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sein Leben läßt. Auch den Verkehrsbeamten, den Exekutivbeamten, den Arbeitern in den staatlichen Bergwerken, welche in ihrem Beruf verunglücken, wird bezüglich ihrer Hinterbliebenen dasselbe Mitleid und dieselbe Theilnahme gewährt werden müssen. Ich glaube, es folgt daraus, daß, wenn es sich um die Frage der Versorgung von Hinterbliebenen handelt, zunächst die allgemeinen gesetzlichen Be⸗ stimmungen Anwendung finden müssen, und demnächst zu prüfen ist, ob im einzelnen Falle die auf Grund der bestehenden gesetzlichen Be⸗ stimmungen zu gewährenden Kompetenzen ausreichen, um den an⸗ gemessenen Lebensunterhalt der Hinterbliebenen zu sichern, oder ob diese Frage verneint werden muß. Wird die letzte Frage bei Prüfung des einzelnen Falles verneint, so wird ausgleichende Gerechtigkeit durch die Inanspruchnahme der vorhandenen Dispositionsfonds geübt werden müssen.
Das Reichs⸗Marineamt hat eine vorläufige Zusammenstellung gemacht, wie viele Hinterbliebene zu versorgen sind infolge der Schiffs⸗ unfälle, die sich bei Samoa auf dem, Baden“ und auf der „Branden⸗ burg“ zugetragen haben. Ich bemerke indeß, daß diese Feststellungen nur telegraphisch gemacht werden konnten, deshalb noch nicht definitiv abgeschlossen sind und noch der Ergänzung bedürfen werden. Nach diesen vorläufigen Feststellungen sind Hinterbliebenen von den Männern, die in Erfüllung ihrer Pflicht bei den fraglichen Schiffs⸗ unglücken ums Leben gekommen sind, 23 Wittwen, 57 Waisen,
66 Ascendenten und 2 sonstige Angehörige, im ganzen 148 Personen.
Es würde den Hinterbliebenen eine gesetzliche Versorgung im Gesammt⸗ betrage von 23 g24 „S zustehen. Das Diensteinkommen, bezüglich der Verdienst der Verunglückten betrug nach den bisherigen Feststellungen 50 218 4, die Differenz mithin zwischen dem Betrage der Versorgung der Hinterbliebenen und dem Diensteinkommen ihrer Ernährer beträgt 22097 Meine Herren, es ist ja klar, daß so weit nicht gegangen werden kann, daß aus den Dispositionsfonds den Hinterbliebenen die volle Differenz gewährt wird bis zur Höhe des Diensteinkommens ihrer Ernährer; denn es würden dann mit Recht gleiche Ansprüche auch in der Zivilverwaltung von den Hinterbliebenen solcher Personen, die bei der Ausübung ihres amtlichen Berufs ums Leben gekommen sind, erhoben werden können; das wäre finanziell sehr weittragend. Es wird aber, meine Herren, wenn jetzt die Ermittelungen des einzelnen Falles vollständig abgeschlossen sind, zunächst der Unterstützungsfonds der Marine im Militärpensions⸗Etat in Anspruch genommen werden; demnächst wird es auch möglich sein, Mittel aus dem Dispositions⸗ fonds des Herrn Reichskanzlers flüssig zu machen, und wenn diese Fonds nicht ausreichen sollten, um den Hinterbliebenen dieser un— glücklichen Opfer eine ausreichende Existenz zu gewähren, werden Seiner Majestät dem Kaiser Vorschläge unterbreitet werden, um noch Beihilfen aus dem Allerhöchsten Dispositionsfonds zu erhalten. Sollte sich aber im Laufe dieses Jahres herausstellen, daß diese Dis⸗ positionsfonds nicht ausreichen, um jene Mehrbelastung zu tragen, so werden die verbündeten Regierungen in Erwägung ziehen, in dem nächsten Etat eine Verstärkung dieser Dispositionsfonds bei dem hohen Hause zu beantragen.
Der Etat der Marine wird darauf ohne weitere Debatte genehmigt. . .
Zum Etat der Reichs-Justizverwaltung haben die Sozialdemokraten folgenden Antrag eingebracht:
In Erwägung, daß neuerdings das Urtheil des Königlich sächsischen Ober⸗Landesgerichts zu Dresden in der Sitzung vom 18. Dezember 1893 in der Strafsache wider Wilh. Flath und Paul Otto Uhlemann wegen Verübung groben Unfugs durch Vertheilung von Stimmzetteln und Drucksachen zu Wahlzwecken das „freie und sichtbare· Austragen „von Haus zu Haus“, sowie die Uebergabe „ohne Rücksicht auf die politische Gesinnungsart des Einzelnen“ und die ohne Auswahl und Ansehen der Person“ erfolgte „unter⸗ schiedslose und unaufgeforderte Vertheilung“ wiederholt zum Gegen⸗ stand strafrechtlicher Maßnahmen gemacht worden ist, beschließt der Reichstag, ausdrücklich zu erklären, daß diese Art und Weise der Vertheilung zu Wahlzwecken in den 543 der Reichs- Gewerbeordnung eingeschlossen ist, und ersucht den Herrn Reichskanzler, bei den verbündeten Regierungen dahin zu wirken, daß die zur Durchführung dieser Auffassung geeigneten Anordnungen getroffen werden.“
Abg. Auer (Soz.) verweist auf die Entstehungsfrage des § 43 der Gewerbeordnung, welchen man durch die Anwendung des groben Unfugsparagraphen unwirksam zu machen suche. Viele Leute seien allerdings der Meinung, daß die Handhabung dieses Paragraphen seitens der Gerichte selbst ein grober Unfug sei. (Vize⸗Präsident Dr. Gürklin: Ich kann es nicht dulden, daß die Handhabung der Gerichte als ein grober Unfug dargestellt wird. — Zuruf eines Sozialdemokraten: Das ist doch ein grober Unfug! Vize⸗Präsident Dr. Bürklin: Ich rufe den Herrn, der eben den Zwischenruf ge— macht hat, zur Ordnung h. Als besonders erschwerend werde es be⸗ trachtet, daß die Flugblätter am Sonntag während des Gottes⸗ dienstes vertheilt wurden, ferner wurde auch die Art und Weise der Vertheilung als den öffentlichen Frieden störend betrachtet. An dieser falschen, von dem obersten Gericht in Sachsen gebilligten Auslegung des Gesetzes sind alle Parteien interessiert, freilich nur theoretisch, denn praktisch wird ja davon immer nur die Sozialdemokratie ge⸗ troffen. Grober Unfug wird gefunden in Anzeigen, welche die That⸗ sache feststellen, daß gewisse Wirthe ihre Säle den Sozial⸗ demokraten verweigern. Es ist eine Strafe von sechs Tagen Ge⸗ fängniß deswegen verhängt worden. Was darf aber auf den anti⸗ semitischen Flugblättern Alles stehen, ohne daß man darin groben Unfug erblickt! Redner verliest einige Stellen aus solchen Blaͤttern, welche ungestraft vertheilt werden sind. Der Inhalt der Broschüre, welche jetzt das Gericht beschäftigt, wird unter dem Titel: ‚Die geschäftspolitische Nebenregierung in Preußen und in Deutschland“ in Sachsen in Form eines Flugblattes verbreitet. Redner verliest auch einige Stellen dieses Flugblattes, worin der Regierung vorgeworfen wird, daß sie vor der geschäftlichen Nebenregierung Rothschild, Bleich⸗ röder und Hansemann kapituliert habe u. s. w. Und nun erst die Glöß'schen Bilderbogen, die überall ungehindert verbreitet werden. Den Antisemiten soll die Preßfreiheit nicht eingeschränkt werden; wir wellen nur gleiches Recht haben. Die parteiische Handhabung erstreckt sich nicht bloß auf die Verwaltung, sondern auch auf die Gerichte. Ein landgerichtliches Erkenntniß hat allerdings ausgesprochen, daß der Richter in die Stellung eines Zensors gedrängt werde, wenn er jede Wendung beurtheilen wolle, die vielleicht bei dem Einen oder Anderen Beunruhigung erregen kann. In dem Falle handelte es sich aber um einen Antisemiten, das ist die Erklärung für die verschiedenartige Be⸗ , , Man vermißt eben in Sachsen das Sozialistengesetz, und legt die Gesetze eigenthümlich aus oder legt auch etwas unter oder hilft sonst etwas nach. Der sächsische Justiz-Minister hat in der Ersten Kammer erklärt, daß er zwar in die Rechtsprechung nicht ein⸗
reifen könne, aber im vertraulichen Verkehr würden doch unrichtige rtheile besprochen. Der Antrag wolle die Rechtsprechung nicht beeinflussen, sondern nur einer mißbräuchlichen Anwendung des S 43 vorbeugen. ; ;
Königlich sächsischer Bevollmächtigter zum Bundesrath, Gesandter Dr. Graf von , verweist darauf, daß nach der sächsischen Verfassung die Gerichte innerhalb des Rahmens ihrer Kompetenz un⸗ abhängig und jeder Beeinflussung durch die Verwaltung entzogen sind. Der Vorredner hat von der ungleichen Behandlung der Sozial⸗ demokraten und anderer Partejen gesprochen. Der , , dieser beiden Angelegenheiten ist nicht recht verständlich. Der Abg.
Auer hat sich zum Organ der Polizei gemacht und ein Einschreiten gegen den Glöß'schen Verlag verlangt. Die Behauptung, daß mit zweierlei Maß gemessen wird, weist Redner mit Entschiedenheit zu⸗ rück. Im Interesse des Vaterlandes könne es nur bedauert werden, daß die Gerichte nicht scharf genug vorgehen.
Abg. Träger (fr. Vollsp.): Als einer der Väter des 5 43 muß ich Protest dagegen erheben, daß derselbe mißbräuchlich g n, habt wird. Nicht 59 sondern ein Rechtslehrer, Professor Berner, sagt: Mit dem groben Unfugparagraphen wird von den Gerichten der gröbste . . Der grobe Unfug ist nach der ganzen Entstehung der Bestimmung nur als eine physische Belästigung zu verstehen, alle Uebertragungen auf das psychische Gebiet widersprechen dem Sinne und Geiste des Gesetzes. Die ganze Sache entbehrt nicht des humoristischen Beigeschmacks. Das Amtsgericht erblickte in dem Vertheilen von Flugblättern am Sonntag groben Unfug. Das Land⸗ gericht wittert nur eine Bekämpfung der Religion, obgleich dieselbe doch mit der ö und den Wahlen infolge der Auflösung des Reichstags wenig zu thun hatte. Der § 43 der Gewerbeordnung wollte aber gerade die Wahlagitation durch Tlughlätter von allen elt befrelen. Freilich im Königreich r scheint man
an die Aufhebung des Sozialistengesetzes noch immer nicht gewöhnen zu können. Der mißbräuchlichen Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen muß mit Entschiedenheit entgegen⸗ getreten werden, weil sonst das wichtigste öffentliche Interesse, die Wahlfreiheit, gefährdet wird. Redner empfiehlt den Antrag. Gefreut hat mich die Abneigung des sächsischen Bevollmächtigten gegen die Beeinflussung der Gerichte, obgleich sie nicht ganz dem Auftreten des sächsischen Justiz⸗Ministers entspricht. In ann sind auch seltsame ministertelle Verfügungen früher ergangen, nicht von dem jetzigen Justiz⸗Minister, der so korrekt verfährt, wie selten ein anderer. Die Annahme der Resolution wird genügen. Ob die sächsischen Justiz⸗ behörden den nöthigen Respekt vor dem Beschluß des Reichstags haben werden, möge dahingestellt bleiben.
Staatssekretär Nieberding:
Meine Herren! Es ist nach meiner Meinung ein wohlbegründetes Recht des Reichstags, in solchen Fällen, in welchen nach der Ansicht des Hauses die Rechtsprechung, sei es auf zivilrechtlichem, sei es auf strafrechtlichem Felde, eine falsche Richtung einzuschlagen droht, diese Verhältnisse hier zur Sprache zu bringen und diejenigen Mittel und Wege in Betracht zu nehmen, welche geeignet sind, die Rechtsprechung von ihrem vermeintlich falschen Wege wieder abzubringen. Aber ein anderes, meine Herren, ist es doch, wenn hier im Hause nicht der⸗ artig Fragen im allgemeinen erörtert werden, sondern wenn einzelne Urtheilssprüche der Gerichte zum Gegenstand einer Kritik, ironisierender Bemerkungen und anzüglicher Darstellungen gemacht werden, die schließlich darauf hinauskommen, daß die Gerichte oder die Mitglieder der Gerichtshöfe, die an den angegriffenen Ent⸗ scheidungen betheiligt gewesen sind, das Recht nicht haben sprechen wollen, obwohl sie es erkannt hatten. Das, meine Herren, ist der schwerste Vorwurf, der gegen die Gerichte erhoben werden kann, und niemals wird er schwerer wiegen, als wenn er im Namen und aus der Mitte des Reichstags erhoben werden sollte. Ich glaube, meine Herren, niemand hat auch weniger Veranlassung, eine solche bedenk⸗ liche Beurtheilung, nicht der Rechtsprechung im allgemeinen — ich wiederhole das — sondern einzelner Richtersprüche zur öffentlichen Erörterung zu bringen als gerade der Reichstag selbst. Denn vielleicht ist doch von allen Institutionen des öffentlichen Lebens die Gerichtsverfassung und die Wirksamkeit der Gerichte, ihre Autorität gegenüber der öffentlichen Meinung und ihre Unabhängig⸗ keit gegenüber der Verwaltung dasjenige Gut, das gerade der Reichs⸗ tag am meisten hüten sollte, und ich meine: nicht auf dem Wege wird das ermöglicht, der durch die soeben hier gepflogene Diskussion eingeschlagen worden ist.
Ich will die Frage, ob die Gerichte in einzelnen Fällen von der Bestimmung des Strafgesetzbuchs über groben Unfug unrichtigen Ge⸗ brauch gemacht haben, hier nicht ausführlich erörtern. Ich gebe die Mög⸗ lichkeit zu, daß die Gerichte in der Anwendung der betreffenden strafgesetz⸗ lichen Vorschriften zuweilen etwas weit gegangen sind. (Hört! hört! links.) Ich halte hierin Irrthümer der Gerichte nicht für unmöglich, weil die Gerichte ebenfalls mit Menschen besetzt sind und dem Irrthum gerade so unterworfen sind wie auch andere Menschen und die Mit⸗ glieder des Reichstags selbst. (Sehr richtig!) Ich kann das zugeben, ohne damit der Gewissenhaftigkeit und der Ueberzeugungstreue der deutschen Richter, die ich meinerseits mit voller Entschiedenheit ver⸗ trete, irgend wie zu nahe zu kommen. Also in einzelnen Fällen mag dieser Bestimmung des Strafgesetzbuchs eine sehr weitgehende Aus⸗ legung gegeben worden sein. Ob unter diese Fälle auch diejenigen zu rechnen sind, die von dem ersten Herrn Redner in die Debatte gezogen worden sind, lasse ich dahingestellt. Ich kann diese Fälle nicht beurtheilen; ich glaube, auch das hohe Haus kann es nicht. Ich glaube, es wäre doch bedenklich, wenn einzelne Mitglieder des Hauses auf Grund der einseitigen Mittheilungen eines einzigen Redners hier in die Beurthei⸗ lung von Rechtsfällen eintreten, die nach sorgfältiger Sachbehandlung von unabhängigen Richtern in kollegialer Berathung entschieden worden sind. Ich muß auch hinzufügen, daß selbst, wenn ich die Fälle, die von dem ersten der Herren Redner angeführt worden sind, voll⸗ ständig übersähe, ich mich doch enthalten würde, hier im Hause die Richtersprüche darin einer Diskussion zu unterziehen, und zwar aus der Erwägung, die ich die Ehre hatte, beim Eingange meiner Ausführungen vorzutragen. Die Bestimmung des Strafgesetzbuchs über den groben Unfug ist ja sehr allgemein gefaßt; aber gegenüber der Frage, ob die Judikatur von dieser Bestimmung etwa eine zu weitgehende Anwendung mache, kommt doch auch die andere Frage in Betracht, ob unter den anders ge— arteten Verhältnissen, wie die Zeit sie, seitdem dies Delikt in die Ge⸗ setzgebung aufgenommen ist, geschaffen hat, nicht auch der grobe Unfug selbst begrifflich eine andere Bedeutung gewonnen hat, und ob es nicht die Pflicht der Gerichte ist, in sachgemäßer, vorsichtiger, unab⸗ hängiger Anwendung der Gesetzesbestimmung den Begriff des groben Unfugs nach Maßgabe der anders gearteten thatsächlichen Verhältnisse zu bestimmen und zu begrenzen. Das ist nach meiner Meinung unter allen Umständen die Aufgabe der Gerichte, wenn sie überhaupt von dem Gesetz einen verständigen und sachgemäßen Gebrauch machen sollen.
Ich beschränke mich auf diese allgemeinen Bemerkungen zu der hier geübten Kritit über die Art und Weise, wie die Rechtsprechung auf diesem Gebiete vorgeht. Ich bedaure, dazu genöthigt worden zu sein; denn es ist immer ein unglückliches Verhältniß, wenn der Ver—⸗ tretung des Reichs gegenübet die Sprüche und die Mitglieder der Gerichtshöfe in Schutz genommen werden müssen, welche sich ihrerseits gegen die Angriffe nicht vertheidigen können, aber nach Pflicht und unter Eid ihrer Aufgaben gerecht werden. (Zurufe links.)
Was den vorliegenden Antrag betrifft, so zerfällt er in zwei Theile: er wünscht, daß der Reichstag eine deklatorische Erklärung
theilt wird —, daß die
über den Gesetzesparagraphen abgeben solle; und zweitens, daß Regierungen nach Maßgabe dieses Ausspruchs des Reichstags ch. schreiten sollen, um der Auslegung des Reichstags bei den Gerichten praktisch Geltung zu verschaffen. .
Um den letzteren Punkt vorweg zu nehmen, so könnte eine der artige Einwirkung, wenn sich die Regierungen ihr unterziehen wollten doch nur in der Art vor sich gehen, daß die Justizverwaltungen der einzelnen Staaten ihre Staatsanwaltschaften anweisen, im Sinne der vom Reichstag vertretenen Anschauung zu wirken. Ich kann mich jn insoweit über den Antrag der Herren freuen, als auch von der äußersten Linken des Hauses dadurch anerkannt wird, daß die Organ der Staatsanwaltschaft unter Umständen von Nutzen und Bedeutun sind. (Zwischenrufe links.)
Ich glaube aber nicht, daß die verbündeten Regierungen geneigt sein werden, auf Grund des vorliegenden Materials eine Ein, wirkung durch die Organe der Justizverwaltung auszuüben; ich möchte auch nicht annehmen, daß das hohe Haus in seiner Mehrheit geneigt sein wird, diesem Ersuchen an die verbündeten Regierungen beizutreten, und zwar aus folgenden Gründen.
Zunächst verlangt der Antrag in seiner ersten Hälfte, daß daz Gesetz dahin ausgelegt werde, daß bestimmte Handlungen nicht strafbar seien. Nun meine ich — und ich zweifle auh nicht, daß bei den verbündeten Regierungen diese Ansicht g Verbreitung von Wahlzettel und ähnlichen Druckschriften, wenn sie im übrigen in den Formen und unter den Voraussetzungen des Gesetzes vor sich geht, deshalb allen noch nicht eine unzulässige wird, weil der betreffende Vertheiler diese Druckschriften offensichtlich trägt, sodaß jedermann sehen kann, was si enthalten, oder daß er sie jedermann anbietet, ohne Rücksicht auf die Person, ihren Stand und ihre Stellung oder ohne Rücksicht auf politische oder religiöse oder sonstige Anschauungen. An und füt sich können diese Momente den Begriff einer strafbaren Handlum nicht begründen. Nichts weiter als das wird aber in dem ersten Theil dez Antrags festzustellen versucht; insofern ist dasjenige, was die Herren
an der betreffenden Stelle des Antrags sagen, eigentlich etwas Selbst
verständliches. (Zurufe links) — Die Herren haben nicht verlangt, daß das Erkenntniß des Ober⸗Landesgerichts einer Remedur unterzogen werde, sondern daß die Regierungen ganz allgemein darauf hinwirken sollen, daß eine bestimmte Anschauung über die Tragweite des Gesetzes Platz greife; soweit diese Anschauung in den Worten des Antrags zum Ausdruck kommt, kann ich sie nur als selbstverständlich ansehen. (Hört! hört h
Zweitens muß ich hervorheben, daß nach meiner Ueberzeugung der sächsische Gerichtshof, der hier zu meinem Bedauern Gegenstand so lebhafter Angriffe geworden ist, durchaus nicht die Absicht gehabt hat, dem betreffenden Paragraphen des Strafgesetzbuchs eine so weitgehende Auslegung zu geben, wie die Herren Redner ihm unterstellt haben. Ich nehme an, daß der Abdruck des Erkenntnisses, wie er von dem Herrn Antragsteller dem Hause unter— breitet worden ist, den vollständigen Text enthält. Ich habe diesen Text sorgfältig durchgelesen und kann nicht sagen — wenn ich auch zugebe, daß die Erwägungsgründe eine etwas weite Fassung erhalten haben — daß man in dem Erkenntniß das suchen muß, was von dem Herrn Am tragsteller hineingelegt wird. Auch aus diesem Grunde bin ich der Meinung, daß nicht die mindeste Veranlassung für die verbündeten Regierungen vorliegen würde, falls der Reichstag geneigt sein sollt, einen Beschluß im Sinne der Herren Antragsteller zu fassen, die Justizverwaltungen zu einer Aktion anzuregen.
Ich meine, daß der ganze Rechtsfall hier eine viel zu große Bedeutung erhalten hat; man hat ihm einen viel zu stattlichen Mantel umgehängt, und ich möchte doch bitten, daß die Herren einmal ruht abwarten, ob denn in der That irgend ein Gerichtshof unzweideutig nicht beiläufig an einzelnen Sätzen der Urtheilsbegründung, die so oder anders, enger oder weiter ausgelegt werden können, dahin sich aussprechen sollte, daß dasjenige, was in dem ersten Thel des Antrags als an und für sich zulässig bezeichnet wird, geseß' widrig sei. Erst dann könnte der Zeitpunkt gekommen sein, der Frage näher zu treten, ob irgend eine Remedur geboten erscheint. Wie die Dinge jetzt liegen, meine Herren, habe ich die Ueberzeugung, daß unsere Gerichtshöfe das Gesetz sachgemäß anwenden im Sinne des Gesetzgebers, unparteiisch, niemand zu Leide und auch niemand z Gunsten.
Abg. Dr. Rintelen (Zentr.):; Das Urtheil des sächsischen Ober⸗ Landesgerichts behagt auch mir nicht; aber der Reichstag hat nicht das Recht, ein Urtheil zu kritisieren. Will man eine Aenderung det Rechtfprechung herbeiführen, dann muß eine Deklaration eingebracht werden. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist ein Kardinalpunkt und jeder Eingriff in die Unabhängigkeit, mag er auch noch so leicht sein ist ein Eingriff in die greiheit des Volkes. Jede derartige Anordnung wie sie hier in dem Antrage verlangt wird, würde ich als Richte entschieden zurückweisen. Ich gebe den Antragstellern anheim, den Antrag zurückzuziehen. ‚
Abg. Zimmermann (d. Rfp.): Der Antragsteller hat. di Gelegenheit benutzt, die Antisemiten zur Berücksichtigung bei Stig verfolgungen zu empfehlen und eine Denunziation anzubringen, So harmlos ist der Bohkott von Lokalen doch nicht gewesen, wie der Antragsteller ausgeführt hat. Man hat einen Wirth zwingen wollen, den Sozialdemokraten seinen Saal zu geben, und zwar dadurch, daß Sozialdemokraten die Lokale besuchten und die Tanzlustigen am Tanzen hinderten. Gewiß haben wir die Parole aub⸗ gegeben: Kauft nicht bei Juden! Das geschah aus nationalen, chriftlichen und wirthschaftlichen Gründen. Die Sozialdemokraten haben durch ihre Boykottierungen die Existenzen ihrer Gegner R vernichten gesucht und spielen sich hier als Retter der Freiheit auf Die Schwennhagen und Genossen sind niemals Antisemiten gewesen die Glöß'schen Bilderbogen sind ein reines Privatunternehmen Uebrigens ist Herr Glöß, trotzdem er 109 Prozesse gehabt hat, mi einmal zu drei Mark verurtheilt. Diese Ungleichheit der Behandlung findet nicht statt, es wird sogar nicht . genug gegen ö Sozialdemokraten vorgegangen. Die Versammlungen des Abg. Ahlwar sind in Sachsen verboten worden, während anarchistische Versamm. lungen stattfanden. Die Sozialdemokraten haben zur Bekampfun des Christenthums von der Preßfreiheit aureichenden. Gebrauch . macht, fodaß sie beinahe in Preßefrechheit gusgeartet ist. Troß ö Begründung werden wir für die Resolution stimmen, weil wir d, er, Ungleichheit, keinerlei Beeinflussung wollen. Der Antrag scheint in, estellt zu fein, um fich wieder einmal den sächsischen Juden ah
chützer zu empfehlen.
Die Abgg. Dr. Ham macher (nl.) u. Gen. beantragen:
In Erwägung, daß die Auslegung von Reichsgesetzen ö. fassungsgemäß dem Gericht zusteht; in fernerer Erwägung, n eine Deklaration der Gesetze nur im Wege der Gesetzgebung erfol könne, über den Antrag zur Tagesordnung überzugehen.
Abg. Dr. Enneccerus (nl): Daß dag Vertheilen . 26
ĩ f ĩ ir g ni schriften am Sonntag grober Unfug sel, will mir auch ir hahltr!
erscheinen; aber daß der Reichstag ein unrichtiges Urtheil
*
Gerit bofes richtigstellen soll, das ist unerhört. Die Gesetzgebung
st Sache des Reichstags und des Bundesraths. Was würden Sie bajn sagen, wenn nun einmal der. Bundegrath ein den Sozialdemo⸗ fraten an gn Urtheil als unrichtig bezeichnen würde? Nehmen Sie den Antrag ammacher an; ich bin auch zufrieden, wenn der Antrag Auer einfach abgelehnt wird.
Abg. Auer (Soz): Nachdem von allen Rednern zugegeben worden ist, daß unsere Beschwerde berechtigt ist, ziehen wir den Antrag zuriick, indem wir uns vorbehalten, denselben in anderer Form wieder vor dag Haus zu bringen.
Abg. Freiherr von Stumm (Ry) stellt fest, daß keineswegs das an, Haus die Beschwerden der Sozialdemokraten für berechtigt
klärt hat. . - ö ö. Abg. Auer (Soz.): Ich habe nicht vom ganzen Hause, sondern nur von den Rednern, welche zu Worte gekommen sind, gesprochen. Daß der Abg. Freiherr von Stumm uns nicht zustimmt, ist selbst⸗ perständlich. .
Staatssekretär Nieberding:
Meine Herren! Nur eine kurze Bemerkung zur Erledigung eines Versprechens, das ich in der gestrigen Sitzung des Hauses dem Herrn Referenten Ihrer Kommission gegeben habe. Der Herr Referent Ihrer Kommission hatte hervorgehoben, daß für die Einrichtung des neuen Reichsgerichtsgebäudes, vorbehaltlich einer etwaigen Abminderung, die Summe von rund 383 000 M erforderlich sein würde, und hatte den Wunsch ausgesprochen, daß von seiten der Regierung diese Summe bezüglich der Verwendungszwecke noch etwas mehr speziali⸗ siert werden möge. Ich komme diesem Wunsch nach, indem ich Ihnen folgende Zahlen mittheile: Von der ganzen Summe von 383 000 MM sollen für die innere Ausstattung des Hauses mit Mobilien 277400 , für Herstellung der elektrischen Leitungen im Hause 45 700 . und für die Beschaffung der Beleuchtungskörper im Hause der Rest von 59 go) S rund verwendet werden. Beim nächstjährigen Etat, in welchen die zweite Rate der betreffenden For⸗ derung eingestellt werden wird, wird sich die Gelegenheit bieten, durch Vorlegung des Anschlags die Verwendung im einzelnen zum Nachweis
zu bringen. Damit schließt die Debatte.
Der Etat des Reichs⸗Justizamts wird genehmigt.
Beim Etat der Zölle und Verbrauchssteuern kommt
Abg. Lutz (dkons.) auf die Angriffe auf seine Sachverständigkeit als Brauer zurück, welche der Abg. Roesicke bei der Berathung des russischen Handelsvertrags gemacht hat. Er verweist auf die Statiftik von 189293, wonach erhebliche Mengen von Surro—⸗ gaten bei der Brauerei verwendet werden; es werde Reis in erheb⸗ lichen Quantitäten verwendet, Zucker weniger wie früher, aber Bier⸗ kouleur in erheblicherer Menge und nicht Farbemalz, wie der Abg. Roesicke behauptet hat.
Abg. Roesicke (b. k. F.): Zum Etat gehörte diese Rede wohl auch
nicht. Ich habe die Sachverstaͤndigkeit des Abg. Lutz als Brauer be—⸗ zweifelt, weil er behauptete, die dunkle Farbe des Bieres könne nur durch Zuckerkouleur hergestellt sein oder vielmehr, wie er sagte: durch ekel⸗ erregende Abfälle des Zuckers. Daß in Norddeutschland auch noch Surrogate zur Bierbrauerei verwendet werden, ist bedauerlich; wir haben uns vergeblich bemüht, ein Verbot der Surrogate herbeizuführen. Wenn ich gezwungen worden wäre, das Vorbringen unrichtiger That⸗ sachen einzugestehen, so würde ich mich nicht noch weiter darüber streiten. . . Abg. Wurm (Soz) hält es für nothwendig, eine Statistik über den Verbrauch der Surrogate aufzustellen, damit man weiß, wer Surrogate verwendet. Wenn eine solche Proskriptionsliste nicht aufgestellt werden soll, dann wird man zum Verbot der Surrogate kommen müssen.
Der Etat wird genehmigt.
Beim Etat der en fn und Telegraphenverwaltung haben die Abgg. Dr. Bürklin (ul.) und Genossen beantragt, den in zweiter Lesung abgelehnten zwanzigsten Rath des Reichs⸗ Postamts zu bewilligen. ;
Abg. Freiherr von Stumm (Rp.) bedauert, daß er für einen Antrag, die Forderung für den Unter⸗-Staatssekretär, deren Ableh⸗ nung eine flagrante Ungerechtigkeit war, wieder herzustellen, keine Unterstützung gefunden habe; er hoffe, daß die Regierung in der nächsten Session die Forderung wiederholen wird.
Abg. Dr. Bürklin (ul.) empfiehlt seinen Antrag, weil der zwanzigfte Rath in der Kommission einstimmig angenommen, in der jweiten Lesung aber zu allgemeiner Ueberraschung abgelehnt sei.
Abg. Dr. Mülker⸗Sagan (fr. Volksp.) spricht seine Verwunde⸗ rung darüber aus, daß der Abg. Freiherr von Stumm, ohne einen Abaͤnderungsantrag zu stellen, einen Beschluß des Hauses bezüglich des Unter⸗Staatssekretärs als eine flagrante Ungerechtigkeit bezeichnet hat.
Nachdem noch Abg. Dr. Lingens (Zentr.) den Antrag Bürklin empfohlen hat, wird derselbe angenommen. .
Beim Titel „Postassistenten“ empfiehlt der
Abg. Dr. Bachem nochmals den Antrag Groeber, wonach die Zivilanwärter unter den Postassistenten ebenso wie die Militäranwärter zum Postsekretärexamen . werden sollen. .
Abg. von Kardorff (Rp.) erklärt sich gegen diesen Antrag, weil dadurch ein Privilegium der Militäranwärter aufgehoben würde.
Die Abgg. Graf Oriola (nl), Dr. Ham macher l) und Dr. Müller⸗Sagan (fr. Volksp.) schließen sich den Ausführungen des Abg. Dr. Bachem an. .
Abg. von Leipziger (dkons): Bei allem Wehlwollen für die Postassistenten, welches dadurch gefördert worden ist, daß dieselben sich zum großen Theil als Patrioten bekannt und die sozialdemokra⸗ tischen Angriffe von sich abgewälzt haben, können wir doch dem An⸗ trag nicht zustimmen, weil die Klasse der Postassistenten Personen zu verschiedenartiger Vorbildung umfaßt. .
Der Antrag Gröber wird angenommen. Von den ein⸗ maligen Ausgaben will der Abg. Sch midt⸗Warburg Zentr), wie in der zweiten Lesung, die Ausgabe für ein Postgebäude in Deutsch⸗Krone streichen.
Staatssekretär Dr. von Stephan:
Meine Herren! Wenn ich den Herrn Vorredner recht verstanden habe, so befindet er sich in demselben Irrthum, von dem er schon bei der zweiten Berathung beherrscht wurde. Er geht nämlich wieder von der verhältnißmäßig geringen Einwohnerzahl der Stadt Deutsch⸗ Krone aus. E ist ihm aber bei der zweiten Lesung in Gegenwart des dauses bereits ausführlich dargelegt worden, daß die Einwohnerzahl für die Bedeutung und den Umfang eines Verkehrsamts durchaus nicht maßgebend ist. Es kommt auf die Lage des betreffenden Ortes an. Deutsch⸗KWrone ist ein sehr wichtiger Knotenpunkt von Eisenbahnen und großen Fahrpostkursen, es findet dort ein sehr erheblicher Transit n und dies bedingt, daß für das Postamt große Räume geschaffen
erden. ;
⸗ Zweitens begeht der Herr Abgeordnete den Irrthum, daß er immer die Interimsmiethe mit der Miethe für das jetzige Postlokal berwechselt. Wir haben in Deutsch-Krone kein Miethshaus, sondern ein fa lalisches Haus, nur einige Räume sind hinzugemiethet worden.
Außerdem möchte ichæ im Anschluß an das, was der Herr Dr. , . bereits bei der zweiten Lesung hervorgehoben hat, doch . glauben, daß es nicht zweckmäßig ist, hier einen Vergleich
ö. Justizgebäuden und Postgebäuden anzustellen. Es ist bereits
öder zweiten Lesung dargelegt worden, wie sehr groß
der Unterschied ist. Der Herr Vorredner hatte damals auf das Ober⸗Landesgerichtsgebäude in Kiel und auf das Postgebäude in Altona exemplifiziert, — es ist ihm nachgewiesen worden, daß bei dem Postamt in Altona dreimal so viel Beamte beschäftigt sind als bei dem Ober ⸗Landesgerichts in Kiel, und daß der Verkehr des Publikums auf dem Postamt außerordentlich groß ist. Wie der preußische Herr Finanz⸗ Minister über Neubauten denkt, und was im preußischen Abgeordneten⸗ haus vor sich geht, das wird nach meiner Meinung doch nicht dem Reichstag als ein Beispiel, nach welchem er sich richten soll, vorgeführt werden können. Es ist also damals genau nachgewiesen worden, daß die Summe für den Posthausneubau in Deutsch⸗Krone gegenüber dem Bedarf, gegenüber der Bedeutung des Ortes und der Zahl des dort beschäftigten Personals eine ganz geringfügige ist, wenn ein einigermaßen anständiges Gebäude hergestellt werden soll. Diese Ausführungen sind so oft gegeben worden, daß ich sie nicht erweitern will, um die Zeit des hohen Hauses nicht noch mehr in Anspruch zu nehmen; sie haben in der Budgetkommission einen vollkommen durchschlagenden Erfolg gehabt, denn die Budget⸗ kommission hat den Plan, wie er vorgelegt ist, bewilligt. Bei der zweiten Lesung des Etats, wo der Herr Abgeordnete die Sache zur Sprache brachte, haben diese Ausführungen ebenfalls eine ausschlag⸗ gebende Wirkung geübt. Ich bitte das Haus also, bei dem Beschluß der zweiten Lesung stehen zu bleiben.
Abg. Graf Limburg⸗Stirum (dkons.) spricht sich für den Bau aus, der mit großer Mehrheit genehmigt wird. ö
Der Rest des Etats wird ohne Debatte genehmigt. An⸗ genommen wird nach kurzer Begründung durch den Abg. von 2 ö (dkons.) folgende Resolution: den Reichskanzler zu ersuchen:
17 Bei den zur Vorlage kommenden Bauplänen auf eine größere Einfachheit in Bezug auf die Gestaltung der Fagade und die innere Ausstattung der Gebäude hinwirken und Einschränkungen in Bezug auf die Ausdehnung des Baues und besonders theuere Materialien eintreten zu lassen. 2) Durch ein allgemeines Regulativ festzusetzen, welche Raumausdehnung eine Dienstwohnung für jede Dienststelle haben soll * * . .
Die Abstimmung über den Etat im ganzen wird aus⸗ gesetzt.
Darauf folgt die Berathung von Petitionen von Post⸗ beamten; die Petitionskommission empfiehlt durch ihren Be⸗ richterstatter Abg. Dr. Freiherr von Langen (dkons.) folgen⸗ den Antrag: , g.
1) uͤber die Vorstellungen von Postbeamten, enthaltend Proteste gegen die Ausführungen der sozialdemokratischen Mit⸗ glieder des Reichstags bei der Berathung des Reichshaushalts⸗-ECtats bezüglich ihrer sozialen Lage u. s. w., 2) über die Vorstellungen der Postvertrauensärzte im Bezirk der Kaiserlichen Ober⸗-Postdirektion Berlin, enthaltend einen Protest gegen die Ausführungen der sozial⸗ demokratischen Mitglieder des Reichstags bei der Berathung des Reichshaushalts⸗-Etats, bezüglich der Stellung und Thätigkeit der Postvertrauensärzte — zur Tagesordnung überzugehen.
Abg. Merbach (Rp.) sieht in den Petitionen einen Beweis für die Erregung der Postbeamten über die Debatten in diesem Hause.
Abg. Liebermann von Sonnenberg (b. F. F.. erhebt Protest dagegen, daß die der Postverwaltung nahestehende „ Verkehrs⸗ zeitung“ beim Abdruck dieser Petition die Bemerkung macht, daß die Mitglieder des Postassistenten-Verbandes der Sozialdemokratie ver⸗ fallen zu sein scheinen. Das sei eine Beleidigung der Postassistenten, denen das Haus wenigstens durch die Annahme des Antrags Gröber eine kleine Genugthuung gewährt habe. Hoffentlich würden die Spitzen der Postverwaltung hald auch ihre Ansichten ändern.
Abg. Bebel (Soz.): Wenn von den 14 000 Postbeamten nur 3000 die Petition unterzeichnet haben, so ist der Staatssekretär Dr. von Stephan zu bedauern. Zustimmungsschreiben für unser Auftreten sind uns geworden von vielen Leuten, die gezwungenermaßen diese Petitionen mit unterschrieben haben. Wir könnten schon heute wieder eine Menge von Beschwerden vorbringen; wir wollen aber angesichts der Geschäftslage darauf verzichten und die Sache in der nächsten Session vorbringen. .
Abg. Rettich (Bkons.) verliest einen Zustimmungsbrief von Post⸗ beamten aus seinem Wahlkreise. . ;
Abg. Dr. Schoenlank (Soz.) verzichtet auf weitere Ausführungen, bleibt aber dabei, daß die Sozialdemokraten die Mandatare der
Postbeamten sind. ö 6. Darauf wird der Antrag der Kommission angenommen.
Das Etatsgesetz und das Anleihegesetz gelangen ohne weitere Debatte zur Annahme. Schluß 5i/ Uhr.
Preuszischer Landtag. Herrenhaus.
9. Sitzung vom 15. März 1894.
Auf der Tagesordnung steht der Bericht der IX. Kom⸗ mission über den Entwurf eines Gesetzes zur Abänderung und Ergänzung der Gesetze vom 25. Mai 1874, betreffend die evangelische Kirchengemeinde- und Synodal⸗ ordnung vom 10. September 1873 für die Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien und Sachsen (GesetzSamml. S. 147), und vom 3. Juni 1876, betreffend die evangelische Kirchen verfassung in den acht älteren Provinzen der Monarchie (GesetzSamml. S. 125.
Zu . Anfangsbericht in der Donnerstags⸗Nummer des Blatis ist zunächst die Rede nachzutragen, zu welcher der Staats⸗Mintster Hr. Bosse nach dem Bürgermeister Struck⸗ mann das Wort nahm.
Minister der geistlichen 2c. Angelegenheiten Dr. Bosse:
Meine Herren! Ich werde auf die Spezialitäten, die der ver⸗ ehrte Herr Ober⸗Bürgermeister Struckmann vorgetragen hat, nicht im einzelnen in der Generaldiskussion eingehen; aber ich würde doch glauben, eine Pflicht gegen das hohe Haus und überhaupt eine Pflicht meines Amtes zu versäumen, wenn ich alles das, was er eben vorgetragen hat, hier un⸗ widersprochen sein lassen wollte. Meine Herren, ich bin dankbar dafür, daß in Ihrer Kommission die Vorlage auch von den Herren, die sie bekämpft haben, eine rein sachliche Opposition gefunden hat; und ich habe es auch schon in der Kommission ausgesprochen, daß ich nicht einen Augenblick darüber zweifelhaft bin, daß die Motive dieser Opposition durchaus lautere und auch auf lauterstem religiösen Sinne beruhende sind. Aber ich kann nicht an— erkennen, daß die Gesichtspunkte, die die Opposition und die der Herr Ober⸗Bürgermeister Struckmann gegen die Vorlage, wie wir sie hier haben, ins Gefecht geführt hat, zutreffend sind. (Sehr richtig!) Meine Herren, mit der Frage, ob in der evangelischen Kirche ein Glaubenszwang geübt werden soll, ob jedes Glied der evangelischen Kirche auf den Buchstaben des Bekenntnisses festgenagelt sein soll, hat diese Vorlage absolut nichts zu thun. (Sehr richtig) Man lese die Vorlage,
man prüfe sie, und dann zeige man mir die Stellen, wo man mit einer einfachen logischen Schlußfolgerung zu solchen Gedanken und Ansichten auch nur annähernd kommen könnte. Nein, meine Herren, das läßt sich nicht herauslesen. Noch weniger kann auch der Gedanke nur auf⸗ kommen, daß die Staatsregierung mit dieser Vorlage Zustände schaffen wollte, bei denen man die Mitglieder der evangelischen Kirche entweder zur Heuchelei oder zum Austritt aus der Landeskirche triebe. (Sehr richtig) Wo steht das in der Vorlage? Ich bitte, mir den Nachweis beizubringen. Die ursprünglichen An⸗ träge des verewigten Herrn von Kleist gingen ja weiter. Es ist mög⸗ lich, daß man aus der Erweiterung dieser Anträge herauslesen könnte, was für die kirchliche Entwicklung bedenklich erschiene. Die General⸗Synode hat sich diese erweiterten Anträge nicht angeeignet, sie hat sie zurückgeschnitten auf einen maßvollen und nach Ansicht der Königlichen Staatsregierung diskutablen Umfang. Wenn nun jetzt der Herr Ober⸗Bürgermeister Struckmann gegen die Tendenzen der damaligen erweiterten Anträge ankaämpft, dann ist das ein Kampf gegen Gespenster; das kann man mit gutem Gewissen sagen. (Sehr gut) Vor allen Dingen, meine Herren, möchte ich dagegen protestieren, daß es im Jahre 1876 die Absicht ge⸗ wesen sei, die Grundlagen der evangelischen Kirchenverfassung in Preußen durch die Mitwirkung der staatlichen Gesetzgebung wie auf einen Felsen, wie der Herr Ober⸗Bürgermeister Struckmann sich ausdrückte, festlegen zu wollen. Nein, meine Herren, der Felsen, auf dem die Kirche und auch die evangelische Landeskirche Preußens beruht, ist ein ganz anderer als die Mitwirkung des interkonfessionellen Landtags von Preußen bei der Kirchengesetzgebung (Bravo!, das ist der Glaube und das Evangelium, wie Herr Ober⸗Bürgermeister Struckmann ganz richtig gesagt hat, nicht aber die Fessel einer interkonfessionellen Staatsgesetzgebung. Man kann die ganzen Ausführungen, die wir eben gehört haben, wenigstens nach ihrem größten Theil so charakterisieren: sie sind staatlicher als die Staatsregierung und viel staatlicher als die Majorität des Landtags gewesen ist, der im Jahre 1876 die staat⸗ liche Sanktion durch das Staatsgesetz, die kirchliche Gesetzgebung bestätigt hat. Denn wenn das richtig wäre, was der Herr Ober⸗ Bürgermeister Struckmann ausgeführt hat, dann, meine Herren, könnte in der General⸗Synodalordnung ein Satz, wie der folgende, gar⸗ nicht stehen. Es heißt im § 7:
Folgende Gegenstände unterliegen ausschließlich der landes⸗
kirchlichen Gesetzgebung:
I) die Regelung der kirchlichen Lehrfreiheit,
2) die ordinatorische Verpflichtung der Geistlichen,
3) die zu allgemeinem landeskirchlichem Gebrauch bestimmten
agendarischen Normen.
Wenn der Herr Ober⸗Bürgermeister Struckmann Recht hätte, müßten wir alle diese innerkirchlichen Gegenstände einfach staatlich binden; dann würden wir dahin kommen, daß wir überhaupt keine kirchliche Gesetzgebung mehr haben dürften; denn dann würde jede Kirchen⸗ gesetzgebung, die vom Gesetz frei gelassen ist, die Gewissensfreiheit gefährden und den Gewissenszwang herstellen (Bravo ); dann würden die Folgen eintreten, die Herr Ober⸗Bürgermeister Struckmann voraus⸗ sagt, daß dadurch eine große Menge von Mitgliedern der evange⸗ lischen Landeskirche zum Austritt aus der Landeskirche gebracht werden könnten. Daran hat aber die Majorität des Landtags nie gedacht, die diese Bestimmungen schuf. Sie konnte auch nicht daran denken; es sind auch diese Konsequenzen nicht logisch und nicht folgerichtig. Nicht darin, daß die Kirche ihre Angelegenheiten selbst verwaltet — denn das ist der Kernpunkt der ganzen Sache — liegt die Gefahr für unsere Landes⸗ kirche, nicht dadurch werden die Leute in das Sektenthum hinein getrieben. Ich habe niemals gehört, daß jemand deshalb aus der Landeskirche ausgeschieden wäre. Aber wenn Sie die Kirche in staat⸗ liche Fesseln legen auch auf den Gebieten, wo staatliche Interessen nicht obwalten, dann könnten Sie allerdings die evangelische Landeskirche ge⸗ fährden, dann könnten Sie werthvolle Kräfte der evangelischen Landeskirche so verstimmen und so verletzen, daß dann allerdings die Gefahr entstehen kann, daß der Bestand der evangelischen Landeskirche selbst in Gefahr kommt. Nein, meine Herren, ich will auch nicht eingehen auf die Stärkung des Ministers durch die staatliche Gesetzgebung. Wir — die Königliche Staatsregierung — sind der Meinung gewesen, daß wir im stande sind, das Staatsinteresse wahrzunehmen seinem Um⸗ fange vollkommen entsprechend, wenn wir nur diejenigen staatlichen Be⸗ dingungen bestehen lassen, die wir Ihnen vorgeschlagen haben. Wir werden dafür sorgen, daß das staatliche Interesse nicht verletzt wird. Freilich hat der Herr Ober⸗Bürgermeister Struckmann ausgeführt, die Einbringung der Vorlage enthalte gewissermaßen eine Anerkennung der Staats⸗ regierung dahin, daß nun an dem nicht mehr gebundenen Paragraphen überhaupt kein staatliches Interesse weiter bestehe; die Staatsregie⸗ rung sei nicht mehr in der Lage, die staatliche Unschädlichkeit oder Schädlichkeit zu erklären, nicht mehr in der Lage, zu erklären, hier sei ein staatliches Interesse verletzt. Meine Herren, was ist das für eine Folgerung? Die Staatsregierung erkennt bei der Einbringung der Vorlage an, daß für die Mitwirkung der staatlichen Gesetz⸗ gebung kein ausreichendes staatliches Interesse vorliege. Im einzelnen Falle kann jedes kirchliche Gesetz nach wie vor dahin führen, daß die Staatsregierung sagt: „Halt! Hier werden staatliche Interessen verletzt. Vom staatlichen Standpunkt aus dürfen wir diesen Vorschlägen nicht folgen. Wir verweigern die Unschädlichkeitserklärung. Das scheint mir doch, meine Herren, so logisch, so klar, daß daran garnicht gezweifelt werden kann.
Nnn hat der geehrte Herr Vorredner gesagt: was wir durch die Vorlage erzielen wollten, das würde ein Zustand sein, den man überhaupt nicht mehr als evangelische Landeskirche Preußens bezeichnen könnte. Nun, ich möchte doch den Herrn Vorredner bitten, uns, die wir in der evangelischen Landeskirche Preußens groß geworden sind, die wir sie lieb haben, die wir dankbar sind für die Segnungen, die wir aus dieser Landeskirche empfangen von jeher haben, uns doch auch gütigst ein Urtheil darüber zuzugestehen, ob das kirchliche Gebilde, welches wir jetzt haben, und ob das, was auf Grund dieser Vorlage werden soll und werden kann, ob das noch den Namen der evangelischen Landeskirche verdient oder nicht. Ich glaube, wenn irgend jemand darüber ein Urtheil hat, dann sind es die Mitglieder der evangelischen Landeskirche Preußens. (Lebhafter Beifall.)
Meine Herren, ich bin ja auf eine gewisse Opposition gefaßt ge⸗ wesen, aber in vielen Beziehungen verstehe ich nicht die Schärfe, mit der diese Opposition geltend gemacht ist, nicht bloß hier, sondern auch außerhalb des Hauses in der Presse. Es ist geradezu wunderbar, daß man