gestellter Behauptungen, gegen einen städtischen Beamten in Klel, den Bürgermeister Lorey, den Vorwurf erhoben, daß er sich des wissentlichen Meineides schuldig gemacht habe, und in Ver⸗ bindung hiermit hat er der Staatsanwaltschaft Mangel an Pflichterfüllung vorgeworfen. Ich hatte die Absicht, nech im Laufe der Berathungen der Nꝑvelle zur ͤ nach eingezogener Informafloön mich über diefe Rngelegenheit ju äußern. Der Verlauf dieser Berathung hat mir die Gelegenheit ge⸗ nommen, und ich glaube deshalb, auf Ihre Zustimmung rechnen zu
— Ddiftrfen, wenn ich heute den Sachverhalt klar stelle. Ich muß auf die — Daß u den IFanalfẽlerlichkeiten a sehr wohl sein; polizeilich ist so etwas nicht kon zessioniert worden. Möglich ift auch, daß die ftets schwankende Zahl der in jenen Straßen wohnenden Dirnen zur Zeit jener Festlichkeiten eine höhere
Gefahr hin, Ihre Geduld mehr, als Ihnen angenehm ist, in An⸗ spruch zu nehmen, aus den Akten den Sachverhalt so vollständig auf⸗ klären, daß jeder von Ihnen in der Lage ist, sich selbst ein Urtheil in der Sache zu bilden und danach zu prüfen, ob die Vorwürfe des Herrn Stadthagen, die nach seiner eigenen Behauptung auch auf einem genauen Aktenstudium beruhen, begründet waren oder nicht.
Es handelt sich hierbei um eine Angelegenheit, die nur mit einer gewissen Vorsicht öffentlich behandelt werden kann. Die Nummer des Vorwärts“ vom 12. Juni 1895 enthielt folgenden Artikel:
Aus Kiel wird uns geschrieben, daß dort die Zahl der Bordelle um drei vermehrt worden ist. In jedem seien fünf Mädchen, die einen Mietböpreis von 12 —18 M pro Tag und Zimmer zahlen müßten. Vielleicht würde wegen des zu erwartenden Zusammen⸗ strömens vieler Schaulustiger bei der bevorstehenden Einweihung des Nord⸗Ostsee⸗Kanals gegen die Bordelle noch mehr Nachsicht geübt werden. Die Nachricht zeigt so recht, wie durch und durch verheuchelt unsere moderne Gesellschaft ist. Im Namen der guten Sitte, der Religion, der Ordnung verfolgt man die Werke der Dramatiker und bildenden Künstler, wenn sie in der herrschenden Klafse Anstoß erregen; zu gleicher Zeit aber blüht das scheußlichste Gewerbe, was es giebt, der Menschenhandel, in seiner aller Religion, Sitte und Ordnung hohnspottenden Form.
Diesen Artikel ließ das hiesige Polizei⸗Präsidium der Polizei⸗ behörde in Kiel zur Kenntnißnahme vorlegen, und es schrieb darauf der dort mit der Ausübung der Polizei betraute Bürgermeister Lorey zurück:
Brevi manu dem Königlichen Polizei⸗Präsidium zu Berlin mit der Erwiderung ergebenst remittiert, daß hier weder Bordelle bestehen, noch neue Bordelle zu der Kanalfeier eingerichtet sind. Diese Behauptung ist eine Verleumdung, und wird diesseits gegen den Redakteur des „Vorwärts“ dieserhalb der Antrag auf Bestrafung gestellt.
Es führte das zur Einleitung eines Vorverfahrens durch die Staatsanwaltschaft, in welchem zunächst der als verantwortlich zeichnende Redakteur des Vorwärts“ Dierl vernommen wurde und die Erklärung abgab, er habe den Artikel nicht gelesen, übernehme aber die formelle Verantwortlichteit dafür; über seinen Inhalt und dessen Richtigkeit könne er nichts sagen, er finde darin keine Beleidigung. Nach dieser Erklärung nahm die Staatsanwaltschaft keinen An- stand, die Anklage gegen Dierl wegen Beleidigung auf Grund von F§S§ 1865 und 186 20. des Strafgesetzbuches zu erheben. Das Hauptver- fahren wurde eröffnet, und es wurde mit dessen Eröffnung zugleich die kommissarische Vernehmung des Bürgermeisters Lorey als Zeugen mit Rücksicht auf die weite Entfer nung seines Wohnorts beschlossen. Ich bemerke hier gleich berichtigend zu den früheren Ausführungen des Herrn Stadthagen, die er in anderer Richtung zu verwerthen unternahm, daß Lorey im Vorverfahren überhaupt niemals vernommen worden ist, sondern nur im Hauptverfahren. Die Vernehmung des Herrn Lorey fand statt unter dem 3. September 1895 und zwar eidlich. Der Bürgermeister Lorey erklärte zur Sache:
Bordelle in dem Sinne staatlich konzessionierter Häuser für den Betrieb der Unzucht bestehen in Kiel selbstverständlich nicht, da eine solche Konzession nach den bestehenden Gesetzen durchaus un— zulässig sein würde. Es wird nur geduldet, daß Mädchen, die gewerbsmäßig Unzucht treiben, in entlegenen Straßen ihre Wohnung nehmen. Dies hat natürlich den Zweck, daß derartige weibliche Elemente aus den anderen Stadttheilen fern gehalten werden. Hiernach kann auch von einer Vermehrung von Bordellen nicht die Rede sein.
Falls der betr. Artikel etwa behaupten will, daß der Umkreis des Gebietes, in dem derartige Mädchen ihre Wohnung nehmen dürfen, zu den Kanaltagen erweitert worden sei, so entspricht dieses nicht der Wahrheit. Derartige Anordnungen sind in keiner Weise ergangen, auch sind dahin zielende Gesuche an die Polizeibehörde nicht gelangt.
Als nach dieser Vernehmung die Akten wieder nach Berlin zurück= kamen, hatte der Angeklagte Dierl sich inzwischen einen Vertheidiger genommen, und dieser trat unter Berufung auf verschiedene Zeugen den Beweis der Wahrheit an für die thatsächlichen Anführungen des Artikels. Das Gericht beschloß, auch diese in Kiel wohnenden Zeugen und nochmals den Bürgermeister Törey vernehmen zu lassen. Die Vernehmung des Bürgermeisters Lorey erfolgte am 14. Dezember 1895. Er gab seine Zeugenaussagen ab unter Berufung auf den von ihm früher abgelegten Eid und erklärte:
Ich bin erst seit Ende Oktober 1889 hier thätig, sodaß ich von den früheren Verhältnissen aus eigener Wissenschaft nichts weiß.
Ueber die Behauptung, daß Bordelle hier bestehen, habe ich mich bereits in meiner vorigen Vernehmung geäußert.
Auf die mir seitens des Herrn Vertheidigers vorgelegte Frage bemerke ich noch, daß gegen die Besitzer der Häuser in den Straßen „Hinter der Mauer! und „Zum Kuhfelde', in denen bekannter—⸗ maßen Dirnen ihr Geschäft ausüben, von Amts wegen wegen Kuppelei nicht vorgegangen wird, während in anderen Stadtgegenden dieses wohl der Fall sein würde.
Es wird allerdings im sanitären Interesse polizeilich eine ge⸗ wisse Maximalzahl von Bewohnerinnen jedes einzelnen Hauses festgesetzt. Diese Zahl ist natürlich, je nach der Größe der Häuser, verschieden. Derartige Maßnahmen werden aber nicht allein gegen jene Häuser, sondern auch gegen Häuser aller anderen Stadtgegenden, wo durch Ueberfüllungen Uebelstände hervortreten, vorgenommen. Richtig ist, daß die Dirnen durch polizeiliche Verfügung verpflichtet sind, sich wöchentlich zweimal an bestimmten Stunden vom Polizei⸗Arzt unter⸗ suchen zu lassen. Es ist zu dem Zwecke in einem an der Damen straße belegenen Hause, dessen Hinterfront an der Straße „Hinter der Mauer oder Kuhfeld“ liegt und dort einen Eingang hat, ein Zimmer polizeilicher seits gemiethet. In diesem Hause wohnen aber keine Dirnen.
zur Strg er gieß ordnung
kũmmert sich die Polizei nicht.
gestellt. Auf Befragen des Vertheidigers:
—
*
war, als vorher.
med. und Polizei⸗Arzt Osann in Kiel:
prüfen ist nicht meine Sache.
gehören.
Zum Kuhfelde“ mag jetzt an die 40 betragen.
wohnt. legen war, in einem anderen Hause.
das Geschäft der Zimmervermiethung betreibt. Die sagt:
felde .
funden worden. Darauf nahm ich Märchen auf.
Darauf habe ich das Haus selbst übernommen. Rücksicht auf die Kanaltage leitete mich dazu nicht.
fand. Es war das schon vor April 1895. soviel ich weiß, bei Jean Lethen. Haus für Hurenzwecke eingerichtet.
steht, weiß ich nicht.
von der gegen ihn erhobenen Anklage erkannt.
gegenüberzuftellen. Im Gegentheil, das Urtheil der hiesigen Straf⸗ kammer stützt sich gerade auf die Aussage des Bürger— meisters Lorey, und die Freisprechung gründet sich im wesent— lichen darauf, daß die Strafkammer den Artikel des „‚Vor— wärts“ anders beurtheilt, wie es seitens des Bürgermeisters Lorey geschehen war. Die Strafkammer sagt: ja, Bordelle im Sinne vom Staat konzessionierter oder gar eingerichteter Häuser existieren in Kiel ja zweifellos nicht und haben nicht existiert. Das hat aber auch der Artikel gar nicht sagen wollen; er versteht nur unter Bordellen solche Häuser, wie sie dort nach den Zeugenaussagen be— stehen; ibm sind diese Häuser als Bordelle erschienen, das ist seine Meinung gewesen. In diesem Sinne ist die Wahrheit seiner Be— hauptungen erwiesen; denn daß in Kiel in gewissen Vierteln, unter be⸗ sonders strenger polizeilicher Aufsicht Dirnen konzentriert sind, ist richtig. Also was er eigentlich hat sagen wollen, ist wahr; insoweit findet also der Paragraph von der Verleumdung auf ihn keine An⸗ wendung.
Es wird dann in dem Urtheil weiter ausgeführt: wenn die be— haupteten Thatsachen richtig seien, dann könne auch in dem Artikel eine Beleidigung des Bürgermeisters Lorey bezw. der Polizeiverwal— tung in Kiel nicht gefunden werden; denn wie aus dem zweiten von mir verlesenen Satz hervorgehe, richte sich der Artikel garnicht gegen die Polizeiverwaltung in Kiel, sondern gegen die heutige Gesellschaft, der der Vorwurf gemacht werde, daß sie solche Zustände aufrecht erhalte.
Meine Herren, das Urtheil ist rechtskräftig geworden; den Sach⸗— verbalt habe ich Ihnen vorgetragen. Ich glaube ruhig Ihrer Prüfung überlassen zu können, ob auf diese Thatsachen hin der von dem Herrn Abgeordneten seiner Versicherung nach auf Grund genauer Aktenprüfung erhobene Vorwurf, der Bürgermeister Lorey habe sich eines wissentlichen Meineids schuldig gemacht, irgendwie gerechtfertigt ist. Ich kann meinerseits nur mein lebhaftes Bedauern darüher aus sprechen, daß es gestattet ist, hier von unverantwortlicher Stelle aus, unter dem Schutz der Redefreiheit des Reichstags gegen Personen, die außerhalb dieses Hauses ftehen, und denen die Möglich keit sich gegen derartige Vorwürfe zu vertheidigen mit Rücksicht auf die Immunität der Redner nicht gegeben ist, derartige Behauptungen
in die Welt zu schicken und dadurch den guten Namen solcher Personen an den Pranger zu stellen.
(Bravo! rechts.) Meine Herren, ich bin noch nicht zu Ende. In Verbindung mit dieser Angele genheit hat der Herr Abg. Stadthagen weiter der Staats-
anwaltschaft den Vorwurf gemacht, daß sie in einer anderen ver— wandten Sache nicht ihre Schuldigkeit gethan habe.
Wegen eines
Richtig ist, daß in den genannten Straßen ständig zwei Schutz.
ähn lichen Artikels war nämlich bei dem Landgericht in Cassel gleich-
leute und zwel Nachtwächter abwechselnd patrouillleren. Um die Abmachungen der Wirthe mit den Mädchen über Bezahlung
Es ist unrichtig, daß kurz vor den Kieler Kanalfestlichkeiten
drei Schankstätten mit weiblicher Bedienung in jenen Straßen in Bordelle umgewandelt. eien und die Genehmigung der Polizei hierjn erhalten hätten. Nicht einmal der Antrag anf Derartiges ifr
Cerlei Hlrnen zugezogen sind, kann
Von den übrigen vernommenen Zeugen erklärte zunächst der Dr.
Ich untersuche im Auftrage der Polizei Verwaltang wöchentlich an vier Untersuchunge tagen, in einem von der Polizei gemietheten Raum diejenigen Frauenzimmer, welche mir von der Polizeibehörde zugeschickt werden. Woher diese Frauenzimmer kommen, dies zu Die Mehrzahl wird zu den Be— wohnerinnen der Straßen Hinter der Mauer und „Zum Kubfeld“
Ob im Anfang v. J. oder im späteren Verlauf desselben neue Häuser dem Betriebe der Unzucht geöffnet worden sind, weiß ich nicht. Die Zahl der Mädchen in den Straßen „Hinter der Mauer“ und
Auf Anfrage des Rechtsanwalts Dr. Scholz: In dem Hause, wo das Untersuchungszimmer ist, baben auch schon Mädchen ge⸗ Das Zimmer ist vor etwa 37 Jahren in dieses Gebäude verlegt worden, während es vorher nach der Damenstraße zu ge⸗
Dann kommt eine Zeugin Markmann, die in einer dieser Straßen
Ich hatte früher eine Wirthschaft in der Straße Zum Kuh— Als mein Mann siarb, gab ich die Wirthschaft auf. Ich bin darauf zum Kriminalkommissar gegangen und habe ihn gefragt, ob ich Frauenzimmer in das Haus aufnehmen dürfe. Der Kommissar sagte mir: ja; aber ich müsse die Zimmer erst umbauen lassen. Nach der Vollendung würde die Polizei kommen und sich sie an— sehen. Ich habe die Fertigstellung auch dem Kommissar gemeldet. Soviel ich weiß, ist die Wohnung auch besichtigt und für gut be⸗ Ich verpachtete zunächst; es wurde mir aber später vom Kommissar gesagt, in Hurenhäusern dürfen nur die Eigenthümer der Häuser Huren halten. Diese Umwandlung meiner Wirthschaft in ein Haus für Huren ist im April 1895 erfolgt. Die Ich glaube, daß bei Kruse auch eine Umwandlung einer Gastwirthschaft statt⸗ Ebenso liegt die Sache, Auch dieser hat vor mir das
Beide haben das im Jahre 1895 gethan. Die Frauenzimmer, die in den Häusern wohnen, dürfen nicht eber die Wohnung nehmen, als sie sich auf der Polizei an— gemeldet haben. Dort kriegen sie einen Brief mit; was darinnen
Auf diefer Grundlage, meine Herren, hat die hiesige Strafkammer unter dem 11. Januar 1896 auf Freisprechung des Angeklagten Das hier vor⸗ liegende Urtheil ist aber weit entfernt, irgend einen Widerspruch zu erblicken in den Aussagen des Bürgermeisters Lorey und denen der übrigen Zeugen, ebensowenig wie ein solcher Widerspruch angenommen wurde seitens des vernehmenden Richters in Kiel, der ja sonst ohne Zweifel Veranlassung genommen haben würde, die Zeugen einander
Jobn eröffnet worden. Dieses Verfahren bat zur Verurtheilung dez John geführt, und war ist diese Verurtheilung früher anz. gesprochen worden wie das freisprechende Urthbeil der hiesigen Strafkammer in Sachen gegen Dierl. Da jagt nun der Hef · Abg· Stadthagen; es sei verantworten, daß nunmehr nicht die Staatsanwaltschaft don Amtswegen zu Gunsten des in Cassel verurtheilten Redakteurs, dez
fahren eingeleitet habe. Nun, meine Herren, wenn Sie den Sach · verhalt hören, werden Sie, glaube ich, auch diesen Vorwurf nicht be, greifen. Die Sache liegt bier folgendermaßen.
Die erwähnte Nummer des Vorwärts“ hatte noch einen zweiten Artikel enthalten in einer anderen Stelle, auf der dritten Selte, glaube ich, in dem erjählt wurde, daß anläßlich der Kanal, feier von hier aus eine zahlreiche Schutzmannschaft nach Kiel geschickt worden sei zur Aufrechterbaltung der Ordnung. Diese beiden Artikel batte John nun selbständig umgearbeitet. Er stellte den letzten Artikel an die Spitze und den anderen ans Ende, und so ist folgender Artikel erschienen:
Vorbereitungen zum großen Kanalfest.
Ein Freudenfest voller echt deutscher Gemüthlichkeit scheint die beverstehende Einweihung des Nord⸗Ostsee⸗Kanals werden zu sollen. Es sind zu diesem Ereigniß nicht weniger als 262 Berliner Poltzei— beamte nach Kiel kommandiert. Am nächsten Sonntag, den 16. d. M., gehen zunächst 60 uniformierte Schutzmänner unter der Führung eines Wachtmeisters dahin ab. Diesen folgt am Dienstag unter der Führung des Polizei⸗ Hauptmanns Haccius eine Abtheilung von 150 uniformierten Beamten, die zur Dienstleistung bei Holtenau befohlen sind. Außerdem sind aber auch noch die politische Poltzei und die Kriminal-Abtheilung bei dem Kommando betheiligt; sie stellen je 25 Beamte zur Aufsicht bei den feierlichen Veranstaltungen. Es fehlt also nichts, um dem Fest die übliche höhere Weihe“ zu geben. Wie das im Lande der Religion, Ordnung und Sitte selbstverständlich ist, wird auch dafür gesorgt werden, daß die nationalen“ Festtheilnehmer der Liebe“ nicht ermangeln brauchen.
Die Zahl der Bordelle in Kiel ist um drei vermehn worden. In jedem derselben sind fünf Mädchen, die einen Miethe—. preis von 12 bis 18 pro Tag und Zimmer zahlen müssen. Man sieht, wie durch und durch verheuchelt unsere moderne Gesellschaft ist. Im Namen der guten Sitte, der Religion, der Ordnung ver—= folgt man die Werke der Dramatiker und bildenden Künstler, wenn sie bei der berrschenden Klasse Anstoß erregen,
— u. s. w., wörtlich nach dem früheren Artikel des Vorwärts‘. — Die Polizeibehörde in Cassel ließ nun diesen Artikel dem Bürger ⸗ meister Lorey vorlegen, der darauf die gleiche Erklärung abgab, wie ich sie vorhin verlesen habe. Bei seiner polizeilichen Vernehmunz erklärte der Redakteur John:
Ich bin der Redakteur des hier erscheinenden ‚Volksblattes' für „Hessen und Waldeck' und übernehme für den umstehenden, k diesem Blatte gebrachten Artikel die Verantwortung. Die that, sächlichen Angaben habe ich einer anderen Zeltung entnommen, wenn auch die Form eine andere sein mag: aus welcher Zeitung, bin ich jedoch nicht mehr in der Lage en— zugeben. Nach meiner Meinurg ist in dem beregten Artikel eine Beleidigung oder Verleumdung einer Behörde nicht zu finden, da diese für die geschilderten Zustände in dem Artikel nicht verert— wortlich gemacht werden wird.
Gerichtlich vernommen, bestätigte John diese Aussage mit dem Be— merken:
Ich habe welteres nicht hinzuzufügen und will nur nos ke—= merken, daß ich bei der allgemeinen Fassung des Artikels die Polizei in Kiel speziell nicht im Auge gehabt habe. Der Artikel sollte nur eine allgemeine Kritik unserer gesellschaftlichen Zustände ert— halten.
Darauf wurde Anklage erhoben, die Hauptverhandlung angeordnet, und in der Hauptverhandlung erklärte der Angeklagte:
Ich habe den Artikel, für den ich verantwortlich bin, einer andere Zeitung entnommen und für meine Zeitung verarbeitet. Ich nenne alle Häuser, in denen zur Unzucht Gelegenheit gegeben wird, Bordelle. Von einer Beleidigung der Polizeibehörde kann keine Rede sein. An sie habe ich garnicht dabei gedacht. Den Bewenn der Wahrheit, daß in der That die Bordelle vermehrt sind, wil ich nicht antreten.
Darauf hin wurde der Angeklagte der Beleidigung schuldig erkannt und zu einer Gefängnißstrafe von drei Wochen verurtheilt. Dan Gericht führte aus: Der Angeklagte habe selbst erklärt, den Beweiß der Wahrheit nicht antreten zu können und nicht antreten zu wollen. Der Artikel behaupte daher nicht erweislich wahre Thatsachen, er richte seine Spitze zweifellos gegen die Polizeibehörde in Kiel, die hierdurch eines pflichtwidrigen Verhaltens geziehen werde. Seleidi= gung liege also vor, Bestrafung müsse erfolgen.
Der Angeklagte legte Berufung gegen dieses Urtheil ein. A4 in der zweiten Instanz erklärte er sich wie früher und sette rech Folgendes hinzu:
Nur bei Unwissenden, welche mit den Verhältnifsen und Or liegenheiten der Sittenpolizei in Preußen nicht bekannt sind, konnte durch den fraglichen Artikel die Meinung erzeugt werden, als bak die Kieler Polizeibehörde anläßlich der Einweihung des Nerr— Ostsee⸗Kanals die Unsittlichkeit befördert. Jedem Wissenden da— gegen ist es klar, daß, da in Preußen eine Kasernierung der nm von seiten des Staats nicht stattfindet, der Artikel überbhaurt ** Kieler Polizeibehörde nicht treffen konnte.
Auf Grund dieser Erklärung bestätigte das Berufungsgericht, da Landgericht in Cassel, das Urtheil erster Instanz und führte in den Urtheil insbesondere noch aus, daß nach den eigenen Erklärungen der Angeklagten nicht nur unwahre Behauptungen von ihm aufgestellt * sondern daß auch seine Absicht, die Polizeibehörde in Kiel zu beleidigen nicht in Zweifel gezogen werden könne. Er habe selbst zugegeben, 3 für Unwissende der Artikel die Vorstellung hervorrufen möge, es ach in Kiel konzessionierte Bordelle, für Wisseade sei eine solche Ausler*n des Artikels unmöglich. Da nun jwelfellos dies „elke lan viele Unwissende zu seinen Lesern zähle, so habe nach rar eigenen Auslaffung der Angeklagte sich bewußt sein mũssen⸗ xc von diesen der Artikel so verstanden werden würde, wie = selbst es als möglich hingestelt habe, Weiter wird in den Uraten
ausgeführt, aus der Gruppierung des Artikels müsse mit Sicher bect
falls auf Antrag des Bürgermeisters Lorey ein Strafverfahren gegen den dortigen Redakteur eines sozialdemokratischen Blattes Namen
in keiner Weise 16
armen braven Jobne, wie er ihn nennt, das Wiederaufnahme rer.
entnommen werden, daß er sich gegen die Pollzelbebörde in Kiel richte; dies folge insbesondere daraus, daß auch der erste Theil des Artikels sich gegen polizeiliche Maßregeln, wenn auch gegen die der Berliner Polizeibebõrde, richte. Meine Herren, dieses Urtheil unter⸗ scheidet sich also von dem Berliner Urtheil darin, daß es den Artikel anders interpretiert, und die Frage, ob die Absicht der Beleidigung.
= Vwörließ Vem̃ Ttigetlagre Feger über nder beantwortet, wie Lies auf
andrer Grundlage das Berliner Gericht gegenüber dem Angeklagten Dierl gethan hatte. Daß aber ein Urtheil, welches lediglich in der
Teng ber Thatfa Ken. und in der Kari ftkschen Auffaffum sich von errein
anderen unterscheidet, nicht als eine neue Thatsache auf. zufassen ist, welche die Grundlage eines Wiederaufna hmũever⸗ fahrens bilden kann — ich glaube, man braucht nicht Jurist zu sein, um das zu erkennen. Zur Beruhigung derjenigen Herren, die vielleicht in dieser Angelegenheit einiges Mitgefühl mit dem Redakteur John haben möchten, kann ich noch hinzufügen, daß das Casseler Urtheil nicht zur Vollstreckung gelangt ist: es fiel unter den Gnadenerlaß des vorigen Jahres.
Damit glaube ich diese Angelegenheit hinlänglich beleuchtet zu haben. In derselben Verhandlung vom 27. November vorigen Jabres hat aber der Herr Abg. Stadthagen noch einen zweiten viel— besprochenen Prozeß zur Sprache gebracht, von dem er sagt, daß er an Grauenhastigkeit falscher Rechtsprechung alles, was er sonst vorgeführt habe, bei weitem hinter sich lasse. Es war das der bekannte Meineidsprozeß Schröder in Essen, der ja in der Presse eingehende Besprechung gefunden hat und für dessen Opfer — im Sinne des Herrn Abgeordneten Stadthagen — weite Kreise sich interessieren. Nun, ich stehe nicht auf dem Standpunkt, daß gericht— liche Urtheile der parlamentarischen Kritik entzogen seien; aber einer solchen Kritik, wie sie der Herr Abgeordnete Stadthagen aus gesprochen hat, glaube ich doch jede Berechtigung absprechen zu müssen. Es handelt sich hier um ein schwurgerichtliches Urtheil, das auf Grund sehr eingehender viertägiger Ver⸗ handlungen gefällt worden ist. Ich muß zum Verständniß der Sache die thatsächlichen Vorgänge kurz skizzieren, die zu dem Ver⸗ fahren geführt haben. In dem westfälischen Bergbaubezirk hat sich ein Verein christlicher Bergarbeiter gebildet. Dieser Verein hatte im vorigen Jahre am 3. Februar Abends in Baukau eine Versammlung seiner Mitglieder veranstaltet. In dieser Versammlung erschien Abends der Bergmann Schröder mit einer Reihe seiner Gesinnungs— genossen. Als die Versammlung eröffnet war, verlangten Schröder und Genossen die Bildung eines Bureaus. Von dem Vor— sitzenden, der die Versammlung einberufen hatte, wurde ihnen erwidert: Sie wissen ja, daß hier eine geschlossene Versammlung stattfindet und Sie hier nichts zu tbun haben; sie möchten sich entfernen. Zugleich wurde von dem Vorsitzenden die Versammlung auf kurze Zeit vertagt. Schröder entfernte sich nicht; er wurde eindringlicher aufgefordert, das Lokal zu verlassen. Als auch das leinen Erfolg hatte, nahm der Vorsitzende die Unterstützung der Polizei in Anspruch, die in Gestalt eines Polizei Kommissars Bock⸗ meier, des Gendarmen Münter und noch eines zweiten Gendarmen auf Requisition des Einberufers erschienen war. Das Er— scheinen der Polizei war dadurch veranlaßt, daß Schröder und andere Sozialdemokraten schon an demselben Nachmittage an einem andern Ort, in Herne, eine Versammlung des Vereins durch ihr Dazwischentreten gestört hatten. Nun wurde also die Hilfe der Gendarmen und der Polizei in Anspruch genommen. Die Polizei forderte energisch den Schröder auf, das Lokal zu verlassen. Schröder begab sich nach dem Ausgange des Lokals und verlangte dort das Eintrittsgeld von 10 3 zurück. Dabei entstand ein 46mélsé, und bei diesem ist Schröder zu Fall gekommen. Wie, das ist die Streit frage, um die sich die ganze Sache dreht. Zweifellos ist er in körper liche Berührung mit dem Gendarmen Münter gekommen. Er befand sich am Rande des Podiums und ist da heruntergestürzt. Seitens des Gendarmen Münter wird auch nicht bestritten, daß möglicherweise ein Stoß seinerseits erfolgt ist. Schröder kam also zu Fall. Nun erschien ein paar Tage darauf in der „Deutschen Berg⸗ und Hütten⸗ arbeiter Zeitung‘, einem sozialdemokratische Blatte in Westfalen, ein Artikel, der sich mit dieser Angelegenheit befaßte und worin dem Gendarmen Münter der Vorwurf gemacht wurde, daß er sich ohne Anlaß gröblich an dem Schröder vergriffen und sich einer Miß⸗ handlung desselben schuldig gemacht habe. Münter sah sich dadurch beleidigt, stellte den Strafantrag, und es fand eine Strafkammer⸗Verhandlung in Essen am 11. Juni und eine zweite am 27. Juni statt. In dieser Verhandlung erschienen auf Seiten der Anklage die hauptbetheiligten Polizeibeamten und die Mitglieder des christlichen Arbeitervereins, die dem Vorgange bei— gewohnt hatten. Als Schutzzeugen waren geladen und erschienen Schröder und eine Reihe seiner Genossen. Die Aussagen der Zeugen widersprachen einander, und zwar ziemlich direkt. Schröder und Andere stellten die positige Behauptung auf, nicht etwa nur, wie es in der sozialdemokratischen Presse und in Broschüren vielfach be— hauptet worden ist, daß Schröder durch dichtes Heran—2— treten und energisches Drängen des Gendarmen Münter zu Fall gebracht sej; sondern sie behaupteten positiv, vornehmlich Schröder, er sei von Münter in den Nacken gefaßt, mit Gewalt zu Boden geworfen, demnächst, als er im Begriff gewesen, sich wieder zu erheben, nochmals von Münter in den Nacken gefaßt und abermals zu Boden geschleudert, also Thatsachen, die nicht leicht den in nächster Nähe befindlichen Zeugen entgehen konnten. Die Straf⸗ kammer in Essen schenkte den Entlastungszeugen Schröder und Genossen keinen Glauben, wohl aber den Zeugen der An— klage und den christlichen Bergarbeitern, die erklärten, daß sie in unmittelbarer Naͤhe gestanden hätten und Schlagen mit der Faust, ein Zubodenwerfen und Fassen in den Nacken absolut nicht vorge— kommen sei, da sie dies hätten sehen müssen. Die Strafkammer ver⸗ urtheilte deshalb den Redakteur Markgraf wegen Beleidigung. Zu⸗ gleich wurde gegen Schröder und Genossen wegen wissentlichen Meineids die sofortige Verhaftung beantragt. Das Gericht lehnte die Ver— haftung ab, aber nicht mit der Motivierung, daß es die Aussagen von Schröder und Genossen nicht für unwahr halte, sondern, wie später noch erklärt worden ist, weil es der Ansicht war, die Staatsanwaltschaft bedürfe nicht eines gericht lichen Beschlusses zu dieser Verhaftung, sie könne aus eigener Macht— vollkommenheit dieselbe vornehmen. Angeblich wollte die Strafkammer nicht, wie dies nach den bestehenden Vorschriften hätte geschehen
müssen, ihren etwaigen Verhaftungsbeschluß einer Nachprüfung durch das zuständige Amtsgericht unterwerfen und sich möglicherweise
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von dem Amtsgericht rektiftzieren lassen. Das sind die Gründe, welche die Strafkammer nach den mir vorliegenden Berichten be⸗ stimmt haben, die Verhaftung abzulehnen. Daraufhin ordnete der amtierende Staatsanwalt selbst die Verhaftung der Leute an, und diese ist noch an demselben Tage von dem Amteögericht bestätigt
worden; die dagegen erhobenen Beschwerden sind zurückgewiesen. Es
hat mw eine · Rornitersucha nz startgefunden; diese führte zur Anklage wegen wissentlichen Meineids und zu der schäͤk von mir erwähnten viertägigen Schwurgerichtẽverhandlung.
Sch vill zunãchst henrertan, Ta3 Tarũtber fein Sirtit i, daß diese
schwargerichtliche Verhandlung eine durchaus objektive gewesen ist, daß insbesondere die Leitung der Verhandlung durch den Vorsitzenden eine geradezu mustergültige gewesen ist in ihrer Objektivität; von keiner Seite hat man dem Vorsitzenden auch den mindeften Vorwurf zu machen sich erkühnt, daß er irgendwie voreingenommen gewesen sei gegen die Angeklagten, und daß er zum Nachtheil eines der Angeklagten die Verhandlung geleitet habe. Auch bei der Bildung der Geschworenenbank ist durchaus loyal verfahren worden: die Staatsanwaltschaft hat von ihrem Ablehnungsrecht keinen Ge— brauch gemacht, während die Angeklagten ihr Ablehnungerecht, über dessen Ausübung sie sich vorher untereinander verftändigt hatten, voll⸗ ständig erschöpft haben. Die Geschworenen waren nicht etwa Groß— industrielle, sondern Kaufleute, Landwirthe, ein paar Unternehmer, ein Architekt u. s. w., aus der Umgegend von Essen, Leute, von denen in keiner Weise angenommen werden kann, daß sie eine prononcierte Stellung in dem großen Klassenkampf, der unser Volk bewegt, ein nehmen, — ein Klassenkam pf, der außerdem gerade in jener Gegend, in Essen, vermöge der glücklichen Arbeiterverhältnisse keineswegs in der Schärfe existiert, wie anderswo. Es ist der Vertbeidigung der weiteste Spielraum gelassen, es sind alle Zeugen vernommen worden, und schließlich haben die Angeklagten — ich glaube es wenigstens, gebe jedoch die Möglichkeit des Irrthums zu, — ausdrück— lich auf jede weitere Beweisaufnahme verzichtet. Der Staatsanwalt hat das Schuldig beantragt; nach kurzer Berathung haben die Ge— schworenen das Schuldig ausgesprochen, und es sind nun gegen diese Leute theilweise recht schwere Zuchthausstrafen verhängt worden. Eine Revision, die gegen das Urtheil eingelegt worden ist, hat keinen Er— folg gehabt, und die Leute verbüßen jetzt ihre Strafen in den be— treffenden Anstalten.
Das ist der Fall, von dem der Herr Abg. Stadthagen be— hauptet, daß er an Grauenhaftigkeit alles andere bisher bekannt Gewordene von richterlichen Falschsprüchen übertreffe. Ich frage, wie jemand den Muth haben kann, eine solche Behauptung aufzustellen gegenüber einem Urtheil, das nach eingehender gewissenhafter Prüfung, von Volksrichtern, die doch zu allererst das Vertrauen auf Unbefangenheit für sich in Anspruch nehmen können, unter voller Wahrung aller Rechte und Freiheiten der Vertheidigung erlassen ist? Dafür müssen denn doch recht strikte Beweise beigebracht werden, daß alle bei der Verhandlung und Entscheidung dieser Sache betheiligten Personen sich geirrt hätten. Ich halte es für außer— ordentlich bedenklich, auf Grund vager Zeitungsartikel, unbestimmter Besprechungen u. s. w, und ohne genaue Kenntniß des Thatbestands, der sich aus dem Gesammtinhalt der gerichtlichen Verhandlungen ergeben hat, ein absprechendes Urtheil über einen so zu stande gekommenen Richterspruch fällen zu wollen. Aber für Herrn Stadthagen und seine Freunde ist es ein Axiom: es ist hier einer der schwersten Justizmorde begangen, die jemals begangen worden sind. Sie stellen sich dabei auf den Standpunkt: eine solche Anklage, wie sie hier vorliege, sei überhaupt unmöglich. Wenn, wie hier, ver— schiedene Zeugengruppen in einer und derselben Sache sich wider sprächen, jede Gruppe auf ibrem Standpunkt steben bleibe und das, was sie ausgesagf, eidlich bekräftige — da könne man nicht ohne weiteres sagen: die Einen haben die Wabhrbeit gesagt und die Anderen einen Meineid geschworen. Die Berechtigung dieses Standpunktes erkenne ich im allgemeinen an. Ich gebe zu, daß in solchen Fällen mit sehr großer Sorgfalt geprüst werden muß, ob gegen die eine oder andere Seite mit der Anklage wegen Meineids vorgegangen werden kann oder nicht. Es müssen recht viele und überzeugende Momente vorhanden sein, wenn man gegen die eine Seite eine solche Anklage erheben will. Hier haben nach der Auffassung der Anklagebehörde, deren eingehende Begründung in den mir erstatteten Berichten ich nicht vor— tragen will, solche sebr stark sprechende Momente vorgelegen. Ich will nur beiläufig erwähnen, daß die Angeklagten selbst sich bei ibren verschiedenen Vernebmungen in eine ganze Reihe von Widersxzrüchen verwickelt haben, daß sie sich selbst in ihren Aussagen untreu geworden sind; daß ferner die Aussagen, wegen deren die Anklage auf Meineid erboben ist, bei der Strafkammer in Essen protokolliert und von ihnen ausdrücklich genebmigt worden sind, wobei sie ausdrücklich hingewiesen sind auf die Verantwortung, die sie damit äbernehmen.
Nun hat aber der Herr Abg. Stadthagen ein nach seiner Ansicht zwingendes Moment für Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens vorgeführt. — Er sagt: dieselbe Sache ist später bei der Straf⸗ kammer in Köln in einem anderen Beleidigungeprozeß noch einmal verhandelt worden, da hat eine große Beweisaufnahme mit denselben Beweismitteln stattgefunden, aber die Strafkammer zu Köln kam zu dem Ergebniß: es ist nicht zu beweisen, welcher von beiden Recht hat, ob der eine oder der andere. Ja, meine Herren, es ist richtig, daß sich an den Essener Prozeß eine game Reihe anderer Prozesse angeschlossen bat, die ganze sozialdemo— kratische Presse im Westen hat sich dieser Sache bemächtigt, sie agitatorisch ausgenutzt, und infolge dessen sind gegen verschiedene andere Blätter Anklagen wegen Beleidigung erhoben worden. Die selbe Sache, die also in Essen gegen den Redakteur Marggraf ver handelt war, wurde spater noch in Dortmund gegen den Redakteur Block und in Berlin gegen den Redakteur Dierl verhandelt. In beiden Fällen ist es zu einer Verurtheilung der Angeklagten gekommen; beide Strafkammern haben sich nach umfassender Beweisaufnahme der Beurtheilung der Sache, wie sie seitens des Schwurgerichts in Essen stattgefunden, vollständig angeschlossen.
In der Begründung des Berliner Urtheils heißt es in dieser Be— ziehung insbesondere:
daß die Beweisaufnahme nicht den geringsten Anhalt dafür gegeben hat, daß in der Baukauer Versammlung auch nur die leiseste Gesetz . widrigkeit seitens des Gendarmen vorgekommen sei“.
Bei der Begründung des Strafantrags vor der Strafkammer in Dortmund hat der Staatsanwalt gesagt, die Verhandlung habe geradezu eine glänzende Rechtfertigung des Essener Schwurgerichts er⸗ geben, und das Dortmunder Urtheil sagt:
Sieht man von dem Zeugniß des Münter gänzlich ab, so ist doch auf Grund der Aussagen von neun einwandsfreien Zeugen mit Sicherheit als wahr anzunehmen, daß Münter den Schröder nicht mit der Hand zu Boden gestoßen hat. — Insbesondere aber ist es nicht wahr, daß Münter den Schröder dadurch gemißhandelt hat, daß er ihn ergriff und mehrmals zu Boden stieß.
= Nimm lief Tie Sache weiter und es kam zur Strafverhandtung-—-
gegen den Redakteur Hofrichter in Köln. Diese Verhandlung hat stattgefunden am 18. Juni 1896. Da sind alle diese Zeugen wieder
vernommen worden, und die Sache hat auf das dort erkennende Ge ⸗= ö.
richt einen so verworrenen Eindruck gemacht, daß es zu einer positiven Ueberzeugung nicht gelangt ist. Er sagt in seinen Gründen, ein klares Bild lasse sich jetzt nicht mehr gewinnen, weil der nähere Hergang nach so langer Zeit den Zeugen nicht mehr sicher im Gedächtaiß sei, und wörtlich sagt es dann: h „Daß diese Widersprüche heute nach stark 18 Monaten — der Vorgang hatte stattgehabt am 9. Februar 1895 und die Ver⸗ handlung am 9. Juli 1896 — hervorgetreten, ist doppelt erklärlich: einerseits schon, weil vielfach mangelnde Gedächtnißstärke den Zeugen das ursprünglich dem Geiste eingeprägte Bild verwischt haben wird, und besonders, weil in dieser in der Presse und vor den Gerichten vielfach verhandelten Angelegen⸗ heit das ursprüngliche Bild durch Erzählungen und Besprechungen beeinflöͤßt sein und so Gehörtes und Wiedererzähltes sich unwill⸗ kürlich und unbemerkt mit dem Thatbestand des wirklich Beobachteten gemischt haben wird. Nach alledem hat der Ange⸗ klagte den Beweis der Wahrheit für die behaupteten Thatsachen nicht erbracht.“
Weil nun das Gericht in Köln sagt: jetzt nach 16 Monaten wissen die Zeugen nicht mehr mit Sicherheit auseinanderzuhalten in ihrem Gedächtniß, was sie selbst gesehen und gehört, und das, was irgendwie gesprächsweise, in Zeitungsartikeln oder Versammlungen ihnen suppeditiert worden ist; die Erinnerung ist abgeschwächt u. s. w., — weil also das Kölner Urtheil sich so ausspricht, deshalb soll nach den Ausführungen des Herrn Abg. Stadthagen das Schwurgerichts—⸗ urtheil in Essen, welches 10 Monate früher gefällt worden ist, wo die Zeugen noch die frische Erinnerung besaßen, ein „grauenhafter Justizmord' sein! Der Herr Abg. Stadthagen hat auch den Vor— wurf erhoben, daß nicht auf Grund dieses Kölner Urtheils nunmehr von Amtswegen die Staatsanwaltschaft das Wiederaufnahmeverfahren gegen die schwurgerichtliche Verurthei⸗ lung eingeleitet habe. Auch hier darf ich Sie, Juristen wie Laien in dem Hause, fragen, ist Ihnen eine solche Ausführung verständlich? Kann ein Urtheil, welches bei Prüfung der ihm 16 Monate nach dem Vorgange selbst vorgeführten Beweise lediglich zu einem negativen Ergebniß kommt, als eine neue Thatsache, wie sie die Strasprozeß⸗ ordnung zur Wiederaufnahme Les Verfahrens verlangt, angesehen werden?
Meine Herren, ich habe deshalb so weitläufig über diese Sache mich verbreitet, weil sie in weiten Kreisen ein großes Aufsehen erregt hat infolge der lebhaften Agitation, die von seiten der sozialdemokrati⸗ schen Presse in die Wege geleitet wurde. Es haben sich auch sehr angesehene, hochachtbare Männer dafür interessiert, und es hat ins—⸗ besondere die Gesellschaft für Ethik in Berlin eine Massenagitation ins Werk gesetzt, und mir eine Eingabe überreicht, die, mit vielen Tausenden von Unterschriften aus allen Kreisen der Gesellschaft be— deckt, den Antrag enthielt, daß entweder das Wiederaufnahmeverfahren, oder die Begnadigung des Verurtheilten seitens des Justiz⸗Ministeriums herbeigeführt werde. Ich zweifle nicht im geringsten, daß die Männer, von denen diese Petition ausgegangen ist, und die— jenigen, die ihre Unterschrift derselben geliehen haben, dabei von den edelsten Beweggründen geleitet worden sind. Aber, ich glaube, mit der Ehrenhaftigkeit ihrer Absichten steht ihre Kenntniß der sachlichen Verhältnisse, auf die es hier ankommt, nicht auf gleicher Höhe. (Sehr wahr Ich babe die Eingabe an den Ober-Staaté⸗ anwalt in Hamm abgegeben. Der Ober ⸗ Staatsanwalt in Hamm, der bei Einleitung des Verfahrens durchaus unbetheilizgt war — die Sache ist nur in der landgerichtlichen Instanz bearbeitet worden —, hat eine sehr eingehende und, wie er versichert und wie ich glaube sagen zu dürfen, auch glaubhaft versichert, durchaus vorurtheilsfreie Prüfung der Sache vorgenommen. Er ist selbst nach Essen gereist, um sich an Ort und Stelle zu informieren, er hat sich die Akten von allen Gerichten kommen lassen, die in der Sache thätig geworden sind, er hat das ganze Material eingehend durchstuziert und ist zu dem Resultat gekommen, daß der Vorwurf, der dem Schwurgericht in Essen gemacht werde, es habe hier aus Boreingenommenheit — ich glaube, darauf kommt es wohl schließlich hinaus — aus Parteibefangenheit ein ungerechtes Urtheil gefällt, daß dieser Vorwurf jeder Begründung entbehre. (Sehr richtig) Und, meine Herren, ich glaube, auch Sie werden bei objektiver Prüfung der Sache nicht dem Urtheil beitreten, welches der Herr Abg. Stadthagen gefällt hat.
Weiter in die Sache einzugehen, muß ich mir schon deshalb der— sagen, weil nach dem mir erstatteten Berichte ein Wiederaufnahme antrag seitens des Vertheidigers des Schröder und noch eines Verurtheilten eingereicht worden ist, der, soviel ich weiß, seine Er— ledigung noch nicht gefunden bat. Also in soweit ist die Sache noch in der Schwebe und deshalb kann ich mich selbst—« verständlich nicht in eine weitere Beurtheilung der Sache einlassen. Das über die zweite Sache. Wenn ich nun noch kurz eine dritte Sache erwähnen darf, so ist es die, die weniger der Herr Abg. Stadt hagen, als der Herr Abg. Liebknecht zum Gegenstand seines Angriffs gemacht bat. Das ist der vielberühmte alte Ziethen'sche Prozeß. Ich könnte hier verweisen auf das, was in der Sitzung vom 27. Ne— vember von einem Mitgliede dieses Haufes gesagt worden ist, daß es nicht möglich sei für eine parlamentarische Körperschaft, eine gericht liche Verhandlung nach so und so viel Jahren nachzuprüfen und sich darüber ein Urtheil zu bilden, ob die Entschei⸗ dung der berufenen Richter eine begründete war oder nicht. Es handelt sich hier um eine Sache, die 1884 vor dem Schwurgericht in Elberfeld verhandelt worden ist, eine Mordsache, eine sehr dunkle, verwickelte Sache. Auf Grund eines sehr künstlichen, aber schlien lich sehr schlüssigen Indizlenbeweises ist dort ein Barbier Zietben der Sr= mordung seiner Ehefrau schuldig erklärt, zum Tode verurtbeilt wer= den; er ist demnächst begnadigt worden zu lebentlänglicher Zuchtdaas= strafe und verbüßt diese Strafe seit jener Zeit in der Strafanstalt za Werden. Die Sache ist eine ganz außerordentlich verwickelte, auch sie
hat eine vollständige Literatur erhalten; eine Broschüre ist. glaude