1897 / 173 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 26 Jul 1897 18:00:01 GMT) scan diff

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Die Bedenken, welche gegen diesen Gesetzentwurf, der übrigens nur in einem Theil den Charakter einer Sondergesetzgebung trägt, erhoben worden sind, sind ja sehr zahlreich; ich will mir erlauben, davon nur drei ganz kurz zu berühren.

Man sagt zunächst, diese Art der Gesetzgebung sei reichs⸗ verfassungsmäßig nicht zulässig. Diesem Einwand gegenüber wird es, glaube ich, genügen, wenn ich auf den Wortlaut der Reichsverfassung hinweise und auf das Schlußprotokoll dazu aufmerksam mache, in dem hervorgehoben ist: so lange die Reichsgesetzgebung von ihrer Befugniß, auf den ihrer Zuständigkeit unter⸗ liegenden Gebieten gesetzgeberisch vorzugehen, keinen Gebrauch gemacht habe, seien die Landesregierungen vollständig in der Lage und in ihrem Recht, wenn sie ihrerseits gesetzgeberisch vorgingen. Ich glaube, daß die Frage nach dieser Richtung hin sich ohne allen Zweifel zu Gunsten der Staatsregierung lösen muß.

Man sagt ferner, meine Herren, man solle den Weg der Sonder⸗ gesetzgebung nicht betreten, weil er erbittere. Hier habe ich nun zunächst zu konstatieren, was ich ausdrücklich auch schon im Herren—⸗ hause hervorgehoben habe, daß die jetzt hier zur Berathung stehenden Bestimmungen in keiner Weise bezwecken, den berechtigten Be⸗ strebungen der Arbeiter auf Erzielung günstigerer Bedingungen und Besserung ihrer Verhältnisse in irgend einer Weise entgegenzutreten; dann aber, meine Herren, muß ich betonen, daß mir der Einwand, es könne eine Art von Erbitterung eintreten, auch aus folgender Er— wägung doch nicht stichhaltig zu sein scheint. Wer sich selbst durch seine Bestrebungen außerhalb der Staats⸗ und Gesellschaftsordnung stellt (sehr gut! rechts), kann sich doch nicht darüber wundern, daß der Staat und die Gesellschaft zu ihrer Vertheidigung außer⸗ gewöhnliche Mittel ergreifen. (Bravo! Sehr gut! rechts.)

Drittens, meine Herren, wendet man ein, es gehe doch wohl nicht an, daß ein einzelner Bundesstaat derartige Maßregeln zu seinem Schutz ergreife; es würde die Folge sein, daß die sozialdemokratische Bewegung aus dem einen Bundesstaat vielleicht in den anderen über⸗ tragen würde. Nun, meine Herren, abgesehen von dem Grundsatz, den ich doch immer festhalten möchte, daß jeder Staat zunächst sich selbst der nächste ist, und daß es den anderen Staaten eventuell ja auch überlassen bleiben könnte, auf dem Wege der Landesgesetzgebung so vorzugehen, wie sie es für erforderlich halten, muß ich doch hier ausdrücklich konstatieren, daß die Voraussetzungen, welche zu diesem Einwand geführt haben, thatsächlich unzutreffend sind. Es ist ja hier, ich möchte beinahe sagen, schon zum Ueberdruß hervorgehoben worden, daß wir durch dieses Gesetz gerade diejenigen Machtbefugnisse erstreben, welche andere Staaten theils auf dem Boden des gemeinen Rechts, theils auch sogar durch eine Ausnahme⸗ gesetzgebung bereits besitzen. In dieser letzteren Beziehung möchte ich nun darauf aufmerksam machen, daß alle diejenigen Staaten, in denen der bekannte Bundestagsbeschluß von 1854 noch Geltung hat, oder die ihn in ihre Gesetzgebung aufgenommen haben, ausdrücklich Sonder- bestimmungen von fast gleicher Fassung zur Verhinderung von Ver⸗ einen sozialistischer und kommunistischer Natur besitzen. Es wird also keineswegs dasjenige eintreten, was von den Herren, die diesen Einwand vertreten, behauptet wird, daß ein Abströmen von Sozialdemokraten in die anderen Bundesstaaten stattfände, sondern es wird eben nur für Preußen diejenige Lücke ausgefüllt, welche wir mit großem Bedauern schon seit langen Jahren haben konstatieren müssen. (Sehr richtig! rechts.) Ich möchte Ihnen zum Beweise dessen nur von einem praktischen Falle Kenntniß geben, der sich vor einiger Zeit ereignet hat. Es bestanden in Hamburg 2 anarchistische Vereine, die seitens der Ham- burger Behörden einfach aufgehoben wurden, weil sie nach dortiger Auffassung gegen die Sicherheit des Staates verfließen. Diese beiden Vereine hatten nichts Eiligeres zu thun, als sich sofort in Altona wieder zu begründen (Hört, hört! rechts. Lachen links), und sie würden wahrscheinlich noch jetzt bestehen, weil die preußischen Machtmittel gegen diese Vereine nicht ausreichten, wenn nicht ein zu⸗ fälliger Umstand hinzugetreten wäre, der dazu geführt hat, daß wenigftens einer dieser Vereine sich selbst wieder auflöste. Also, meine Herren, ich meine, daß auch dieser Einwand keineswegs stichhaltig ist.

Ich wiederhole, meine Herren, die Königliche Staatsregierung hätte es gern gesehen, wenn wir auf dem Boden des gemeinen Rechts geblieben wären. Sie kann aber die Bedenken, die sich gegen die jetzige Fassung erheben, nicht für ausschlaggebend halten, und sie bittet daher dringend, meine Herren, die Hand der Verständigung, die seitens des Herrenhauses diesem hohen Hause dargereicht ist, (Lachen links) zu ergreifen. (Bravo! rechts.)

Meine Herren, es handelt sich hier keineswegs, wie in der Presse mit Emphase hervorgehoben wird, um Aeußerungen der schwarzen Reaktion es liegt der Staatsregierung vollständig fern, die legitime Ausübung des Vereins, und Versammlungsrechts irgendwie antasten zu wollen es handelt sich hier lediglich um Akte des gesunden Menschenverstands lsehr richtig! rechts; sehr richtig! links), welcher ganz gebieterisch fordert, einem unversöhnlichen Feinde, der im Begriff steht, die ländliche Bevölkerung und unser Herr zu infizieren und zu vergiften, so bald und so kräftig wie möglich zu Leibe zu gehen. (Lebhaftes Bravo rechts.)

Meine Herren, was sind diesen eminent praktischen Erwägungen gegenüber die mühsam herbeigetragenen und herbeigezogenen Ein—⸗ wendungen. (Sehr richtig! rechts) Die Besorgniß des Mißbrauchs durch untergeordnete Polizeibeamte, die Möglichkeit der Anwendung dieses Gesetzes auf die Parteien, für die es nicht berechnet ist, eine Be— sorgniß, die durch die jetzige Fassung ja vollends ausgeschlossen ist, der theoretische Streit, ob Reichs,, ob Landesrecht, die Furcht, man könne einen Fehlgriff thun, weil man mit diesem Gesetze nicht gleichzeitig die Presse träfe? Was können, meine Herren, diese Erwägungen be— deuten gegenüber dem vorher von mir so scharf betonten dringenden Bedürfniß?

Meine Herren, Sie sollten doch der Königlichen Staatsregierung dafür danken (Lachen links und im Zentrum; Bravo! rechts), daß sie den Finger in die Wunde gelegt hat, und Sie sollten, anstatt die Königliche Staatsregierung zu bekämpfen, sich an ihre Seite stellen. Helfen Sie uns, meine Herren, die Krankheit zu heilen, die an dem Herzen unseres Volkes frißt, unterdrücken Sie Ihre Be⸗ denken und stimmen Sie der Fassung des Herrenhauses zu; Sie werden dadurch sich nicht nur den Dank des Volkes verdienen (Lachen links; sehr richtig! rechts,, sondern, meine Herren, Sie werden künftig auch sagen: die Königliche Staatsregierung hat ganz recht daran gethan, daß sie trotz der geschäftlichen Schwierigkeiten durch ihre Beharrlichkeit uns genöthigt hat, zu diesem Gesetzentwurf noch einmal definitive Stellung zu nehmen. (Lebhafter Beifall

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rechts; lebhaftes Zischen linkz. Wiederholtes, andauerndes Bravo und Zischen.)

Abg. Habrecht (ul.): Ich hätte mich auf eine kurze Erklärung über unsere Abstimmung beschränkt, aber nach diesen Ausführungen des Ministers muß ich unsere Haltung motivieren. Die Fassung des

4 ist uns nicht neu, sondern entspricht mit einer unwesent

ichen Modifikation den freikonservativen Anträgen, mit denen sich dieses Haus beschäftigt hat und die wir ebenso wie die korrespondierende ursprüngliche Regierun gs vorlage abgelehnt haben. Leider hat sich weder die Regierung noch die Majorität des Herrenhauses mit den von uns vor⸗ geführten Gründen beschäftigt. Dagegen hat es nicht an Ver⸗ suchen gefehlt, unsere Haltung 9 Motive zurückzuführen, die wenigstens nicht sehr schmeichelhaft sind. Wir verschlössen unsere Augen dem Ernst der Gefahr! Gegen das Vorgehen der Regierung sei eine künstliche Erregung in Scene gesetzt worden, und wir ließen uns durch diese bestimmen u. s. w. Es ist nicht nöthig nachzuweisen, daß unsere Partei die ernste Gefahr der sozialdemokratischen Agitation nicht immer anerkannt hätte. Daß diese Gefahr in den letzten Jahren schlimmer geworden und neuerdings eine so akute gewsrden wäre und eine Gestalt angenommen hätte, die zwänge, ohne jeden Auf⸗ enthalt mit Gewaltmaßregeln dagegen vorzugehen, das scheint mir nicht richtig. Ebenso wenig ist etwas bekannt geworden von einer künstlichen Agitation gegen das lefg. Vorgehen der Regierung, während ich wenigstens den Eindruck habe, daß die Aufregung über das plötzliche Ueberwuchern einer Gefahr, der man Hals über Kopf nicht schnell genug entgegentreten könnte, um die Gesellschaft zu retten, künstlich sei. Aber es kommt darauf nicht an, ebenso wenig auf die Frage, ob das Vorgehen der Regierung genau der Zusage entspricht, die im Reichstage gegeben wurde; für unsere Abstimmung sind diese Er⸗ wägungen nicht entscheidend. Wir haben uns gegen Artikel 1 und I der Vorlage ablehnend verhalten, weil das darin gegebene Mittel gegen die wirkliche Gefahr ganz nutzlos ist. Wenn darin eine wirkliche Hilfe läge, könnte man vielleicht das Bedenken, daß ein Mißbrauch mit dem Gesetz stattfinden könne, fallen lassen, aber diese Voraus⸗ setzung trifft nicht zu. Ich kann nur bedauern, daß diese Gründe, die von allen Rednern hier höchst maßvoll, sachlich und ohne alle Leiden schaft vorgetragen sind, nicht die verdiente Würdigung gefunden haben. Den Artikel , wonach die die Sicherheit des Staats und die öffent⸗ liche Ordnung gefährdenden Bersammlungen aufgelöst werden können, haben wir abgelehnt, weil die Entscheidung über die Frage, was denn unter den die Sicherheit des Staats gefährdenden Bestrebungen zu verstehen sei, in die Hände unter⸗ geordneter Polizeiorgane gelegt wird, ohne daß das Gesetz ihnen auch nur den lelseften Anhalt für ihre Entscheidung giebt. Wir haben das abgelehnt, weil die Auflösung von Versammlungen, welche ja sonst aus anderen Gründen nothwendig sein kann, als Mittel zur Erhaltung des öffentlichen Friedens und zur Sicherheit des Staats anz ungeeignet ist. In dieser Hinsicht ist die Auflösung von ersammlungen so zwecklos, daß ich ost die Aeußerung gehört habe, daß die Beamten eine Versammlung nicht eher auflösen dürften, als bis die Personen festgestellt seien, die dazu Veranlassung gegeben hätten. Den Artikel III, bezüglich der Schließung von Vereinen, haben wir aus denselben Gründen abgelehnt, weil die Fassung so all⸗ emein war und der Bestimmungen entbehrte, durch welche die reine illkür ausgeschlossen würde. Die Klage bei dem Ober⸗Verwaltungs⸗ gericht kann dagegen nicht helfen. Denn um einen Mißgriff der Polizeibehörde zu korrigieren, 6 das Ober Verwaltungsgericht sich zu einer politischen Gesinnungsinstanz umwandeln, und das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte. Wir haben den Artikel ferner abgelehnt, weil gerade gegen wahrhaft gefährliche Verbindungen das Vereinspverbot ganz unwirksam ist. Einen Theil unserer Ein wendungen wollten die freikonservativen Anträge beseitigen, indem sie die Sache ausschließlich auf anarchistische und sozialdemokratische Be⸗ strebungen beschränkten. Ich gestehe, daß, wenn ich wählen müßte zwischen beiden Fassungen, ich persönlich der ursprünglichen Regierungsvorlage den Vorzug geben müßte, weil, wenn den in einer die Sicherheit des Staats gefährdenden Weise auf den Umsturz gerichteten Be⸗ strebungen entgegengetreten werden soll, der Staat sie mit den ihm zu Gebote stebenden Mitteln betämpfen muß, gleichviel von wem sie kommen, gleichviel, ob von der sozialdemokratischen Partei oder von sozialistischer Seite, und ich könnte noch andere nennen! Wir wollen doch nicht ein Umsturzmonopol etablieren und bloß gegen die Sozialdemokratie einschreiten. In dieser Beziehung muß ich Herrn Stöcker vollkommen Recht geben, der neulich ausführte, daß ein Kampf, der bloß gegen die Sozialdemokratie und nicht auch gegen die anderen Strömungen gerichtet werde, aussichtslos sei. Sei dem, wie ihm wolle, ich mache darauf aufmerksam, daß auch in diesem Falle meine Partei sich durch rein praktische Erwägungen hat leiten lassen. Der freikonservative Antrag wurde von uns abgelehnt, weil die Fassung eine so unbestimmte ist, daß fur das behördliche Einschreiten ein sicheres Merkmal absolut nicht gegeben ist, und weil gerade in der Beschränkung auf die Anarchisten und Sozialdemokraten die Unwirksamkeit eines Landesgesetzes und die Un— wirksamkeit eines auf das Versammlungs⸗ und Vereinswesen be⸗ schränkten Gesetzes besonders klar zu tage tritt. Namentlich möchte ich darauf aufmerksam machen, daß die Verhetzung der Arbeiter gegen ihre Arbeitgeber, die Aufreizung zu Strikes, die Verführung und Bedrohung von Arbeitswilligen durch dieses Gesetz absolut nicht berührt und nicht getroffen werden. Sie sind auch sogar durch das viel weiter gehende Ausnahmegesetz, das wir im Reiche hatten, nicht getroffen worden. Diese Seite des Uebels war vorhanden vor dem Ausnahmegesetz, unter ihm und nach ibm. Allerdings ist einmal unter dem Sozialistengesetz durch ein Ministerialrefkript ein Maurerstrike heseitigt worden. Aber dieses Reskript und sein Erfolg hängt mit diesem Gesetz und dem damaligen Ausnahmegesetz nicht jzusammen. Im Gegentheil, ich glaube, daß man aus diesem Beispiel herleiten, könnte, daß eine geschickte und energische Handhabung der gegebenen Mittel schon jetzt vielen Uebeln vorbeugen kann. Diese Mittel nützen nichts, sondern sie verbittern; das sind alles praktische Erwägungen. Rach meiner versönlichen Meinung werden die aus dem Vereins. und Versammlungsrecht drohenden Gefahren ganz ungeheuer überschätzt. Die praktischen Eng⸗ länder hüten sich, dieses Vergnügen irgendwie besonders zu beschränken. Ich meine, daß die dem Staat und der Gesellschaftsordnung nütz⸗ lichen Bestrebungen nur in der Freiheit bestehen, gedeihen und sich entwickeln konnen, und daß sie dem Staat ufer ersetzen, was er etwa an polizeilichen Machtmitteln aufbieten kann. Bei aller Anerkennung des Ernstes der Aufgabe haben wir uns aus rein praktischen Gründen ablehnend verhalten, und bei der vollen Uebereinstimmung der Herrenhausbeschlüsse mit dem, was wir schon abgelehnt haben, kann auch jetzt unsere Haltung keine zweifelhafte sein. Wir würden heute das Gesetz in derselben Form annehmen wie früher, wir halten heute wie damals das, was wir hineingebracht haben, für vernünftig und richtig. Da wir aber gegen das Gesetz im Ganzen stimmen müssen, so wäre es ungerechtfertigt, wenn wir einzelne Theile davon doch annehmen wollten; wir können in der jetzigen Lage dem anderen Hause nicht mehr zumuthen, zum zweiten Male über diese Frage zu diskutierrn. Deshalb kann unsere Haltung nur die sein, daß wir gegen die einzelnen Bestimmungen stimmen und gegen * ganze Gesetz. Wir stimmen ebenso, wie wir bis jetzt gestimmt aben.

Abg. Graf zu Limburg ⸗Stir um (kons.): Wir haben bei der früheren Berathung für ein sachlich und nicht annehmbar erscheinendes Gesetz gestimmt, um die Berathung im Herrenhause zu ermöglichen. Diese Berathung hat stattgefunden. Die Beschlüsse des Herrenhauses stellen das Minimum dessen dar, was man annebmen muß, wenn man überhaupt vorgehen will. Wir werden für Artikel J stimmen, wenn dieser abgelehnt werden sollte, gegen die übrigen Artikel und schließlich gegen das ganze Gesetz. Ich will meine Be e g über die Rede des Ministers ausdrücken. Wir hören zum ersten? 2 wieder eine so entschiedene und bestimmte Sprache vom Miniftertisch, und diese Sprache muß Befriedigung im Volke hervorrufen. weil die gut gesinnten Elemente daraus sehen, daß sie auf die Unternützung der Regierung zu rechnen haben, daß der Kampf gegen die Umsturzbewegung mit Gnergie ge⸗

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maßregeln nöthigten, mehr bevorständen, so täuscht er sich. 2 und Anreizen werden die Gemüther vorberei gewa i

ätigen Aktion, die später kommt, wenn des Staats nicht mehr ausreichen. Daraus den Sch 663 nichts thun solle, ist

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Preßkoterie hat in ihrer Wirkung aufgehört, und es kommt jetzt die Wirksamkeit derjenigen Elemente, welche durch dieses Gesetz geschützt werden sollen. Ich kann deshalb nur schließen mit der Bitte an die Regierung, wenn das heutige Ergebniß ein negatives sein sollte, damit die Sache nicht als abgemacht zu betrachten, sondern auf dem Wege fortzuschreiten, den sie in sehr erfreulicher Weise betreten hat.

Abg Lieber (Zentr.): Ich glaube, daß die Regierung sowobl wie die Parteien, welche für die Vorlage eintreten, sich des Ernstes der Lage voll bewußt sind. Daß das Zentrum sich auch gegenüber diesen Beschlüssen des Herrenhauses ablehnend verhalten werde, darüber war ja wohl innerhalb und außerhalb des Hauses kein Zweifel. Das Gewicht der Gründe, welche uns zu unserer ablehnenden Haltung nöthigen, liegt nicht bloß darin, daß wir befürchten, daß das Gese auch einmal gegen uns angewendet werden könnte. Es handelt i. nicht um uns allein, sondern das Gesetz übergiebt uns und jede andere Partei der Willkür der überwachenden Polizeiorgane. Es ist nicht nöthig, daß die Veranstalter der Versammlungen und die Gründer der Vereine, die Redner der Vereine und Versamm⸗ lungen anarchistischen Tendenzen huldigen, sondern wenn solche Be—⸗ strebungen in solchen Vereinen und Versammlungen zu Tage treten, dann erfolgt die Auflösung. Es wird nicht immer geschehen, aber nach dem, was wir an Gesetzesauslegungen erlebt haben, wird kein Mensch bestreiten, daß untergeordnete Polizeiorgane Willkür ausüben können, namentlich in aufgeregten Zeiten und zur Zeit der Wahlen. Es fehlt den Beschlüssen des Herrenhauses an seder juristischen Konsistenz. Die Befriedigung des Grafen Limburg über die Rede des Ministers des Innern kann ich nicht theilen, ich kann diese Be—⸗ friedigung nicht einmal begreifen nach der Höhe der Ansprüche, die Graf Limburg ⸗Stirum sonst an parlamentarische Leistungen stellt. Der Minister bat so überraschende Dinge vorgetragen, daß man unmöglich darüber mit Stillschweigen binweggehen kann. Er meinte, daß ein großer Theil der Beoslkerung sich zurückziehen werde von der anarchistischen und sozialdemokratischen Bewegung, sobald der Staatsanwalt mit Ernst einschreiten würde. Er hat sich auf die Wirkung des Reichs. Sozialistengesetzes berufen. Ich weiß nicht, wo der Minister damals seine Thätigkeit ausübte. Wir, die wir die Wirkung des Gesetzes erlebt haben, sind überzeugt, daß nichts größere Mengen der Bevölkerung in das Lager der Sozial. demokratie getrieben hat, als die Handhabung dieses Gesetzes. Deshalb hat man das Gesetz nicht erneueit, nachdem die Parteien und die Regierung sich überzeugt hatten, daß das Gesetz das Gegentheil des Henle ften herbeigeführt hatte. Die Regierung kann nicht scharf genug die Gefahr der sozialistischen Be⸗ wegung darstellen, sie sucht nach Mitteln zur Bekämpfung, aber sie schwankt darin, denn nachdem sie ihre Vorlage gemacht hat, ist sie durch die weisen Belehrungen des Herrenhauses zu der Ueberzeugung gekommen, daß es auch so geht. ie weit sind wir doch abgewichen von dem Standpunkt der Regierung von 1864, deren Vertreter da—⸗ mals sagte: Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo. Fürst Bismarck erklärte, Lassalle wäre ihm ein lieber Gutsnachbar; und heute Furcht und Zittern auf der ganzen Ministerbank! Das Land und auch unsere herrliche Armee soll einen solchen Schutz verlangen! Früher hieß es: ein Staat, der 2 Millisnen Bajonette hat, braucht die soziale Frage nicht zu fürchten; jetzt sind die 2 Millionen Bajonette bedroht. Wenn das Jemand von den Freisinnigen oder Nationalliberalen ausgesprochen hätte, man hätte ihn von der Ministerbank als „vaterlandslosen Gesellen“ bezeichnet. Wir haben diese Furcht nicht. Wird dieses Gesetz die Gefahr von der Armee fernhalten? Bietet dieses Gesetz eine Waffe gegen die Verbreitung von Flugschriften oder gegen die Korrumpierung unserer Rekruten und Reservisten? Die anarchistischen und sozialdemokratischen Werber suchen die Arbeiter dort auf, wo niemand sie stören kann, man müßte denn an die Seite jedes Arbeiters einen Schutzmann stellen. Wenn die Armee gefährdet ift, dann ist es doch nicht bloß die preußische Armee. Keine Aussichtslosigkeit hätte die Regierung abhalten dürfen, die Sicherung des Heeres im Reiche zu suchen. Offenes Auge und offe s Ohr werden jeden Zweifel darüber benehmen, daß die sozialdemokratische Gefahr eine imminente und eminente Gefahr für unseren Staat ist, aber ehrliche Gesinnung wird die Ueberzeugung gewinnen, daß auf diesem 9 eine Abwehr nicht gefunden werden kann. Der Schwer punkt der Bekämpfung der Sozialdemokratie liegt, wie der Minister selbst anerkannt hat, auf dem religiösen und sozialen Gebiete. Was thut die Regierung auf sozialem Gebiete? Waß ihut man auf dem religiösen Gebiet? Man klammert sich an die Handhaben eines rückstãndigen Staats kirchenthums, um die Kirche zu knebeln und zu knechten Das Reich hat Stellung genommen zur Frage des Vereinsrechts. Es ist geschehen durch die Finführung des Sogalistengesetzes, aber auch durch die Aufhebung desselben, wodurch bekundet 1 daß das Reich eine Ausnahmegesetzgebung nicht für zulässig hält. Wir sind durchaus bereit, der Königlichen Staatsregierung ju helfen, die Krankheit zu heilen, welche auch nach unserer Meinung an dem Herze des Volkeö nagt. Aber wir sind nicht der Meinung, daß diese Vorlage die Krankbeit heilt, sondern nur, daß sie die Krankheit zurůũd⸗ treibt in den Körper des Volks und edlere Organe gefährdet. Wir sind bereit zu helfen auf dem religiösen und sozialen Gebiet durch eine zielbewußte fröhliche Förderung der . Reform. Die Be⸗ schlüsse des Herrenhauses richten sich auch gegen die polnische tation. Die Polen haben stets erklärt, daß sie keine Losr Prerßen wollen. Daß die Polen nicht Deutsche werden wo man ihnen hingehen lassen. Aber Preußen in seinem Bestande ge

sabden wollen sie nicht. Wir müssen es daher ablehnen, der Staats- terung auf diesem . der Polenbekãmpfung zu folgen. reg Abg. Freiherr von Zedliß (fr, kons. ): Ob die grohpolnische

Bewegung gefährlich ist oder nicht, darüber werden wir uns mit dem Abg. Jieber schwerlich verständigen. Wir sind der Ueberzeugung, daß diese BDewegung mit allen Mäteln bekämpft werden muß. Es ist nicht

zichtig. daß das Heer bereits zum theil der Sozigldemokratig verfallen . Es handelt sich darum, es vor dieser Gefahr zu bewahren; noch ist es intakt. Das ist heut nicht zum ersten Male gesagt worden, sondern bei der Umsturzworlage 1895 ist im Reichstage die Frage besonders be⸗ tont worden. Die vorgeschlagenen Mittel sollen nicht ausreichen. Aber wenn man nicht alle Quellen der Verführung verstopfen kann, dann soll man doch die verstopfen, bei denen es möglich ist. Wenn ine Gefahr vorbanden ist, so ist sie für das Reich vorhanden, die verbündeten Regierungen mußten also an den Reichstag gehen. Man hat den Versuch gemacht, aber ohne Erfolg. Von einer rück⸗= säufigen Sozialpolitik ist keine Rede. Die sozialpolitischen Maß regeln müssen sich erst einleben. Aber es sind andere soziale Auf gaben dringender, die Mittelstandspolitik ist dringender als die Für⸗ sorge für die Arbeiter. Daß die Vorlage gegen das Zentrum angewendet werden könnte, ist, durchaus nicht. zu befürchten. Anarchistische und sozialdemokratische, die Sicherheit des Staats efährdende Bestrebungen wird niemand dem Zentrum vorwerfen. urch das Eindringen eee , Elemente in die Wahlversamm⸗ lungen können heute schon Wahlversammlungen gestört werden. Das find alles nur Schreckbilder, an die Wand gemalt, um die Gründe für die Vorlage nicht voll zur Geltung kommen zu lassen. Daß die Hauptgefahr nicht in den Vereinen und Versammlungen läge, ist nicht richtig, soweit die ländliche Bevölkerung in Betracht kommt. Die Versammlunzen sind hier der Hauptansteckungsherd, nicht, wie in den Industriebezirken, die Werkstätte. Die Gründe, welche eine oße Menge der Arbeiter zu den Sozialdemokraten gezogen aben, sind sehr materieller Natur, es sind die Herrschaftsgeluͤste des Proletariatßz. Unter dem Eindruck des Fallenlassens des Sozialistengesetzes, unter der Anerkennung der Partei als einer staatlich berechtigten hat sich die Zahl der Sozialdemokraten am allerstärksten vermehrt. Alle Erwartungen von einer Umbildung der Sozialdemokratie zu einer radikalen Reformpartei u. s. w. haben sich nicht erfüllt. Wie weit man dabei geht, das zeigt der Ausspruch eines Mannes, der nach Berlin berufen ist, der seine Meinung pon der Sozialdemokratie dahin zusammenfaßte: Die Sozial⸗ demokratie wird an ihrer eigenen Langweiligkeit zu Grunde gehen. Die Sozialdemokratie muß wieder als eine Umsturzpartei charakterisiert werden, der ein guter Preuße, ein guter Deutscher nicht angehören kann. Die Leute müssen gemahnt werden in ihrem Gewissen, abzulassen von dieser unpatriotischen Partei; sie müssen aus dem Schlaf wachgerufen werden zu energischer, abwehrender Thätigkeit. Es muß gezeigt werden, daß die Sozialdemokratie die Gefahr ist. Hic niger est, hung tu Germane caveto! Der Staat ist es sich selbst schuldig, die Umsturz— bewegung in seiner Gesetzgebung zu brandmarken. Wenn die Vorlage jetzt abgelehnt wird, dann sollte die Regierung von dem schlecht unter- . Landtag an den besser zu unterrichtenden appellieren. Also auf Wiedersehen bei den nächsten Wahlen!

Abg. Rickert (fr. Vgg): Aufklärung ist nicht mehr nöthig; auch im Lande ist man aufgeklaͤrt. Graf Limburg⸗Stirum behauptet, daß die Mehrheit des Volkes hinter ihm stände. Bei den Reichstags wahlen haben die konservativen Parteien noch nicht einmal 1 Millionen Stimmen von den 7 Millionen. Ich kann Sie nur bitten, die Vor⸗ lage abzulehnen, was ja eigentlich ganz selbstverständlich ist.

, . des Staats⸗Ministeriums, Finanz⸗Minister Dr. von Miquel:

Meine Herren! Ich bin nach meiner parlamentarischen Er— fahrung voll überzeugt, daß meine Worte von irgend welcher Ein— wirkung auf die Abstimmung dieses hohen Hauses jetzt nicht sein werden. Denn es sind alle Herren Abgeordneten mit festen Meinungen und Absichten hergekommen; die Reden, so schön sie zum theil waren, der verschiedenen Parteiführer haben Neues zu den bisherigen Verhand⸗ lungen eigentlich kaum hinzugefügt. Ich würde vielleicht doch noch einige Hoffnung haben, wenn ich nicht noch einen Gegner hätte, der er⸗

fahrungsmäßig unüberwindlich ist, nämlich die Stellungnahme der Fraktionen. (Sehr richtig! rechts.) Die Seele des einzelnen Menschen kann man vielleicht rühren, eine Fraktion, meine Herren, nicht. (Sehr richtig! rechts) Ich gehe also auf die Gründe für und wider, namentlich da der Herr Minister des Innern diese Frage ja ganz eingehend und ausführlich dargelegt hat und von verschiedenen Rednern darin unterstützt ist, nicht ein. Ich will mich bloß bemühen, weil ich das im staatlichen Interesse halte, Mißdeutungen und Befürchtungen, welche weniger hier im Hause, aber vielfach in der Presse an das Vorgehen der Staatsregierung und an die Vorlage selbst geknüpft sind, zu wider⸗ legen und zu zerstreuen.

Meine Herren, man hat in der letzten Zeit vielfach die Be—⸗ hauptung gehört, diese Vorlage bewiese, daß die politische Stellung der Staatsregierung sich vollständig verändert habe, und daß dies nur der erste Anfang einer Reaktion sei; einer reaktionären Politik ein Wort, dessen Sinn man heute kaum sich zergliedern kann —, einer Be⸗ drohung der bürgerlichen Freiheit und der verfassungsmäßigen Rechte des Volkes, der Einführung einer Junkerherrfchaft, und was der— gleichen Schlagworte mehr sind.

Meine Herren, ich glaube kaum, daß hier in diesem hohen Hause derartige Befürchtungen in beachtenswerther Weise getheilt werden. Die Herren wissen ja alle, in welcher Veranlassung dieses Gesetz vorgelegt ist: um ein Versprechen, welches im Reichstage gegeben war, zu erfüllen. Sie wissen, daß wir in dieser Vorlage kaum so viel fordern, wie die meisten deutschen Staaten bereits besitzen. (Sehr richtig! rechts) Sie wissen, daß diese Gesetzgebung namentlich auch in den sogenannten liberalen kleinen süddeutschen Staaten in voller Kraft besteht, daß sie dort zum theil eingeführt ist von liberalen Ministern und von der nationalliberalen Partei in jenen Ländern unterstüätzt ist. (Hört! hört! rechts.) Ich führe das nicht an, um Rekriminationen zu machen, wenn ich sage, ich verzichte darauf, in diesem Punkt noch irgend jemand zu über · zeugen; ich führe es nur an, um darzulegen, wie übertrieben diese Behauptungen sind, die in der Presse aufgetaucht sind, um daran die Versicherung zu knüpfen, daß die allgemeine Stellung und die allgemeine politische Auffassung der Staatsregierung, die Stellung zu den Parteien und zu den verschiedenen Bestrebungen im Lande, durch diese Vorlage in keiner Weise alteriert wird.

Meine Herren, wir haben auch gar keine Veranlassung, eine anderweitige Stellung einzunehmen. Die Regierung des Königs ist keine Regierung, die sich ins Schlevptau von irgend einer Fraktion oder einer einseitigen politischen Auffassung nehmen läßt; sie wird selbst wisen, was sie will, und sie wird auch nicht scheuen, bei Ge—= legenheit sich in einer bestimmten Weise zu erklären. Natürlich sind diejenigen politischen Elemente ihr am liebsten, welche der Auffassung

er Regierung am nächsten stehen, und die sie am entschiedensten unter · stͤtzn. Im übrigen wird die Regierung sich lediglich leiten lassen von den großen allgemeinen Interessen des Staates.

Meine Herren, ich glaube, daß eine gewisse politische Erregung, die sich allerdings im Lande kundgiebt, viel weniger auf dem eigentlich politischen Gebiete liege, als auf dem wirthschaftlichen. Diese ver schiedenen Interessenkãmpfe auf dem wirthschaftlichen Gebiete werfen ja natürlich auch ihre Schatten auf die politische Auffassung der Be⸗ theiligten, und zwar bei uns besonders. Wer unser Volks und politisches Leben beachtet hat seit langen Jahren, wie ich, weiß ganz genau, wie sehr politische Stellungen und wirthschaftliche Auffassungen in den einzelnen Fragen in Deutschland zusammengeworfen werden. Ich kann mich noch genau erinnern, daß beispielsweise, als Fürst Bismarck den großen Umschwung in unserer Wirthschaftspolitik durch eine Rückkehr zu einem gemäßigten Zollschutzsystem machte, wir, die wir ihn unterstützten, selbst von unseren früheren Kollegen sofort als reaktionäre Masse bezeichnet wurden, mit der eigentlich garnicht mehr zu verkehren sei; Freihandel war gleichbedeutend mit freier Ge⸗ sinnung auf politischem Gebiet; heute kommt es ja fast dahin, daß diejenigen, welche sich als Vertreter der Goldwährung darstellen, sich einbilden, infolge dessen auch politisch frei gesinnt zu sein, und diejenigen, die eine Neigung zum Bimetallismus ver⸗ rathen, sofort in die reaktionäre Masse geworfen werden. (Heiterkeit. ) Aber, meine Herren, man soll doch nicht verkennen, daß wir auch auf diesem Gebiete in Deutschland Erfahrungen gemacht haben; wir sehen das ja schon an den abweichenden Meinungen in Bezug auf dieses Gesetz, die heute in industriellen Kreisen hervortreten. Das Bewußt⸗ sein der Gemeinsamkeit aller arbeitenden und werbenden Klassen in Deutschland ist doch gegen früher stark gewachsen, und es wird viel schwerer werden, die verschiedenen Berufs zweige gegen einander auszu—⸗ spielen, als das früher der Fall war. Ich hoffe wenigstens, daß diese wirthschaftlichen Gegensätze doch schließlich in einem großen Kompromiß solcher Berufs zweige enden werden, mit denen die Staatsregierung in der wirthschaftlichen Frage, in der Zollpolitik zusammengehen kann, und ich hoffe, daß frühzeitig genug in dieser Beziehung eine Verständigung kommt, welche von der Reichsregierung acceptiert werden kann. (Bravo!) Dazu aber wird es allerdings erforderlich sein, daß auch die Regierungen, wie ich hoffe, demnächst, wenn die Zeit gekommen ist, ihrerseits eine feste Stellung zu diesen Fragen einnehmen. (Sehr richtig) Ich hoffe, daß das auch zur wpolitischen Beruhigung beitragen wird, und daß jedenfalls diejenigen, welche geneigt sind, eine solche Mittellinie mit der Regierung zu vertreten, erfreut sein werden, wenn sie genau wissen, was die leitende Reichsregierung will. (Lebhafte Zwischenrufe links. Sehr wahr! rechts.) Ich sage: leitende Regierung, mit Bedacht; nach der Lage Preußens und ganz Deutschlands kann die Wirthschaftepolitik nur, wie ich schon andeutete, auf der Basis einer gegenseitige Ver ständigung der Interessen liegen; keiner wird vielleicht das Ganze erreichen, da, wo große Interessengegensätze wirklich vorhanden sind, aber alle werden soviel erreichen, als sie nach den Gesammtverhält⸗ nissen in Deutschland überhaupt erreichen können. (Heiterkeits links.)

Meine Herren, ich habe diese Bemerkungen absichtlich

gemacht, um darauf hinzuweisen, daß die Frage, um die hier gestritten wird, keineswegs eine solche ist, welche naturgemäß auf die Dauer die staatserhaltenden Elemente trennen müßte. Die nationalliberale Partei hat ja grundsätzlich das Recht und in manchen Fällen auch die Pflicht des Staats, revo⸗ lutionäre Bestrebungen abzuweisen und niederzuhalten, nicht bestritten; sie hat sogar die Revisionsbedürftigkeit unseres Vereinsgesetzes aus⸗ drücklich anerkannt, indem sie einen Theil der Vorlage, und zwar einen durchaus nicht unwichtigen Theil, welcher sich auf die Minder jährigen bezieht, ihrerseits aeceptiert hat. Man kann daher wohl hoffen, daß, namentlich wenn weitere Erfahrungen in dieser Beziehung klärend wirken, man demnächst doch auf der wesentlichen Grundlage des Gesetzes sich verständigen kann.

Noch weniger ist die andere Befürchtung, die ich namentlich von einem Redner von jener Seite im Hause (zum Zentrum) gehört habe, berechtigt, wie das der Herr Minister des Innern auch bereits aus— geführt hat, als wenn die Staatsregierung nunmehr lediglich durch Polizeigewalt, durch unterdrückende und hindernde Maßregeln die große soziale Frage zu lösen gedächte, sie gewissermaßen, statt sie all⸗ mählich ihrer Lösung zuzuführen, einfach unter dem Schild der Polizeigewalt erdrücken wollte. Eine solche Befürchtung ist eigentlich widersinnig; sie widerspricht der Natur des Staats überhaupt und vor allem der Natur des preußischen Staats. Der preußische Staat, unter der glorreichen Führung unseres Hohenzollernschen Hauses, ist weder im vorigen Jahrhundert, als es andere Kämpfe galt, noch in diesem Jahrhundert ein Klassen⸗ staat gewesen. Die Aufgabe des Staates ist stets von unserem Herrscherhause voll erkannt; sie besteht wesentlich darin, dem Schwachen zu helfen und ihn zu schützen, ihn emporzuheben, ihn mitzunehmen und theilnehmen zu lassen an der allgemeinen, fortschreitenden Ent wickelung. Ich brauche nur an die Botschaft unseres großen Kaisers Wilhelm und an die Bestrebungen, welche sofort beim Besteigen des Throns unser jetziger Kaiser und König kundgegeben hat, zu erinnern, um Sie zu überzeugen, daß diese Politik der Einsetzung der Kaiser⸗ lichen Gewalt für die Verbesserung der Lage aller und namentlich der minderbemittelten Klassen auch heute in vollem Maße besteht und fortdauern wird. Meine Herren, schon seit längerer Zeit hat man ja gesagt, die Sozialpolitik trete doch ganz in den Hintergrund, man be⸗ treibe die Sache immer langsamer und langsamer, und schließlich werde man sich derselben überhaupt nicht mehr erinnern. Die letzten Ereignisse: die Königlichen Verordnungen in Beziehung auf das Gewerbe der Näherinnen, beweisen ja schon das Gegentheil. Aber auch davon abgesehen, wollen Sie wohl erwägen ich kann das be⸗ obachten wie der Geist der Milderung der sozialen Gegensätze mehr und mehr auch in die ganze Verwaltung des Staates eingedrungen ist, auch in die Verwaltung der Kommunen, und glauben Sie nicht, daß eine solche Politik lediglich durch die Gesetzgebung gemacht werden kann. Wichtiger fast noch ist der Geist, der die Verwaltung beherrscht in ihrer täg⸗ lichen Einwirkung. (Sehr richtig! links.) Aber, meine Herren, was heißt denn das: soziale Politik? Ist denn das ganz etwas Neues? Die Soialpolitik war im vorigen Jahrhundert vorhanden und ist in diesem Jahrhundert vorhanden. Sie hat allerdings zur Zeit eine andere Richtung genommen; großartige Veränderungen in der Lage unserer Bevölkerung sind durch die Entwickelung der Industrie, der ungeheuren Verkehrsmittel u. s. w. hervorgerufen. Die alten Wohnsitze, die heimischen Verhältnisse wurden verlassen, große Arbeitermassen konzentrierten sich auf eine Stelle; ihre Lebens⸗ bedingungen wurden andere. Daß da eine andere Aaschauung von den

Bedürfnifsen der Menschen, eine andere Stellung der Gesetzgebung zu diesen Klassen, eine andere Art von Verwaltung nothwendig ist, das ist nichts Neues, das ist früher auch schon dagewesen, das wird wohl immer so bleiben. Die Sozialpolitik, wie schon ganz richtig gesagt ist, bezieht sich aber nicht entfernt auf eine einzelne Klasse; sie wird sich vorzugsweise, der Natur des Staates und seinen all⸗ gemeinen Aufgaben entsprechend, dem besonders leidenden Theile der Bevölkerung zuwenden. Ich halte beispielsweise die Berücksichtigung der schwierigen Lage der mittleren Klassen und vor allem der land—⸗ wirthschaftlichen Bevölkerung auch für eine sehr wichtige Aktion der Sozialpolitik.

Meine Herren, welche Maßregeln im einzelnen Falle zu treffen sind, zu einer gegebenen Zeit, in welchem Umfange, das zu beur— theilen ist nicht Sache eines gelehrten Nationalökonomen am grünen Tische allein, auch nicht Sache eines frommen, mitleidsvollen Geist⸗ lichen es ist eine Frage, die sich nur aus der Gesammtheit des that⸗ sächlichen jeweiligen Entwickelungsstandes herleiten läßt. Da muß man viele Dinge berücksichtigen; man kann sich da nicht bloß von seinem guten Herzen leiten lassen, namentlich nicht in Bezug auf den Grad, wieweit man vorzugehen hat. Man muß auch die Konkurrenzfähigkeit der Industrie, die aufrecht erhalten wer⸗ den muß, keineswegs allein im Interesse der Arbeit⸗ geber, sondern ebenso gut, und vor allem, möchte ich sagen, im Interesse der Arbeiter, in Betracht ziehen. Meine Herren, eine solche Politik in der gegenwärtigen Zeit aufzugeben, halte ich für geradezu unmöglich. Wenn wir einen starken Vorsprung vor den an⸗ deren Ländern gethan haben, wenn wir sehr bedeutende Opfer in kurzer Zeit verlangt haben, dann kann man wohl eine Zeitlang pausieren, man kann die Sache dann etwas langsamer gehen lassen, aber die ganze Richtung, das System selbst kann man nicht ändern, man wollte denn die Natur des Staates ändern.

Meine Herren, die soziale Frage kann nur gelöst werden, soweit in menschlichen Dingen eine volle Lösung überhaupt möglich ist, durch das Zusammenwirken des Staats und aller Klassen. Je mehr der humane und christliche Geist die besitzenden Klassen durchdringt, was in Deutschland doch in sehr hohem Grade der Fall ist, desto größer wird auch die Zahl der ruhig allmählich Fortschreitenden, derjenigen, die begreifen, daß eine solche soziale und wirthschaftliche Entwicklung überhaupt nicht künstlich und willkürlich in schnelleren Gang gebracht werden kann, daß das Eine sich nothwendig aus dem Anderen entwickeln und wachsen muß. Dazu ist vor allem nöthig, daß wir suchen, nach und nach, wie ich schon an— deutete, den praktisch zu befriedigenden Bedürfniffen der arbeitenden Klasse entgegenzukommen, daß wir unsere helfende Hand ihnen hin⸗ strecken, auch wenn sie anfangs zurückgewiesen wird. Es ist noth— wendig, daß die Zahl der Interessenten am Eigenthum, vor allem der Mittelklassen, die Kapital und Arbeit gleichzeitig in den Kreis der wirthschaftlichen Thätigkeit bringen, nicht bloß erhalten, sondern stetig vermehrt wird. Ich bin davon durchdrungen, daß das durchaus möglich ist, daß die Anschauung, als wenn die Mittelklasse, in den Städten der Handwerker namentlich, unwiederbringlich ge⸗ fährdet sei durch die moderne Entwickelung, durch die Thatsachen widerlegt ist. Ich bin erst recht überzeugt, daß durch die Thatsache bewiesea ist, daß der Bauer, welcher den eigenen gestiegenen Tagelohn selbst verdient und nicht so sehr auf den Verkauf der Pro—⸗ dukte angewiesen ist, voll konkurrenzfähig bleibt gegen mittlere und größere Güter. Ist dies richtig, so wird eine Hilfe des Staats nach der Richtung hin außerordentlich befestigend auf das ganze Staats- wesen wirken, und derartige Bollwerke zu errichten ist allerdings mehr als je nothwendig.

Meine Herren, diese Betrachtung ist vielleicht nicht so gestaltet, wie sie mancher vielleicht erwartet hat. Schließt sie nun die Noth—⸗ wendigkeit eines solchen Gesetzes aus? kann man sagen: der preußische Staat ist so fest gefügt, er kann schon gewaltige Stöße vertragen, er bedarf solcher, immerhin doch nur beschränkt wirkender Mittel nicht? Das ist eine verbreitete Ansicht, der hier auch vielfach Ausdruck gegeben ist. Meine Herren, gewiß, diejenigen, welche den preußischen Staat, das Deutsche Reich und die übrigen deutschen Staaten vergleichen wollten mit dem französischen Staat von 1789 und mit den damaligen Zuständen und daraus Schlußfolgerungen zögen, würden sich zu ihrem Schaden gewaltig irren. Wir haben eine historisch fest im Herzen des Volks stehende Monarchie; wir haben einen treuen, wohlunterrichteten und wohldisziplinierten Beamtenstand; wir haben weit verbreiteten, großen Einfluß über religiöse Gemeinschaften; wir haben ein festes, treues Kriegsheer; und das hat der Herr Minister, wie Herr von Zedlitz richtig ausgeführt, keineswegs entfernt bezweifelt; ich komme im übrigen darauf noch mit zwei Worten zurück und was vor allem wir besitzen, meine Herren, ist eine fleißige, tüchtige, sparsame Leitung der Erwerbsgeschäfte in Stadt und Land durch eine durchaus gesunde, ihren Aufgaben voll gewachsene Klasse der Bevölkerung das sind gewiß starke Bollwerke. Mancher kann da wohl auf die Idee kommen: wir brauchen zur Stärkung derselben nicht neuer Abwehr— mittel, die vorhandenen genügen, die Gegner zu überzeugen, daß die Möglichkeit, diesen Staat umzuwerfen, nicht be⸗ steht, und, ob sie wollen oder nicht wollen, sie sich mit den all mählichen Fortschritten in der Gegenwart begnügen und allmählich in die bürgerliche Gesellschaft aufgehen.

Herr Dr. Lieber hat sogar gemeint, die Staatsregierung sei auf einmal von Furcht ergriffen. Da möchte ich nun doch Herrn Dr. Lieber erwidern, daß er sich dabei vollständig irrt. Die Staats« regierung hat keine Furcht, sie siebt aber den Dingen nur mit klarem Auge entgegen. Sie begreift: daß die festesten Säulen doch allmäblich wankend werden können durch das langjährige Fallen eines kleinen Tropfens, ist auch hier richtig; auf der andern Seite ist es die Pflicht und die Aufgabe der Regierung vorzubeugen. Ich erinnnere an das weise Wort des Dichters im „Julius Caesar': Beuge dor!“ Wir sind es auch den Arbeitern schuldig, meine Herren, daß wir durch Aufstellung von solchen Bollwerken und Abwehrmitteln ibnen die Ueberzeugung, wo sie fehlt, beibringen, daß ihr Heil nur in der fried lichen, gesetzlichen Entwickelung liegt (sehr richtig), daß jede andere Hoffnung von vorn herein auf Sand gebaut ist.

Es ist ja vollkommen richtig, daß ein solches Gesetz wie dieses auch einmal verkehrt angewendet werden kann, und ich bin mir doll kommen bewußt, daß es die Pflicht der Regierung sein würde, wenn ein solches Gesetz zustande käme, ihre Behörden zu einer dor sichtigen und weisen Handhabung anzuhalten. (Lachen link)

Das Gesetz darf nicht etwa im Klasseninteresse, im Parteitnteresse an

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