1896 / 274 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 17 Nov 1896 18:00:01 GMT) scan diff

riffe, die man heute gegen ihn schleudert. (Sehr gut! linkZs und aus der Mitte) Es bedarf fürwahr nicht des unfaßbaren Begriffs englischer Einflüfse, um die Gründe zu ver- stehen, die damals den Reichskanzler von Caprivi bewogen, in diesem Sinn die Allerhöchste Stelle zu berathen. (Sehr wahr! aus der Mitte) .

Diese mehr theoretische Erörterung allein wird freilich nie⸗ manden überzeugen; man wird in der Politik auch dem Erfolg das Wort gönnen und die Frage aufwerfen: hat sich denn in der Folgezeit ge—⸗ jeigt, daß die damalige Politik wirklich zu einer verminderten Sicher heit, zu einer verminderten Friedensgarantie für Deutschland geführt hat? Ist denn in den sechs Jahren jemals eine akute Kriegsgefahr entstanden? Nein! Man sagt, jene Politik habe den Draht mit Rußland zerrissen und die Beziehungen zu Rußland verschlechtert. Ich widerstehe der Versuchung, eine Vergleichung eintreten zu lassen zwischen den Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland vor 1890 und nach 1890. (Sehr gut! links und aus der Mitte.) Diese Vergleichung ist nicht nützlich, sie kann auch zu einem positiven Ergebniß nicht führen; denn Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern lassen sich nicht von den aktuellen Fragen loslösen, welche die jeweilige Gesammtlage beherrschen. Es wird stets ein großes Verdienst des Fürsten Bismarck bleiben, daß er in den schwierigsten Zeiten es verstanden hat, unsere Beziehungen zu Rußland gut und freundschaftlich zu gestalten, sie nutzbar zu machen im Sinne des Friedens und indirekt für die Interessen unserer Verbündeten. Die Geschichte wird einst dieses Verdienst noch in ein helleres Licht stellen, als es heute der Fall ist. (Bravo! rechts) Ich meine aber, es heißt das Verdienst des Fürsten Bismarck ver— kleinern und unterschätzen, wenn man die Behauptung aufstellt, daß im Frühjahr 1890 diese Beziehungen keine andere Grundlage gehabt hätten als das zerbrechliche Piedesta!l von Abmachungen, deren Existenz alle drei Jahre in Frage stand. (Sehr richtig! links und aus der Mitte.) So liegt die Sache nicht. Unsere Be⸗ ziehungen zu Rußland beruhen auf einer festeren und dauerhafteren Grundlage: auf der traditionellen Freundschaft der herrschenden Familien, auf der Friedensliebe der Souveraine und der Regie⸗ rungen, auf der Achtung der Verträge und dem gemeinsamen Wunsch, ihnen überall Geltung zu verschaffen, auf dem Vorhandensein mancher gemeinsamen und dem Mangel aller divergierenden Interessen, und wenn einst unsere Archive geöffnet werden, dann wird es sich zeigen, daß auch nach 1890 unsere Politik mit Erfolg thätig gewesen ist, auf dieser Grundlage unsere Beziehungen zu Rußland zu pflegen, daß seit jener Zeit keine einzige politische Divergenz bestand, und daß wir bei diesem Streben stets volle Gegen seitigkeit gefunden haben; denn das ist die unumgängliche Voraussetzung aller guten Beziehungen. (Sehr richtig! in der Mitte.) Die Behauptung, die in der Presse aufgestellt wurde, wir hätten den Draht zerrissen, wird hiernach zur Begründung doch ein festeres Material bedürfen als den Hinweis auf Abmachungen, von denen man selbst zugiebt, daß sie der Geschichte angehören, und den Hinweis auf englische Einflüsse, von denen ich im Zweifel bin, ob sie jemals der Geschichte angehören werden. (Heiterkeit links.) Und dasselbe gilt bezüglich des Vorwurfes, wir hätten damals eine wichtige Schutzwehr nach Westen beseitigt. Da erinnere ich doch

daran, daß im Jahre 1887 der Boulangismus auf der höchsten Höhe stand; mit dessen Verschwinden sind auch die Gefahren zurück— getreten, die damals drohten, und die Zuversicht, daß Rußland

unprovozierte Friedensstörung fördern werde, ist heute ebenso fest wie

niemals eine oder unterstützen damals.

Man sucht dann die deutsche Politik von 1890 verantwortlich zu machen für die heutige Gruppierung der Mächte. Auch dieser Vorwurf ist nicht begründet. Der Gedanke, daß ein Vertrag des Inhalts, wie er kürzlich enthüllt worden ist, im stande sei, den Keil zu bilden zwischen zwei großen Nationen, die vielfach gemeinsame friedliche Interessen besitzen innerhalb Europas und außerhalb Europas, daß ein solcher Vertrag dem einen Staat ein Aequivalent bieten könnte für alles das, was er von der gemeinsamen Vertretung jener Interessen er—⸗ warten kann, das ist doch eine gewaltige Ueberschätzung, und der Nachweis wäre nicht schwer zu liefern, daß in früherer Zeit man von solchen Abmachungen eine viel kleinere Idee gehabt hat. In jenem Vorwurf liegt aber ein merkwürdiger Wider— spruch. Man rühmt die Staatekunst, die es veistanden hat, neben unseren Verträgen einen anderen Vertrag mit einer dritten Macht zu schließen; aber man rühmt gleichzeitig, daß dadurch die dritte Macht außer stande gesetzt worden sei, neben diesem Vertrag noch einen anderen zu schließen. (Sehr gut! links.)

Ja, wenn uns der Dreibund nicht verhinderte, eine Abmachung zu treffen mit einer dritten Macht, warum soll denn die dritte Macht verhindert sein, mit einer anderen Macht Annäherung zu suchen, dort die Rück⸗ versicherung zu suchen (sehr gut! links und in der Mitte, von der wir das Beispiel gegeben haben? Wenn jene dritte Macht zu einer vierten in ein ebenso intimes Verhältniß getreten wäre, wie wir es zum Dreibund waren, wir hätten uns darüber nicht erstaunen, wir hätten uns nicht beklagen dürfen. Die Beziehungen zwischen Rußland und Frankreich datieren doch nicht vom Jahre 1890, sie liegen in ihren Anfängen zurück bis in die 70er Jahre; sie haben sich seitdem entwickelt Hand in Hand mit der allmählichen Konsolidierung der staatsrechtlichen Ver— hältnisse Frankreichs, mit der Erkenntniß gemeinsamer Interessen, und die Entwickelung hat auch vor dem Jahre 1890 keinen Augenblick stillgestanden; ja, sie hat damals in höherem Maße als jetzt das Augenmerk politischer und auch militärischer Kreise auf sich gezogen. (Hört, hört) Der Gedanke, daß es die Aufgabe der deutschen Politik sein könne, zwei große Nationen zu trennen, hat niemals bestanden; es würde uns das Opfer kosten, die wir nicht leisten könnten, und würde uns abdrängen aus unseren bewährten Bahnen. Die Vorwürfe und Klagen, die heute in dieser Richtung gegen die deutsche Politik des Jahres 1890 erhoben worden, sie haben noch eine ganz andere ernste Seite: sie vindizieren jenen Beziehungen eine Bedeutung, die bisher nur unsere Feinde im Aus lande vergeblich diesen Beziehungen beizulegen versuchten. (Hört, hört h Darin liegt die Warnung, wir möchten zusücktehren zu der ruhigen, beobachtenden Haltung, die der Sachlage und unserer Würde entspricht. Ich will auf politische Kombinationen nicht eingehen, nur einen Gedanken aussprechen, daß gerade die Fragen, die heute im Vordergrunde des politischen Jateresses stehen, und

deren Lösung voraussichtlich Jahre in Anspruch nehmen wird, daß sie es höchst unwahrscheinlich machen, daß eine der Kontinentalmächte einen Streitfall schaffen wollte, dessen unmittelbare Folge wäre, daß die Gruppe der kontinentalen Mächte sich kompensieren und ihre Kräfte lahm legen zur thätigen Mitwirkung bei der Lösung jener Fragen. Auf der anderen Seite bietet gerade die Entwickelung unserer überseeischen Interessen voraussichtlich in der Zukunft Gelegen—⸗ heit, mit denselben Mächten wiederum zusammenzugehen, mit denen wir im vorigen Jahre zusammengegangen sind. Damit bin ich mit meinen Ausführungen zu Ende. Sie werden selbstredend der Kritik anheimfallen. Ich war nach bestem Willen bestrebt, nichts zu sagen, was einen Streit verbittern könne, der niemandem frommt, und aus dem ich trotz allem Bemühen außer stande bin, einen praktisch brauchbaren Kern herauszuschälen. (Sehr richtig!)

Die Linie der deutschen Polstik ist klar vorgezeichnet: treues, unentwegtes Festhalten an unseren Bündnissen mit Oesterxreich⸗ Ungarn und mit Italien (Bravo), Pflege der freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland auf der Grundlage, die ich vorhin angab, Erhaltung guter und freundlicher Beziehungen mit anderen Mächten in Achtung ihrer Rechte und nach Maßgabe der Achtung, die sie unsern Rechten gewähren (sehr gut! und Bravoh, Bereitwilligkeit aller Zeit, unsere Machtstellung in die Wagschale des Friedens zu legen. (Lebhafter Beifall) Gestützt auf diese Politik, zuversichtlich vertrauend auf unsere Wehrkraft und alle Zeit entschlossen, nach außen hin die Einheit zu bekunden, die wir unserem großen Kaiser und seinem ersten Staatsmann verdanken, ist für den Deutschen auch heute kein Anlaß zu irgend einer Besorgniß. Wir können getrost uns der Pflege unserer realen und idealen Güter widmen und voll Zuversicht in die Zukunft schauen. (Lebhafter Beifall.)

Auf den Antrag des Abg. Dr. Lieber (Zentr.), der von allen Parteien mit Ausnahme der Konservativen unterstützt wird, tritt das Haus in die Besprechung der Interpellation ein.

Abg. Dr. Lieber: Ich spreche meine Freude über die Beant— wortung der Interpellation aus und erkläre, daß ich dem Beispiel folgen und alles vermeiden will, was den Streit verstärken und die Uneinigkeit nach außen hervortreten lassen könnte. Es foll den verbündeten Mächten und der gesammten europäischen Bevölkerung r gt werden, daß das deutsche Volk gesonnen ist, vertragetreu dem rieden zu dienen. Nach der Antwort scheidet ein großer Theil der Besorgnisse, welche sich an die Erörterung knüpften, von vornherein aus. Der Reichskanzler hat erklärt., daß er über die unter unbe— dingter Geheimhaltung gepflogenen Verhandlungen keine Aufklärung geben könne. Die Ausführungen des Herrn Staatssekretärs des Aus— wärtigen Amts über die Zeit vor 1890 waren überall sorg— fältig hyprthetischer Natur. Wir sind daher außer Stand gefetzt, auf, diese Dinge hier im Reichstage näher einzugehen, wenn wir nicht von vornherzin die gute Absicht verleugnen wollen, was an uns liegt, die verbündeten Regierungen zu unterstützen und die Friedensliebe Deutschlands im Ausland erkennen zu lassen. In den Erklärungen des Reichekanzlers war von Wichtigkeit die bestimmte Versicherung, daß die seit 1899 eingehaltene Politik Rußland gegenüber keinerlei ungünstige Veränderungen in den Be— ziehungen zu Rußland zur Folge gehabt habe. Nicht minder be— ruhigend, wenn auch etwas mehr überraschend, war die runde Inabredestellung von Behauptungen, die eist jetzt wieder in der Presse laut geworden sind, die Versicherung, es seien keinerlei englische Einflüsfse maßgebend gewesen. Ich hoffe, daß diese runde und nette Versicherung des Reiche kanzlers nunmehr endlich die stets wiederkehrende Behauptung beseitigen wird, daß englische Lasten auf deutsche Schultern gebürdet seien. Für uns als Mitglieder des Reichstags war, von besonderem Werth die Versicherung, daß die Wolken des Mißtraueng, die sich in den verbündeten Staaten gezeigt haben, inzwischen verschwunden sind. Gerade der Bevölkerung der verbündeten Staaten mußte die Ueberzeugung gegeben werden, daß das deutsche Volk gesonnen ist, die eigene und die verbündeten Regie— rungen zu unterstützen und damit den Bestand des Drei⸗ bundes und des europätschen Friedens zu sichern. Denn die Zeiten sind vorbei, wo Bündnisse. ausschließlich auf dem guten Willen der Regierungen beruhten. Der Herr Staatg— sekretär hat erklärt, daß kein Vertrag abgeschlossen sei, der den bestehenden Verträgen widersprochen hätte. Wenn wirklich ein Abkommen geschlossen wäre, wie es die „Hamburger Nachrichtenꝰ behaupten, so würde das nicht den Emxfindungen entsprochen haben, von denen der Herr Staatssetretär sprach. Da hätte die hohe Diplomatie sich in Widerspruch gesetzt mit der Volksmeinung. Die Sache wäre wohl etwas anders beuriheilt worden von dem Herrn Staatssckretär, wenn es sich nicht um Rußland und Frankreich, sondern um Oester⸗ reich und Frankreich, um ein Sondembündniß zwischen diesen ge— handelt häfte. Unserer Meinung nach hätten derartige Abkommen nicht abgeschlossen werden sollen und können in Zukunft nicht mehr abgeschlofsen werden, so lange der Dreibund besteht. Ich freue mich, daß dat alte Vertrauen zur deuischen Treue sich wieder gefestigt hat. Das Vertrauen wäre nicht erschüttert worden, wenn diese Ent— hüllungen statt auf dem Redaktionstisch der Hamburger Nachrichten“ auf dem des Vorwärts“ sich gefunden hätten. Wir stehen fest zu dem Grundsatz: Deutschland muß der Freund der Freunde unserer Freunde und der Feind der Feinde unserer Freunde sein.

Abg. Freiherr von Manteuffel C. kons.): Nach den Erklärungen des Reichskanzlers hätten wir eine Besprechung der Inte pellatlon nicht für nothwendig gehalten. Nachdem sie aber beliebt ist, halte ich es für angezeigt, mich mit wenigen Worten daran zu betheiligen. Sowohl der Interpellant wie der Vorredner haben beiont, daß die Interpellation nothwendig geworden sei wegen der Beunruhigung in weiten. Kreisen, insonderheit bei unseren Verbündeten, und Herr Dr. Lieber hat seinen Dank qusgesprochen, daß diese Beunruhigung beseitigt ist. Ich glaube im Nainen aller meiner politischen Freunde aus sprechen zu können, daß bei uns von Beunruhigung thatsächlich niemals die Rede war, und auch sonstwo haben wir keine Beun= ruhigung gemerkt. Die ersten Wolken der Beunruhigung haben sich sehr bald wieder zerstreut. Der Vorredner hat die Hoffnung aus⸗ gesprochen, daß in Zukunft ein solcher Rückoersicherungevertrag nicht wieder abgeschlessn werden würde. Auf diesem Standpunkt stehe ich mit meinen Freunden nicht. Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß das Rückversicherunge verhältniß bestanden hat zu unferem Besten und zum Besten des eurcpäischen Friedens; deshalb sehe ich nicht ein, weshalb man nicht wieder dazu greifen sollte im Interesse des europäischen Friedens, an dem doch Allen ge⸗ legen sein muß. Meines Wissens haben doch die wer— bündeten Regierungen von diesem Rückversicherungsvertrage Kenntniß gehabt. Es mußte der Rückoersicherungsvertrag sogar dem Dreibund das Zeugniß ausstellen, daß er wirklich nur eine defensive Bedeutung hatte. Die ganze Theorie des Staatssekretärs des Aeußern über die Beziehungen der Staaten untereinander war eine ungemein geist eiche; aber in der Praxis wird es sich niemals so gestalt n, wie er aut' geführt hat, und die Geschichte wird ihm auch nicht Recht geben, und solche Bündnisse werden in der Geschichte immer als von höchstem Werthe erkannt werden. Die Hand, welche auf der Klaviatur ruht, muß eine geübte, im Spielen geschickte Hand sein. Darauf kommt es an. Bezüglich der Interpcllation selbst sind wir dankbar für die Aufklärung, daß irgend welche Störungen sich nicht ergeben haben, daß namentlich englische Einflüsse nicht maßgebend gewesen sind. Ich bin auch dankbar dasür, daß die Beziehungen zwischen Deutsch⸗ land und Rußland die denkbar besten sind. Ich lege darauf einen besondern Werth. Ich denke, das Ginverhehmen der beiden Monarchen,

welches wir in Breslau erlebt haben, ist von hoher Bedeutung, und

ac in Frankreich geschehen ist,

und Rußland andererseits

ziehungen zu allen anderen Staaten, weil wir in Ru starken Monarchie zu thun haben, während die lei anderer Staaten von den dortigen Parlamenten abh das ist ein sehr unsicheres Substrat. Unter den hältnissen kann Deutschland seine Aufgabe erfüllen,

Friedens zu sein. Ich bin dankbar dafür, daß

Beziehungen zwischen 57

Abg. Dr. Enneceerus (ul.): niemals ein Vertrag stattgefunden hat, der der Vertragstreue wider? sprochen hätte. Dlese Stelle der Rede des Reichstanssers bezog sich zweifellos auf den Neutralitätsvertrag mit Rußland, dessen Dafein ber Reichskanzler nicht anerkennen konnte, an dessen Dafein wir aber glauben, den wir für keine Erschü terung, sondern für eine Sefestigung des Dreibundes halten. Meine Freunde stimmen dieser Anschauung einmüthig und. mit großer Freude zu. Nachdem ein mächtiges, ein' heitliches Reich entstanden war, hat der Schöpfer des Reicht seine Sorge unablässig darauf verwendet, die Macht desz Reichs zu vermehren und sie im Interesse des Friedens zu verwenden. Der Dreibund und der russische Neutralitätspertrag sind zwei hochwichtige Schritte auf diesem Wege. Der Dreibund ist kein bloßer Bund der Herrscher allein, er hat im Verständniß und in den Herzen deg Volks Wurzel geschlagen. Wir sehen außer unserer eigenen Macht die Schutzwehr des Friedens; der Dreibund ist ein defensiver, er kann nichts Anderes sein, wenn er nicht aus einer Sicherung in eine Gefährdung des Friedens umschlagen soll. Die verbündeten Regierungen sprechen sich Schutz und Hilfe lediglich für den Fall zu, daß eing von ihnen angegriffen wird, daß aber diefem rein defensien Bunde keine aggressive Tendenz nach irgendwelcher Richtung hin innewohnt. Für den Fall des Angriffs haben sie sich volle Freiheit vorbehalten, und für diesen Fell können sie auch Verträge abschließen. Die freundschaftlichen Gesinnungen gehen über die vertrags mäßigen Verpflichtungen weit hinaus; aber auch diese freundschaftlichen Gesinnungen verletzt der Neutralitätspertrag nicht, indem er sich nur auf den Fall des Angriffs beschränkt. An der vollen Vertragstreue der deutschen Regierung kann kein Zweifel bestehen, und in der Er— klärung des Herrn Staatssekretärs sehen meine Freunde eine volle Bestätlgung ihrer Auffassung. Auf die andeutenden Betrachtungen des Herrn Staatssekretärs über den Werth von Rückoersicherungen einzu= gehen, kann ich um so mehr verzichten, als die vom Fürsten Bismarck inaugurierte Politik: treues Festhalten am Dreibund und Pflege guter Beziehungen zu Rußland, beibehalten werden soll. Meine Freunde haben diese Erklärung mit Befriedigung aufgenommen.

Abg. Freiherr von Gültlingen (Rp.): Nach der Erklärung des Herrn Reichekanzlers hat die Reichspartei kein Bedürfniß zur Besprechung der Interpellation, um so weniger, als unsere' Än= schauungen mit den von seiten der Konservativen und National- liberalen ausgesprochenen Ansichten Üübereinstimmen. Die Reichspartei wird sich daher an solchen Besprechungen nur dann betheiligen, wenn sich die Nothwendigkeit herausstellen sollte, ungerechtfertigte Angriffe zurückzuweisen.

Abg. Richter (fr. Volkẽp.): Die Enthüllungen haben eine Erregung in der gesammten europäischen Welt hervorgerufen, daß man es nicht verstanden hätte, wenn man in Deutschland sich darüber hätte ausschweigen wollen. Der Deutsche Reichstag würde damit in eine subalterne Stellung gerückt worden sein. Durch die Interpellation hat sich das Zentrum das Verdienst erworben, daß fich eine Diskussion außerhalb der Etatsberathung ermöglicht hat. Es kommt nicht bloß darauf an, daß die Regierungen selbst ihre Meinungen unter einander aussprechen, sondern auch, daß die öffentliche Meinung zum Wort lemmt, wie sie durch die Parlamente vertreten ist. Freiherr von Manteuffel hat sich freilich sehr abfällig über Parlamentarizmus aus- gesprochen, er kat mehr Vertrauen jum Absolutiemuß in Bezug auf die äußere Politit. Eine Regierung, welche sich auf das Volk stützt, ist aber besser als eine absolutistische, wo der ganze Rückhalt auf die Nerven eines einzelnen Mannes gestützt ist. Die Festig⸗ keit des Dreibundes beruht auf den dauernden gemeinsamen Interessen unserer Völker. Wir haben dem Fürsten Bismarck in mancher Beziehung entgegentreten müssen, aber wir haben den Abschluß des Dreibundes als eine glückliche That für Deutschland betrachten müssen. Um so peinlicher war der Eindruck der Enthüllungen der Hamburger Nachrichten“, der allerdings dadurch abgeschwächt wurde, daß auch verrathen wurde, daß der Vertrag nicht wieder erneuert sei. Die Verwerfung, die Verurtheilung folcher Rückoersicherungsverträge ist um so nothwendiger, damit keine Kon quenzen gezogen werden. In Italien giebt es Bestrebungen, welche für Italien freie Hand verlangen. Jedermann hat es für selbstverständlich erachtet, daß wir nach den Handelsverträgen mit Oesterreich und Italien auch einen solchen mit Rußland abschließen mußten. Niemand wird es Italien verdenken, wenn es mit Frankreich einen Handelspertrag abschließt. Auch politische Vertrage find nicht ausgeschlossen. Aber es giebt eine Grenze für solche Sonderverträge; Verträge, welche die Stellung der Dreibundstaaten unter einander zu verschiehen geeignet sind, müssen den Dreibundstaaten mitgetheilt werden. Fürst Bismarck scheint seinen Freunden im Reichstage nicht recht getraut zu haben bezüglich seiner Vertheidigung; er hat selbst das Wort genommen einem Interviewer gegenüber, uͤber dessen Unterhaltung das „Neue Wiener Tageblatt“ berichtet. Der Aog. Graf Bismarck, den wir heute unter uns sehen, kann ja das Fahsch berichtigen. Wenn Fürst Bismarck der Meinung ist, daß er den geheimen Vertrag veröffentlichen kann, so macht er sich selbst den Vorwurf des Vertrauensbruchs Rußland gegenüber. Ein solches Vertrauensverhältniß im Drelbunde ist ins⸗ besondere nothwendig im Verhältniß gegenüber Oefterreich⸗ Ungarn. Niemand hat das Verhältniß besser geschildert als Fürst Bismaick selber hier im Hause, indem er das Verhältniß zu Desterreich als besser schilderte, als es jemals im Heiligen römischen Reiche und im Deutschen Bunde der Fall gewesen sei. Ber Herr Staatssekretär hat mit Recht geschildert, welche prekäre Lage durch Rückoersicherunge verträge entsteht. Für Oesterreich⸗Ungarn ift die Balkan ⸗Halbinsel die Wetterecke. Oesterreich kann in eine Lage kommen, die es zwingt, formell selbst zum Angriff überzugehen. Unsere Interessen sind dort mit den österreichischen nicht identisch. Aber wir haben dag Interesse, dort freie Hand zu behalten, und diese freie Hand ist gefesselt worden durch die deutsch⸗russischen Assekuranzverträge. Was wäre geschehen, wenn der Verrath erfolgt wäre zur Zeit, als der Assekuranzvertrag noch in Kraft war? Er hätte wie eine Spreng⸗ bombe auf den Dreibund gewirkt. Es wäre alles in die Hand des Zaren gegeben gewesen; der Zar hätte im Kriegsfall den Verkrag ver— offentlichen können, wie andere diplomatische Äktenstücke veröffentlicht sind, und er hätte den Dreibund dadurch gesprengt. Als der Vertrag 1884 geschlossen war, wurden die russischen Anleihen von der See⸗ handlung begeben; das war ein Fehler, aber ein noch größerer Fehler war das Verbot der Lombardierung russischer Anleihen. Die Massen⸗ ausweisung russischer Bauern war auch nicht den Frieden fördernd. Geantworket hat man mit der Verfolgung des Deutschthums in Ruß⸗ land. Den Zollerhöhungen Deutschlands folgten die Zollerhöhungen Rußlands. Die damaligen Beziehungen hatten eine sebr frostige Natur; Handel und Wandel litten darunter, und der Boulan—⸗ gismus hat gerade infolge dessen sich bemerkbar gemacht. Damal mußte Fürst Bismarck dem Zaren den Beweis liefern, daß er die Deveschen in der bulgarischen Angelegenheit nicht verfaßt batte. i dem Fürsten Bismarck, als dem sogenannten ehrlichen Makler, hatte Rußland seit dem Kongreß ein so besonderes Mißtrauen, daß es den Rückversicherungsbertrag abschloß, und durch die Entfernung des Fürsten Bismarck fiel jeder Grund zu einem solchen Vertrag. Wenn die Konservativen ihre Genugthuung über die guten Beziehungen zu Rußland ausgesprochen haben, Ihr Verdienst (zu den Konser⸗ vativen gewendet) ist es nicht, sondern das Verdienst des Grafen Caprivi, der den Handelevertrag abgeschlossen hat, dessen Abschluß dem Fürsten Bismarck nicht gelungen ist. Graf Caprivi hat die alten Beziehungen wieder angeknüpft. Wenn Fürst Bismarck meint, daß der Faden mit St. Petersburg abgerissen sei, so will mir fast scheinen, daß man ju

freundlich ju Rußland ist. Welcher Grund lag für den Fürsten Big⸗ marck vor, dieses Staatsgeheimniß zu verrathen? Was die . des Fürsten Bismarck dann veröffentlicht hat, reicht nicht aus, ihn zu rechtfertigen. Das hat er auch wohl selbst eingesehen. Seine Presse äußerte sich dahin, daß die Veröffentlichungen ab— kühlend wirten sollten auf die Vereinbarung zwischen Rußland und Frankreich. Die Veröffentlichung eines alten Vertrages wirkt aber nicht abkühlend auf gegenwärtige Liebeswerbungen. Die Franzosen woissen sehr gut, woran sie mit den Russen sind, und werden einer Belehrung darüber aus den Hamburger Nachrichten“ nicht bedürfen; bei ihnen ist auch die Veröff ntlichung spurlos vor⸗ übergegangen. Rußland gegenüber war der Bruch des Geheimnisses eine unfreundliche Art des Sich⸗in⸗Erinnerung⸗Bringeng. Die Ver⸗ dächtigungen über englische Einflüsse u. s. w., welche durch keine Thatsache heseitigt werden, sind die schlimmsten Verdächtigungen. Die leitenden Personen erscheinen dadurch in einem so ungünstigen Lichte, wie man sich nur denken kann. Ich fordere den Abg. Grafen Bismarck auf, seinen Vater zu verthesdigen und den Beweis für die Verdächtigungen zu versuchen. Seit sechs Jahren lebt Fürst Bismarck fern von der Politik. Wir können nur urtheilen nach dem, was wir sehen, und danach sind diese Anklagen durchaus unberechtigt. Fürst Bismarck spricht von einer Depression, die nach den Breslauer Kaiser⸗ tagen eingetreten sei. Ich bin umgekehrt der Meinung gewesen, daß der Optimismus nicht berechtigt war, der sich gezeigt hat, denn ich bin nicht der Meinung, daß der Kaiser von Rußland seine Truppen bloß unterhält zum Schutz der heiligsten Güter Europas. Die überseeischen Interessen, die uns vielleicht mit England in Widerspruch setzen, haben lange nicht die Bedeutung wie die europäischen gemeinsamen Interessen. Die Veröffentlichungen haben gewirkt wie der Schuß mit einer 26 Zentimeter, Kanone in die Dunkelheit. Wenn der Schuß kein Unheil angerichtet hat, so ist es das Verdienst des Schützen nicht. Fürst Biemarck spricht von den Angriffen der Demokraten und der offiziösen Demokraten; das sind dieselben Organe, welche ihm jahrelang treu gedient haben. Die Presse hat sich jahrelang mit dem Fürsten Bismarck weniger als je befaßt, und die freisinnige Presse kann ihr Kritikbedürfniß der gegenwärtigen Regierung gegenüber vollauf befriedigen, sie braucht nicht in die Vergangenheit zurück—⸗ zugreifen, die nur bistorisches Interesse hat. Wir sind niemals die Feinde des Fürsten Bismarck gewesen, wir sind seine Gegner gewesen. Fuůrst Bismarck mag sich betheiligen an den öffentlichen Dingen, wo er will, bei den Handelsverträgen, bei der Doppelwäͤhrung, kurz bei dem ganzen Ressort des Bundes der Landwirthe, aber in aus— wärtigen Ang legenheiten mag er die Zurückhaltung beachten, die wir zu beachten immer als patriotische Pflicht empfunden haben.

Abg. Graf von Mirbach (dkons.):; Der Abg. Richter meint, daß nur eine kleine Gruppe hinter dem Fürsten Bismarck stehe. Wir sind dem Fürsten Bismarck dankbar wie früher. Er ist ein Mensch wie jeder Andere; er hat seine Schwächen, aber die Licht- seiten seines Charakters sind so groß, daß jeder deutsche Mann ihm zum tiefsten Dank verpflichtet ist. Ich weiß nicht, ob Graf Bismarck den Vorredner antworten wird; ich würde es ver⸗ stehen, wenn er es nicht thut. In seinem Namen kann ich aber erklären, daß er das Interview, welches im „Reuen Wiener Tag⸗ blatt“ veröffentlicht ist, für apokryph hält. Und auf solche Atten basiert Herr Richter seine Angriffe. Aus dem Verhalten Deutsch⸗ lands, welches 1878 treu dem russischen Reich zur Seite stand, können keine Vorwürfe gegen den Fürsten Bismarck hergeleitet werden. Bei den Handelt verträgen sind wir alle dings viel zu freund⸗ lich Rußland gegenüber gewesen; Handelsverträge sollten nicht von politischen Tendenzen unterstützt werden. Das war ein Fehler des Grafen C privi. Die Kundgebungen der Hamburger Nach⸗ richten! sind hauptsächlich in der freisinnigen Presse dis⸗ kreditiert worden. Herr Richter spricht von den natur⸗ gemäßen guten Beziehungen zu Oesterreich. Vor dreißig Jahren waren die Beziehungen nicht so freundlich. Unsere Grenzverbindung mit Rußland ist eine engere. Ich mill aber über die Beziehungen kein Urtheil abgl ben. Der Abg Richter hat vergessen, in welcher schwierigen Lage Fürst Bismarck Rußland gegenüber sich befand, als damals die Wogen der panslapistischen Bewegung hoch gingen. Da gehörte das ganze Geschick des Fürsten Bismarck dazu, die guten Be⸗ ziehungen aufrecht zu erhalten. Ich bin dankbar dafür, daß die Herren von den Nationalliberalen und Freikonservativen die Ver⸗ dienste des Fürsten Bismarck anerkannt haben; die Konservativen sind ihnen dafür dankbar. Der Staatssekretär erklärte: je mehr Berträge, desto mehr verschwinde der Einzelne. Ich glaube, er hat nicht gaanz Recht Es gehört eine geschickte Hand dazu, um alles richtig funktionieren zu lassen. Die Veröffentlichungen der „Hamburger Nachrichten kann nur derjenige richtig be— urtheilen, der die Fäden der europäischen Politik kennt. Aber das wird niemand behaupten können, daß tleinliche persönliche Motive den Fürsten geleitet haben. Man könnte es begreifen, daß er den Wunsch gehabt hätte, einen Vergleich zwischen seiner auswärtigen Politik und der gegenwärtigen zu ziehen. Das hatte er nicht nöthig. Denn die gegenwärtige Politik hat eine recht harte Kritik erfahren und Fürst Bis⸗ marck hat dem Deutschen Reiche einen großen Dienst erwiesen. Wenn ewisse Blätter den Versuch machen, den Kundgebungen der ‚Ham⸗ 1 Nachrichten“ eine Spitze zu geben gegen eine gewisse Stelle, die außerhalb der Diskussion geh so ist das nur dazu geeignet, das monaichische Gefühl zu untergraben. Fürst Bismarck hat unter Ein⸗ setzung seines Vermögens und seines Kopfes das Fundament des Deutschen Reichs, ein starkes preußisches Königthum geschaffen. Das waren unsterbliche Verdienste, und ich muß dagegen Protest erheben, daß er gegen die Krone seine Angriffe hätte richten wollen. Wer so etwas geleistet hat, bleibt bis in sein letztes Lebensalter Monarchist.

Abg. Liebknecht (Soz.) freut sich, daß der Reichstag in dieser Sache nicht geschwiegen, die allerdings die anderen Parteien mehr aufgeregt habe, als seine Freunde. Redner ergeht sich weiter unter großer Unaufmerksamkeit des Hauses in längeren Ausführungen über die auswärtige Politik und die auswärtigen Verhältnisse, und behauptet, Fürst Bismarck habe das, was er gethan, als Vertreter des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft gethan.

Abg. von Kardorff (Rp.): Die heutige Diskussion hat sich verhältnißmätig weniger mit der Interpellation, als mit der Person des Fürsten Bismarck beschäftigt. Gegen den Abg, Liebknecht will ich nichts sagen, man kann ihn nicht ernst nehmen. Auf die Erklärungen der Regierung über die Verträge will ich nicht eingehen, wenngleich h nicht ganz unbedenklich sind. Mit dem Abg. Freiherrn von

anteuffel bin ich der Meinung, daß es nicht so sehr auf die Art und Weise der Politik ankommt, als auf die Männer, welche die Politit vertreten. Wenn der Abg Richter gemeint hat, der Fürst Biemarck wäre zur Geheimhaltung umsomehr verpflichtet gewesen, als 1884 bis 1890 unbedingte Geheimhaltung von seiten der jetzigen Vertreter der Regierung betont worden wäre, so verwechselt er eben beide Perioden. Fürst Bismarck sprach in seinen Veröffentlichungen von der Pexiode von 1884; ob er zur Veröffentlichung berechtigt war oder nicht, darüber will ich mir kein Uttheil erlauben; er sagt, diese Dinge gehören der Vergangenheit und der Geschichte an, wir haben keinen Grund, sie geheim zu halten; aber die unbedingte Geheimhaltung, von der der Abg. Richter sprach, bezog sich auf diejenigen Verhandlungen, welche 1887 über die Verlängerung des Vertrages geführt worden sind. Wir sind ja von dem Freisinn gewohnt, daß er an der Politik des Fürsten Bismarck eine sehr herbe Kritik übt. Die Angriffe des Abg. Richter decken sich ungefähr mit denjenigen des Abg. Virchow vom Jahre 1864, wo er sagte, der Minister-Präsident habe eine solche Masse von wechselnden Standpunkten eingenommen, daß man ihn eigentlich gar nicht fassen könne. Man könne ihn eigentlich nur darin angreifen, daß er feine eigene Politik habe, daß er ohne Kompaß hinausstürme. Dem Minister-⸗Präsidenten gehe seiner ganzen Entwicklung nach jedes Verständniß für das nationale Wesen und die nationale Politik ab. Die Art und Weise, wie der Fürst Bismarck kritisiert wird, erinnert an die Kritik, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts an dem Großmeister der deutschen Dichtkunst, an Goethe, geübt wurde. In der Literatur der damaligen Zeit finden Sie einen ebenso heftigen Krieg gegen Goethe, wie heute in der fortschritt⸗

lichen, sozialdemokratischen und auch ultramontanen Presse gegen den Fürsten Bismarck. Und wie werden die e r, mr, . heute angesehen! Sie waren zu klein und konnten den Maß⸗ stab für die Größe Goethe's nicht finden. So auch heute. Die Kritiker sind zu klein, um den Maßstab für die Größe eines Staats mannes, wie des Fürsten Bismarck, zu finden. Der Abg. Richter meint, unfere und die englischen Interessen wären irn f , Das kann ich unter keinen Umständen zugeben. Aus englischen Zeitungen werden Sie das Gefühl heraus finden, daß England sich in einer isolierten Situation befindet, weil keine Macht sich mit ihm verbünden will. Jede andere Macht hat erfahren, daß England rücksichtslos feine eigenen egoistischen Interessen vertritt, und daz höchste Interesse für England wäre allerdings, die deutsche Armee für seine Interessen ein- mal marschieren lassen zu können. Und zu diesem Zweck ist es sein dringendes Interesse, uns in eine schlechte Situation zu Rußland zu bringen. Das liegt füc jeden auf der Hand, der von der Politik das A⸗B. C. versteht. Wir haben alle Veranlassung, mlt der englischen Nation, die eine so große Kulturträgerin ist, in Frieden und Freundschaft auszukommen; aber große Vorsicht bedarf jede Politik England gegenüber, denn die Engländer haben es immer vortrefflich verstanden, die Dienste und Schwerter anderer Nationen für sich in Anspruch zu nehmen. Ich bin dem Abg. DLr,. Lieber dankbar, daß er die Debatte nicht durch persönliche Aus— fälle auf den Fürsten Bismarck verbittert hat, von denen er sich in Volksversammlungen nicht frei gehalten hat. Ich verüble ihm das nicht, in Voltspersammlungen spricht jeder einmal etwas mehr, als er verantworten kann. Der Abg. Lieber ist wohl nachträglich zu dem Bewußtsein gekommen, daß ohne die konservative Pa tei eine positive Politik in Deutschland nicht gemacht werden kann, ohne die nationalen Parteien, will ich lieber sagen, denn die gehören mit zu ben Kon— seivativen. Es muß ein Weg zur Verständigung zwischen dem Zentrum und diesen Parteien gefunden werden. Und das wäre sehr erschwert worden, wenn die Herren diese Debatte in heftigem Tone geführt hätten. Die großen Politiker des Zentrums, Windthorst und Freiherr von Franckenstein, hatten von dem staatsmännischen Genie des Fürsten Bismarck eine andere Meinung, als sie jetzt in manchen Versammlungen von Herren des Zentrums dargelegt wird. Vom Fürsten Bismarck geht manchmal eine That oder ein Wort aus, was allemeines Erstaunen und Verblüffen selbst bei seinen größten Anhängern erregt, die sich im Augenblick nicht zurechtfinden. Aber in der übergroßen Mehrzahl aller diefer Fälle hat die Weiterentwicklung klar gezeigt, daß Fürst Bismarck zu jeder Zeit das Wohl und das Wehe des Vaterlandes im Sinne hatte. Wenn die Herren, die in der freisinnigen Presse ihr Unwesen treiben, dem Fürsten Bismarck schlechte Motive unterschieben, so habe ich immer das Gefühl: was mußten die Herren für schlechte Erfahrungen in ihren nächsten Kreisen von Politikern gemacht haben! Wir wissen, daß Fürst Bismarck jederzeit bereit ist, alles hinzugeben für das Wohl des Vaterlandes. Sie (links) haben ihm immer egoistische Interessen untergeschoben. In der großen Zahl derer, die ihm noch treu an— hängen und es sind Millionen —, herrscht das Bewußtsein: Fürst Bismarck hat nichts gethan, was er nicht für das Wohl und das Gedeihen des Deutschen Reichs für nothwendig hielt. Sie (links) haben die Nothwendigkeit seiner früheren Politik auch niemals einsehen können; vielleicht hatte er da manchmal Recht, und vielleicht hat er auch heute Recht. In den Blättern wird gesagt, die Desertion aus den Reihen der Bismarck⸗ freunde wäre bei dieser Gelegenheit außerordentlich groß gewesen. Ich habe das nicht finden können; es sind mir nur ganz vereinzelte Falle bekannt. Die Desertion, die wir früher erlebt haben, als der neue Kurs kam, hat jetzt nicht stattgefunden. Damals lagen der Desertion Motive zu Grunde, die nicht zu den allerschönsten gehörten. Die Beantwortung der Interpellation wird dazu dienen, die allgemeine Ueberzeugung in der deutschen Nation wachzurufen, daß wir bezüglich der auswärtigen Politik fremde Einflüsse nicht haben wollen, sondern uns nur von deutschen Interessen leiten lassen wollen. Die Be⸗ antwortung hat uns auch überzeugt, daß unsere auswärtige Politik heute in sehr vorsichtigen, ruhigen Händen liegt, die keine Ueber eilung begehen werden, und ich glaube, daß das Resultat dieser Be—⸗ sprechung insofern ein günstiges sein wird, als es die Parteien daran mahnen wird, nicht in der Vergangenheit herumzurühren, sondern in die Zukunft zu blicken und die positiven Gesichtspunkte zu suchen, die sie einigen können.

Abg. Dr. Paasche (ul.): Der Abg. Richter meinte, daß die Parteien, welche dem Fürsten Bismarck nahestehen, zufrieden wären, wenn der Tag vorüber wäre. Ich spreche nicht als Franctireur, sondern im Namen der ganzen Fraktion und aller unserer Freunde draußen im Lande. Nach den Aeußerungen der Presse und nach der Wiesbadener Rede (des Abg. Lieber) mußten wir heute scharfe Angriffe auf den Fürsten Bismarck erwarten. Diese Erwartungen haben sich nicht er⸗ füllt. Scharf genug war freilich der Vorwurf des Abg. Richter, von Herrn Liebknecht will ich nicht reden, Fürst Bismarck hat das deutsche Parlament und das allgemeine Wahlrecht geschaffen. Der Abg. Richter meinte, daß die Rückwversicherungsverträge den anderen Mächten, mit denen man Perträge geschlossen hat, bekannt gegeben werden müßten. Der Reichskanzler Fürst Bismarck hat diese Bedingungen gerade erfüllt; denn die Auslassung des Fürsten Hohenlohe ging nicht dahin, daß in dem Vertrag mit Rußland die Geheimhaltung vorgeschrieben war, sondern daß über diese diplo⸗ matischen Aktenstücke überhaupt Geheimniß bewahrt werden müsse. Daß Oesterreich Kenntniß hatte von dem Vertrage, zeigt die Haltung des Leibblattes des Grafen Kälnoky. Bismarckische Politik war immer nur Kaiserliche Politik; der Vertrag war gebilligt von Seiner Majestät dem Kaiser und gebilligt von den Fürsten des Dreibundeg. Von einem Mißtrauen Rußlands gegenüber dem Fürsten Bismarck ist in jedem Falle keine Rede gewesen. Bezüglich der Motive des Fürsten Bismarck sind Dinge behauptet worden, Üüber die ich dasselbe Urtheil habe wie Herr von Kardorff. Wenn sogar gemeine Rachsucht angegeben worden ist, so schändet sich derjenige, der dem Fürsten solche Motive unterschiebt, lelbst; an den Fürsten Bismarck reichen diese Motive nicht heran. Solche Verdächtigungen fallen auf ihren Urbeber zurück; denn Fürst Bismarck hat alles in den Dienst der Politik der Krone gestellt. Er hat die Mittheilungen nur gemacht, weil dadurch der Friede und die Machtstellung Deutsch lands gesichert wird. Meine politischen Freunde sind immer eingetreten für das Deutsche Reich und den Deutschen Kaiser. Wir lassen uns darin von keiner anderen Partei übertrumpfen. Wenn wir für den Fürsten Bismarck eintreten und anerkennen, daß er das, wat er gethan, zum Wohle Deuischlands gethan hat, so wissen wir, daß dies auch diesmal geschehen ist. Es ist stark Wasser in den Wein der französischen Begeisterung gegossen worden; das macht sich schon jetzt deutlich bemerkbar.

Nachdem ein Vertagungsantrag des Abg. Rickert (fr. Vgg.) gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der frei⸗ sinnigen Vereinigung, der freisinnigen und der deutschen Volks⸗ partei abgelehnt worden, nimmt das Wort der

Abg. Liebermann van Sonnenberg (Reform -P): Wenn der Aba. Liebknecht von dem Fürsten Bismarck als von einem Verbrecher gesprochen hat, so ist er schon dahin belehrt worden, daß jemand, der eine derartige Aeußerung machen fann und dafür nur eine freundliche Heiterkeit einerntet, sich selber sein Urtheil gesprochen hat. Dankbar bin ich für die Anerkennung, welche Fürst Bismarck heute hier ge— funden bat; weite Kreise, auch des katholischen Volkes, wissen sehr wohl, was Fürst Bismarck in wirthschaftlicher Beziehung geleistet hat und wie er aus freien Stücken den Kulturkampf abzubröckeln angefangen hat. Von einer Beunruhigung durch die Veröffentlichungen war weder bei uns, noch bei den verbündeten Staaten etwas zu merken. Diese kannten den Separatvertrag. Auch England war über ihn unterrichtet, und jetzt, wo er nicht besteht, kann er in England erst recht nicht beunruhigen. In Deutschland entstand Beunruhigung nur infolge der dreisten Beschimpfungen des Fürsten Bismarck durch die Presse. In Frankreich dagegen haben die Ver⸗ öffentlichungen nicht beunruhigend, sondern niederschlagend gewirktz sie haben die Friedenspolitik, die seit dem großen Kaiser Wilhelm seine

Nachfolger befolgt haben, in hohem Maße gestärkt. Fürst Bismarck hat in 6 genialen Weise den Frieden Europas ges Sr soll Staatsgeheimnisse verletzt haben. Waß sind denn uberhaupt Staats- 6 Darüber entscheiden von Fall zu Fall die Sachver⸗ tändigen, und in diesem Fall ist Fürst Bismarck der kompetnteste Sachverständige. Der Abg. Richter hat den Fürsten Bismarck als Privatmann bezeichnet, der keine besondere Stellung habe; er hat aber die Rechte jedes Privatmanns, also auch das Recht, sich seiner Haut ju wehren, wenn er angegriffen wird. Man hat ihn angegriffen, weil seine Politik den Draht mit St. Peters⸗ burg abgeschnitten hätte. Daß die Beziehungen sich verschlechtert haben, beweist der Abschluß des Handelsvertrags, der die äußeren Beziehungen verbessern sollte. Zu der Zeit haben wir mit Rußland im wirth⸗ schaftlichen Kriege gestanden und politisch die besten Beziehungen ge⸗ habt. Die Anhänger des Fürsten Bismarck wußten, daß er immer das beste Mittel treffen würde; er hat die günstige Wirkung der Ver⸗ öffentlichung vorausgesehen. Die Sozialdemokraten sind auch nicht aufgeregt worden. Nur einige Zeitungen waren aufgeregt. Die verbündeten Regierungen haben jeder Beunruhigung vorgebeugt. Der Reichstag hat nicht den Beruf, die Bevölkerung der verbündeten Staaten zu beruhigen; die Verhandlungen werden in dem vielsprachigen Desterreich kaum gelesen werden. Das Vertrauen des deutschen Volks ist dem Fürsten Bismarck gefolgt bis in die Einsamkeit des Sachsen⸗ waldes, und die Aufmerksamkeit, die auch das Ausland seinen Aus⸗ lassungen schenkt, beweist, daß er der unabsetzbare Kanzler des Deutschen Reichs bleibt; er fühlt sich vor seinem Gewissen bis zu . Eten Athemzuge verantworilich für das Wohl und Wehe . eichs.

Abg. Ha ußm ann (d. Volksp.): Durch die Antwort der verbündeten Regierungen ist festgestellt, daß ein Staatsgeheimniß enthüllt ist zur Beschämung Deutschlands, daß diese Enthüllungen Beunruhigung bei unseren Verbündeten hervorgerufen haben. Die Freunde des Fürsten Bismarck haben keine andere Erklärung zu geben gewußt, als: wir wissen nicht, was der große Geist in Friedrichsruh gewollt hat, aber wir sind von seiner Unfehl arkeit überzeugt. Wenn Sie dieses Dogma haben, dann haben Sie auch den Muth, sich dazu zu be⸗ kennen. Fürst Bismarck greift die deutsche Regierung an. Wenn Sie die Angriffe für berechtigt halten, dann sprechen Sie diese Angriffe hier an der verantwortlichen Stelle aus. Das haben Sie (rechts) nicht gethan, und Graf Herbert Bismarck hat es auch nicht gethan; er hat mit keinem Wort die Vertheidi⸗ gung seines Vaters übernommen, wie er es sonst zu thun pflegt. Fürst Bismarck hat das Recht jeder Privatperson; er hat, als er Abgeordneter des Reichstags war, seine Anschauung vertreten können. Aber seine amtliche Kenntniß zu verwerthen, um der gegenwärtigen Regierung Schwierigkeiten zu machen, das ist etwas, was über den Patriotismus hinausgeht. Der reale Kern der Aaklage, über den alle Ruhmeserhebungen uns nicht wegbringen, ist der, daß Fürst Bismarck der Regierung seiner Nachfolger vorwirft, daß sie ich, nicht auf Rußland gestützt hätten. Wenn Herr von Kardorff Recht hat, daß die Regierung in vorsichtigen Händen ruht, dann thut man unrecht, denjenigen, der die Regierung angreift, als einen Unfehlbaren hinzustellen. 1887 hat Fürst Bismarck selbst anerkannt, daß der Kaiser von Rußland Krieg führt, wenn es das Interesse seiner 100 Millionez Unterthanen erfordert; daran wird er sich durch geschriebene Verträge nicht hindern lassen. Nicht die geschriebenen Worte, sondern die Gesammtbeziehungen sind die wichtigsten Faktoren. Deshalb schaffen die wirthschaftlichen Beziehungen die besten politischen Beziehungen; deshalb ist der Handelspertrag besser als jeder Geheimpertrag. Man muß in der That sagen, daß die Politik der gegenwärtigen Regierung, welche, statt kalte Wasserstrahlen zu senden, die Weltausstellung beschickt, als eine würdigere erscheint als die des Fürsten Bismarck. Stärkere Interessengemeinschaft besteht zwischen Deutschland und England als mit Rußland; dazu kommt die gemeinsame Abstammung. Wir haben eine weitgehende Kulturgemeinschaft. Die ganze Art der geistigen Thätigkeit in England und Deutschland ist eine nahe verwandte. Wir brauchen nicht gleich Bündnisse mit England zu schließen, aber eine falsche Politik ist es, Verbitterung und Feindschaft zwischen Deutschland und England zu erregen. Da möchte ich eine Frage aufwerfen, ob namentlich die Regierungen Auskunft darüber geben können, ob ein Assekuranzvertrag zwischen Italien und England besteht. Ueber den Hauptinhalt hat der Abg. Ferrari etwas verlauten lassen. Auf die Frage brauche ich nicht nochmals ein⸗ zugehen, ob es sich um eine für Deutschland nachtheilige Veröffent⸗ . handelt. Ich halte es schon für eine höchst gefährliche Wir⸗ kung, daß in Deutschland die Frage auftaucht, ob der Dreibund be⸗ steht oder nicht. Rückversicherungs verträge dürfen abgeschlossen werden, aber sie dürfen nicht geheim bleiben. Was würde man sagen, wenn Italien mit Frankreich einen solchen Vertrag abgeschlossen hätte? Ganz ohne Nutzen ist das Vorgehen des Fürsten Bismarck nicht gewesen; es hat Gelegenheit gegeben, den Bundesgenossen eine klare unzweideutige Erklärung abzugeben, es hat ferner den Reichstag veranlaßt, sich mit diesen K Fragen zu be⸗ schäftigen, sodaß sie nicht immer ein ausschließliches Privileg der Diplomatie bleiben.

Abg. Rickert (fr. Vgg): Ich bedauere, daß mein Vertagungs⸗ antrag abgelehnt ist. Die Frucht der Interpellation ist da: die un⸗ umwundenen Erklärungen des Reichskanzlers und des Staatssekretärs des Auswärtigen Amts. Wir re uns dem Dank an, welchen die anderen Parteien ausgesprochen haben. Aber freilich der Dank auf den Lippen und in der Brust das allertiefste Mißtrauen; warum sonst bei Herrn von Kardorff die Frage, ob auch fremde Einflüsse voll⸗ ständig ausgeschlossen seien? Die konservative Partei hat nicht immer die Politik des Fürsten Bismarck unterstützt. Vergessen Sie die Tage der Kreuzzeitung“ nicht, welche von der Einigung Italiens nichts wissen wollte! Herr von Kardorff sollte sich in seinem Gedächtniß einmal darüber genauer orientieren. Die Rede Virchow's aus der Konfliktszeit beweist nichts; Bismarck selbst hat später anerkannt, daß die Opposition damals Recht gehabt habe, denn sie konnte nicht wissen, wohin er gehen würde. Die Indemnität war die beste Rechtfertigung der Opposition. Es handelt sich nicht um England und Rußland, es handelt sich nicht um den Fürsten Bismarck, den niemand angegriffen hat, sondern nur darum: war Fürst Bismarck berechtigt zu diesen Enthüllungen und hat er dem Vaterlande einen Dienst damit geleistet? Da stehen wir unbedingt zur Regierung; Fürst Bismarck selbst hat solche Ver⸗ öffentlichungen durch besondere Gesetzesbestimmungen verfolgt, und jetzt sollen plötzlich andere Grundsäße gelten. Woher wissen die Herren, daß die anderen Regierungen Kenntniß von dem geheimen Vertrage hatten? Man sollte doch endlich die Angriffe auf den Grafen Caprivi unterlassen. Er ist zu vornehm, er enthält sich der Abwehr, weil er nicht die Staatsgeheimnisse enthüllen will. Lassen Sie ihn doch in Ruhe, er hat niemals den Respekt gegen den Fürsten Bigs⸗ marck verletzt. Es wird niemals gelingen, das Verdienst ihm abzu= sprechen, daß er uns vor einem Zollkriege mit Rußland behütet und dadurch wieder nähere Beziehungen geschaffen hat. Wir hoffen, daß die Erklärungen der Regierungen jeden Zweifel an der Vertragstreue beseitigt haben werden, und ich bedauere nur, daß wir diesem Er. gebniß der Verhandlungen nicht auch durch einen Beschluß Ausdruck geben können.

Darauf schließt die Debatte mit persönlichen Bemerkungen der Abgg. von Kardorff, Richter und Haußmann.

Persönlich bemerkt noch der

Abg. Graf von Bismarck (b. 2 In 377 auf die per⸗ sönliche Bemerkung des Herrn Abg. Richter kann ich nur wieder holen, was Herr Graf Mirbach für mich zu erklären die Güte hatte. Herr Haußmann hat, soweit ich seine Mundart verstehen konnte etwas von Amerika und Doppelwährung und Interviem fesagt, Ich erkläre, daß ich keinerlei Interview gehabt habe. Ich habe nur, als sch vor 14 Tagen in Schönhausen war, einen Herrn, da es schlechtes Wetter war, ins Haus eintreten lassen und ihm gesagt, ich würde mich nicht in ein Interview einlassen, er möge nur mit dem nächsten

Zuge abreisen, was er denn auch gethan hat. Herr Haußmann meinte, ich