urtheilung; der Ver fasser übe in dem Artikel eine durchaus unberech⸗ figte Kritik an den Verhandlungen des Reichstages über diesen Gegenstand.
Abg. Dr. Oertel Sachsen (d. kons. ); Der Vorwärts hat
seiner Zeit gegen das sächsische Oberlandesgericht den Vorwurf er⸗ hoben, daß es ohne weiteres die Sonialdemokraten als Personen minderen Rechts behandle. Der Artikel ging in mehrere Zeitungen über, das Berliner Landgericht hat den wegen Beleidigung angeklagten Redakteur freigesprochen, das Breslauer und Er⸗ furter Landgericht haben Verurtheilung zu zwei Monaten Ge— sfängniß ausgesprochen. Diese letzteren Urtheile sind noch nicht rechtskräftig geworden. Das Berliner Lanngericht hat erklärt, daß aus jenem Vorwurf der Vorwurf bewußter Rechtsbeugung nicht heraus · gelesen werden kann. Dag ist unbedingt zuzugeben, Das Gericht forderte, ein böchst ungewöhnlicher Voigang. die Akten des Ober- landeszgerichtg Dresden eln und kam zu der Auffassung, daß jene Kenn⸗ jeichnung des ‚Vorwärts“ zutreffend war. In der Form ist nicht eschlt worden. Aber es werden die Mitglieder des sächsischen Qber⸗ andesgerichts klipp und klar für unfähig erklärt; denn unfähig ist ein Richter, der außer stande ist, objektiv zu urtheilen. Nun könnte man die Sache umdrehen; es könnte gesagt werden, das Berliner Ge⸗ richt habe eine Voreingenommenbeit für die Sozialdemokratie und daraus könnte sich ein Rattenkönig von Prozessen ergeben. Daß ist nicht nur meine Deduktion, sondern das Breslauer Landgericht deduzierte ebenso. Sie Führung des Wahrheitsbeweises selbst aber ist ganz ebenso anfechtbar Der Beweis, 4 gegen Angehörige anderer Par- teien irgendwie anders von diesem Sberlandesgericht erkannt worden wäre, ift in keinem einzelnen Falle erbracht worden. Es handelte sich um Verbreitung von Flugblättern, um die Rechtsgültigkeit von Polizelverordnungen, betreffend die Veranstaltung von Sammlungen ü. f. w., und die ergangenen Urtheile können absolut nicht bemãngelt werden, denn sie sind im Namen des Königs gefällt. Stellt sich doch die Sozialdemokratie selbst auf den antimonatrchischen Boden. Das Stadctswefen bat die Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Sozial: demokratie bei ibrem Austoben nicht die Grundlagen des Staats mit umtobe. Dem lebhaften Bedenken und dem tiefen Bedauern darüber Ausdruck zu geben, daß ein solches Urtheil überhaupt möglich gewesen ist, hielt ich mich für verpflichtet.
Präsident Graf von Ballestrem: Auch ich halte es für das Rech jedes Abgeordneten hier, richterliche Eckenntnisse innerhalb ge= wiffer Grenzen zu kritisieren. Diese Grenzen finde ich darin, daß die Kritik erstens eine durchaus objektive sei und so, daß die subjektive bong fides der betreffenden Richter nicht angezweifelt wird; jweitens, daß sich diese Kritik in solchen Ausdrücken bewegt, welche der hohen Achtung, die wir dem deutschen Richterstande und den von ihm ge⸗ fällten Erkenntnissen schuldig siad, nicht zu nahe treten.
Abg. Fischer. Sachsen (Soz) glaubt den Beweis führen zu müssen, daß man beim sächsischen Oberlandesgericht ju Dresden die Sozialdemokraten nicht nur als minderen Rechts bebandele, sondern dag auch ungescheut ausspreche. Dieses Gericht habe das Vertheilen sozlaldemokratischer Flugblätter schon vor sechs Jahren selbst in dem
alle fur straskar erklärt, wenn sie unterschiedélos den Leuten ohne scksicht auf ihre Parteistellung in die Hand gegeben würden; von einer Beschränkung auf das Verbot des Austragens am Senntag während der gottesdienstlichen Zeit sei gar teine Rede gewesen.
Dieses Urtbeil sei ja im Reichstage schon verhandelt worden. und der
Staatssekretaͤr Nieberding habe damals gemeint, daß an und für sich in jenem Thun eine strafbare Handlung noch nicht erblickt werden könne; er habe auch bezweifelt, daß irgend ein Gericht so ungesetzlich verfahren könnte; erst wenn das geschehen, würde Remedur einzutreten haben. So der Staatssekretär schon vor sechs Jahren was babe er nun in der Zwischenzeit gethan, um Wandel zu schaffen? Die sächsischen Gerichte hätten sich weder an ibn nech an eine enfsprechende Entscheidung des. Reichsgerichts gekehrt. In Sachsen werde daß Unmögliche möglich gemacht. Alles werde wegen groben Unfugs bestraft, Vertheiler., Verfasser. Verleger eines sozialdemokratischen Flugblatts; bei der letzten Reichstagswahl fei damit ausgesprochenermaßen der Zweck verfolgt worden, der soꝛial= demokratischen Partei die Vertheilung von Flugblättern und die Agitation auf dlesem Wege überbaupt unmöglich zu machen. „Bei der öffentlichen Vertheilung von Flugblättern ist die Strafthat des groben Unfugz gegeben, wenn der Inbalt oder die Art der Ver⸗ sheilung geeignet waren, jemand zu verletzen, dabin habe es die Recht⸗ sprechung gebracht. Die Abgabe der Flugblätter an den Woh nungs⸗ Hhüren werde als unbefugtes Eindringen in die Wohnungen von Leuten, die vorautsichtlich mit dem Inbalt des Flugblatts nicht einver⸗ ftanden sesen, und somit als strafbar erachtet; ebenso werde in den An⸗ griffen auf andere politische Parteien die Strafthat des groben Uafugs eseben. Wurde diese Auffassung allgemein, so wäre keine volitische ede in einer offentlichen Versammlung mehr möglich. Aber diese Theorie und diese Praxis richte sich nicht gegen irgend welche Partei; es seien immer nur die Sozialdemokraten, die davon getroffen würden. Wenn gewisse uzblätter des Bundes der Land- wirlhe auch noch so aufrelzend gegen die Sosaldemokraten ge schrieben seien, gegen sie werde kein sächsischer Staattzanwalt, kein sächsif eg Gericht, einschreiten. Redner verliest einige Stellen auz diefen Flugblättern, welche sich besonders gegen die Juden Singer, Arons, Goldstein u. s. w. unter den Führern der Sojlaldemotraten richten, und führt als Gegenstück einige Beispiele von Bestrafungen von Sozialdemokraten wegen groben Unfugs an. Durch nichls werde die Autorität und das Ansehen der Gerichte mehr geschädigt, als durch diese Art der Recht prechung. Kein Mensch glaube mehr an die Objektivität der fächsischen Gerichte; wolle der Staatssektetãr wirklich Remedur schaffen, so möge er baldigst einen Gesetzentwurf vorlegen, welcher den Begriff des groben Unfugs richtig ftelle. Staatssekretär des Reichs⸗Justizamts Dr. Nieberding: Der Herr Vorredner hat auf eine Erklärung Bezug genommen, die ich bel den Etatsberathungen des Jahres 1894 hier abgegeben babe, und behauptet, daß mit dem Sinne dieser Eillärungen — die er anscheinend billigt — die Praxis der sächsischen Rechtsprechung in Widerspruch getreten sei; er wünscht von mir eine Aeußerung, was seitens der Reichs verwaltung angesichts dieser Thatsache geschehen sei oder geschehen werde. Ich babe melne damalige Erklärung vor mir: ich vertrete sie noch, ich habe von ihr nichts abzunebmen und habe nichte zuzusetzen. Ich habe damals gesagt, daß die Vertheilung von Wahlzetteln und äbnlichen Drucksachen deshalb allein, weil ihre Ver⸗ theilung erfolge, eine strafbare Handlung niemals invol vieren könne. Ich mußte das, obwohl es selbftwerstãndlich ist, konstatieren gegenüber dem damaligen Antrage der äußersten Linken und der dem Antrag gegebenen Auslegung. Ich babe erklärt, daß auch darin, wenn diese Wahlzettel jedermann angeboten würden ohne Unterschied der religiösen und politischen Anschauungen — darin kein Grund gefunden werden könne, um eine strafbare Handlung zu konstruieren. Wenn nun aber der Herr Abgeordnete, der soeben die Tribüne verlassen hat, behauptet, daß es Urtheile sächsischer Gerichte gäbe, welche mit diesem Satz in Widerspruch stehen, so kann ich ibm darauf nur erwidern, daß mir solche Urtheile nicht bekannt sind und daß die Urtheile, welche er hier ausjugsweise mitgetheilt hat, seine Behauptung nicht rechtfertigen. Ich glaube, Sie werden keine Entscheidung irgend eines deutschen Gerichts ausfindig machen können, in welcher der Satz nicht anerkannt wäre, den ich damals hier zu vertcetea die Ehre batte. Nicht darin, daß Wahliettel in der Art vertheilt sind von irgend einer Partei — also sagen wir: der sezialdemokratischen — oder von Angehörigen der⸗ selben, liegt das Moment der Strafbarkeit, sondern darin, daß mit dieser an und für sich erlaubten Handlung noch andere thatsächliche Momente konkurrieren, welche eine Strafbarkeit zu be⸗
gründen vermögen. Worin im einzelnen Falle diese Momente ge- funden werden, das ist hier im Hause schwer zu untersuchen. Es ist möglich — das habe ich schon 1894 zugestanden und erkläre es heute wieder —, daß einzelne Gerichte in der Beurtheilung derartiger konkurrierender Nebenthatsachen sehr weit gehen, über den Rabmen hinausgehen, den das Strafgesetzbach nach meiner Auf- fassung hier gejogen wissen will. (Hört! hört! links.) Es ist möglich, sage ich, daß das geschleht; aber ich kann nicht beur⸗ theilen, ob in den Fällen, welche der Herr Vorredner hier im Hause vorgetragen hat, das zutrifft. Auf Grund der Bruchstücke, welche er hier aus einzelnen Erkenntnisfen vorgetragen hat, wird, glaube ich, kein Mitglied dieses hohen Hauses es unternehmen, den vorher ge—⸗ hörten Behauptungen beizutreten. Ich bin deshalb auch nicht in der Lage, irgend etwas nach der von dem Herrn Vorredner angedeuteten Richtung zu thun.
Der § 43 der Gewerbeordnung hat, indem er das Vertheilen von Wahlzetteln freigegeben hat, nicht die unbedingte Freiheit dieser Thätigkeit statuiert, sondern selbstverständlich dabei vorausgesetzt, daß im übrigen die Strafgesetze, die jeder Bürger beachten muß, auch von denen beachtet werden müssen, die die Wahlzettel vertheilen. Sobald bei der Vertheilung irgend ein Moment sittenpolizeilicher oder ordnungkpolizeilicher Art eingreift, das einer selbständigen Straf⸗ bestimmung unterliegt, dann wird natürlich derjenige strafbar, der die Vertheilung vornimmt, trotz der Bestimmung des § 43 der Gewerbeordnung. Die Gewerbeordnung sagt nichts Anderes, als daß darin allein, daß Wahlzettel vertheilt werden, keine strafbare Handlung gefunden werden könne, und muß dies sagen, weil unter Umständen eine polizeiliche Erlaubniß zu derartigen Ver theilungen nothwendig ist.
Nun, meine Herren, will ich zugeben, daß die Anwendung der Bestimmung über den groben Unfug nicht bloß in Sachsen, sondern auch in der Rechtsprechung des übrigen Deutschlands eine völlig be⸗ friedigende nicht ist. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Es ist das — ich stehe nicht an, das hier auszusprechen — bedauerlich; es ist aber auch erklärlich gegenüber den veränderten Verhältnissen, die in Deutschland im öffentlichen Leben eingetreten sind, seitdem das Reichs- Strafgesetzbuch und vor ihm das preußische Strafgesetzbuch, das auch schon diese Bestimmung enthielt, den groben Unfug fũr strafbar erklärt hatten, und gegenüber der vagen Fassung, den diese Bestimmung aufweist. Ich würde auch meinerseits lebhaft wünschen, daß es möglich wäre, dieser Bestimmung eine Fassang zu geben, die Auslegungen von vornherein vorbeugt, die dem Sinne des Gesetzes nicht gemäß sind, und Sie können überzeugt sein, daß die Reichs⸗ Justizverwaltung dem Gegenstand ihre besondere Aufmerksamkeit zu⸗ wendet. Es ist Ihnen übrigens ja bekannt, daß ein Antrag nach dieser Richtung dem hohen Hause bereits vorliegt, ein Antrag allerdings, der nach meiner Meinung unmöglich angenommen werden kann, weil er viel zu weit mit seinen Einschtänkungen geht; aber, wie gesagt, ich erkenne das Uebel an, es ist begründet in den geänderten Verhält— nissen unseres Lebens und in der nicht präziz genug gehaltenen Fassung des Gesetzes, und wir werden uns bei gegebener Gelegenheit bemühen, eine bessere Fassung zu finden. Also, die Uebelstände, die der Herr Abgeordnete, der soeben gesprochen hat, in der sächsischen Recht⸗ sprechung beklagt, kann ich angesichts dessen, was er vorgetragen hat, nicht anerkennen; mir ist nichts bekannt geworden, was die Vorwürfe, die er erhoben hat, rechtfertigen könnte.
Abg. Dr. Müller⸗Meiningen (fr. Volkep); Dieser Antrag ist so dringend nothwendig, daß er mindestens bis zu einem gewissen Grade angenommen werden muß. Wenn Herr Oertel sich auf den Standpunkt gestellt bat, daß das Fundament der Rechtsprechung daz Königthum fei, so möchte ich ihm aufs allerentschtedenste wider— sprechen; nach meiner Meinung ist das Fundament der Rechtsprechung die Gerechtigkeit, der es volllommen gleichgültig sein muß, ob der Thãter ein Konse: vativer oder ein Sozialdemokrat ist. Innig gefreut har mich, daß der Abg. Roerea dem professoralen Uebermuthe des Leipziger Kritikers unserer Verhandlung die gebührende Abfertigung hat zu theil werden lassen. Wie steht es mit der Revision des literarischen und musikalischen Urheberrechts? Die betheiligten Autorenkreise seben in diesem Punkte immer noch nicht klar. Verlagé⸗ und Urheberrecht sollten nicht mit einander verquickt werden. In den Kreisen der Autoren und Komponisten fürchtet man, daß das Verlagsrecht zur Kompensation benutzt werden soll für die Vortheile, welche den Autoren und Komponisten zugedacht sind. In Hamburg hat man jetzt versuchsweise Gerichte stenographen eingeführt. So dankenswerth diefe Neuerung ist, habe ich doch große Bedenken, ob sie so einfach ver⸗ fägt werden lönnte, ob nicht vielmebr ein besonderer Akt der Reiche gesetzz·bung dazu gehörte. In Mecklenburg hat man für das Gebiet der Rüterschaft gewisse Funktionen des Nachlaß und Obervormund—⸗ schaftsrichters ohne weiteres dem Gutsherrn übertragen. Das sieht ganz bedenkich nach einem Rückfall in das Mittelalter aus und ist unter allen Umständen eine staatsrechtliche Ungeheuerlichkeit; der Begriff der Behörde⸗ wird in dem bezüglichen mecklenturgischen Erlaß einfach auf den Kopf gestellt. Gegen solche Rechtsversteinerung und deren Uebernahme in das 20. Jahrhundert muß der Deutsche Reichstag feierlich protestieren.
Staatssekretãr des Reichs⸗Justizamts Dr. Nieberding:
Meine Herren! Wenn der Herr Vorredner angenommen hat, daß der langsamere Gang der Vorarbeiten für ein neues Urheberrecht daraus zu erklären sei, daß wir nachträglich unsere Methode der Behandlung dieser Aufgabe geändert hätten, daß, während wir anfangs die Absicht gehabt hätten, das Urheberrecht selbständig zu regeln, wir jetzt dazu übergegangen seien, das Urheberrecht in Veibindung mit dem Verlagsrecht zu regeln, so befindet er sich in tinem Irrthum. Wenn der Gang der Vor⸗ arbeiten zu unserem Bedauern sich etwas verlangsamt hat, so liegt das einfach darin, daß die Aeußerungen einzelner Bundesregierungen, auf deren Stellungnabme zu dem ersten von uns veröffentlichten Entwurf eines Urheberrechtsgesetzes wir Gewicht legen mußten, unt nicht so früh zugegangen sind, wie wir anfangs glaubten, hoffen zu dürfen. Die Aeußerungen sind uns nunmehr zugegangen, und ich boffe, wir werden jetzt sehr bald dojzu gelangen, den Entwurf über das Urheberrecht fertig zu stellen und an den Bundetiath zu bringen. Bei der großen Bedeutung, die der Entwurf für das literarische Leben unseres Volles hat, wird, wie ich glaube, der Bundetrath damit einrerstanden sein, daß der Entwurf in der Form, wie ihn die Reicht verwaltung vorlegt, auch alsbald der Oeffent⸗ lichkeit zugänglich acmacht wird. Wir laben allerdings die Zeit, die unt durch den langsameren Sang der Tinge gegeben war, benutzt, um auch des Verlagt recht schneller, als anfangs zu hoffen war, zu fördern, und wir sind dadurch in die Lage gekommen, mit dem Entwurf über das Urbeberricht auch den Entwüuf über das Verlags reckt xcrautsichtlich dem Bur det rath vorlegen zu können, sodaß wir, wenn sich der Bundetrath mit den Entwürfen einrerstanden
erklären sollte, beide Entwürfe gleichzeitig auch an den Rel bringen werden. Darin liegt keine Verquickung der beiden Mater von der der Herr Vorredner sprach. Beide Entwürfe werden nebentgaas hergehen, und der Bundesrath sowohl, wie dieses hohe Hau werd beide in der Lage sein, zunächst den Entwurf eines Urheberrechts 7 prüfen und damit die Grundlage festzustellen, auf der hin der n wurf über das Vertraggrecht geprüft werden könnte. Wenn der Herr
Vorredner meint, daß bei dieser Behandlung der Dinge der Ginfluf
mächtiger Verleger mitstimmend gewesen sei, der sich geltend mache zum Nachtheil der Interessen der Autoren, so irrt er auch darin Ein solcher Einfluß ist nicht eingetreten, ist überhaupt nicht versucht worden, und wäre er versucht worden, so würde er bel uns keine Stätte gefunden haben.
Wenn dann der Herr Vorredner übergegangen ist zur Kritik der Ausführungsbestimmungen einzelner Bundesstaaten zu dem neuen Bürgerlichen Recht, so habe ich kurz Folgendes zu erwidern. In dem Ausführungsgesetz zur Zivilprozeßordnung für das hamburgische Staatz. gebiet befindet sich allerdings eine Bestimmung, wie der Herr Vor⸗ redner richtig hervorgehoben hat, in der vorgesehen ist, daß steno⸗ graphische Aufjeichnungen über den Gang der Verhandlungen erfolgen. Diese Bestimmung in dem Entwurf des Ausführungsgesetzeg ist dem Reichs Justizamt nicht entgangen. Sie ist bei ung geprüft worden und es hat kein Bedenken bestanden, dag uns hätte veranlassen können, eine Bemerkung darüber an den Senat der freien Stadt Hamburg zu richten. Der Herr Vorredner scheint auch die Bedeutung dieser Bestimmung zu überschätzen. Er wird vielleicht geneigt sein, seine Besorgniß zurücktreten zu lassen, wenn ich ihm mittheile, daß die fragliche Bestimmung bereits in dem früheren hamburger Ausführungsgesetz zur alten Zwil— prozeßordnung sich befunden hat. In Hamburg besteht die Bestim— mung, die sich in dem neuen Ausführungsgesetz vorfindet, bereits seit der Einführung der Justizgesetze zu Recht, und ich glaube, man wird nicht behaupten wollen, daß daraus irgend welche Unzuträglichkeit ent, standen wäre. Es ist auch die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung meines Wissens niemals bestritten worden.
Was sodann die Ausführungsbestimmungen für Mecklenburg be— trifft, so hat der Herr Vorredner bemängelt, daß gewlssen Be— börden Mecklenburgs vormundschaftliche Obliegenheiten an Stelle der Gerichte übertragen worden seien. Diese thatsächlichen Angaben dez Herrn Vorredners sind zutreffend. Aber, meine Herren, die mecklen. burgsschen Vorschriften sind ergangen auf Grund der Ermächtigung, die das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch der Regie— rung von Mecklenburg gegeben hat. Nach dem Reichsgesetz sind die Einzelstaaten ermächtigt, derartige Obliegenheiten, wie sie hier in Frage sind, anderen als den Gerichtsbehörden zu übertragen. (Zuruf links.) Meine Herren, das haben Sie selbst hier im hohen Hause mitbeschlossen. Wenn Mecklenburg von der reichsgesetzlich statuierten Befugniß Gebrauch macht, so ist rechtlich kein Vor— wurf dagegen zu erheben. Was in dem einzelnen Falle für den einzelnen Staat als Behörde anzusehen ist, entscheidet sich nicht nach Reichsrecht, sondern nach Landesgesetz. Es war also lediglich von der mecklenburgischen Regierung und von der mecklenburger Landesvertretung ju prüfen, ob der Entwurf des dortigen Ausführungsgesetzes in landesgesetzlich berechtigter Weise von der reichsrechtlichen Ermächtigung Gebrauch machen wollte. Der Reichsverwaltung fehlt jede Kompetenz nach dieser Richtung hin, der Initiative der mecklenburgischen Regierung oder den Beschlüssen der gesetzgebenden Faktoren Mecklenburgs entgegenzutreten.
Abg. von Czarlinski (Pole): und Hoff nungen der Vgrredner durchaus an, inskesondere empfehle ich auch wieder die Entschädigung unschuldig Verhafteter, wie ich es seit 20 Jahren getban babe. Die Ausführungen des Herrn Oertel haben mir gezeigt, daß die Richter auch Menschen sind. Im vorigen Jahre hat man hier über die Ueberlastung der Miiglieder des Reichsgerichtt geklagt. Ein mir vorliegendes Erkenntniß desselben läßt vermuthen, daß an dieser Ueberlastang eine gewisse Mangelkaftigkeit der Gerichte in den Einzelstaaten schuld ist, daß man sich vielfach das Rechtsprechen furchtbar leicht zu machen scheint, sodaß gar zu viele Revisionen und Uitheilsaufhebungen eintreten müssen. Manche Gerichte ergreift ein sförmlicher Horror, wenn ein Angeklagter Entlastungsbeweise beantragt.
Abg. Beck h- Coburg (fr. Volksp.) führt aus: Die Anerkennung, welche heute dem Reichs. Justizamt gezollt werde, lasse sich leider nicht überall auf die Justizverwaltungen der Einzelstaaten ausdehnen. So seien in Bezug auf das Zustellungs verfahren Verordnungen in Bayern ergangen, die entschieden eine Verschlechterung gegen den bisherigen Zustand bedeuteten. Redner erinnert an die früheren Verhandlungen Über den Antrag auf Entschädigung unschuldig verhafteter Personen; der Reichstag habe sich bei der Berathung der Vorlage wegen Entschadigung unschuldig Verurtheilter auf eine bezügliche Refolutson zurückgejogen und diese einstimmig angenommen, weil die Vorlegung eines besonderen Gesetzes gefordert worden sei. Seitdem sei ein Jahr vergangen, ohne daß etwas über weitere Mahnahmen des Bundetratbg in dieser Beziehung verlautet hätte. Auf die Schädigung, welche die Verhängung von Untersuchungshaft den davon Betroffenen zufüge, brauche wohl nicht noch besoaderz hingewiesen zu werden. Es sei eine Forderung der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, im 20. Jahrhundert endlich diesem Verlangen zu entsprechen.
Abg. Stadthagen (Soꝛ) erklärt, er könne die Auffassung des Staalssekrelärs in Sachen der mecklenburgischen Erlasse nicht alt richtig anerkennen. Grundherren seien keine Behörden. Gs fehle alfo seit dem 1. Januar in Mecklenburg an Vormun dsbebörden für einen gewissen Beiesch; dus Reichsrecht sei für diesen B reich einfach mitachtet. Der Staatesckretãr werde allerdings auf Mittel und Wege singen müssen, wie auch dort wirkliche Vormunds behörden zu schaffen wären. Der gegenwärtige Zustand könne zu den schlimmsten Ronjequenzen auch in sritlicher Beziehung fübren. Unter allen Um · ständen müßten die allgemeinen Grundsäße dis Bürgerlichen Gesch⸗ buch auch in den Gesindeordnurgen befolgt, werden, In preußischen Gesindeordnung stehe noch das Recht dis Abjugs hom Lohn. Das Reich könne, wenn auch das formale Recht auf seiten Preußens sei, unmöglich dulden, daß jines Recht, welches das Bürger⸗ liche Gesetzbuch aufbebe, den Dienstboten gegenüher beibehalten werde. Die Gesindeordnung follte überhaupt solort beseitigt werden und ein einheitliches Arbeiterrecht an ihre Stelle treten; eine dahin gehende Resolution habe auch der Rächstag im Dezember 1896 fast einstimmig angenommen.‘ Der Abg. Dertel⸗ Sachsen ba über dag Urthell des Berliner Landgerichts J eine abfällige Kꝛitil ausgefprechen, über die er (Redner) e,staunt sei. Die Urtbeile der Oberlande gerichte sollten dech wissenschaftliche Leistungen fein. Den Abg. Oertel scheine nicht zu wissen, wie sich in diesem Punkte einmal dere frntere saͤchsisch Just i. Min ister, und war aug ganz bestimmie Parteitenden; beraug, Jegenssoer dem sächsischen Oberlandesgerscht aut. elaffen habe. Jedenfalls seien seitdem die Erkenntnisse des Dres hne Oberlandesgerschts von der Wissenschaft außerordentlich weit ab. Kollekten an sich seien zwar gestattet, sie würden aber als gemeingefäbrlich hing telt wenn sie Sozialdemokraten zugute kämen. Eine politijche Parte werde schlankweg von einem Richter als gemeingelährlich beyeichnel. Würden sich die ronseroativen so eiwas gefallen lassen? Die Mi . des Oberlandesgerichts follten sich von der Poli it fern balten un nicht, wenn auch unbewußt, ihte Paritelleidenschaft an die Stelle
Ich schließe mich den Wänschen
obleltwwer Entscheidung setzen. Die bewußte Rechtsbeugung sei viel qijmmet als die unbewußte. Gegen die erstere könne man sich viel Hier schützen. Die Konserhatiden verlangten vom Richter, daß er as Recht beuge. Konservative Partei und Gerechtigkeit seien eben perschiedene Dinge, wie Feuer und Wasser. HPräsident
Ha von Ballestrem ruft den Redner wegen dieser Aeußerung nur Ordnung.) Der sächsische Justi⸗Minister habe der sächsis Hen Juftij einen schlechten Dienst geleistet, als er Strafantrag stellte, das Derliner Landgericht habe den Beweis der Wahrheit für erbracht zlannt, und fo geurtheilt, wie jeder wahrheitsliebende Mensch nach echt Und Geiwissen urtheflen müßte. Wer etwas Andere von dem kandgericht verlange, verlange, daß es gegen Ehre und Gewissen artheile, wenn es sich um Soialdemokraten handele. Die hetzerischen Organe k selen nicht ohne Einfluß auf die Recht⸗
ung geblieben. ö sprech Bevollmächtigter zum Bundegrath, Ministerial⸗Direktor Pr. Fi sch er: Meine Herren! Der Herr Vorredner hat in so aus⸗ sührlicher und leidenschastlicher Weise die Rechtsprechung des sächsischen ber · Landesgerichts aus Anlaß und an der Hand des bekannten Er= Funtnisfes des Berlingr Landgerichts kritisiert, daß ich trotz meines Biderstrebens doch nicht unterlassen kann, auf dieses letztere Urtheil mit einigen Bemerkungen jurückzulommen. Wenn ich den Ausführungen des Herrn Abg. Stazthagen richtig gefolgt bin, so bin ich in einem
unkle mit ihm vollständig einverstanden, nämlich darin, daß gericht. . Grkenntnisse wissenschaftliche Leistungen sind, deren Kritik nur dann strafbar ist, wenn sie in beleidigender Form geschieht. Ja, aber das ist es ja, meine Herren, was wir an dem Verfahren des Berliner Landgerichts aus jusetzen haben und nicht nur wir, sondern auch Autoritäten auf dem Grꝛbiet des Strafrechts und des Straf⸗ prozesses; — es ist fogar so weit gegangen, daß man has Berliner Landgericht in einem Strafrechtẽ praktikum einer deutschen Universität zum Gegenstand der B'trachtung gemacht hat, um daran ju jeigen, wie derartige Erkenntnisse nicht gefällt werden sollen. Meine Herren, wir sind eben der Ansicht, daß das Landgericht sich einfach hätte darauf beschränken sollen, zu untersuchea, ob in der bekannten Bemerkung des Vorwärts“ eine Beleidigung liege oder nicht; daß es aber nicht Sache des Landgerichts gewesen wäre, über diefes tadelnde Urtheil den Angeklagten einen förmlichen WHahrbeitsbewels führen zu lassen. Wenn der Herr Abg. Stadthagen im übrigen sich darüber ereifert hat, daß unser Herr Justiz. Meinister in diesem Falle gegen den Vorwärts, und die an⸗ deren Srgane, welche dessen Ausführungen verbreitet haben, Straf⸗ antrag geftellt hat, so verstehe ich das nicht recht. Diese Strafantrag. stellung beweist doch, daß unser Herr Justiz-⸗Minister et eben als eine Heleidigung erachtet, wenn einem Gericht nachgesagt wird, es erkläre oft ohne Umschweife, daß die Angehörigen der Arbeiterpartei minderen Rechtes seien als Andere. Nach meiner Ansicht kann Herr Stanthagen von feinem Standpunkt aus sich doch nur darüber freuen, daß diese übrigens ganz selbstverständliche Anschauung der sächsischen Re⸗ gierung eigen ist. Uebrigeng würde das Urtheil des Ber⸗ fine Landgerichts gar nicht soviel Staub aufgewirbelt und nicht fo viel Aufsehen erregt haben, wenn nicht die äußerste Linke diefes Hauses damit in einer Art — ich will nicht sagen „krebsen“, sondern hausieren gegangen wäre, die sich nur erklären läßt entweder durch die hochzrabige Abneigung dieser Partei gegen alles, was aus meinem engeren Vaterlande kommt, auch wenn es noch so gut ist, oder durch das Bestreben, jeden Vorgang, der irgend dazu geeignet ist, im Interesse der Partei ihunlichst zu fruktifizieren und zu verwerthen. Das fozialdemokratische Zentralorgan bat sogar zu der Behauptung sich verftiegen, dieses Berliner Erkenntniß bedeute die Bankerott erklärung der säcksischen Staatsweisheit. Ich glaube, der Chefredakteur diefes Organs wird diese Behauptung nicht wiederholen, nachdem nun die beiden anderen Erkenntnisse preußischer Gerichte ergangen find, und er aus diesen ersehen bat, wie sie davon ausgehen, daß zu diefer von übrigens ganz unzuständiger Stelle ausgegangenen Bankerott- elklärung nicht der geringst? Anlaß vorhanden war, daß vielmehr die unverminderte Zahlungs⸗ bezw. Lebensfähigkeit der sächsischen Staats⸗ weisheit entschieden dargethan ist!
Abg Rettich (3. kons. ):. Es ist altes Recht in Mecklenburg, daß in kleinen Vormundschaftésachen der Rittergutsbesitzer als Be⸗ hörde angesehen wird. .
Abg. Büsing (nl) schließt sich dieser Auffassung an, ist aber im Zweifel, ob dieser Zustand wünschenswerth sei. Mecklenburg müsse eine tonstituttonelle Verfassung bekommen, wie die übrigen deutschen Staaten. Leider sei in den letzten Jahrzehnten im Reicht tage die Magenfrage stärker hervorgetreten als solche ideale Fragen. Es werde in dieser Beziehung nicht besser werden, wenn das Reich nicht Mecklen⸗ burg zu Hilfe komme. Der mecklenburgische Richterstand stehe im äbrlgen über j den Vorwurf erhahen da. Die Angriffe eines ver⸗ urthesiten Menschen, der ein Schriftstück an die Reichstagsmitglieder vertheilt habe, fielen dagegen nicht ins Gewicht.
Hierauf wird ein Vertagungsantrag angenommen.
Persönlich verwahrt sich der
Abg. Bech ⸗-Coburg gegen den Vorwurf, daß er die mecklen⸗ burglschen Gerichte habe angreifen wollen.
Schluß 6 Uhr. Nächste Sitzung Freitag 1 Uhr. Interpellation Möller und Genossen, . die Beschlag⸗ nahme deutscher Schiffe, und Etats des Reichskanzlers und der Reichskanzlei.)
Prensdischer Landtag. Haus der Abgeordneten.
6. Sitzung vom 18. Januar 1900, 2 Uhr.
Von Seiner Majestät dem König ist ein Schreiben eingelaufen, in welchem für die vom Hause aus Anlaß der Geburt eines Sohnes Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Heinrich dargebrachten Glückwünsche herzlicher. Dank gus— esprochen wird. Die Mitglieder des Hauses hören die Ver— gung des Schreibens stehend an.
lsdann wird die erste Berathung des Staatshaus⸗ halts⸗-Etats für 1900 fortgesetzt.
Abg. von Köller (kons., auf der Tribüne sehr schwer verständ lich: Da sich alle Redner mit mir beschäftigt haben, bin ich ge—⸗ jwungen, wieder daz Wort zu ergreifen. Es wind mir nicht schwer werden, die mir gemachten unberechtigten Vorwürfe zurückjuweisen Derr von Eynern 9 so gethan, als ob ich bloß eine Lohrede auf die Ostelbier hätte balten wollen. Da die nationalliberalen Zeitungen uns Monate lang angegriffen haben als Kanalxebellen, Leute, die sich gegen das Königthum erheben u. s. w. so können sie mir es nicht verdenken, daß ich dagegen Front mache. Ich habe serner durchaus nicht bestritten, daß auch die Liberalen königstreu bis auf die Knochen sind, aber sie sind nicht so angefochten worden wie wir und haben keinen Anlaß, außerordentliche Beweise für ibre königstreue Ge— sinnung horzubringen. Ich weiß sehr wohl, daß nicht bloß die ostelbischen Junker, fondern auch die Bürger und Bauern sich wie ein Mann auf die Seite ihres Königs stellen zur Befreiung des Vaterlandes. Un so be auerlicher ift es, daß jetzt durch materielle Streitigkelten die Stände gegen einander gebracht werden. Wenn der Kanal wieder abgelebnt wird, hat die Regierung leine andere verfassungsrechtliche Möglichkeit, als sich dem Wunsche des Hauses zu fügen, und das wäre nicht eine Niederlage, sondern ein Sieg, der nicht bleß Preußen, sondern auch Deutschland zum Segen gereichen würde. Wir sind in der Lage, mit Ja oder Nein Ju stimmen, wie wir etz für gut halten; und wenn wir meinen, es kei qut, Nein lu sagen, und thäten es nicht, dann wire das eine gel he Fahnerflucht, eine Pflichtwidrigkeit. Den Herrn
inister habe ich * nicht angegriffen, ich habe mich über n so milde ausgedrückt, daß mir vor mir selbst bange = e ist. Herr von Gynern wünscht, daß die Kanal- orlage, wiederum abgelehnt, immer wieder elngebracht würde. Ich
weiß nicht, ob der Einfluß des Herrn von Eynern so groß ist, um dies durchzusetzen; wenn aber, dann sollte er doch auf ö. Regierung die Rügtsicht nehmen, daß er sieg nicht dazu treibt, sich immer neue Demenkis zu holen; Herr Sattler meint, im allgemeinen Kanal⸗ rausche die Ruhe sich bewahrt ju baben; ich habe ihm nicht vor⸗ eworfen, daß er ein Gläschen Kanalwasser zu viel getrunken abe, er sollte aber seine Ruhe auch auf die Zeitungs⸗ redakteure seiner Partei übertragen. Weil man uns so schwer angegriffen hat, habe ich gesagt, man wird uns nicht zutrauen können, daß wir unsere königstreue Gesinnung wie einen alten abgetragenen Anzug ablegten. Ich habe nur zeigen wollen, daß die Regierung mit den Maßregeln gegen die Landräthe nicht Recht gehabt hat und die Art und Weise wie wir von der kanalfreundlichen Presse angegriffen wurden, nicht passend ist. Die kommunalen Lasten gehen xriesenhaft in die Höhe, fast jedes Gesetz im Reich und im Lande legt den Kommunen neue Lasten auf; Schul⸗ lasten, Wegelasten, die sozialen Gesetze ꝛe., stellen immer erhöhte An ˖ forderungen an die Kommunen, sodaß diese an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen sind. Der Druck, den sie erleiden, wird noch erhöht durch die Art und Weise, wie sie zur Grund und Gebhãudesteuer herangezogen werden. Wenn Herr von Eynern Steuer⸗ erleichterung wünscht, solQl er Erleichterung der kommunalen Lasten und nicht der Einkommensteuer vorschlagen. Die Regierung muß sich daran gewöhnen, daß nicht jedes Gesetz so konstrutert wird, daß immer wieder eine neue Belastung eintritt.
Abgg. Gothein (fr. Vgg.) nimmt dem Abg. Hahn gegenüber besonders die Zuckertarifpolitit der Regierung in Schuß und führt aus: Der Landwirthschafte⸗Minister hat an anderer Stelle mit Recht betont, man müsse sich an die berufenen Vertreter der Landwirthschaft halten und nicht an Vereine, die nur agitatorisch auftreten. Der Bund der Landwirthe treibt thatsächlich eine sehr lebhafte Agitation, wie die Rede des Abg. Hahn gestern erst wieder bewiesen hat. Die einzelnen Etatspositionen sind außerordentlich vorsichtig auf⸗ gestellt, und ich bin überzeugt, daß die Einnahmen den Voranschlag sicher ühertreffen werden. Ueberhaupt ist die allgemeine ier nile augenblicklich außerordentlich günstig. Das Vermögen des
iskus ist in den letzten Jahren noch bedeutender gewachsen als das rivatvermögen, wenn ich auch die Zahlen, die der Finanz⸗Minister in dieser Beziehung anführte, nicht für ganz zutreffend halte, da die Vermögen zur Zeit kolofsal hoch bewerthet werden. Die Güũtertarife, namentlich die Rohstofftarife, müssen reformiert werden; es i erfreulich, daß auch Herr von Zedlitz schon zu dieser Ueber⸗ jeugung gelommen ist. Der frühere Finanz. Minister war auch dazu bereit, da kam aber Herr von Miquel ins Amt und lehnte die Ermäßigung der Gütertarife wegen der Finanz lage ab. Nach den Erfahrungen der verggngenen Jahre haben die Staatsbahnen bei wirthschaftlichen Rückgängen stetg sofort die Tarife erhöht zu Gunsten der Staatsfinanzen, und jwar immer noch eher als die Privatbahnen, anstatt den wirthschaftlichen Rück⸗ gang durch Tarifermäßigungen zurückzuhalten. Bei der, günstigen Finanzlage können wir große Reformen unternehmen. Nicht nur in den zweisprachigen, sondern auch in den rein deutschen Landestheilen sollte man mit der inneren Kolonisation vorgehen. Die Lage der Landwirthschaft ist durch die günstigen Ernten der letzten Jahre wefentlich verbessert worden, das haben mehrere Landwirthschaftz. kammern ausdrücklich zugegeben. Der Mangel an Arbeitern ist nicht nur in der Landwirthschaft, sondern sehr erheblich auch in der In⸗ dustrle vorhanden. Diefer Arbeitermangel ist daz trübste Bild in unferer wirtbschaftlichen Entwickelung, er zeigt, daß wir eine Produktion übernommen haben, die über unsere Kräfte geht. Ich möchte aber den Handels⸗Minister bitten, daß der Fiskus nicht mit einer Erhöhung der Kohlenpreise vorgeht; das findet sfofort bei den Prlvatunternehmern. Nachahmung. Wenn beim Abfchluß neuer Handelsverträge für die Landwirthschast durch Erhöhung der Getreidezölle gesorgt wird, so kann, das nur auf Kosten der übrigen Bevölkerung geschehen. Eine Steigerung der Getreidepreife hat eine allgemeine Gütervertheuerung zur Folge. Der Großgrundbesitz ist nicht sehr produktiv für die Steuereinnahmen. Dem Großgrundbesitz sind in den letzten Jahrzehnten sehr viel neue Fapitallen zur Vergoldung der alten Wappenschilder zugeführt worden; er verschlingt fortwährend neue Kapitalien. Was könnte nicht vom Großzrundbesitz gespart werden, wenn die harmlosen! Herren Söhne etwas sparsamer leben wollten, als es in sehr unliebsamen Prozessen zu Tage getreten ist. Unsere politische Machtstellung beruht heute nicht mehr allein auf der Landwirth⸗ schaft, fondern auch auf Handel und Industrie. Nicht auf Vertheuerung der Lebensmittel und damit der Arbeitskräfte beruht unsere Zukunft, sondern auf der Verbilligung unserer Produktionsmittel. Der Finanz Minister hätte die übermäßigen Ansprüche an die Staatshilfe“, nicht an die Staattskasse, zurückweisen sollen. Die Kanalvorlage ist wesentlich geeignet, die Tarife herabzusetzen und damit die Produktion mittel zu verbilligen. Ich kann die Befürchtung nicht theilen, daß die neuen Nebenprojekte in der Kanalporlage diese selbst gefährden könnten. Ein großer allgemelner Verkehrsplan war nothwendig. Man kann auch nicht sagen, daß diese Nebenprejekte nicht genägend vorbereitet seien. Nachdem wir den großen i, für den Elbe⸗ Trave Kanal gegeben, Lübeck und Hamburg mit Wasserstraßen bevor zugt und Stettin dn Verkehr genommen haben, müssen wir endlich an den Kanal Berlin — Stettin denken, und zwar an die Westlinie. Die Provinz Schlesten hat an der Ostlinie kein Interesse. Auch die Projekte der Verbeßserung der Qder und des masurischen Kanals sind lange genug. vorbereitet. Meine schlesischen Landsleute haben aber bedauert, daß die Thronrede kein Wort darüber sagt, welcher Ausgleich der Provinz Schlesien für die wirthschaftlichen Nach⸗ ibesle werden foll, die ihr der Mittelland Kanal bringen wird, Die „Berliner Corresponden“ hat zwar schon in dieser Hinsicht eine be⸗ rubigende Erklärung gegeben, ich möchte aber den Minister bitten, diefe Ecklärung hier noch einmal amtlich zu wiederbolen. Auf die Hilfe der Konservativen zur Durchbringung der Kanalvorlage ist nicht zu rechnen. Durch die Maßregelung der Beamten sind auch die Aue sichten für eine lanalfreundlichere Mehrheit bei Neu, wahlen nur noch schlechter, geworden. Das einzige Mittel für bessere Wahlen wäte eine Neueintheilung der Wahlkreise. Selbst wenn man auf dem Standpunkt des jetzigen Wahlrechts
ssebt, muß man doch anerkennen, daß die Wahlkreigeintheilung völlig
falsch ist. Wir verlangen eine gleichmäßige Berücksichtigung der Ein wohnerzahl in allen Wahlkreisen. (Präsident von Kröcher will den Redner nicht hindern, darüber zu sprechen, macht aber darauf auf⸗ merksam, daß er den darauf bejüglichen Autrag auf die Tagesordnung für nächsten Montag setzen will) Der Redner schließt mit der Bemerkung, daß man mit der Verbilligung der Produktionsmittel und der Hebung der wirthschaftlichen Entwickelung ideale Ziele
verfolge.
Minister der öffentlichen Arbeiten von Thielen:
Meine Herren! Der Abg. Gothein hat von einer gewissen Be⸗ klemmung gesprochen, die nach seiger Auffassung in Schlesien aus dem Gruade vorhanden sei, weil in der Thronrede der wirthschaftliche Ausgleich, der im vorizen Jahre in der Kanalvorlage Schlesien zu⸗ gesagt worden ist, nicht enthalten ist Er hat iwar hinzugefügt, in der „Berliner Correspondenj“ sei bereits die Mittheilung enthalten gewesen, daß die Staatsregierung in Beizug auf diesen Punkt genau noch auf demselben Standpunkt stände wie im vorigen Jahre. Ich kann das meinerseits nur bestätigen. Die Staatzregierung hat es auch nicht für nothwendig erachtet, eine feier · lich abgegebene Erklärung nochmals in feierlicher Weise, und noch dazu in der Thronrede, zu wiederholen. Wenn die Kanalvorlage hier erschelnt, wird der Herr Abg. Gotheln ebenso qut wie ganz Schlesien sich davon überzeugen können. daß die Staatsregierung noch immer derselben Auffassang bezüglich des wirthschaftlichen Ausgleichs für Schlesien ist. (Bravo! linkt.)
Abg. von Gleboeki . Der Minister des Innern hat die Thatfachen auf den Kopf gestellt. Die nationalpolnische Agitatton ist nicht vorangegangen, sondern erst durch die polenfeindliche Politik des Fürsten von Bismarck hervorgerufen worden. So lange die Politik betrieben wird, die Polen zu unterdrücken, müssen sich diese dagegen wehren. Der polnische Bauer wäre noch viel weiter gekommen. wenn es ihm nicht seitens der Ansiedelungekommission unmöglich gemacht würde, bei Parzellierung von Gütern Parzellen zu erwerben. Die Polen baben nur die polnische Nationalität, im übrigen sind sie preußische Unterthanen. Ich fordere den Minister des Innern auf, einen einzigen Fall zu nennen, in dem ein polnischer Abgeordneter bier im Hause seine Pflicht gegen den preußischen Staat verletzt hat. Wir können nur für unsere Reden verantwortlich gemacht werden, aber nicht für die Preßäußerungen. Die Regierung hat ganz andere Gründe, die Polen zu bekämpfen; sie will die Polen auf das Niveau der noch zwischen Elbe und Oder lebenden slavischen Bevölkerung zurũckdrängen.
Minister der geistlichen, Angelegenheiten Dr. Studt:
Meine Herren! Der Herr Abg. von Glebocki hat meine gestrigen Ausführungen in einer Weise angegriffen, die mich zu einer Erwiderung nöthigt. Ich versage es mir selbstverständlich, meinen Ton in dem selben Maße zu halten, in welchem der Herr Abgeordnete meine Rede zu beurtheilen beliebt hat. Ich muß aber dagegen Widerspruch er⸗ heben, daß der Herr Abgeordnete die diesseitigen Ausführungen als willkürliche und aus der Luft gegriffene bezeichnet hat. (Sehr richtig) Ich überlasse es dem Urtheil dieses hohen Hausez, ob ich mich nicht auf eine rein sachlich' Begründung der bisherigen Haltung der König⸗ lichen Staatsregierung in der Polenpolitik beschränkt habe.
Wenn der Herr Abgeordnete seine Argumentation, meine Behaup⸗ tungen wären nichtig und willkürlich, auf die Angabe stützt, daß die aggressive Politik, welche die Polen der preußischen Staatsregierung gegenüber einge · schlagen haben, erst durch die Maßnahmen der Bismarck'schen Regie⸗ rung hervorgerufen sei, so kann ich ihm nur empfehlen, in eine Lektüre der polnischen Zeitungen von den Jahren 1848 bis 1862 ein- zutreten, da wird er den Beweis des Gegentheils seiner Behauptungen aus dem Ton der damaligen Presse ohne weiteres entnehmen können. (Sehr richtig) Ich empfehle ihm aber auch gleichzeitig die Lektüre des Allerhöchsten Landtagsabschless, der an den Land⸗ tag der Provinz Posen im Jahre 1841 gerichtet worden ist; schon darin werden die Polen in der gemessensten Weise ermahnt, sich innerhalb gewisser Schranken zu halten. (Bravo! rechts) .
Der Herr Abgeordnete hat außerdem die Schalidylle, die ich gestern zur Sprache zu bringen mir gestattet habe, als eine nichts⸗ sagende bezeichnet, nichts bedeutend gegenüber den Maßnahmen, welche die Königliche Staatsregierung sich auf dem Gebiete der Schulver⸗ waltung zu ergreifen genöthigt sah. Meine Herren, ich habe nicht bloß gesprochen von dem schlafenden Lehrer und der erbsenlesenden Jugend, sondern dabei betont, daß ich mich gleichjeiti; von dem Zu⸗ stande des dꝛutschen Sprachunterrichts in der Schule überzeugt hätte. Nachdem ich hierbei festzestellt hatte, daß ein mir noh dazu als der beste Schüler bezeichneter Knabe nach mehrjührigem deutschen Sprachunterrich te kaum einen Wortschatz von 20 bis 26 deutschen Worten in sich auf⸗ genommen batte, habe ich diesen Fall als den Beweis der Noth⸗ wendigkeit eines Einschreitens der Staats. Schulaufsichtsbehörde an- geführt. (Sehr richtig
Nun, meine Herren, hat der Herr Abgeordnete noch meine Be— hauptung, die unter preußischer Herrschaft lebenden polnischen Bauern erfreuten sich einer höheren Gesittung und Wohlhabenheit als ihre Nachbarn im Königreich Polen und Galizien, einer Kritik unterzogen, die ich als eine unzutreffende bezeichnen muß. Ich kann zur Begründung dieser Behauptung die Herren nur einladen, mal eine Reise nach der Provinz Posen zu machen, von da nach dem Königreich Polen und dann nach Galizien, wo die Herren Polen unter sich sind, und dann eine Bergleichung anzustellen. Sie werden daraus den Schluß ziehen, daß namentlich der Fürsorge der vreußischen Staatsregierung dieses verhältnißmäßig hohe Niveau der Wohlhabenheit und Gesittung unter den polnischen Bauern zuzuschreiben ist. (Sehr richtig) Meine Behauptung stützt sich übrigens nicht auf deutsche Zeitungen oder lediglich auf diejenigen Erfahrungen, die ich als langjähriger Be⸗ amter in verschiedenen Stellungen im Osten der Monarchie gemacht habe. Vielmebr stammt die Betrachtung, daß der polnische Bauer sich einer verbältnißmäßig hohen Wohlhabenhelt und Gesittung unter preußischer Herrschaft erfreuen könne, aus polnischen Zeitungen. (Hört! hört! und Bravo!)
Darauf wird die Debatte geschlossen. Persönlich bemerkt
Aba. von Eynern (al.): Herrn von Köller erwidere ich, daß ich keinen Einfluß auf die Presse habe. Ich habe mich gehütet, den Ruhmestitel der Ostpreußen anzugreifen, aber ich identifiniere diese nicht mit der konservativen Partei. ̃
Der größte Theil des Etats wird der Budgetkommission überwiesen.
Schluß gegen 4 Uhr. Nächste Sitzung Montag 11 Uhr. (Antrag des Abg. Dr. Barth über die Eintheilung der Wahl⸗ kreise; Gesetzentwurf, betreffend Vermeidung der Doppel⸗ besteuerung; Etat.)
Unterrichts⸗ und Medizinal⸗
Land⸗ und Forstwirthschaft.
Für den Beitritt zum ‚Deutschen Forftverein“ ergeht von den Unterzeichneten folgender Aufruf:
„Seit langen Jahren hat sich immer dringender das Bedürfniß fühlbar gemacht, eine wirksame Vertretung für die Gesammtinteressen der deutschen Forstwirthschaft zu schaffen. ö
Auf allen anderen wichtigen Gebieten des Erwerbslebens baben schon längst die Interessenten Vereinigungen gebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die wirthschastliche Lage ihrer Angehörigen zu heben und zu bessern, und es sind dadurch große, zum theil hervor- ragende Erfolge erzielt worden. Der deutsche Wald, der mehr als ein Viertel der Gesammtfläche Deutschlands ausmacht, eines der werth⸗ vollsten Objekte des deutschen Nationalvermögens, entbehrte bisher einer einheitlichen Interessenvertretung.
Wohl besitzen die Slaatsforsten, und in manchen Bundesfiaaten mehr oder weniger auch die Gemeindeforsten, eine geeignete Vertretung in den staatlichen Verwaltungsbehörden der Einzelstaaten. Aber abgesehen davon, daß das Interesse an vielen Waldgebieten entschieden über die Grenzen der Emzelstaaten hinausgeht, fehlte es bis ber völlig an einer Vertretung für die Privatforsten, die den bei weitem größten Theil des deutschen Waldes ausmachen und des wirihschastlichen Schutzes gerade am allermeisten bedürfen.
Bie bestehenden Landes. und Provinzial Forstvereine konnten trotz ibres durchaus segens reichen Wirkens mangels einer zentralen Vereinigung ihre Stimme in wirtbschaftlichen Fragen nicht mit ge⸗ nügendem Gewicht zur Geltung bringen.