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. 1 bestehenden Gesetz zu belassen.
Mun ckel (fr. Volksp) beantragt, es im § 399, 5h. bei dem Ferner will derselbe Antragsteller dem F§z 399 eine Ziffer 3a eingefügt wissen, wonach die Wiederaufnahme des Verfahrens auch stattfinden müsse, wenn bei einem Urtheil ein Richter, Geschworener oder Schöffe mitaewirkt habe, welcher später in Geisteskrankheit verstorben oder wegen Geifteskrankheit gerichtlich ent- mündigt worden sei, sofern glaubhaft gemacht worden, daß sich derselbe bereits zur Zeit der Fällung des Urtheils im Zustande der Geisteskrankheit befunden habe.“
Mit 8 399 wird außerdem zugleich 5 413 verhandelt, welcher das Prinzip der Entschädigung unschuldig Ver⸗ urtheilter ausspricht.
Abg. Roeren (Zentr.): Die Regierung will uns die beiden,
Jahrzehnte 6 erhobenen Forderungen der Justijreform; die Be= rufung und die Entschädigung unschuldig Verurtheilter gewähren, aber wir sollen dafür eine Verschlechterung des bestehenden Zustandes in den Kauf nehmen. Für die Perufung sollen wir das Fünf⸗Richter⸗ kollegium opfern, für die Entschädigung sollen wir eine Erschwerung der Freisprechung des Angeklagten konzedieren, da nunmehr der An⸗ geklagte nicht mehr wegen eines non liquet freigesprochen werden kann, sondern seine Unschuld dargethan haben muß, Für diesen Preis der Erschwerung der Freisprechung ist mir die Entschädigung unschuldig Verurtheilter zu theuer. Man überschätzt diese theoretisch ja wohl berechtigte Forderung viel zu sehr. Nach der Statistik kommt nur ein im Wiederaufnahmeverfahren umgestoßenes Urtheil auf 4000 Urtheile. Die Entschädigung soll nach der Begründung nur an solche Frei⸗ gesprochene gezahlt werden, welche als unschuldig freigesprochen wurden. Es bleibt aber auch in Zukunft möglich, daß ein Frei—⸗ spruch wegen non liquet erfolgt; in diesem Falle würde die Ent schädigung nicht gezahlt werden. Das ist ein Widerspruch; mit dem Gesetze selbst, welches jedem Freigesprochenen die Entschädigung zuspricht; es ist aber auch eine Ungerechtigkeit, und deshalb bitte ich dringend, es hei dem bisherigen Recht zu belassen. Es steht fest, daß trotz der Berufung immer noch Fälle übrig bleiben, wo Unschuldige verurtheilt sind, weil sie den direkten Unschuldsbeweis nicht führen konnten. Die Einführung der Berufung giebt keinen Grund für diese Verschärfung des § 399 ab. Bei der Entschädigung könnte man ja allenfalls eine Scheidung zwischen den wegen Unschuld und den wegen non liquet Freigesprochenen zu⸗ lassen; aber es würden damit zwei Klassen von Freigesprochenen eschaffen, deren eine mit dem Makel der Verdächtigkeit behaftet leiben würde; auch würde damit dem erkennenden Richter eine sehr schwere Unterscheidungsaufgabe gestellt. Jeder Freigesprochene hat vor dem Richter als freigesprochen zu gelten, und dann darf auch von Jedem derselben daz vom Staate anerkannte Recht auf Ent⸗ schädigung geltend gemacht werden. Ich empfehle nach alledem die Annahme des Antrages Munckel.
Geheimer Ober⸗Regierungs Rath von Lenthe: Ganz abgesehen von der Frage der Entschädigung, haben die verbündeten Regierungen die Aenderung des 5 399,5 als nöthig erkannt, weil diese Bestimmung in der Praxis der Gerichte zu den schwersten Mißständen geführt hat. Der Entschädigung unschuldig Verurtheilter haben die Regierungen deshalb widerstrebt, weil bezüglich der im Wiederaufnahmeverfahren ,,, keine Garantie gegeben war, daß man es mit wirklich
nschuldigen zu thun hatte. Die verbündeten Regierungen halten auf das entschiedenste daran fest, daß nur wirklich Unschuldigen eine Ent- schädigung gewährt werden darf, wenn nicht das allgemeine Rechts⸗ gefühl aufs gröblichste verletzt werden soll. Die Möglichkeit, welche
err Roeren konstruiert, wird nur eine verschwindende Ausnahme ein und kann in der Praxis außer Acht gelassen werden. Im Reichstage wurde 1886 ein Gesetzentwurf über das Wiederaufnahme⸗ verfahren aus der Mitte des Hauses vorgeschlagen und angenommen, der denselben Wortlaut der Ziff. H des § 399 enthielt. Die Re⸗ gierung konnte sich also der Erwartung hingeben, mit ihrem Vor⸗ schlage beim Reichstage Entgegenkommen zu finden.
be Traeger (fr. Volksp.) Ich schließe mich vollkommen den Ausführungen des Abg. Roeren an. Mit dem Vorschlage der Regie— rungen wird in unser Strafrecht ein ganz neuer Begriff hinein—⸗
ebracht, den unsere Gesetzgebung nicht kennt: der Begriff der „Unschuld“.
as Strafrecht hat es nicht mit den Unschuldigen, sondern mit der Ermittelung der Schuldigen zu thun. Es soll jetzt nicht mehr genügen, im Wiederaufnahmeverfahren die Möglichkeit der Freisprechung durch Beibringung neuer Beweismittel herbeizuführen, sondern es soll der schwer, oft garnicht zu erbringende Beweis der Unschuld geführt werden. Die Wiederaufnahme des Verfahrens kann und muß auch neben der Berufung in der bisherigen Weise bestenen bleiben. Bei der Entschädigunge frage hat der Volksbegriff der unschuldig Ver— urtheilten“ der Verwirklichung des Gedankens sehr geschadet. Das Volk kennt nur unschuldig Verurtheilte, und dieser Ausdruck ist von den Juristen begierig aufgegriffen worden, um jetzt Einschränkungen und willkürliche Unterscheidungen daran zu knüpfen, welche den Ge—⸗ danken schließlich seines Inhasts gänzlich zu berauben geeignet sind. Alle diese Unterscheidungen legen noch viel mehr die Frage nahe, ob die Entschädigung nicht auch auf dle unschuldig erlittene Untersuchungs⸗ haft ausgedehnt werden muß.
Abg. Liebknecht (Soz.): Das erste bei der Wiederaufnahme des Verfahrens müßte doch sein, sie thunlichst zu erleichtern; statt dessen will man sie erschweren. Wie schwer es schon jetzt mit der Wiederaufnahme steht, ergiebt sich aug dem Fall Ziethen, über den ich eine Einzeldarstellung den Mitgliedern des Hauses und des Bundesraths habe zugehen lassen. Auf Grund der erwiesenen Thatsachen ist für das Begehen der Mordthat durch den Ver⸗ urtbeilten nur ein Zeitraum von so wenigen Minuten übrig ge⸗ blieben, daß es absolut unmöglich erscheint, daß er die That begangen haben kann. Trotzdem ist er zum Tode verurtheilt und zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt worden; er sitzt nun jetzt seit 125 Jahren im Zuchthause. 1887 hat der Lehrbursche August Wilhelm freiwillig gesianden, die Mordthat begangen zu haben; trotzdem haben die Gerichte die Wiederaufnahme des Ver— fahrens abgelehnt. Der Bruder des Verurtheilten hat sich 1888 an mich gewendet, nachdem er bei Mitgliedern aller übrigen Parteien vergeblich gewesen war. Ich habe die Ueberzeugung, daß der Ver⸗ een absolut unschuldig ist. Seitdem hat der Fall schon eine ganze Literatur hervorgebracht; klassisch hat Paul Lindau die schon erwähnte Zeitfrage behandelt. Ein auf diese Zeituntersuchung be⸗ ründetes Gesuch ist ebenfalls vor zwei Jahren zurückgewiesen worden. gin ist menschlich, unmenschlich aber, im Glauben an seine Unfehl⸗ barkeit einen Unschuldigen zu opfern.
Geheimer Ober ⸗Justiz⸗Rath Dr. Lucas: Für mich ist durch die rechtskräftige Zurückweisung sämmtlicher Wiederaufnahme ⸗Anträge der Fall erledigt; denn die Gerichte haben gesprochen und haben rechtskräftig esprochen. Urtheile der Gerichte unterliegen nach meiner Ansicht ö nicht der Kritik dieses Hauses.
Abg. Stadthagen; Nach dem bestehenden Gesetz hätte im
Falle Ziethen längst die Wiederaufnahme erfolgen müssen; nach der neuen Voischrift würde eine solche in Zukunft überhaupt unmöglich sein. Belastend in dem Falle ist fast allein der Umstand, daß Ziethen mit seiner Frau in Unfrieden gelebt hat. Hinzu kam, daß die im Sterben liegende Frau auch ihren Mann als einen solchen bezeichnet hat, der sie geschlagen habe. Nach der neuen Vor—⸗ ft ist die Wiederaufnahme des Verfahrens einfach unmöglich; enn es müßte dann bewiesen werden, daß ein Anderer der Mörder ist. Der Fall Ziethen steht keineswegs vereinzelt da. Ich weise beispielgweise darauf hin, daß ein wegen der Be— hauptung, daß in Kiel Bordelle beständen, verurtheilter Redakteur das Wiederaufnahmeverfahren nicht erlangen kann, obwohl die Be⸗ hauptung als wahr erwiesen und ein anderer Redakteur von der⸗ selben Anklage freigesprochen ist. Ich erinnere ferner an die Ver⸗ urtheilung des Bergmanns Schröder und Genossen in Essen wegen Meineids. Auch da sind neue Thatsachen festgestellt worden, die zu einer Wiederaufnahme hätten führen müssen; aber nichts von alledem ist geschehen, auch die Staatsanwaltschaft hat keine neue Prüfung vor⸗ . Also reicht schon das bestehende Gesetz nicht aus, und dieses Gesetz will man noch weiter verschlechtern.
Staatssekretär des Reichs-Justizamts Dr. Nieberding:
Meine Herren! Ich bitte um die Erlaubniß, nur einige kurze Worte zu den thatsächlichen Anführungen zu sagen, die von den Herren Abgg. Liebknecht und Stadthagen hier gemacht worden sind.
Der Herr Abg. Stadthagen hat in seinen letzten Darlegungen auf den Fall Schröder Bezug genommen. Ich gehe auf diesen Fall nicht ein, der Herr Redner hat es auch von mir nicht verlangt. Er hat zwar behauptet, der Bergmann Schröder sei zu Unrecht ver— urtheilt worden; das ist seine persönliche Ueberzeugung, die ich hier nicht anfechten will. Für mich aber steht vorläufig nur das rechts— kräftige Urtheil des unabhängigen Gerichtshofs da. Er hat nun bei dieser Gelegenheit die Frage gestellt, weshalb denn bisher die preußische Staatsanwaltschaft noch nicht die Gelegenheit ergriffen habe, um zu prüfen ob nicht Anlaß vorläge, das Wiederaufnahmeverfahren von Staatswegen herbeizuführen. Darauf habe ich dem Herrn Abgeordneten zu er⸗ widern, daß die Staatsanwaltschaft schon aus mehrfachen Eingaben und Anträgen den Anlaß hat entnehmen müssen, sich mit der Frage der Wiederaufnahme zu befassen, daß der Staatsanwaltschaft aus—⸗ drücklich und formell von seiten des Herrn Justiz⸗-Ministers Preußens die Weisung zugegangen ist, bei dieser Prüfung mit ganz besonderer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit vorzugehen, daß aber die Staats⸗ anwaltschaft bei ihrer pflichtmäßigen Prüfung bisher nicht hat die Ueberzeugung gewinnen können, daß hier für sie der Fall gegeben sei, um den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen. Damit, daß die Staatsanwaltschaft diesen Antrag nicht stellt, ist dem Verurtheilten nicht die Möglichkeit genommen, seinerseits den Antrag zu stellen. Es ist mir nicht bekannt, ob das bisher geschehen ist.
Zweitens hat der Herr Abg. Stadthagen Bezug genommen auf den Prozeß, der sich in Kiel abgespielt haben soll. Mir ist der Fall nicht bekannt. Es ereignet sich hier schon zum wiederholten Male, daß der Herr Abgeordnete trotz unseres Bittens, uns von derartigen Fällen, die er hier zum Vortrag bringen will, vorher Mittheilung zu machen, und trotz der Erklärung unserer Bereitwilligkeit, ihm dann Rede zu stehen, doch wieder, ohne uns zu informieren, eine einzelne Prozeßsache zur Sprache bringt. Ich bin schon deshalb außer stande, sachlich auf den Fall einzugehen. Aber ich muß ein Wort des Herrn Abg. Stadthagen, das er bei dieser Gelegenheit gesprochen hat, hier doch ausdrücklich berühren. Der Herr Abgeordnete hat das Verhalten des Bürgermeisters von Kiel oder eines Polizeibeamten — ich weiß nicht, welchen Beamten er im Auge hat — bei dieser Gelegenheit hier erörtert und hat erklärt, daß dieser Beamte einen Meineid ge— schworen habe. Meine Herren, der Beamte, um den es sich handelt, ist nicht im stande, sich gegen eine solche Beschuldigung hier zu vertheidigen, die Herren Abgeordneten sind ja in der Lage, schwere Be⸗ schuldigungen gegen Leute draußen im Lande auszusprechen, ohne daß diese Leute etwas darauf thun können, was geeignet wäre, ihre tief verletzte Ehre zu schützen. Ich meinerseits bin gleichfalls nicht in der Lage, hier irgend etwas zur sachlichen Vertheidigung des angegriffenen Mannes anzuführen, denn ich kenne die Verhältnisse nicht. Ich verwahre aber den betreffenden Beamten gegen den erhobenen Vorwurf. Ich bin der Meinung, daß, so lange der Staatsanwalt keinen Grund ge— funden hat, seinerseits die Sache aufzunehmen und Anklage zu erheben oder wenigstens ein Ermittelungsverfahren einzuleiten, Alle, vor allem, wie mir scheint, auch die Herren hier im Hause, die unter dem Schutz der Redefreiheit sprechen, sich doch hüten sollten, gegen einen schutzlosen Dritten so schwerwiegende Beschuldigungen auszusprechen. (Sehr richtig!) Meinerseits bin ich bis auf weiteres überzeugt, daß diese Beschuldigung nicht gerechtfertigt ist. Ich verwahre die Beamtenschaft des Landes dagegen, daß derartige schwere Beschuldigungen ihrer Ehre hier im Reichstage vor dem ganzen Volke erhoben werden. (Bravo! rechts, aus der Mitte und bei den Nationalliberalen.)
Ich komme nun auf den Fall Ziethen. Der Herr Abg. Liebknecht sowohl wie der Herr Abg. Stadthagen haben uns provoziert, auf die thatsächlichen Ausführungen einzugehen, die sie aus dem Prozeß— material vorgebracht haben. Ich bin überzeugt, daß beide Herren in guter Meinung von der Unschuld des Verurtheilten das Ihrige hier vorgebracht haben, und daß sie auch die Absicht gehabt haben, die Dinge unparteiisch, vollständig und erschöpfend zum Vortrag zu bringen. Gleichwohl lehne ich es ab, auch nur mit einem Wort auf den Inhalt dieses Prozesses einzugehen. Ich kann nicht auf ihn eingehen, obwohl ich ihn ja in seinen allgemeinen Zügen kenne; er ist, möchte ich sagen, weltbekannt. Ich kann nicht auf ihn eingehen, so lange ich die Materialien, die in den Akten enthalten sind, nicht vollständig kenne. Aber, meine Herren, ich erkläre hier auch offen: selbst wenn mir die Möglichkeit gegeben gewesen wäre, von dem Inhalt der Akten Kenntniß zu nehmen, würde ich doch es ablehnen, über einen derartigen Prozeß hier im Hause mich auszusprechen und das Für und Wider zu diskutieren; denn wohin soll es führen, wenn in solcher Weise dieses Haus sich über einen in allen Instanzen gesetzmäßig entschiedenen Prozeß gewissermaßen noch als neuer Gerichtshof konstituieren wollte! (Sehr richtig! rechts.) Das ist unmöglich; das heißt den Sinn, den gesetzlichen Rechtegang, die sachliche Gerechtigkeit und das Ansehen der Gerichte von Grund aus erschüttern. (Sehr richtig! rechts, aus der Mitte und bei den Nationalliberalen.)
Nun hat der Herr Abg. Liebknecht noch einige besonders scharfe Bemerkungen gegen die, wie er sich ausdrückte, höheren Regionen der Justizverwaltung gerichtet, indem er der Meinung Ausdruck gab, als wenn gerade an diesen Stellen, in den leitenden Stellen der Justiz— verwaltung die besondere Neigung bestände, sich die Eigenschast einer gewissen Unfehlbarkeit beizulegen. Meine Herren, ich glaube, ich habe niemals dem Herrn Abg. Liebknecht gegenüber oder auch sonst durch irgend eine Bemerkung hier im Hause ihm Grund zu der Behauptung gegeben, daß ich mir nach dieser Seite weniger Irrthumsfähigkeit beilege als ihm oder anderen Herren. Es liegt mir das vollständig fern. Ich erkenne an — und ich bin überzeugt, daß jeder der Leiter der Justizverwaltungen im Reiche der gleichen Ansicht ist — daß wir in unserer Thätigkeit eben o dem Irrthum unterworfen sind wie andere Sterbliche. Wir haben vielleicht sogar in unserer Thätigkeit, und wenn ich von mir persönlich sprechen darf, ich in meinem Lebensgang öfter Gelegenheit gehabt als der Herr Abg. Liebknecht in seinem Beruf, die Erfahrung zu machen, wie leicht man Irrthümern ausgesetzt ist, aus dem Grunde eben, weil es so schwer ist, sich über Dinge, die man nicht vollständig zu durchschauen vermag, ein sicheres Urtheil zu gewinnen, — die Erfahrung zu machen, wie leicht man, wenn man ohne sichere Grundlagen urtheilt, schweren Irrthümern ausgesetzt ist. Aus dem Grunde hüte ich mich auch, über Prozesse, die mir nicht vollständig nach allem, was dabei
in Betracht kommt, bekannt sind, meinerseits elne bestimmte Ansicht auszusprechen, die in Widerspruch mit dem Urtheil der zuständigen Gerichtsinstanzen steht, die mit dem Fall befaßt gewesen sind. Und wenn der Herr Abg. Liebknecht seinerseits gleichwohl in derartigen Sachen zu einem eigenen, abweichenden Urtheil zu gelangen weiß, so scheint mir daraus höchstens gefolgert werden zu können, daß er sich doch ein geringeres Maß von Irrthumsfähigkeit und eine größere Urtheilssicherheit beimißt, als ich mir beizulegen wage. (Bravo! in der Mitte.)
Abg. Spahn verwahrt sich gegen die Ausführungen des Staatg« sekretärs wenn diese den Sinn haben sollten, daß der Reichstag nicht einmal das Recht habe, sich über Prozesse zu äußern. Ueber den Kieler Fall erwarte er demnächst noch weitere Auskunft vom Re⸗ gierungstische.
Abg. Stadthagen wendet sich gegen die Ausführungen des Staattsekretärs und verlangt für den Reichstag das volle Recht der Krit über gerichtliche Prozesse. Im Falle Schröer hätten neue Thatfachen vorgelegen, welche allerdings die Ueberzeugung der Staatsanwaltschaft von der Schuld Schrödersz hätten erschüttern müssen. Nachdem die Sache einmal angeregt sei, stehe zu hoffen, daß die preußische Jufttz— verwaltung der Sache weiter Folge geben werde. Auf keinen Fall dürfe dem. 5 399 noch eine weitere Verschlechterung hinzugefügt werden.
Geheimer Ober-Justizrath Dr. Lucas: Ich habe dem Hause die Berechtigung, Gerichtssprüche zu kritisiren, nicht prinzipiell abstreiten wollen, sondern nur diesen konkreten Fall Ziethen als nicht geeignet zux Erörterung bezeichnet. Nachdem heute ferner der Abg. Stadthagen behauptet hat, es sei in dem Kieler Fall ein Meineid geleistet worden, werde ich die Akten einfordern und dem Hause seinerzeit weitere Mittheilungen machen.
Abg. Liebknecht: Den Fall Ziethen habe ich mit den tüchtigsten Furisten durchgenommen; es hat aber bis jetzt nicht ge⸗ lingen wollen, Bresche in den künstlich aufgethürmten Indizien⸗ beweis zu legen. Im Fall Schröder sind Dinge beschworen worden, die einfach unmöglich zu konstatieren sind.
Damit schließt die Diskussion. Der Antrag des Abg. Munckel auf Einfügung einer neuen Nr. 3a wird abgelehnt, bezüglich der Ziffer 5, gemäß dem Antrage des Abg. Munckel, das bestehende Gesetz aufrecht erhalten.
Um 6*/½ Uhr wird die Fortsetzung der Berathung auf Sonnabend 12 Uhr vertagt. . der Justiznovelle Kom⸗
missionsberichte über Petitionen.
Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 6. Sitzung vom 2. November 1896.
Ueber den Beginn der Sitzung ist gestern berichtet worden.
Das Haus sctzt die erste Berathung des Gesetzentwurfs, betreffend das Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen, fort.
Finanz-⸗Minister Dr. Miquel:
Der Herr Abg. Rickert hat jedenfalls ein besseres Gedächtuiß für parlamentarische Dinge als ich; wahrscheinlich liegt das daran, daß ich später mehr zu thun gehabt babe, als mich immer an einzelne parlamentarische Vorgänge zu erinnern, während der Herr Abg. Rickert hier wohl mehr Zeit hatte. Aber ich nehme an: die Sache ist richtig, und wir wären damals dazu gekommen, den Minister auf zufordern, mehr zu geben, als er selbst bewilligt hatte, — so nehme ich dem Herrn Abg. Rickert gar nicht übel und auch dem Hause nicht, wenn das Haus das auch diesmal thut. Also darin sind wir ja einig.
Meine Herren, der Herr Abg. Rickert hat ja ein sehr gutes Herz; aber noch ein besseres Herz hat der Herr Abg. Knörcke. Er appelliert immer an frühere Ausdrücke von mir über die Nothwendigkeit, für das Schulwesen etwas zu thun, die Ge⸗ hälter der Lehrer, die damals noch viel kläglicher waren, als sie später sich gestaltet haben, aufzubessern u. s. w; er appelliert an mein gutes Herz. Meine Herren, das ist doch eigentlich eine zwar sehr liebens⸗ würdige, aber doch etwas sonderbare Auffassung von der Stellung eines Ministers überhaupt, vor allem aber eines Finanz⸗Ministers. Ich glaube, wenn diese beiden Herren, namentlich der Herr Abg. Knörcke mit seinem guten Herzen, an meiner Stelle die sechs Jahre gestanden hätten und alle Wünsche, ihre eigenen und die mehr oder weniger berechtigten Wünsche Anderer, befriedigt hätten, mit dem guten Herzen die Finanzen regiert hätten, so wären wir heute nicht in der Lage, über 20 Millionen für die endliche, lange in Aussicht gestellte Ausbesserung der Beamtengehälter zu geben, über 5. Millionen neu aus der Staatskasse zu nehmen für die Lehrergehälter, andere Summen für Wittwen und Waisen, den Etat so zu erhöhen in allen anderen Ressorts, wie die Herren es demnächst vor sich haben werden. Die Mittel zu allem diesen würden uns gänzlich fehlen; auf die Weise kann man keine Finanzpolitik eines großen Landes machen.
Ich appelliere an Ihre eigene Lebenserfahrung. Auch in Privat- leben kommt es oft genug vor, daß man seinem guten Herzen nicht immer folgen kann, daß man Grenzen ziehen und sagen muß: Das geht über die Kräfte hinaus! Ich darf nicht auf eine Stelle alles verwenden, ich habe auch andere Pflichten und andere Bedürfnisse zu befriedigen. Was sollen also diese Reden? Ich stehe ganz, was mein Herz betrifft, auf dem Standpunkt des Herrn Kultus ⸗Ministers: Ich freue mich über ieden Gioschen, der schlechtbesoldeten Lehrern zu⸗= fällt, aber ich muß die Gesammtheit aller anderen zu befriedigenden Bedürfnisse im Staate berücksichtigen. Ich kann nicht nach den Wünschen einzelner alles auf eine Stelle werfen.
Meine Herren, wir sind schon von 3 Millionen der ersten Vor lage jetzt auf fast 6 Millionen gekommen, und wir haben so doch schon in erheblichem Maße die günstige Finanzlage berücksichtigt; aber die Dinge müssen doch auch eine Grenze haben. Wir sind jetzt schon dahin gekommen, daß die Lehrer in ihren öffentlichen Vertretungen vollständig gleich behandelt werden wollen mit den höheren staatlichen Subalternbeamten. Ich habe mich sehr gefreut, daß Herr Dr. Porsch und andere Redner darauf hingewiesen haben, daß die Lehrer keine Staats beamten sind, und wenn's Jnach mir geht, werden sie's nie werden. Ich würde die Verwandlung unserer Gemeindeschule in eine Staatsschule für ein Unglück für die Schule, auch die Lehrer, die Gemeinden, denen aller Idealismus ent⸗ zogen würde, die einfach Vermögenverwalter würden, für den Staat halten. (Sehr richtig! rechts) Es würde das nach meiner Ueber- zeugung leicht zu einer Art Chinesenthum, zu einer Schablone im Schulwesen, welches bis auf eine gewisse Grenze eine lokale Färbung bebalten muß, führen müssen; wir sind aber auf dem vollen Wege nach dieser Richtung (sehr richtig! im Zentrum), und der erste, nach
meiner Meinung, wie ich jetzt die Dinge ansehe — damals habe ich
Das auch nicht so begriffen — bedenkliche Schritt ist gewesen die Art und Weise der Unterstützungen von Staatsgeldern für die Schule im Jahre 1888 und 89 (sehr richtig! rechts, wo man ohne jede Rücksicht auf das Bedürfniß, ohne jede Rücksicht auf den materiellen Inhalt der Staatsverfassung und der Stellung der Schule einfach die Gelder an alle Gemeinden ohne Unterschied vertheilt hat.
Meine Herren, diejenigen von Ihnen, die diese Anschauungen über die Entwickelung unseres Schulwesens theilen — und ich freue mich außerordentlich darüber, daß namentlich mein verehrter Herr Kollege, der gegenwärtige Kultus⸗Minister sich völlig auf diesen Standpunkt stellt — müssen sich die Frage vorlegen, wie weit es nöthig ist, um die dringendsten, sonst nicht zu befriedigenden Bedürfnisse der Lehrer⸗ welt zu befriedigen, daß der Staat noch mit seinen Mitteln weiter eintritt? Denn, meine Herren, wenn wir wirklich nicht zur Staats schule kommen sollten, — das können sich die Vertreter der Ge— meinden und namentlich der großen Städte, denen ich ein anderes Gefühl für die Selbsiverwaltung, namentlich nach der Steuerreform zugetraut hätte, nicht verhehlen, daß die Macht und die Einwirkung des Staats und der staatlichen Organe wachsen muß mit den Be⸗ trägen, die der Staat für die Schule hergieht. (Sehr richtig! rechts.) Das ist gar kein Zweifel: wenn die großen Städte gleichzeitig eine Vermehrung der Selbstverwaltung auf diesem Gebiete fordern, die ich ihnen durchaus persönlich gönne, so steht das nicht im Einklang mit den Anforderungen, fortwährend ihre cigenen Schulbedürfnisse zum erheblichen Theil aus dem Staatssäckel befriedigen zu wollen. Wir müssen also dann die Frage stellen: wie weit können die Ge⸗ meinden noch leisten, wie weit muß unter allen Umständen geleistet werden, wie weit muß der Staat helfen? Und auf diesen Er— wägungen beruht das vorliegende Gesetz.
Meine Herren, der Abg. Kardorff hat ein sehr wahres Wort gesprochen, obschon das mit seinen Deduktionen und den Schluß— folgerungen nicht ganz im Einklang stand. Er hat uns gesagt: wir wollen uns doch vergegenwärtigen, die Hauptsache ist, daß das Gesetz zu stande kommt. Ich habe den Lehrern, die zu mir gekommen sind, gesagt: bedenkt doch, wie sehr sich eure Lage schon dadurch verbessert, daß eine solche feste gesetzliche Ordnung überhaupt in euer Gehalts wesen eingeführt wird. Ist der feste Boden erst gewonnen — und das möchte ich dem Herrn Abg. Rickert namentlich ans Herz legen —, so kann man darauf weiter bauen. Gehaltsregelungen, meine Herren, macht man nicht für ewige Zeiten. Wie wir unsere Beamtengehälter erhöhen müssen, so wird auch nicht im Gesetz auf ewige Zeiten die Frage der Lehrerbesoldung abgeschlossen sein; bei einer Weiterentwicklung ist man vielleicht genöthigt und in der Lage, weiter zu gehen. Meine Herren, wenn die Herren das bedenken, wenn Sie erwägen, wie weit wir schon seit 30 Jahren in der Zuwendung neuer Staats mittel gekommen sind, so glaube ich mich überzeugt halten zu können, daß bei objektiver Erwägung der Gesammtlage und der Konsequenzen die Herren mit uns in dem dringenden Wunsch, das Gesetz zum Abschluß zu bringen, vorsichtiger sein werden als diejenigen, die diese Dinge nicht übersehen und naturgemäß — ich verdenke ihnen das gar nicht von ihrem Stand⸗ punkt aus — leicht unerfüllbare Forderungen stellen. Meine Herren, derartige Agitationen, wie sie jetzt stattfinden, sind ja in gewisser Weise natürlich und berechtigt; aber das Abgeordnetenhaus, jeder einzelne Abgeordnete muß doch mit Bedacht und Vorsicht den Inhalt dieser Petitionen prüfen; er muß sich fragen: sind denn nicht andere staatliche Rücksichten, die mich verhindern, all den Wünschen der Lehrer in diesem Augenblick zu ent⸗ sprechen? Ich vindiziere Ihnen in dieser Beziehung nicht bloß die selben Rechte, sondern auch dieselben Pflichten wie den Ministern und vor allem wie dem Finanz⸗Minister.
Meine Herren, es ist gestern von Herrn von Heydebrand der Satz ausgesprochen: wir wünschen ja auch eine Vermehrung der Bezüge, eine Verbesserung der Lage der Lehrer selbst über das, was hier schon angeboten wird, hinaus, wir tragen aber Bedenken, dies zu thun am Grundgehalt, weil wir Bedenken tragen müssen, insbesondere die Land—⸗ gemeinden zu einer erheblichen, ihre Kräfte in vielen Fällen überschrei⸗ tenden neuen Heranziehung für die Lehrer zu zwingen. Meine Herren, persönlich theile ich diese Meinung; ich trage auch Bedenken, das Grundgehalt in der Weise zu erhöhen, daß wir alle nach den schließlichen Ergebnissen der Ermittelungen der Behörden leistungsfähigen Gemeinden zu einer Erhöhung der Minimalgehaͤlter auf ihre Kosten zwingen wollen. Das ist kein Finanzgesetz für den Staat, das ist ein Zwanesgesetz für die Gemeinden. Ich glaube allerdings, es giebt viele Gemeinden, die wohl die Kräfte haben, mehr als bisher für die Lehrer zu thun; nach allen meinen Er— fahrungen muß ich das annehmen. Aber ich gebe zu, daß es eine große Anzahl ganz leistungsunfähiger Gemeinden giebt (sehr richtig! recht und im Zentrum) bei der mangelhaften Organisation unserer Schulperbände, worin eigentlich das Hauptübel steckt; solche ganz zweifellos leistungsunfähige Gemeinden würden nicht in Schaden gerathen; für die müßte die Staat ja eintreten — nach der Verfassung, und auch nach diesem Gesetz. Aber die große Zahl der Gemeinden, die im Lande existieren, wo es an der Grenze ist, ob die Leistungsfähigkeit noch existiert, wo man darüber verschiedener Meinung sein kann, wo es sich um ein Mehr oder Weniger handelt, die würden am allerschwersten getroffen. (Sehr wahr) Und das ist der Punkt, der es mir bedenklich erscheinen läßt, in der gegenwärtigen Zeit gerade das Grundgehalt zu erhöhen. Ich kann Ihnen in keiner Weise in Aussicht stellen, daß die Staatsregierung in der Lage ist, weiter zu gehen als das, was sie hier bietet. Aber das, gaube ich, kann ich sagen: wenn eine Verständigung stattfinden könnte auf einer
etwas anderen Basis, so würde sie jedenfalls am allerleichtesten sein auf der Basis einer in allen Fällen sehr mäßigen — Erhöhung der Dienstalterszulagen. (Sehr richtig! rechts) Meine Herren, ich glaube auch, daß man doch nicht behaupten kann — und man muß die Dinge doch nüchtern ansehen — ich bin überzeugt, das, was ich jetzt sage, wird mir sehr übel gedeutet werden; aber ich bin an derartige Angriffe so gewöhnt, daß ich mir längst klar gemacht habe: thue deine Pflicht nach deinem Gewissen und kümmere dich nicht um alle Angriffe (Bravo) und dabei werde ich auch, so lange ich noch meinem König und dem Vaterlande diene, bleiben (lebhaftes Bravo), daß ein junger Mann, der seine Vorbildung mit Hilfe des Staates bekommen hat (sehr richtig) — denn die Vorbildung der Lehrer wird zum Theile vom Staate getragen — der kaum hohe Mittel gebraucht und aufzuwenden gehabt hat, um in den Stand zu kommen, in dem er nachher so nützlich dem Lande dient, wenn der etwa mit 20 Jahren
gerechnete Naturalien und eine mäßige Vergütung für die Feuerung, und der nun weiter die Gewißheit hat, daß er Schritt für Schritt weiter heraufgeht bis auf 1620 M — und zwar, meine Herren, in den allerbilligsten Orten —, denn die große Masse der Lehrer sind ja heute schon besser besoldet — wenn er weiter die Aussicht hat, bessere Stellen zu erhalten, in die Städte zu kommen, vielleicht das Examen für die Mittelschulen zu machen, Rektor zu werden, eine Carrière vor sich hat, so kann man doch nicht sagen, daß das eine so erbärmliche Lage wäre, daß man sie geradezu als Nothstand bezeichnen müßte. Der Herr Kultus⸗Minister hat viel⸗ fach dargelegt, und ich theile diese Ansicht, daß der jetzige Zustand so nicht bleiben kann, daß viele Lehrer noch gar zu ungünstig gestellt sind. Dem ist abzuhelfen.
Meine Herren, wenn Sie dieser Agitation, die ich ja natürlich finde, allzuviel Boden einräumen, wie wird es uns dann gehen bei der Berathung der Beamtenbesoldungen? Im Ganzen sind ja unsere Beamten noch nicht so gut organisiert wie die Lehrer (Heiterkeit), also die Gefahr ist etwas geringer. Aber wir sehen doch jetzt schon in der Pressr, wie alle Beamtenklassen für sich anfangen zu werben mit wenigen Ausnahmen, und ich sehe den Sturm schon voraus, der auf den Landtag eindringt, wenn diese Sache berathen wird. Wenn man so leicht vor irgend einer Agitation zurückweicht, so werden Sie ja solche Bewegungen nur fördern (sehr richtig), und Sie werden durch das Ergebniß dieser so nothwendigen und an sich heilsamen Aufbesserung der Gehalte unserer mittleren und eines Theils der höheren Beamten Gefahr laufen, indem alle Beamtenklassen mit einander sich vergleichen wie die Lehrer es heute mit den Subalternbeamten thun, jeder sich besser hält als der andere, — eine Stimmung hervorzurufen, nach welcher, was dem Beamten selbst zugewendet wird, nichts mehr bedeutet, wenn er glaubt, ein anderer hätte etwas zu viel erhalten. (Sehr wahr! rechts.) Die Gefahr erwächst dann, daß eine solche heilsame Maßregel schließ— lich darauf hinausläuft, die Beamtenklassen untereinander und gegeneinander unzufrieden zu machen (Sehr wahr! rechts) und statt einer allgemeinen Befriedigung das Gegentheil hervorzurufen. So, glaube ich, müssen Sie diese Gefahr, die gerade dieser Landtag und seine Beschlußfassung läuft, auch bei der Berathung dieses Gesetz⸗ entwurfs ins Auge fassen.
Lassen Sie sich dann noch ein paar Worte sagen — ich nehme an, Herr Rickert hat wahrscheinlich seine Vorwürfe auch dahin gerichtet — über die großen Städte. Meine Herren, ich habe mich darüber das vorige Mal so oft ausgelassen, daß ich wirklich den Vorwurf, als wenn ich die großen Städte benachtheiligen wollte, gewissermaßen eine Abneigung gegen dieselben hätte und nur darauf ausginge, die Land= bevölkerung zu begünstigen, nicht weiter zu widerlegen brauche. Wie sollte es auch kommen, daß ich plötzlich eine Abneigung gerad gegen die großen Städte hätte? Aber das allerdings muß ich sagen, die Vertheilung der Gelder im Jahre 1888, 89 war falsch. (Zuruf des Abg. Rickert: Haben Sie ja gemacht, wir nicht) — gewiß, ich habe damals dafür im Herrenhause gestimmt, also ich kann es um so eher sagen, daß es falsch war. Damals habe ich noch nicht daran gedacht und denken können bei dieser Subvention der Gemeinden — denn das war sie nur, es war gar keine Subvention für die Lehrer — an eine andere Hilfe für die Gemeinden in der Weise, wie wir sie später durch die Steuerreform durch⸗ geführt haben, indem wir den Gemeinden statt baarer Geld— summen Steuerquellen, die sie entwickeln konnten, überließen. Wenn ich also heute wieder aufs neue mich frage: wie müssen die Aufwendungen des Staats für die Schule unter die Gemeinden ver— theilt werden? so ist es doch unmöglich, eine so gewaltige Thatsache, wo 108 Millionen Steuerquellen den Gemeinden überwiesen sind, dabei vollständig zu ignorieren. Das wäre doch eine mechanische Art von Gesetzgebung, wie sie noch garnicht dagewesen ist. (Sehr richtigl rechts) Daß wir uns da wieder aufs neue fragen müssen: Sollen wir nicht diese Gelegenheit benutzen, um wenigstens einigermaßen zurückzukehren auf den Weg, den die Ver— fassung weist, wieder mehr nach der Leistungsfähigkeit und nach dem Bedürfniß der Gemeinden uns zu richten? — Wenn man mir beweisen kann, daß diese großen Städte über 25 000 Ein⸗ wohner diese 2 Prozent Zuschlag zur Einkommensteuer nicht entbehren können, dann will ich die Bestimmung fallen lassen; aber der Beweis wird nicht geführt werden können. Wir sind jetzt wiederum diesen Städten noch weiter entgegengekommen, als es bisher der Fall war (Rufe rechts: leider) sowohl in Beziehung auf die Verwaltung der Schule als in Beziehung auf die materiellen Zuwendungen. Ich habe von vornherein gewußt, daß damit die großen Städte nicht zufrieden sein werden. Aber ich habe den Gesichtspunkt, den ich schon das vorige Mal betont habe, wo ich schließlich, wie ich offen sage, das Gesetz an dieser Frage nicht hätte scheitern lassen mögen, wieder in Erwägung gezogen, daß aller⸗ dings die Städte einmal diese Zuwendungen bekommen, darauf in gewissen Grenzen Einrichtungen basiert haben können und daß man es daher als Härte empfinden würde, in den bestehenden Zustand allzuschroff einzugreifen. (Sehr richtig! links.) Daher sind wir auf den jetzigen Aufweg gekommen, daß wir nicht den Antrag Sattler, sondern diese jetzige Grenze vorschlagen, daß keine Stadt mehr belastet werden soll, als was sie aufbringen kann mit 20 Zuschlägen zur Einkommensteuer unter Nichtberücksichtigung des Einkommens unter 900 Sn. Das ist doch ein sehr milder Weg und gleicht die verschiedenen Lagen der großen Städte so richtig aus, daß man unmöglich hierin eine besondere Abneigung gegen die großen Städte erblicken kann.
Außerdem gebot es die Loyalität gegen die Mehrheit dieses Hauses, welche im vorigen Jahre den Gesetzentwurf angenommen hat, daß wir nicht einfach über die Beschlüsse derjenigen Mehrheit, die das Schulgesetz hauptsächlich trug, hinweggingen (Bravo! im Zentrum und rechts) und einfach auf den Antrag Sattler wieder zurüchgingen.
Wir haben den Mittelweg wählen wollen, und ich glaube, der Mittelweg, den wir gefunden haben, ist ein richtiger. Sie können — darüber ist doch kein Zweifel — diesen Gesetzentwurf nicht zu stande bringen, wenn die Parteien nicht untereinander und die ver—= schiedenen Anschauungen derselben Kompromisse schließen und manche lieb gewordenen Gewohnheiten nicht bloß, sondern auch Anschauungen mit Rücksicht auf die Erreichung dieses Zieles fallen lassen. Es
werden in dieser Beziehung alle Parteien Konzessionen machen müssen, und die Staatsregierung würde von vornherein — das werden Sie mir nicht bestreiten können — auf Sand gebaut haben mit ihrem ganzen
freie Wohnung und 720 4M zu fordern hat, mit der Sicherheit, im Plane, den Lehrern zu helfen, wenn sie sich lediglich auf ben Stand— 25. Jahre 900 M zu haben, freie Wohnung, meist noch billig an. I punkt einer einzelnen Partei gestellt hätte.
und Sie müssen das nicht bloß selbst thun, sondern auch im eigenen Interesse der Lehrerschaft nach der Richtung auf sie einwirken, wie ich sie gekennzeichnet habe, sich auch ihrerseits zu beschränken. Wenn Sie das nicht thun, so bin ich überzeugt, hatten wir wirklich auf Sand gebaut. Das Gesetz würde scheitern und die Unzufriedenheit wachsen, und wir würden nicht wissen, welchen Weg wir nun einzuschlagen hätten.
Ich bitte daher nochmals, meine Herren, solche Gesichtspunkte, wie ich sie Ihnen mit der größten Offenheit dargelegt habe, nicht aus den Augen zu lassen. (Bravol)
Minister der geistlichen c. Angelegenheiten D. Dr. Bosse:
Meine Herren! Wir sind durch eine Sitzung des Staatz Ministeriums verhindert gewesen, die ganze Rede des Herrn Abg. Rickert zu hören. Ich bedaure das sehr lebhaft. Aber da der Herr Abg. Rickert wenigstens mit einigen Worten von mir Auskunft ver⸗ langt hat, so bin ich sehr gern bereit, sie ihm zu geben. Im wesent⸗ lichen hat mir das schon der Herr Finanz⸗Minister abgenommen, dem ich dafür im höchsten Maße dankbar bin und dessen sachliche Aus führungen ich mir im vollsten Maße aneigne.
Was den Danziger Fall wegen der geheimen Konduitenlisten be—⸗ trifft, so habe ich ihn erst heute erfahren. Ich habe sofort telegraphisch Bericht eingefordert und kann daher zur Zeit über die Lage der Sache keine Auskunft geben. Ich kann nur sagen, daß ich in einem anderen durch die Zeitungen bekannt gewordenen Fall gezeigt habe, daß ich geheime Konduitenlisten weder für noth⸗ wendig noch für nützlich halte. (Bravo! links.) Und selbst wenn jemand mir begreiflich machen wollte, daß sie nützlich wären, so würde ich sie zurückweisen, weil ich sie für sittlich verwerflich halte. (Bravol' links.)
Run hat Abg. Rickert in Bezug auf das Grundgehalt von 900 ƽ uns bange zu machen gesucht durch den Sturm von Petitionen, der kommen würde im nächsten Jahre, wenn jetzt dieser Entwurf Gesetz wird. Meine Herren, davor fürchten wir uns nicht und dürfen wir uns nicht fürchten. Der Herr Finanz Minister hat sehr richtig gesagt, daß die Petitionen den Lehrern gar nicht zu verdenken sind. Das liegt in der Assoziation der Interessengruppen, wie wir sie heute in unserem öffentlichen Leben haben; das muß man mit in den Kauf nehmen. Aber ebenso gewiß ist — und das werden auch die Lehrer einsehen —, daß die Staatsregierung nicht ohne weiteres auf den Inhalt einer Petition eingehen kann, wenn sie sie mit den anderen Interessen, die sie wahrzunehmen verpflichtet ist, für nicht vereinbar hält. Wir können nicht alles, was die Interessenten⸗ kreise als wünschenswerth hinstellen, ohne weiteres accevtieren; da würde auch ein sehr schlechten Unterrichts Minister sein, der das thäte. Der Unterrichts-Minister muß in seiner Eigenschaft als Staats- Minister erwägen, was erreichbar ist, und damit, wozu er sich mit seinem Gewissen entschließen kann, muß er sich begnügen; das muß er hier vor dem Lande vertreten, dafür übernimmt er die Verantwortung. Und diese Verantwortung übernehme ich im vollsten Maße.
Wenn nun der Herr Abg. Rickert mich gefragt hat, woher ich denn die Informationen aus parlamentarischen Kreisen gewonnen hätte, daß wir nicht weiter kommen würden, so glaube ich doch, daß diese Anfrage etwas zu weit geht. Meine Herren, ich nehme meine Informationen vor dem Zustandekommen eines Gesetzentwurfs aus den verschiedensten Kreisen und aus den Erfahrungen meines Amtes. Es ist aber ganz unmöglich, daß ich hier Auskunft geben kann Über diese zur Zeit ganz privaten Dinge. Ich muß mich damit begnügen, daß ich nichts versäume, um mich so zu informieren, damit ich nachher eine hier von mir zu vertretende Ent— scheidung, einen Entschluß fassen kann, wie ich ihn fassen muß, um eine Vorlage zu stande zu bringen und sie hier vor diesem hohen Hause zu vertreten. So liegt hier die Sache, und ich glaube, ich bin nur verpflichtet, diese Vorlage zu vertreten, aber nicht alle die einzel⸗ nen Stadien meiner Information. Wohin sollte das führen? Wohin sollte es führen, wenn ich hierher treten und sagen wollte: der und der Entschluß, der hier in dem Gesetzentwurf seinen Ausdruck ge= funden hat, ist mir sehr schwer geworden. Gewiß ist mir manches schwer geworden. Nachdem ich mich aber entschieden habe, habe ich diesen Entschluß zu vertreten und werde ihn vertreten.
Abg. Dr, von Woyng (fr. kons. ; Von den Erklärungen des Finanz⸗Ministers ist wohl die wichtigste die, daß er an einer Er— höhung der Alterszulagen das Gesetz nicht scheitern lassen wird. Diese Erklärung wird das ganze Haus mit Freude aufgenommen haben. Ein junger Lehrer kann allerdings mit dem ausgesetzten Gehalt auskommen. Aber wir legen ein großes Gewicht darauf, daß die Alterszulage nicht erst in den späteren Jahren eintritt, wo die Er— ziehung der Kinder bereits beendet ist. Die Lehrer der Provinz Hannober wünschen eine strenge Scheidung des Einkommens aus dem Schul⸗ und aus dem Kirchendtenst. Auch bezüglich der Schätzung des Dienstlandes haben die Lehrer Hannovers besondere und berechtigte Wänsche. Für ein Haupterforderniß konservativer Gesinnung hatte ich die Respektierung wohl erworbener Rechte. Ich werde mich daher niemals dazu verstehen, den Städten etwas zu nehmen, was ihnen zugebilligt war. Schließen Sie die Städte an die Alterszulage— lassen an, dazu sind wir berechtigt, und wenn die Städte aus diefen Kassen herausbleiben können, dann werden sie vielleicht auf ihre wohlerworbenen Rechte freiwillig verzichten.
Abg. Dr. Dittrich (Zentr.) hält es für besser, auf der Grund—⸗ lage eines umfassenden Volksschulgesetzes die Besoldungsfrage zu lösen, weil dabei auch die Rechte und Pflichten der Gemeinden sestgelegt werden könnten. Die Vorlage bringe eine Verbesserung für 11060 Lebrer der östlichen Provinzen, welche noch nicht 900 . Eine Aufbesserung könne eher auf dem Gebiete der Alterszulagen als in der Erhöhung des Grundgehalts herbeigeführt werden. Dem Finanz⸗ Minister gegenüber verlange das Zentrum nicht die reine Staats—=
Redner empfiehlt eine größere Berücksichtigung der Privatschulen und spricht die Hoffnung aus, daß eine Verständigung herbeigeführt werde, wozu das Zentrum seine Mitarbeit nicht versagen werde.
Abg. Bartels (kons.): Es war allerdings unser ausdrücklicher Wunsch, daß das Gesetz uns wieder vorgelegt werden sollte; aber wir müssen bedauern, daß wir uns damit noch einmal befassen müßsen. Daß die Vorlage im Frühjahr an dem Widerstand der gioßen Städte gescheitert sei, ist eine unrichtige Auffassung. Zu den Vertretern der großen Städte im Herrenhause fanden sich einige Herren als prinziprtelle Gegner der Vorlage binzu, und dargu ergab sich eine Zufallsmehrheit. Ich bin, trotzdem ich ein allgemeines Volksschulgesetz für nothwendig halte, gar nicht so ängstlich gewesen bei der Beratßung dieses Gesetzes; denn ich betrachte diefes Geseßz als eine Etappe dazu; wir müssen auf dieser Grundlage zu dem all. gemeinen Volksschulgesetz konmen. Diese Hoffnung muß ich Herrn don Kardorff gegenüber ausdrücklich betonen. Die Erklärung des Finanz Ministers, daß er einer Erhöhung der Alterszulagen nicht ab eneigt sei, hat wohl allgemeine Freude erregt. Wenn er diese Ce,
nur schon im Frühiahr abgegeben hätte; aber damals stellte er jede
Das Gesetz müssen Sie von diesem Standpunkte aus betrachten
schule, sondern die reine Kommunalschule ohne staatliche Einmischung.
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