Kraft treten sollten. Die Sicherheit der Valuta ist stets eine relative, und man wird zu⸗ geben wüssen, daß unter den Staaten, die eine schwankende Valuta haben, Rußland zweifellos derjenige ist, bei dem diese Sicherheit zur Zeit relativ die größte ist. Rußland hat große Goldvorräthe ange⸗ sammelt; es hat durch die Einstellung der freien Silberprägung, durch das Verbot der Einfuhr fremder Silbermünzen seinen Rubelkurs voll— kommen kosgelöst vom Schicksal des Silbers; es hat eine ganze Reihe von gesetzgeberischen und administrativen Maßregeln ergriffen, um den Rubelkurs zu halten, und wir haben gesehen: mit Erfolg, denn trotz der mannigfachen ökonomischen Krisen, die Rußland namentlich in— folge der Mißernten in den letzten Jahren bestanden hat, ist der Rubelkurs stabil gewesen und in neuerer Zeit sogar erheblich gestiegen.

Und dann noch Eines. Wenn man eine gleitende Skala einrichten will, dann muß man sich erinnern, daß, als wir den Fünfmarkzoll im Jahre 1887 einführten, die russische Valuta auf 180 stand. Wenn man also diese Skala hier durchführen will, so würde man bei einem Rubelkurs von 2,20 S wahrscheinlich nicht sehr weit von einem Zoll von 3,50 M sein. Aber diese gleitende Skala hat in allen Ländern, in England, in Frankreich Fiasko gemacht und sie ist aus Gründen, die ich heute nicht näher darlegen will, auch praktisch undurchführbar.

Damit, meine Herren, bin ich mit meinen Erörterungen für heute zu Ende. Ich bin mir vollkommen bewußt, daß ich mit dem, was ich hier vertrete und was ich hier sage, ankämpfe gegen eine sehr starke Strömung in weiten Kreisen unserer landwirthschaftlichen Be⸗ völkerung, und ich bin nicht geneigt, diese Strömung leicht zu nehmen. Im Gegentheil, wenn eine so ruhige und im besten Sinne konservative Bevölkerung, wie unsere landwirthschaftliche, sich zu einem erheblichen Theil einer so hochgradigen Verstimmung hingiebt, wie das heute der Fall ist, so weist das auf eine wunde Stelle in unserem wirthschaft⸗ lichen Körper hin, dessen Pflege und Heilung die Pflicht des Staats ist. (Sehr richtig! rechts) Meine Herren, ich finde in dieser agrarischen Bewegung, so manches ich an derselben bedauere, den stärksten Antrieb, daß die Regierungen und alle, die es mit dem Lande wohl meinen, nicht erlahmen mögen in werkthätiger Fürsorge für die Landwirthschaft dem Ziele zu, dessen Erreichung heute das Wichtigste ist, nämlich die Erhaltung eines gesunden und kaufkräftigen Bauernstandes und eines gesunden Mittel⸗

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standes. (Sehr richtig! und Heiterkeit rechts) Ja, meine Herren, das ist meine innerste Ueberzeugung. Aber allerdings den Strömungen nachzugeben, wie sie heute bestehen, und über deren Endziele, glaube ich, die Führer sich nicht vollkommen klar sind (Widerspruch rechts), das kann man von keiner Regierung verlangen, und ich glaube, die Landwirthschaft selbst würde ein schlechtes Geschäft dabei machen, und es wäre nicht zum ersten Male: wenn eine Regierung diese Schwäche beginge und sich von solchen Strömungen tragen ließe, daß dann, wenn die unvermeidlich nachtheiligen Folgen eintreten, sie selbst für diese Folge gerade aus den Kreisen verantwortlich gemacht wird, die heute nicht laut genug die Nachgiebigkeit der Regierung verlangen. (Sehr richtig! links.)

Zum Schluß, meine Herren, möchte ich einer Pflicht der Dank⸗ barkeit nachkommen; ich möchte meinen wärmsten und aufrichtigsten Dank aussprechen den Männern, die uns bei dem schwierigen Werke mit Rath und That zur Seite gestanden haben, nämlich den Mit⸗ gliedern des Zollbeiraths, und ganz besonders den Delegirten der In- dustrie, denen die schwierigste und verantwortungsvollste Aufgabe zu theil geworden ist. Die Erfahrungen, die wir mit dieser Einrichtung gemacht, und die Erfolge, die wir damit erreicht haben, werden von dauerndem Werthe sein und auch für die Zukunft die Grundlage bilden eines ersprießlichen und vertrauensvollen Zusammenwirkens zwischen den Regierungen und den Sachverständigen der verschiedenen Erwerbs; weige in allen wichtigen Fragen der wirthschaftlichen Gesetz⸗ gebung. .

Ich bitte Sie, meine Herren, nehmen Sie diesen Vertrag an; er wird das ist meine innerste Ueberzeugung dem Lande zum Segen gereichen. (Lebhafter Beifall.)

Abg. Graf von Moltke (Rp.): Nicht ohne tiefe innere Er⸗ regung und nicht ohne patriotische Beklemmung trete ich an diesen Gegenstand heran; denn es handelt sich nicht um die Existenzbedingung eines einzelnen Standes oder Produktionszweiges, sondern vielleicht um die Existenzbedingungen unseres ganzen Vaterlandes. Für den rumänischen Handelsvertrag babe ich gestimmt, weil es sich darnm handelte, der deutschen Industrie ein großes Absatzgebiet zu erbalten und weil die Nachtheile für die Landwirthschaft nicht so erheblich waren, um gegenüber diesen Vortheilen ins Gewicht zu fallen. Hier steht die Sache anders, hier handelt es sich wesentlich darum, der Industrie ein neues großes Gebiet erst zu erobern, und zwar auf Kosten der Landwirthschaft. Die Sozialdemokraten stimmen für den Vertrag, aber nicht um unsern modernen Staat zu stützen, sondern weil sie durch Annahme des Vertrages die Lebensmittel für die Arbeiter verbilligen wollen. Durch die An⸗ nahme des Vertrages wird aber keine Preisherabminderung eintreten. Man sollte sich doch überlegen ob die Industrie wirklich so große Vortheile aus dem Vertrage zieht, einem Lande gegen⸗ über, in welchem so schwankende Rechtsverhältnisse bestehen wie in Rußland. Hätte die Regierung wirkliche Kompensationen der Land⸗ wiribschaft geleistet, so würde ein großer Theil meiner Freunde für den Vertrag gestimmt haben. Zu diesen Kompensationen gehören die Aufhebung des Identitätsnachweises und die Begrenzung des Vertrages auf nur drei Jahre. Aber selbst die erstere gi, gel würde nur einzelnen Landestheilen zu gute kommen, und auf der anderen Seite aufgehoben werden durch die Entwickelung der Staffeltarife. Der Staatssekretär verlangte den Nachweis, daß wir ohne den Vertrag mit unserem großen mächtigen Nachbarn auf die Dauer in Frieden leben können. Dann bedurfte es auch des Nachweises, daß wir mit dem Vertrag auf die Dauer mit diesem großen mächtigen Nachbarn friedlich auskommen können, der an unseren Grenzen nicht Armee-Korps, sondern ganze Armeen aufgestellt hat. Wer den berechtigten Kern der Agitation des Bundes der Landwirthe und der Landleute überhaupt verkennt, kann sich einer großen politischen Einsicht nicht rühmen. Die östlichen Provinzen sind die , Stützen des Staats und des Reichs. Im Anfang des Jahrhunderts, wo von den Wahlen und von der deutschen Industrie noch wenig die Rede war, waren es die östlichen Provinzen und vor allem die Landwirthschaft, welche nicht nur die Anregung, sondern auch die Möglichkeiten gaben, den tief ge⸗ demüthigten Staat wieder aufzurichten. Wir säßen Alle nicht hier in diesem Hause, wenn damals nicht die Gutsbesitzer und Bauern des Ostens ihren letzten Groschen zur Wiederaufrichtung des Staats her⸗ gegeben hätten. Seien wir nicht undankbar, sondern geben wir dem Ge die Stützen, deren er für sein⸗ Existenz bedarf!

Abg. Rickert (frs. Vg.): Auch ich halte die östlichen Provinzen für feste Stützen des Staates und Reiches, und deshalb stimme ich mit Freuden für diesen Vertrag, denn in den letzten Dezennien ist niemals ein Werk von der Regierung vorgelegt worden, welches in dem Maße die Interessen des Ostens fördert wie dieser Vertrag. Ich will den Vorwurf des Mangels an politischer Einsicht nicht zurück⸗ geben; aber in der Majorität der Bevölkerung, auch der Landwirthschaft, trotz des Abg. von Ploetz, herrscht die Ueber⸗ zeugung, daß der Osten durch Ablehnung des Vertrages auf das tiefste geschädigt würde. Man sagt, die deutschen Ver⸗ treter hätten nicht genug erreicht. In Rußland ist man aber sehr wüthend darüber, daß die russischen Vertreter sich von den deutschen haben über das Ohr hauen lassen. Ich habe auch einen Oesterreicher gesprochen, der mitten in diesen Dingen steht, und er erklärte, daß die Autorität des Abg. Grafen Mirbach wohl allein mit der Ansicht stände, daß die Annahme des russischen Ver⸗ trages den österreichischen Vertrag werthlos mache. Ich würde es gern gesehen haben, wenn die große Spannung und Beunruhigung, welche in weiten Kreisen herrscht, endlich einmal gelöst wird. Aher wenn Sie eine Kommission wollen, bringen Sie den Vertrag in eine Kommission; eine Verständigung mit den Herren (rechts) wird nicht herbeigeführt werden können. Der österreichische Handelsvertrag und das war der Anfang ist auch von dem Abg. Freiherrn von Manteuffel und zwanzig seiner Freunde angenommen. Er sprach damals aus, daß der vertragslose Zustand viel perniziöser sein würde, als die Ermäßigung des Zolls von 5 auf 3,50 M0 Nachdem der xussische Vertrag abgeschlossen ist, kann man es ja sagen: Die Konzession an Rußland hätten wir machen müssen, auch wenn wir weniger Konzessionen erhalten hätten. Den Differen⸗ tialzoll, hätten wir auf die Dauer garnicht aufrecht erhalten können. Daß die russische Regierung verdächtigt wird, daß sie Vertragsbestim⸗ mungen umgehen wird, halte ich für eine Beleidigung der russischen Regierung. Ich habe eine andere Meinung von der russischen Regie⸗ rung. Wenn man dem Fürsten Bismarck gesagt hätte, daß Rußland an uns herantreten und seine Aufnahme in die westeuropäische Handels= gemeinschaft verlangen würde, man hätte uns damals ausgelacht. Diejenigen, welche die russische Politik leiten, werden so klug sein, einzusehen, daß sie nur dadurch das Vertrauen Europas aufrecht er⸗ halten können, daß sie an dem Vertrage festhalten. In Bezug auf die Eisenbahntarife hat sich nichts Wesentliches geändert gegenüber dem e, Zustande, und wenn die Aufhebung des Mentitäts⸗ nachweises durchgeführt sein wird, dann wird die deutsche Land⸗ wirthschaft davon einen Vortheil haben. Die Landwirthschaft hat manche Bedürfnisse, die aus Rußland bezogen werden. Der hit et der „Hamburger Nachrichten! sollte den Vertrag zu Falle bringen. Aber haben Sie denn das Wettkriechen vor Rußland vergessen, dessen sich die , e,, befleißigt haben? Dem Fürsten Bismarck ist es trotz alledem nicht gelungen, einen Tarifvertrag mit . abzu⸗ . Der Bund der Landwirthe kann sich nicht als alleinige Vertretung der Landwirthschaft ansehen. Wir haben in Westpreußen eine Verfammlung für den russischen Handelsvertrag gehabt; der Auf⸗ ruf war unterzeichnet von angesehenen Landwirthen. Das schlimmste

für Sie rechts wäre, daß der Vertrag abgelehnt würde, namentlich wenn die Landräthe nicht mehr gegen die 8 der Regierung an⸗ kämpfen dürfen. Die Regierung sollte einmal darauf achten, daß die