1899 / 20 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 23 Jan 1899 18:00:01 GMT) scan diff

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Grunden, alg Staatzsekretãr des Innern den größten Werth darauf, daß die Arbeiterbevolkerung in ihrer Gesammtheit die Ueberzeugung bekommt, daß ihre Anträge auf dem Gebiete der sozialpolitischen Gesetz⸗ gebung unpartelisch geyrũft und namentlich auch schnell erledigt werden; denn ein Mann, der arbeitsunfähig ist und Monate oder Jahre lang um seine Rente kämpfen muß, wird nicht mehr die Wohlthaten der sozialpolitischen Gesetzgebung empfinden, wenn er endlich die Rente erhält, sondern wird nur das Gefühl haben, daß ihm zu Unrecht sein gutes Recht bureaukratisch vorenthalten worden ift. (Sehr richtig! aus der Mitte) Es muß deshalb auf eine schnelle Erledigung der Anträge, die sich auf die sozialpolitische Gesetzgebung stätzen, von seiten der Aufsichtsbehörden der allergrößte Werth gelegt werden. Ich habe, um den vorgetragenen Fall zu ergründen, mir die Akten vom Reichs⸗Versicherungs amt kommen lassen und versucht, mich zu informieren, soweit das in einem umfangreichen Aktenstück in so kurzer Zeit überhaupt möglich ist. Ich muß hiernach allerdings zu⸗ gesteben, daß es auf mich keinen besonders erfreulichen Giudruck macht, daß die Erledigung der Angelegenheit thatsächlich einen Zeitraum vom 13. März 1896 bis zur Gegenwart in Anspruch genommen hat. (Hört, hört! links.)

Ich bin nicht in der Lage, die Schuld dieser Verzögerung auf die Behörden zu schieben, sondern, soweit meine flüchtige Information geht, liegt die Verzögerung daran, daß der betreffende Interessent die Behauptung, die im vorliegenden Fall die wesentliche war, nicht rechtzeitig und klar genug zum Ausdruck gebracht hat. Das mag ja daher kommen, daß der Mann vielleicht der deutschen Sprache nicht in dem nöthigen Maße mächtig ist oder auch nicht die nöthige Schul. bildung hatte, um selbst eine klare Eingabe zu verfassen. Es ist nämlich erst in der Rekursinstanz unter dem 25. Juni 1898 von ibm die Behauptung aufgestellt worden, daß er sich deshalb nicht unter- suchen lassen und deshalb nicht in eine Heilanstalt gehen könne, weil er bettlägerig krank und nicht transportfähig sei. Daraufhin hat das Reichs ⸗Veꝛsicherungkamt, nach einer weiteren Zwischenverfügung, angeordnet, er solle entweder ein Attest der Ortsbehörde oder ein ärztliches Zeugniß über seine Transportunfähigkeit beibringen, dann würde erwogen werden, ob in seiner Bebausung eine Untersuchung durch den beamteten Kreisarzt zu erfolgen hätte. Ein solches Attest ist jetzt eingegangen; aus dem Attest geht allerdings unzweifelhaft hervor, daß der Mann nicht transportfähig ist, daß er sich vielmehr in einem so elenden Zustande befindet, daß man ihm nicht zumuthen konnte, sich an eine entfernte Untersuchungsstelle bringen zu lassen. Dieser Vorgang, meine Herren, wird mir Anlaß geben, auf die schleunigste Erledigung dieser Angelegenheit hinzuwirken. (Bravo!)

Es ist dann weiter von einem der Herren Vorredner gegen die Postverwaltung indirekt der Vorwurf erhoben worden, sie wolle Frauen und Kinder in ihre Verwaltung einstellen zu Beschäftigungen und in einem Umfange, der sozialpolitisch bedenklich sei, und man hat an mich die Frage gerichtet, wie ich diese Einrichtung vom sozialpolitischen Standpunkt wohl ausehe. Ich habe es für meine Pflicht gehalten, mich über die thatsächlichen Verhältnisse bei der Reichs. Postverwaltung zu informieren. Man hat mir dort mitgetheilt, daß seit zehn Jahren Frauen im Telephondienst beschäftigt würden und seit einem Jahre auch im Telegraphendienst; auch würden Frauen für Rech⸗ nungsarbeilen im Post . und Telegraphendienst in Anspruch genommen. Es werden jetzt bei der Postverwaltung 4600 Frauen beschäftigt; man bat aber bisher so charakteristische gesundheitschädliche Folgen, wie sie seitens des Herrn Vorredners an⸗ gedeutet worden sind, bei ihrer Beschäftigung im Telephondienst nicht festgestellt. Es mag gewiß vorkommen, daß einzelne Personen

en Telephondienst nicht aushalten, einfach, weil ihre Nerven für den Dienst nicht ausreichen. Diesen Personen wird selbftverständlich weiter nichts äbrig bleiben, als diese Beschäftigung zu verlassen; aber derartige spezielle Berufskrankheiten, welche die Folgen der Be⸗ schäftigung von Frauen im Telephondienste sind, hat man bis jetzt nicht festgestellt. Im übrigen mag dafür auch die Thatsache sprechen, daß seit 10 Jahren von den angestellten Frauen nur 250 ausgeschieden sind, und von den 25 wieder 52060 aus einer angenehmen Veranlassung, nämlich um zu heirathen. (Heiterkeit) Es sollen in der Postverwaltung allerdings auch Knaben angestellt werden, Knaben über 16 Jahre, aber lediglich zum Austragen von Depeschken, und daß das vom sozialpolitischen Stand⸗ punkte aus eine bedenkliche oder gesundheitsgefährliche Beschäftigung sei, das wird wohl nicht behauptet werden. (Heiterkeit. ) Ich glaube also, als Staatssekretär des Innern habe ich keine Veranlassung, Bedenken gegen die Maßregeln der Postverwaltung vom sozial⸗ politischen Standpunkt aus zu hegen; im Gegentheil, wenn ich den Zug der Zeit richtig verstehe, so bemüht man sich auf allen Seiten, da nicht alle Frauen heirathen können und sich doch der Menschheit nützlich machen wollen, das Erwerbsfeld für dieselben zu erweitern. (Sehr richtig! links) Und ich glaube, man thut gut daran, diese Bestrebungen zu unterstützen, auch seitens der Reicht⸗ und Staats. verwaltungen, soweit sie dazu im stande sind.

Dies giebt mir Anlaß, sofort auch auf die Anfrage des Herrn Abg. Prinzen Carolath zu antworten. Meine Herren, die Zulassung von Damen zum ärztlichen Beruf ist bei den Berathungen von Ver⸗ tretern der Bundesstaaten mit Universitätzeinrichtungen über die Re—⸗ pision der medizinischen Prüfungsordnung mit zur Erörterung gelangt. Diese Konferenz hat vom 5. bis 10. d. M. getagt. Auf ihr fand fast allseitig, mit einer Ausnahme, die Regelung Zustimmung, welche ich bereits in der Reichstagssitzung vom 21. Januar 1898 angedeutet habe. Hiernach soll eine Vereinbarung der verbündeten Regierungen darüber getroffen werden, daß auch Studierende, welche auf den Hochschulen nur gastweise die erforderliche sachliche Vor⸗ bildung erworben haben, zu den medizinischen, zahnärztlichen und pbarmazeutischen Prüfungen behufs Erlangung der Approbation dann zuzulassen sind, wenn wie dies zur Zeit noch bei allen Damen zutrifft ihre Immatrikulation aus bloß formellen, außerhalb eines versönlichen Verschuldens der Betheiligten liegenden Gründen nicht angängig war.

Die Herbeiführung dieser Vereinbarung soll jetzt mit möglichster Beschleunigung im Wege einer Beschlußfassung des Bundesratht erfolgen. Die betreffende Vorlage an den Bundesrath befindet sich zur Zeit bereits in Vorbereitung.

Es ist ferner gefragt worden, wie es mit der Seemannzordnung stebt. Ich kaun darauf entgegnen, daß zunächst von der technischen Kommission für die Seeschiffahrt ein Entwurf für die neue See⸗

Bundegrath, den Kalserlichen Konsulaten und den Interessentenkrelsen gewesen. Hierauf ist ein neuer Entwurf im Reichgzamt des Innern fertig gestellt worden und vor wenigen Tagen Gegenstand der Verhandlungen und Berathungen mit Vertretern der Seeufer⸗ staaten gewesen. Die neue Seemanngordnung ist daraufhin abgeschlossen und würde noch diesem Reichstage ohne weiteres vorgelegt werden können. Ich glaube aber, meine Herren, die Session des Reichetages ist schon so belastet, daß vielleicht geschãftstechnische Gründe dafür sprechen werden, jetzt diese wichtige und umfangreiche Materie nicht zur Berathung in der laufenden Session zu bringen, sondern sie sofort nach Beginn der neuen Session dem hohen Hause vorzulegen. Wag die Bäckereiverordnung betrifft, so habe ich Umfragen über die Wirkung der Bäckereiverordnung an alle Regierungen gerichtet, habe aber bis jetzt noch nicht von allen verbündeten Regierungen eine Auskunft erhalten. Ich bin deshalb auch zu meinem Bedauern heute noch nicht in der Lage, auch nur andentungsweise die Richtung an⸗ zugeben, in der sich etwa ein weiterer Vorschlag auf diesem Gebiete empfehlen dürfte. Es scheint aber, meine Herren, das sage ich nicht aus meiner Seele heraus, sondern nur auf den Eindruck hin, den mir die Verhandlungen der Sache in der Oeffentlichkeit gemacht haben, daß viele Interessentenkreise, auch sozialpolitische Kreise, welche ehedem für die Begrenzung der Arbeitszeit waren, jetzt mehr sich dem Standpunkt zuneigen, daß vielleicht die Festsetzung einer Minimalruhejeit der praktischere Weg sein würde (sehr richtig), der weniger Reibungsflächen böte und sich leichter durchführen ließe. Die verbündeten Regierungen haben aber gegenüber dieser veränderten Auffassung bisher noch keine einmüthige Stellung genommen. Auf die Frage, wer die Kaiserlichen Erlasse zu interpretieren habe, will ich nicht eingehen. Ich bin bisher allerdings der Ansicht gewesen, daß der authentische Interpret Kaiserlicher Erlasse der Träger der Krone Selbst ist und die verbündeten Regierungen, bei denen die gesetzgebende Souveränetät im Reiche ruht. Ich möchte mir aber auf Ausführungen, die von der linken Seite des Hauses gemacht sind, eine ganz bescheidene Bemerkung gestatten. Es ist nicht meine Sache und würde nicht den Gepflogenheiten der Regierung entsprechen, darüber in eine Debatte einzutreten, warum ein Minister Seiner Majestät des Königs von Preußen um seine Entlassung aus dem Dienst gebeten hat. Aber, meine Herren, ich kann auch nicht die Deutung zulassen, daß ein Personenwechsel ftattgefunden hätte aus dem Grunde, weil die Kaiserlichen Erlasse nicht weiter ausgeführt werden sollten. Ich habe z. B. in der „Sozialen Praxis“ in dieser Beziehung eine Aeußerung gefunden, die mich einigermaßen überrascht hat. Es heißt dort: 6 „Was die vollständige Umwandlung der Sozialdemokratie in eine Reformpartei aufhält, ift ihr tieses Mißtrauen gegen die Regierung und die in ihr augenblicklich herrschenden sozialpolitisch reaktionären Tendenzen.“

Ich habe gestern bereits ausdrücklich erklärt, wir werden auf dem Gebiete sozialpolitischer Fürsorge fort fahren. Daß das Mißtrauen gegen die gegenwärtige Regierung der Grund sein sollte, weshalb die sozialdemokratische Partei sich nicht in eine Reformpartei umwandelt, das, meine Herren, wird die Sozial⸗ demokratie selbst nicht glauben, und ich glaube, innerlich wird sie darüber lächeln. Wenn die Stellung der gegenwärtigen Regierung auf sonalpolitischem Gebiete der Grund wäre, warum die Sozialdemokratie nicht sozusagen über Nacht sich in eine Reformpartei verwandelt, so hätte sie doch vorher ziemlich lange Zeit dazu gehabt, diesen Schritt auszuführen, z. B. zu der Zeit, wo diese angeblich herrschenden sonalpolitisch reaktionären Tendenzen nicht in der Regierung geherrscht haben. Warum hat sich denn also diese Umwandlung nicht vorher vollzogen? Der Beweis, daß die Stellung der Sozialdemokratie mit der politischen Stellung der gegen⸗ wärtigen Regierung zusammenhängt der Beweis wird nicht erbracht werden können. Außerdem hat ja gestern der Abg. Dr. Hitze noch ausdrücklich die Bebauptung aufgestellt, daß feit dem Jahre 1891 kein durchgreifendes sozialreformatorisches Gesetz mehr ergangen sei; er hat dann allerdings ein paar Aus— nahmen zugegeben. Dann würde diese bemängelte Unthätigkeit der Regterung doch also in eine Zeit fallen, die vor dem Zeitpunkt liegt, wo angeblich, wie sich die Soziale Praxis“ ausdräckt, lediglich die herrschenden sozialpolitisch⸗ reaktionären Tendenzen der gegenwärtigen Regierung schuld daran sind, daß die Sozialdemokratie nicht eine Reformpartei oder vielleicht gar eine Regierungspartei geworden ist. Meine Herren, ich hielt mich für verpflichtet, solchen Irrthümern vorzubeugen, um hieraus nicht den Schluß ziehen zu lassen, daß die gegenwärtige Regierung nicht auch noch vollkommen und geschlossen auf dem Standpunkt der Kaiser— lichen Erlasse stehst. Zum Schlusse noch eine Bemerkung. Es ist auch beute wieder von der Reichsverdrossenbeit“ die Rede gewesen. Meine Herren, ich bitte, doch einmal dieses Wort durchjudenken. Es giebt keinen Menschen, glaube ich, wenigstens keinen Deutschen, der nicht Befriedigung innerlich darüber empfände, daß sich die deutschen Stämme zum Deutschen Reich geeinigt haben. Es ftebt zwar noch äußerlich mancher abseits, das beruht aber mehr auf historischen Erinnerungen wie auf ernstem praktischen Wollen und Können. Wer von Reichsverdrossenheit spricht, verwechselt lediglich den Gegenstand. Durch die Begründung des Deutschen Reichs sind die allerwichtigsten gesetzgeberischen Funktionen sowobl auf soꝛialpolitischem wie auf wirthschaftlichem Gebiete von den Einzelstaaten auf das Reich übergegangen; und wie das in jedem Staat geschieht, der sich reorgani⸗ siert, neue Formen annimmt, haben an diesen Wechsel selbstverständlich auch in allen Schichten der Bevölkerung sich vielfache und lebhafte Hoffnungen und Wünsche nach Reformen auf den verschiedensten Ge⸗ bieten angeknüpft; ich glaube indeß, man hat bei diesen Wünschen

und Hoffnungen bisweilen die Staatsmacht und die Staatsallmacht überschätzt. (Sehr richtig Man hat vielfach Forderungen an den Staat gestellt und Hoffnungen von seiner Thätigkeit gehegt, die der Staat nicht erfüllen kann. (Sehr richtig) Wir haben es ja oft gehört: wenn wir hier einen Vorschlag gemacht haben und auch in der Presse ist uns das entgegengetreten ist dieser Vorschlag scharf kritistert und zurückgewiesen worden. Wenn wir aber eingewendet haben: wir bitten um einen besseren Gegenvorschlag, hat man unt eingewendet: es ist nicht unsere Sache, Vorschläge zu machen, das muß der Regierung einfallen. (Sehr richtig) Mit dieser

und Hoffnungen, die sich an diese Neuorganisation angeknüpft haben, sind deshalb auch manche Enttäuschungen unwillkürlich und fast auto. matisch verbunden gewesen. Wir konnten und können nicht alles daz erfüllen, was aus der hreiten Oeffentlichkeit vom Staate gefordert wird; daher eine gewilsse Enttäuschung, die aber mit der wachsenden politischen Reife selbstverständlich immer mehr schwinden wird. der anderen Seite aber empfindet man es manchmal lästig, wenn der Staat auf anderen Gebieten im Interesse der Staatgraison und zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung on seinen Machtmitteln den nothwendigen Gebrauch machen will. Ez. liegt also darin ein gewisser Widerspruch: auf der einen Seite die weitgehendsten Forderungen an die Staatgomnipotenz, die allerwärts eingreifen soll, auf der anderen Seite Widerwille, wenn der Staat im Interesse der Allgemeinheit gegen zu großen Individualismus vorgeht. Daraus mag an manchen Stellen ein ge. wisses Gefühl der Verdrossenbeit entstehen; ich bitte aber, dieses Ge⸗ fühl nicht Reichs verdrossenheit zu nennen, sondern mit dem richtigen Namen zu bezeichnen; es ist unter Umständen Staats verdrossenheit, und wer diese Staatsverdrossenheit empfindet, ist meines Erachtens politisch noch nicht reif genug, um beurtheilen zu können, was der Staat leisten kann und thun muß und was er nicht leisten und thun kann. (3Zwischenrufe links.) Mit unserer fortschreitenden politischen Bildung wird aber dieses Gefühl immer mehr dem Gefühl der Freude und des Stolzes weichen, daß wir eine große, starke, einige Nation geworden sind, welche die allergrößte Achtung und Anerkennung im Auslande genießt. (Bravo ) , J . iberr von Stumm erklärt gezenüber den Aus- 6 gen, Roesicke, daß * in Sachen der Unfallversiche ˖ rungsncvelle und der Februarerlasse den historischen Hergang richtig darzestellt habe. Zur Stütze seiner Ausführungen zitiere er u. a. einen Brief des früheren Präsidenten des Reichs Versicherungsatt

Bödiker, in welchem die Stelle vorkomme: „Sie wissen, auf welche geradezu unerhörte Weise ich aus meinem Amte herausgedrängt

bin. —ĩ ,. Stoecker (b. k. F.), der hierauf das Wort erhält,

ist nicht anwesend. . Nachdem Abg. Dr. Roesicke nochmals dem Abg. Frei⸗ herrn von Stumm widersprochen hat, bemerkt

Abg. Schrader (fr. Vgg.): Die Ausführungen des Staats sekretärs über die Reichsverdrofsenbeit treffen doch den Kernpunkt nicht. Was die Wurzel der Reichs verdrossenheit angeht, so liegt diese in der Richtung der heutigen Politik, und sie ist in allen Parieien verbreitet. Die Bestrebungen auf Ausbildung der Frauen im Haushalt, im haus wirthfaaftlichen Beruf sollten auch von Reicht wegen ausgiebiger ge—= fördert werden. Die Zulassung der Frauen jum ärztlichen Beruf muß erleichtert werden; jetzt müssen die studierenden Frauen sich bittend an Rektor, Dekan und Dozenten wenden. Aber immatrikuliert werden die Frauen nicht. Im Nothfalle könnte doch das Reich erklären, daß das Phrysikum vor einer von ihm zu bestimmenden Behörde abgelegt werden könne. Weibliche Aerzte für das weibliche Geschlecht sind eine Nothwendigkeit im Deutschen Reich. *

Staatssekretär des Innern, Staats⸗Minister Dr. Graf von Posadowsky⸗Wehner:

Zunächst kann ich den Herrn Vorredner in der Beziehung be⸗ ruhigen, daß nach den bisherigen Verhandlungen die Frauen, wenn sie die wissenschafilichen Vorbedingungen alle erfüllen, auch zum Phvsikum

zugelassen werden sollen. Ich habe mich aber noch aus einer anderen Ursache zum Wort gemeldet. Herr von Stumm hat einen Privat⸗ brief des früheren Präsidenten des Reichs⸗Versicherungsamts, des Derrn Dr. Bödiker verlesen, in dem sich, wenn ich recht gehört habe, die Stelle befindet: .

„Sie wissen, in welch unglaublicher Weise ich aus meinem Amte

herausgedrängt bin.“ . Privatbriefe gehen mich nichts an, und ich würde von diesen Mit theilungen keine Notiz nehmen, wenn ich nicht be fürchtete daß man in diesem hohen Hause und außerhalb des Hauses diese offentlichen Mütheilungen aus einem Privatbriefe dahin deutete, daß eine maß—⸗

infolge dessen die Akten lommen sprechende urkundliche Material enthalten.

den Schluß gehört haben, es könnte Ihnen unangenehm sein . unter Bewilligung der ihm gesetzlich zustehenden Pension vom 1. Juli dieses Jahres ab es war das Jahr 1897 zu bewilligen. Und dann folgt auf zwei Seiten eine lange Begründung, warum sein Gesund⸗ beitsjustand es ihm nicht gestatte, weiter im Amte zu bleiben. Darauf schreibt Herr von Boetticher, mein Herr Amtsvorgänger, an Herrn Dr. Bödiker Folgendes:

Geehrter Herr Kollege! Aus Ihrem vorgestrigen Schreiben, dessen Beantwortung mir erst heute möglich ist, ersehe ich zu meinem aufrichtigen Bedauern (hört, hörth, daß Ihr Gesundheitszustand zu wünschen übrig läßt.“ .

Darauf führt Herr von Boetticher des Längern aus, daß solche nervöse Abspannungen

an denen damals Herr Dr. Bödiker litt, bei vielbeschãftigten Beamten in verantwortlichen Stellungen bäufiger vorkommen, daß aber nach seinen Erfahrungen ein Erholungsurlaub in der Regel dieses Uebel zu beheben pflege. Herr von Boetticher schließt dann:

„Hiernach möchte ich, verehrter Herr Kollege, vorschlagen, auf dem Entlassungegesuch, welches ich noch nicht in den Geschäftsgang gegeben habe, nicht zu bestehen, vielmehr zur Wiederherstellung Ihrer Gesundheit einen längeren Urlaub zu erbitten, für dessen Bewilligung ich gerne eintreten werde und dessen guten Erfolg ich von Herzen Ihnen wünsche.“

Trotzdem hat Herr Präsident Dr. Bödiker sein Entlassungsgesuch auf⸗ recht erbalten. Meine Herren, ich glaube, nach diesen urkundlichen Vorgängen kann auch nur der Schein auf irgend einer Stelle der Reicht verwaltung nicht ruhen bleiben, daß er von dort aus aus seinem Amte verdrängt sei. Ich glaube vielmehr, in einer herilicheren, kolleglaleren, edleren Weise kann ein Vorgesetzter nicht seinen nach⸗ geordneten Beamten ju beeinflussen suchen, seine bewährte Kraft auch ferner dem Reich zu erhalten. (Sehr richtig! rechts.)

(Fortsetzung in der Zweiten Beilage.)

mannserdnung aufgestellt werden ist. Dieser Entwurf ist demnächst Gegenstand der Verhandlungen und Berathungen jwischen dem

Neuorganisation des deutschen Staatsweseng, mit den Wünschen

gebende Stelle im Reiche es gewesen sein könnte, die Herrn Präsidenten Pr. Bödiker aus seinem Amte herausgedrängt habe. Ich habe mir lassen, die das ent⸗ In diesen Akten findet sich das Entlassungsgesuch des Herrn Präsidenten Dr. Bödiker vom 11. Mai 1857, in welchem er den Antrag unter⸗ breitet, seine Dienstentlassung aus Gesundheitsrücksichten (hört, hört! Heiterkeit), meine Herren, ich bitte, lachen Sie nicht, ehe Sie

ö zum Deutschen Reichs⸗A

3m eite Beilage

Berlin, Montag, den 23. Januar

(Fortsetzung aus der Ersten Beilage.)

Abg. Dr. Hitze (Zentr.) nimmt gegen die konservat'ven Redner die Bäckereiverordnung in Schutz.

Abg. Freiherr von Stumm: Wenn Herr Bödiler seinen Ab— schied aus Gesundheitsrücksichten eingereicht hat, so ist doch die An. nahme nicht ausgeschlossen, daß die wiederholten Bestrebungen seiner Gegner, ihn aus dem Amt zu drängen, seine Gesundheit so erschüttert haben, daß er schließlich aus Gesundheitsrücksichten feinen Abschied nachsuch te.

Nach 5 Uhr wird die weitere Berathung auf Montag 1 9 vertagt (vorher Interpellation, betreffend das Wein⸗ gesetz).

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 3. Sitzung vom 21. Januar 1899.

Auf der Tagesordnung steht die erste Berathung des Staatshaushalts-⸗Etats für das Rechnungsjahr 1899.

Aba. Richter (fr. Vp): Der Finanz⸗Minister bezeichnete in seiner Einleitungsrede die Finanzlage als auf festen Grundlagen stehend. Das ist die Folge einer Thesaurierungspolitik, die von 136 seit einer Reihe von Jahren geteieben worden ist. Das abgeschlossene Jahr hat einen Ueberschuß von 99 Millionen ergeben, der des laufenden Jahres wird auf 74 Millionen geschätzt. Alles wird verwendet zur Schuldentilgung und zur Vermehrung des werbenden Staats— vermögens. Aus den laufenden Mitteln dieses Jahres sollen die Eisenbahnanlagen mit 80 Millionen erweitert, die Betriebs— mittel verstärkt werden. 39 Millionen sind zur Schulden— tilzung bestimmt, also zur Erhöhung des werbenden Ver— mögeng, welches den Betrag der Staatsschulden überfteigt. Der Finanz Minister nennt die Gisenbahnen enisprechend seiner Politik einen Schatz. Ich hatte geglaubt, sie seien ein Verkehrsmittel. Wenn die 177 Millionen, die für allgemeine Staatszwecke aus den Eisen—⸗ babnen zur Verfügung gestellt werden, durch Tarifermäßigungen ver— mindert werden, muß der Ausfall durch Steuern gedeckt werden. Man könnte ruhig Tarifermäßigungen durchführen, es würde doch noch genug zur Schuldentilgung übrig bleiben. Die Thesaurierung kommt der Zukunft zu gute, aber die Lebenden wollen doch auch ihr Recht haben. Es stagnierr die Entwickelung überall. Es sind nur 7 Millionen zu Tariferleichterungen bestimmt. Der Verstaatlichung der Eisenbahnen ist die Ermäßigung des Zinsfußes zu gute gekommen. Wäre die Privat- bahnkonkurrenz bestehen geblieben, so wären wir mit Tarif—⸗ erleichterungen weiter gekommen. Bei vielen Tariferleichterungen gleicht sich die Einnabmererminderung später durch gesteigerten Verkehr aus. Gerade bei günstigen finanziellen Verhältnissen läßt sich ein Ausfall infolge von Tariferleichterungen ertragen. Tariserleichterun gen liegen im allgemeinen Interesse. Bei einer solchen Finanzlage sollte auch ein Ausgleich von Härten in der Steuergesetzgebung gemacht werden. Es haben sich manche Härten derselben herausgestellt, namentlich bei der Einkommensteuer, die noch verstärkt werden durch die Gemeinde- zuschläge, und wie steht es mit dem Stempelsteuergesetz? Wie viel bat es denn eigentlig gebracht? Das einzige Steuergesetz, welches die Throntede in Aussicht stellt. betrifft die Waarenhäuser. Eine allgemeine Reform der Gewerbesteuer würde ich versteben. Als die Gewerbesteuer reformiert wurde, bestand wohl über den Steuer plan noch keine Klarheit. Hätte der Finanz -⸗Minister damals auf eine Kapitalsteuer gerechnet, dann würde er die Gewerbe⸗ steuer anders konstruiert haben, denn sie ist jetzt eine Kapitalsteuer. Die Gewerbesteuer sollte für die Kommune nichts Anderes sein als eine Gegenleistung für die Leistungen der Kommune. Diesen Charakter hat die Gewerbeseuer nicht, und die Kommunen können ihr diesen Charakter auch nicht leicht geben. Durch die Ausnahmebesteuerung der Waarenhäuser hat man die Liden⸗ inhaber aus den Reihen der liberalen Parteien weglocken wollen Wenn man dieser Richtung in der Steuergesetzgebung nachgiebt, dann begiebt man sich auf eine schiefe Ebene, von der man nicht weiß, wohin sie führt. Die Unzufriedenheit wird wachsen, weil die Steuer unzulänglich erscheinen wird. Für die Besoldungsverbesse⸗ rung sind 12 Millionen Mark bestimmt. Der Finanz⸗Minister preist die Beamten glücklich und fordert sie auf, ihre Ginkom mens verhältnisse zu vergleichen mit denen ihrer Eltern. Das Einkommen ist höher, aber früher war sehr vieles billiger, die Lebenszmittel und die Wohnungen. Die gegenwärtige Politik ist nicht dazu angethan, die Lebenshaltung zu verbilligen. Was den Beamten zugelegt wird, ist im Grunde das⸗ selbe, was auf dem freien Arbeitsmarkt an Lohnsteigerung gewährt worden ist. Die Steigerung der Miethen ist die Hauptbelastung für die Beamten wie für die Arbeiter. Deshalb habe ich schon 1890 aus- geführt, daß man den Wohnungkgeldzuschuß reformieren solle. Ich las in einigen Blättern, daß auch jetzt noch eine Reform des Wohnungsgeldzuschusses beabsichtigt sei, daß diese Frage aber schwierig sei und erst nach längerer Erwägung gelöst werden könne. Wie verhält es sich damit? Scellen die Stellenzulagen dafür ent schädigen? Die Stellenzulagen sollen auch besonders schwierige Leitungen vergüten. Es wird sich also um ganz individuelle Zulagen bandeln, die lediglich zur Streberei Anlaß geben. Das Deutschthum soll gestärkt werden durch Bibliotheken, Musten ꝛc. Die Bewohner der betreffenden Bezirke werden sich beeilen, von diesen Wohl⸗ thaten Gebrauch zu machen, und in manchem Bezirk wird man sich agen: Wenn wir doch einige Polen hätten, damit auch wir etwas bekommen! Andererfeits wird eine Politik befolgt, welche die Gegensätze verschärft; dadurch verlieren die betreffenden Bezirke an Anziehungskraft. Der allgemeine Fonds zur Hebung des Deutschthums ist um 25 000 0 verstaäͤrkt, speziell für Nordschleswig. Es müßte klargestellt werden, welche Aufwendungen daraus ge— macht werden sollen. Die Ausweisungen in Nordschleswig werden bei der Interpellation besprochen werden können; sie können daher hier ausscheiden. Die Kanalbauten sollen gefördert werden; sie sind noth⸗ wendig, denn die Unfälle bei den Eisenbahnen haben gezeigt, daß eine Entlastung des Güterverkehrs dringend nothwendig ist. Aber wenn die Kanäle mit großen Opfern des Staats und der Interessenten gebaut werden sollen, dann muß darauf gesehen werden, daß nicht eine falsche Tarispolitik zu Gunsten einzelner Interesfentenkreife Lie Wirkung der Kanãle zerstört. Wir haben gesehben, daß die Staffeltarise auf Andrängen der

grarier des Westens aufgehoben werden mußten. Gefährlich würde te Sache werden, wenn die Wasser⸗ Bauverwaltung auf da Land- wirtbschafts. Ministerium übertragen würde, was nur durch ein Gesetz geschehen kann. Das Landwirthschafts. Ministersum vertritt nur eine einzelne Produzentenklasse und läuft Gefahr, von den Agrartern ins hlepptau genommen zu werden. Wenn eine Ressortverschiebung Ipthwendig ist, so würde die Bildung eines besonderen Bauten— inisteriums jweckmäßig sein. Der Handelsstand würde in er Uebertragunz der Wasser⸗ Bauverwaltung an dag Land⸗ irthschafts⸗Ministerium eine große Jurkcksetzung erblicken. Die Landwirthschaftskammern sind nicht bloß . Fetungen, sondern sie greifen in das Srwerbleben ein; die randenburgische Landwirthschaftskammer hat eine Handels telle errichtet. Gs ist ungehörig, daß amtliche Korporationen in dieser

nzeiger und Königlich Preußischen Staats⸗Anzeiger.

1899.

Weise vorgehen. Was würde man sagen, wenn die Handelskammern Geschäftsstellen einrichten wollten zur Einführung billigen ausländischen Fleisch ?? Die Schleswig ⸗holstelnische Landwirthschafts kammer bat eine Geschäftsstelle für Vieh eingerichtet un macht mit der Militär verwaltung. Geschäfte. Die Kornlagerbausgenoffenschaft in Halle verkauft nicht nur die Produkte ihrer Genossen, sondern auch die dritter Personen. Durch Zulassung solcher Dinge schafft man nicht Zufriedenheit, sondern, fördert nur die Begehrlichkeit. Das zeigt sich auch bei der Zentralgenossenschaftskasse, deren Kapital jetzt auf 50 Millionen erhöht ist. Man verlangte schon 300 Millionen auf dem Verbandstage im Herbst vorigen Jabres. Die Genossenschaftsverbände stellen sich immer mehr beraus ass Ver—⸗ einigungen zum Geldborgen. Graf Posadowsky hat festgestellt, daß bei der Landwirthschaft bessere Verhältnisse eingetreten sind; auch die Thronrede spricht von dem steigenden Woblstande des Landes. Wenn es mit der Landwirthschaft wirklich so schlecht stände, wie man es dar— lat e feen, so würde die landwirtschaftliche Lage nicht allgemein so günstig sein. Aber man spricht von dem Rückzange der Domänen. vachtgelder. Das wird immer mit „Hört, hört!“ rechts aufgenommen. Aber der Rückgang der Pachtgelder bezieht sich auf die ganze Pachtperiode von 18 Jahren. Der Rückgang der Pachtgelder beträgt 22 C, während die Zinsrente von 45 auf 3 zurückgegangen ißt. Freilich, wer ein Gut besitzt dreimal so groß, als seine eigenen Mittel . kommt bei dem Rückgange der Grundrente in eine schlimme

age. Aber solche Besitzverhältnisse kann der Staat nicht aufrecht erhalten wollen; je fruͤher sie eine Aenderung erfahren, desto besser für die Landwirthschaft im allgemeinen. Die Frage der Leutenoth wird ja wohl in den Vordergrund treten. Es ist, kein Ueberfluß an Arbeitskräften, das ist eine Folge des steigenden Woblstandes. In gewissen Betriebsformen, beim Groß— grundbesitz, mag eine wirkliche Leutenoth vorhanden sein. Aber trotzdem sollte man sich hüten, an der Freizügigkeit zu rütteln. Denn man würde die Leute dann nur über das Wasser ins Ausland treiben. Die Sachsengängerei ist erst hervorgerufen worden durch die künstliche Steigerung der Rübenkultur und die Gewährung von Zucker ausfuhrprämien. Wenn die Industrie die Arbeiter an sich zieht, dann sollte man sich hüten, durch Schutz ölle die Industrie künstlich zu fördern. Es fällt auch ins Gewicht, daß seit 1887 110 000 Mann mehr in die Armee eingestellt werden. Der Großgrundbesitz hat einen zu großen Umfang, der mittlere und kleinere Besitz ist im Verhältniß zu jenem zu gering. Der kleine Mann muß die Gelegenheit haben, sich eigenen Besitz zu erwerben. Aber dagegen sperren sich die Konservativen mit allen Mitteln; sie widersekzen sich der Aufhebung der Fideikommißgüter, sie wünschen das Anerbenrecht, welches die jüngeren Geschwister in die Reihen der Besitzlosen draͤngt. Darum sind die Konservatigen auch im Grunde ihres Herzens gegen die Rentengüter. Der Staat hätte die Verpflichtung, seinen eigenen Großgrundbesitz zu kolonisieren. Der Finanz. Minister befolgt ent⸗ gegengesetzte Ziele; er will den Grundbesitz des Staats erhalten und vermehren. Der Etat weist darauf hin, daß Musterwirth⸗ schaften im Westen gegiündet werden sollen. Das wird sehr schwer sein bei den verschiedenartigen Verhältnissen im Westen. Ich wende mich zu dem Kultus- Ministerium, zu dem Ministerium des Geistes. Es ist im Etat mit 6 Millionen Mart mehr bedacht, davon entfallen aber 59 Millionen auf die Unterstützung der Kirchengemeinden wegen der Pfarrerbeseldungen. In diesen Zu—⸗ wendungen nur an die ebangelischen und katholischen Geistlichen liegt eine Ungerechtigkeit gegenüber denen, die nicht zu diesen beiden Kirchen geböten. Für Kunst und Wissenschaft, für techaisches Schulwesen ist mehr gethan als sonst. Aber es ist doch eigenthümlich, daß ein Schuppen errichtet werden soll zur Unterbringung von 50 0060 Bänden der Landesbibliothek. Wie steht es denn mit den Bauplänen für das Akademiepiertel? Die Mehrleistun zen für Elementarschulen entsprechen auch nur den gesetzlichen Veipflichtungen. Es sollen nur 20 neue weltliche Schulinspektoren angestellt werden. Wir könnten ohne Geldaufwendung mehr hit Schulinspektoren haben, wenn der Kultus Minister nicht sich so ablehnend gegenüber dem Vorgehen der großen Städte berhalten würde, wie zuletzt noch in Charlottenburg. Für die Relikten der Volkeschüllehrer soll besser gesorgt werden. Wichtig wäre auch eine bessere Vertbeilung der Schullasten. Die Ungerechtig⸗ keit der jetzigen Vertheilung hindert die Entwicklung des Schul- wesens. Ein Antrag auf bessere Vertheilung der Schullasten lag von konservativer Seite vor, er wurde aber zurückgezogen, weil eine andere konservative Partei diesen Antrag als Vorspann für ein allgemeines Volkeschulgesetz benutzen wollte. Die konfessionellen Fragen sollten nicht hindern, die äußeren Verhältnisse der Schulen zu regeln. Ein allgemeines Schulgesetz ist deshalb nicht zu, stande ge— kommen, weil die Zahl der zu regelnden Fragen zu groß ist. Je mehr Einzelfragen ausscheiden, um so leichter ist ein Schulgesetz. Warum hat man es so eilig mit einem Voltsschulgesetz im Sinne des Grafen von Zedlitz? Der Minister Dr. Bosse thut, als ob der Zedlitz'sche Entwurf Gesetzeskraft erlangt hälte; er geht sogar noch über denselben hinaus. Der Zedlitz'sche Eatwurf legte konfessionell gemischte Schulen zusammen, wie sie in Berlin bestehen. Jetzt versucht man, die jüdischen Lehrer durch kleinliche Maßregeln hinauszudtängen. In Berlin nehmen einzelne Madchenschulen juͤdische Mädchen garnicht oder nur in beschränkter Zubl auf. Im Ministerium des freien Geistes werden die Universitäàrslehrer disziplinieit. Gin Gesetz richtete 6 gegen die Privatdozenten. Die neueren Maßnahmen richten sich gegen die Professoren selbst. Professor Delbrück ist nicht mein Mann; es handelt sich aber nicht um die Personen. Es sind 30 Jahre her, daß Universitätsprofessoren diszipliniert wurden wegen ihres politischen Verhaltens. Ich habe niemals gehört, daß Professoren, die das herrschende System bewunderten und dabei sich verletzend gegenüber anders Denkenden äußerten, bestraft worden sind. Ein solches Verfahren beweist, daß die Pro⸗ fefforen unter politische Kontrole gestellt sind. Bei der Medizinalreform scheint es sich wobl nur um eine etwas veränderte Stellung der Kreis- physiker zu handeln. Es wird die Einführung ärztlicher Ehrengerichte angekündigt. Die Aerztekammern beruhen nur auf Verordnungen. Ich bedauere ein solches Vorgehen; denn die Aerzte sind fast noch der einzige Stand mit akazemischer Bildung, der politische Freiheit genießt. Freilich streben gewisse Kreise der Aerzte selbst dahin. Die Aerzte neigen sich zänftlerischen Bestrebungen zu; sie wollen die Konkurrenz sich fernhalten, wie die Zünftler im Handwerk. Es wird ein Gesetz über die Gemeindebeamten und ihre Verhältnisse angekündigt. Warum wollen die n , das Recht behalten, sich in die Besoldungsverhältnisse der Gemeinde⸗ beamten einzumischen? Eine Aenderung des Gemeindewahlrechts wird angekündigt, aber nicht die ebenso nothwendige Aenderung des Land tagswahlrechtß. Der Finanz Minister sprach davon, daß man die Erfahrangen der neuen Wahlen abwarten wolle, um das Landtags—⸗ wahlrecht zu ändern. Davon ist jetzt keine Rede mehr, trotzdem die Minister den Widersinn des Landtagswahlrechtz an ihrer eigenen Person erfahren haben. Der Fürst zu Hohenlohe, vier Minister und Staatssekretäre waren Wähler der 3. Klasse, während einige Häuser von ihnen entfernt eine einzige Bankfirma die erste und zweite Klasse in Anspruch nahm. Ver Finanz⸗Minister selbst hat in der dritten Klafse gewählt, während man im Norden Berlins schon bei 3 M Tagelohn in der zweiten Klasse wählen konnte. Dazu kommt, daß kaum 20 0,½ der Wahlberechtigten gewählt haben. Und dazu

die an Volkfmenge zunehmenden Bezirke sind dabei zurückgesetzt. Zwei Wahlkreise Berlins haben das Eineinhalbfache der Bevölkerung des Regierungebezirks Gumbinnen, sie wählten nur vier Abgeordnete, der Bezirk Gumbinnen aber drei⸗ zehn. Vom Ministerium des Innern sind keine positiven Schöpfungen ausgegangen. Es ist mehr eine Polizeibehörde. Der Erlaß über den Waffengebrauch der Polizei hat peinliches Auf⸗— sehen gemacht. Sollte der Erlaß abschrecken, dann hätte man ihn nicht geheim ergehen lassen, sondern an allen Säulen anschlagen sollen. Statt dessen ist es der sozialdemokratischen Presse vorbehalten gewesen, diesen Erlaß zu veröffentlichen. Der Erlaß steht mit allen preußischen Traditionen in schroffstem Widerspruch. Alte Verordnungen sprechen bon der schonenden Anwendung der Waffen. Das entspricht auch durchaus den Verhältnissen. Es ist eine schöne Sache um die Autorität der Behörden, aber die Autorität wird dann am willigsten anerkannt, wenn die Behörden selbst sich im Rahmen des Gesetzes halten. Wir baben jedoch in der letzten Zeit eine Reihe schwerer Uebergriffe gehabt. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird von der Polizei in Berlin dadurch illusorisch gemacht, daß die Polizei⸗ behörden mit Wissen der Minister auf einen Beschluß der Stadt⸗ bebörden keinen Bescheid ertheilt haben bezüglich des Friedhofes der Märjgefallenen. Diese Verzögerung steht im Zusammenhang mit der Verzögerung der Bestätigung des Ober-Bürgermeisters von Berlin, der am 23. Juni gewählt worden ist. Die Frage hat eine allgemeine Bedeutung für das Land. Man sagt, der Minister des Innern habe die Bestätigung befürwortet, es liege jetzt am Zivil⸗ iabinet. Gleichgültig aber, wie die Sache liegt, der Minister des Innern allein ist verantwortlich für das, was geschieht und nicht ge⸗ schiebt. Die Inschrift an dem Eingangethor des Friedhofs soll bean= standet sein. Man sollte meinen, daß sie einen revolutionären Charakter hätte. Sie beißt einfach: ‚Ruhestätte der in den März tagen in Berlin 1848 Gefallenen“. Das ist doch eine Thatsache. Die Märzkämpfe sind ein Glied in der Kette der historischen Ereignisse, aus denen Preußen als Verfassungsstaat hervorgegangen ist. Man hat die gefallenen Soldaten geehrt durch ein Denkmal im Invalsden⸗ park. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden gehabt. Hier kommt nicht ein Denkmal, sondern nur eine Ruhestätte in Frage. Wenn die Regierung erkläten wollte, daß es sich nur um eine Verkettung von e r aten handelt, so würde das am meisten im Interesje der Regierung liegen. Es bleiben ohnehin noch große Fragen genug übrig, die zur Unzufriedenheit Veranlassung geben und bei denen wir auf Abhilfe jetzt nicht hoffen.

Vize⸗Präsident des Staats-Ministeriums, Finanz-Minister Dr. von Miquel:

Meine Herren! Die Ausführungen des Herrn Abg. Richter (Rufe linls: Lauter Meine Herren, lauter kann ich nicht sprechen. g

Die Ausführungen des Herrn Abg. Richter geben mir in meiner Eigenschaft als Finanz⸗Minister kaum Veranlaffung, darauf viel zu erwidern. Denn er hat formell gesprochen über den Etat, der hier zur Verhandlung vorliegt; er hat aber keine Posilion des Etats bemängelt, keinen Anschlag desselben unrichtig gefunden, er ist mit allen Positionen des ganzen Etats, wie er vorliegt, anscheinend ein verstanden, und das schon würde genügende Veranlassung an sich geben, meinerseits ihm nur meinen Dank auszusprechen. (Heiterkeit rechts.)

Im übrigen hat der Abg. Richter unter wiederholter Darlegung seiner bekannten Anschauungen über die Nichtnothwendigkeit der Schuldentilgung, über die angebliche Plusmacherei und Thesaurierung, sich beschäftigt mit der Kritik von Gesetzen, die in der Thronrede an— gekündigt sind, deren Inhalt ihm aber völlig unbekannt ist. (Heiter= keit rechts) Er hat dann einzelne Vorwürfe gegen einzelne Minister aus deren Verwaltung gemacht, und ich zweifle nicht, daß meine Verren Kollegen in dieser Beziehung zur gelegenen Zeit ihm die erforderliche Antwort geben werden. Ich kann mich daher kurz fassen, um einige Behauptungen des Herrn Abg. Richter zu berichtigen.

Ich knüpfe zuvörderst an sein Hauptprinzip an: es werden zu viel Steuern erhoben, man könnte die Steuern vermindern, der Staat thesauriert große Schätze, er arbeitet nur für die Zukunft, er berück= sichtigt nicht die Interessen der Gegenwart und tilgt Schulden, was garnicht nothwendig ist. Meine Herren, wir tilgen gesetzlich jetzt ß o/o der gesammten, gegen 7 Milliarden betragenden Staatsschuld ohne Zuwachs der Zinsen. Dlese Staatsschulden sind kontrahiert für ein gewerbliches großartiges Unternehmen, welches mit erheblichen Risiken bei der völligen Unübersehbarkeit der Entwicklung der Dinge verbunden ist, wie niemand bestreiten kann. Ich frage, ob ein Geschäftsmann oder eine Kommune hierin ein Uebermaß von Schuldentilgung erblicken würde, ob ein solider Mensch, der ein Unternehmen hat ohne jede Abschreibung, ohne Reservefonds, ohne einen Erneuerungsfonds, hierin ein Uebermaß von Schuldentilgung erblicken kann. Ich habe nicht gewagt, damals mehr zu fordern, der Landtag selbst hat die Schuldentilgung noch etwas verstärkt, indem er von J auf „3 oo gegangen ist. Ich selbst halte selbst diese Schuldentilgung, wenn sie allein für sich bestände, gerade in der Lage Preußens für viel zu niedrig. (Sehr richtig! rechts) Ich freue mich, daß mal einzelne Jahre kommen, wo wir über diesen Betrag hinaus aus allgemeinen Staatsüberschüssen eine Tilgung vornehmen können; aber diese Jahre sind durchaus unsicher. Vier Jahre haben wir hinter uns, wo wir die laufenden Ausgaben des Staats durch Anleihen haben decken müssen (hört! hört! rechts), und wir sollen uns freuen, daß nun mal einige Jahre kommen, wo wir in der Lage sind, die Schuldentilgung aus den Ueberschüssen etwas zu verstärken.

Meine Herren, in demselben Augenblick, wo wir dazu über⸗ gehen und übergehen konnten, haben wir aus unserm Staatsvermögen der Eisenbahnverwaltung 100 Millionen Mark zur Disposition ge⸗ stellt als besondere Ergänzung: der Ausgaben, die diese Verwaltung mit Rücksicht auf den gestiegenen Verkehr zu bewältigen hat. Da sieht man also, meine Herren, daß wir früher vielleicht in dieser Be⸗ ziehung nicht genügend vorausgesehen haben diese rapide Steigerung des Verkehrs, und daß das Defizit der Vorjahre noch erbeblich stärker gewesen wäre, als es in Wahrheit rechnungsmäßig gewesen ist, wenn wir schon früher angefangen hätten, diese bedeutenden Ausgaben vor— zunehmen.

Wie kann da von einer Thesaurierung die Rede sein! Solche

esellt sich die ungerechte Vertheilung der Mandate, welche auf den Hl lte nt iter der Zeit vor 0 Jahren becuht. Die Städte und

Reden führen aber gerade dahin, wag der Herr Abg. Richter seiner