1900 / 50 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 24 Feb 1900 18:00:01 GMT) scan diff

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ihr Heil nicht im Kampfe gegen die bürgerlichen Klassen besteht, sondern im Zusammenarbeiten mit denselben. Gerade die Gemeinden können für die Beruhigung dieser jetzt beun⸗ ruhigten Elemente außerordentlich viel thun (sehr richtig!), indem sie in der Ausgestaltung der steuerlichen Verhältnisse, in der Fürsorge auf dem weiten Gebiete des Wohnungswesens und auf allen anderen Gebieten kommunaler Thätigkeit eine warmherzige und offene Hand für die Bedürfnisse des kleinen Mannes zeigen. Und, meine Herren, Gott Lob können wir sagen, daß auch der preußische Staat und daz Deutsche Reich ihrer Pflicht auf diesem Gebiete immer treu geblieben sind. Die Könige aus dem Stamme der Hohenzollern sind von jeher Könige der Geusen gewesen: Fürsorge für die Armen und Bedrängten von der Aufhebung der Erbunterthänigkeit auf den Domänen an bis zu den Großthaten König Wilhelm's JI. auf dem Gebiete der Arbeiterschutzgesetzgebung. Und wie es gewesen ist, so wird es bleiben: die jetzt in der Bearbei⸗ tung befindlichen wesentlichen Verbesserungen der Arbeiterfürsorge⸗ gesetze beweisen, daß die Staatsregierung und die verbündeten Regierungen, wie bisher, so auch in Zukunft, auf diesem Wege einer werkthätigen und warmberzigen Fürsorge für die arbeitenden Klassen weiter voranschreiten werden.

Nun, meine Herren, wenn wir so weiter gehen, so wird es sich, eingestanden oder uneingestanden, doch schließlich in den arbeitenden Klassen bemerkbar machen, daß ihr Heil nicht in dem Glauben an jene Wahngebilde, die die Sozialdemokratie ihnen vorspiegelt, zu finden ist, sondern in dem Zusammenarbeiten mit den bürgerlichen Klassen, in dem Wiederrücktritt in die geordneten Verhältnisse unseres öffentlichen politischen und kommunalen Lebens. Damit diese Entwickelung sich geltend mache, ist es aber unerläßlich, von den Verführten die Verführer zu trennen und die gewerbsmäßigen Hetzer und Streber auf diesem Gebiete nicht zu einem vermehrten Einfluß gelangen zu lassen. Diesen Einfluß würden sie aber erlangen, wenn wir an den Grundlagen unseres Wahlrechts in einer Weise änderten, daß sowohl das Aufsteigen dieser Elemente in die höheren Wählerklassen, als der Uebergang der dritten Klafse an die Sozialdemokratie möglich würde. Ich habe selber im Westen mehrfach Gelegenheit gehabt, zu beobachten, daß ein oder einige Sozialdemokraten der ersten Kategorie wenn ich so sagen soll —, der Verführten, in den städtischen Vertretungen durch⸗ aus ordnungsmäßig mitgewirkt haben lsehr richtig!), sich durch die Sachlichkeit der Dinge baben lenken lassen und nicht durch partei⸗ politische Rücksichten. Aber ebenso hege ich die Befürchtung und sie wird durch anderweitige Vorgänge bestätigt daß, wenn erst die Streber und Hetzer das Heft in die Hände bekommen, wenn sie eine ganze Wählerklasse erorbert haben, es mit der sachlichen Erörterung zu Ende ist und an die Stelle der Förderung der kommunalen Inter⸗ essen die Förderung des Parteiinteresses tritt. (Sehr richtig) Meine Herren, ich brauche in dieser Beziehung nur zu erinnern an das Ver halten der sozialdemokratischen Fraktion in uns nicht fern liegenden großen Städten; ich brauche nur zu erinnern an das Verhalten in vielen sozialdemakratischen Ortskrankenkassen, wo die Fürsorge für die Arbeiter ganz Nebensache ist, wo die Herstellung einer straffen Organisation für die Sozialdemokratie und die angemessene Placierung der gewerbsmäßigen Hetzer, auch wenn sie noch so zweifelhafter Natur sind, an die erste Stelle tritt. (Sehr richtig!)

Also, meine Herren, ich betone nochmals, wir baben uns bei der ganzen Sache leiten lassen durch den Wunsch, die Verschiebung in den Wählerklassen auszugleichen, soweit das möglich ist. Wir halten an diesem Wunsch fest und glauben, daß die drei Modali⸗ täten, die wir Ihnen hier vorschlagen, geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen, je nach der Verschiedenheit der Verhältnisse in den einzelnen Gemeinden. Wir halten ferner daran fest, daß man über das bezeichnete Ziel nicht hinausschießen soll, um nicht Gefahren der von mir beregten Art heraufzubeschwären.

Meine Herren, wenn also diese Verschiedenheit der Verhältnisse die Anwendung eines einheitlichen Maßstabes nicht möglich macht, sondern je nach Verschiedenheit der Verhältnisse auch ein verschiedener Maßstab gefunden werden muß, so bleibt nichts Anderes übrig, als diese Regelung dem Ortsstatut zu überlassen. Nun will ich gar⸗ nicht verkennen, daß diese Regelung nach mannigfachen Richtungen ihre Bedenken hat. Zunächst kommt in Frage, ob man die Regelung von einer Zweidrittel⸗Majorität abhängig machen soll oder von einer einfachen Majorität. Meine Herren, wir haben geglaubt, uns für das letztere entscheiden zu müssen. Erkennt man an, daß eine orts—⸗ statutarische Regelung nothwendig ist, weil, wie gesagt, ein einheit- licher Maßstab sich nicht finden läßt, dann darf man auch die Ein— fübrunz einer solchen ortestatutarischen Regelung nicht in der Weise erschweren, wie es der Fall sein würde, wenn man eine Zweidrittel Majorität in dieser Beziehung erforderte. (Sehr richtig h Ueberdies ist bieher in allen Gemeinde ⸗Verfassungsgesetzen der freien Beschlußfassung der Städte überlassen, über alle Angelegenbeiten ihrer Verwaltungen Beschluß zu fassen ohne eine Zweidrittel. Majorität. Die Gemeinde ⸗Verfassungsgesetze kennen eine solche Zweidrittel ˖Majorität auch bei den allerwichtigsten Entscheidungen nicht, und es ist nicht aniunehmen, warum im vorliegenden Falle von der grundsäͤtzlichen Bestimmung der Gemeindeverfassungsgesetze abgewichen werden soll. Wenn die Gemeindevertretungen z. B. über so schwerwiegende Dinge wie die Einfübrung eines Zensus, die von größerer Tragweite und eine wichtigere Sache ist als die vorliegende, Beschluß fassen konnten, so ist nicht erfindbar, warum sie nicht über die vorliegende Angelegenheit auch mit einfacher Majorität Beschluß fassen sollen.

Dann, meine Herren, ergiebt sich aus der Zulassung des Orts statuts allerdings die Gefahr, daß dadurch gewisse Kämpfe

und Zwiespältigkeiten in die Gemeinden hineingetragen werden,

eine Gefahr, die sich nicht ganz ableugnen läßt, und die nach Möglichleit zu beseitigen oder wenigstens einzuschränken, wir uns bemühen. Wir haben zunächst gesucht, aus diesem Grunde die kleineren Gemeinden bis zu 10000 Seelen von der Regelung, die hier in Frage kommt, ganz auszuschließen. Gerade in den kleineren Gemeinden, wo die Personenfrage außerordentlich mitspielt, wo leicht Personenfragen und persönliche Agitation die sachlichen Rücksichten verdrängen, ist es doppelt bedenklich, eine solche ortsstatutarische Regelung einzuführen. Wir haben deshalb beschlessen oder viel— mehr Ihnen vorgeschlagen —, diese Gemeinden bis zu 10000 Seelen von der Regelung ausjunehmen. Dag rechtfertigt sich auch aus der Erwägung, daß in diesen kleineren Gemeinden eine wesentliche Verschiebung in den Waͤblerabtheilungen thatsächlich nicht stattgefunden hat, daß also bei ihnen im

allgemeinen ein erhebliches Bedürfniß zu einer anderweiten Regelung nicht hervorgetreten ist. Es ist zuzugeben, in gewissen industriellen Landgemeinden, wo sich plötzlich eine große Industrie etabliert hat, wo dadurch die Zusammensetzung der Wählerabtheilungen nach unten verschoben worden ift, ist wohl eine Verschiebung der Wählerabtheilungen eingetreten und ein Bedürfniß zu einer anderweiten Regelung vor⸗ handen; aber das sind nur wenige Ausnahmefälle; ich glaube, es würde nicht richtig sein, wegen dieser wenigen Ausnahmefälle auch alle übrigen Landgemeinden und überhaupt Gemeinden bis zu 10 000 Seelen der Regelung zu unterwerfen. Ich glaube, der Fehler würde größer sein, wenn man von diesen wenigen Ge— meinden auf die Allgemeinheit exempliftzierte, als wenn man die Allgemeinheit maßgebend sein läßt, und dann gewisse Differenzen in einigen anders entwickelten Gemeinden mit in den Kauf nehmen muß.

Daß kein erhebliches Bedürfniß bei diesen kleineren Gemeinden eingetreten ist, dafür bitte ich um die Erlaubniß, Ihnen noch einige wenige Daten anführen zu dürfen. Nach einer aufgemachten Zu⸗ sammenstellung hat sich bei den Landgemeinden ohne industriellen Charakter, und zwar bei 129 Probegemeinden, die Zahl der Wähler im Jahre 1891 auf 3817 gestellt und ist nach den gegenwärtigen Be⸗ stimmungen sogar auf 3979 gestiegen, hat also eine, wenn auch nicht erhebliche, Zunahme erfahren, nicht aber eine Minderung. Auf Tausendtheile der Gesammtzahl der Einwohner berechnet, sind in diesen 129 Landgemeinden im Jahre 1891 entfallen in der zweiten Klasse 19,52 und gegenwärtig 19,83 Wähler, also auch hier wieder eine gewisse Zu⸗ nahme, nicht aber ein Zusammenschmelzen der oberen Wähler abtheilungen. Dann sind Aufnahmen gemacht in 120 Landgemeinden in Ostpreußen, Pnmmmern, Westpreußen, Schlesien, Sachsen und West⸗ falen; sie decken sich also weder an der Zahl noch an der örtlichen Begrenzung mit den vorhergehenden. Unter diesen 119 Landgemeinden hat sich eine Verschiebung der Wählerzahl von 1891 bis 1895 nur um 1,28 0, ergeben, also, meine Herren, auch hier nur eine sehr geringe Verschiebung zu Ungunsten der unteren Klasse.

Um nun aber diese Gefahren, die mit einer ortsstatutarischen Regelung verbunden sind, nach Möglichkeit weiter einzuschränken, ist vorgesehen, daß ein ortsstatutarischer Beschluß nur erfolgen darf ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Gesetzes, und dann immer nur in einem weiteren Zeitraum von 10 Jahren. Ebenso ist jede Ab⸗ änderung eines einmal gefaßten Beschlusses an diese Frist gebunden. Wenn man also die Regelung 10 Jahre lang unter allen Umständen bestehen läßt, so ist die Hoffnung begründet, daß sich die Erregungen und Streitigkeiten in der Gemeinde wenigstens auf ein geringes Maß reduzieren lassen.

Meine Herren, es giebt in allen Gemeinden eine große Anzahl von Differenzpunkten, von Ansichtssachen, die vielleicht noch von größerer Bedeutung sind wie die vorliegende und trotzdem zu einer schweren Störung des Friedens nicht geführt haben. Ich erinnere nochmals an die Frage der Einführung des Zensus eine Frage, die von ganz besonders großer Bedeutung war. Obwohl auch sie der orts.« statutarischen Regelung überlassen war, kann man kaum behaupten, daß daraus sich unerträgliche Zustände ergeben hätten.

Wir hoffen also, wenn in dieser Weise die Zeitdauer festgelegt wird, daß dann sich auch dieses Maß von Erregung und Erörterung in den einzelnen Gemeinden als ein erträgliche erweisen wird.

Meine Herren, ich kann meine Ausführungen schließen und kann nochmals betonen, daß wir von dem lebhaften Wunsch getragen worden sind, die Kommunalwahlreform endlich zu einem Abschluß zu bringen, und ich bitte Sie alle, bei dieser Frage alle Parteirüc'⸗ sichten aus dem Spiele zu lassen, denn eine Frage von einer derartigen Bedeutung darf nur von allgemeinen und objektiven Gesichtspunkten aus geleitet werdes. Meine Herren, die Dinge wandeln sich sehr schnell im Laufe der Jahre. Was heute einer Partei zu gute kommen kann, kommt in fünf, zehn oder zwanzig Jahren einer ganz anderen Partei zu gute. Und dann, meine Herren, wenn wir einer⸗ seits den Wunsch haben und hoffen, daß er endlich zur Realisierung gelange, die Verschiebung in den Wählerabtheilungen wieder aus—⸗ zugleichen, so haben wir andererseits den Wunsch, an den Grund⸗ lagen unseres kommunalen Wahlrechts nicht rütteln zu lassen, um zu vermeiden, daß sich für unser ganzes kommunales Leben Fragen er⸗ geben, die sich in ihrem Umfange im Augenblick noch garnicht über⸗ seben lassen. (Bravo! bei den Nationalliberalen.)

Abg. Dr. Schnitzler (al): Wir sind alle bereit, an der Aus⸗ gleichung der Verschiebungen des Wahlrechts mitzuarbeiten. Meine Partei bat immer den Standpunkt vertreten, daß die G-meinde⸗ interessen über die Parteiinteressen gehen müssen. Daß plutokcatische Wirkungen der Sleuerreform eingetreten sind, erkennen wir an, aber nicht, daß die Vertreter der ersten und zweiten Klasse ihren Einfluß gemißbraucht haben. Wir können heute noch nicht entscheiden, ob die Vorschläge der Vorlage richtig sind; wir müssen erst das ge— sammte Material prüfen. Der Redner äußert verschiedene Bedenken r die Vorlage, j. B. bezüglich des Durchschnittsprinzips, der orts- tatutarischen Regelung u. s. w., bleibt aber im einzelnen völlig un verstãndlich.

Abg. Dr. von Heydebrand und der Lasa (kons): Meine Freunde sind damit einverstanden, daß die Regierung an eine Reform des Wahlrechts herangegangen ist, um den Einfluß des Großkapttals zu beschränken und den des Mittelstandes zu stärken. Für uns handelt es sich bierbei lediglich um den Mittelstand, der mitarbeiten muß, weil er mitbezahlt. Es liegen tbatsächlich Mißstände in der Zusammensetzung der Wählerabtheilungen vor, und wir werden eifrig an der Vorlage mitarbeiten. Die sämmtlichen Gemeinden, große und kleine, in Stadt und Land können nicht gleichmäßig behandelt werden; wir begrüßen deshalb den Vorschlag mit Freuden, daß die Gemeinden unter 10 000 Einwohnern herausgelassen werden sollen. Ob diese Zabl richtig gewählt ist, kann allerdings noch näher geprüft werden. Alle neuen Vorschläge dieser Vorlage können wir nicht annehmen. Ich verstehe es z. B. nicht, wie die , . im Gegensatz zur vorigen Vorlage es zulassen will, daß die ‚Dreimärker“, die nichts bezablen, sondern nur mit diesem fingierten Steuersatz hinzugerechnet werden, auch in die zweite Klasse gelangen können, während sie die vorige Vorlage berechtigterweise auf jeden Fall der III. Klasse zuwies. Darauf können wir uns nicht verlassen, daß die einflaͤßreichen Leute in der J. Abtbeilung immer nach obsektiven Rücksichten urtheilen; wer die Macht hat, für den besteht die Objektivität nicht. Die statutarische Freibeit kann nicht so bleiben, wie die Vorlage vorschlägt, sie muß durch das Gesetz selbst weiter beschränkt werden; die Sn einer so wichtigen Frage darf nicht allein in die Hand der Behörden gelegt werden, sondern wir müässen bestimmte Prinzipien dafür aufstellen. Daß die Zustände des Jahres 1891 durchaus zu Grunde zel gt werden müssen, kann ich nicht jugeben; wir haben doch keine eranlassung, gerade die Verhältnisse dieses Jahres zu verewigen; aber immerhin können dieselben wenigstens besonderg mit sprechen. Wir sind Alle nach dem Dreiklassenwahlspstem gewäblt und haben das dringende Interesse, dieses System aufrecht zu erhalten. . werden mitarbeiten, um etwas wirklich Gutes zu stande zu

ringen.

Abg. Dr. Bachem (Zentr.): Der nationalliberale Redner will ohne jede Voreingenommenheit an dieser Vorlage mitarbeiten, aber

von Heydebrand schlug schon einen ganz anderen Ton an. Dieser at schon schwere Bedenken. Die Vorlage entspricht auch weit mehr den Interessen der nationalliberalen Partei, als von der Rechten ge. billigt werden kann. Herr von Heydebrand will auch den Mittelstand vertreten und hat sehr schöne Worte darüber gesprochen. Aber der Minister und Herr Schnitzler haben vom Mittelstand überhaupt nicht geredet, began bat der letzere recht viel von der ersten Klasse ge⸗ sprochen. Das Wahlrecht kann nicht so bleiben, wie es ist, auch nicht so, wie es 1891 war; das hat selbst Herr von Heydebrand anerkannt und er will entscheidende Aenderungen in der Kommission vornehmen. Wir werden abwarten, was aus der Kommission berauskommt. Herr Schnitzler hat nur in ganz kleinen Dingen das Gesetz kritisiert. Der Minister erhofft von der Vorlage eine Stärkung der Objektivität in den Gemeindevertretungen; die Nationalliberalen haben aber in der vorjäbrigen Kommission ausgesprochen, daß sie sich nicht aus ihren Sitzen verdrängen lassen wollen. Vor der Sozialdemokratie haben sie damals keine Furcht gehabt, sondern offen ausgesprochen, daß ez unangebracht sei, das Zentrum zu stärken. Ich bin ehrlich genug, zu erkläten, daß ich in dieser Sache Parteivolitik treibe, weil die Wähler, die hinter uns stehen, bisher in unberechtigter Weise zurückgedrängt worden sind. Unsere Parteipolitik geht dabin, im Interesse des Mittelstandes und der breiten Masse des Volkes eine gerechte Ein. theilung der Wählerabtheilungen vorzunehmen. Einer solchen Partei⸗ politik brauchen wir ung nicht zu schämen. Die vorjährige Vorlage sah einfach das Durchschnittsprinziv vor, die Nationalliberalen be— antragten die Zulassung des Ortsstatuts. Der Finanz⸗Minister von Miquel betonte im vorigen Jahre in der Kommission, daß das Richtige die gesetzliche Regelung sei, und so kam nur das Kompromiß zu stande: Ortsstatut mit qulifizierter Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen, und heute scheint dem Minister von Rheinbaben da beste das Ortsstatut mit einfacher Mehrheit zu sein. Diese Ver. änderung in der Stellung der Regierung ist uns unverständlich. Will man das Ortsstatut zulassen, so hat es viel größere Bedeutung, wenn es mit Zweidrittel ˖ Mehrheit beschlossen ist. Mit einer Stimme Mehrheit können die wichtigsten Dinge beschlossen werden, nach 10 Jahren kann wieder mit einer Stimme das Ortsftatut umgestoßen werden, und nach abermals zehn Jahren können wieder fundameniale Aenderungen vorgenommen werden. Das ist nicht konservariv. Dieser dauernde Verfassungskampf muß zu den größten Unzuträglich. keiten in den Gemeinden führen. Die vorjährige Vorlage hatte wenigstens ein fest's Prinzip. Wenn Sie durchaus die Ver⸗ hältnisse des Jahres 1891 wollen, so beschließen Sie doch einfach: Die Wäblerabtheilungen werden so zusammengesetzt, wie sie 1891 waren. Wir haben von vornherein auf dem Standpunkt gestanden, daß uns die Steuerreform den Anlaß zu einer gesunden sozialpolitischen Aenderung des Wahlspstems überhaupt geben muß in der Richtung einer Stärkung des Mittelstandes. In der ersten Klasse sollen die reichen Leute, in der zweiten der Mittelstand und in der dritten die breite Masse des Volkes wählen. Diesem Prinzsp entspricht die Vorlage nicht. Die Befürchtungen vor der Sozialdemokratie sind nicht be— gründet. Es ist ein Unterschied zwischen Landtags⸗ und Kommunal⸗ wahlen, bei diesen haben wir doch einen ganz erheblichen Zenfus, und die Mehrheit der Gemeindevertretungen wird sich nicht von den Sozialdemokraten ins Schlepptau nehmen lassen, selbst wenn sie die ganze dritte Abtheilung erobern sollten. Hier handelt es sich darum, den Mittelstand politisch selbständig zu machen, das ist wichtiger als eine Waarenhaussteuer. Mit diesem Gesttz geben Sie den Gemeinden die vollständige Autonomie, sich unter den drei Möglichkeiten eine beliebig auszuwählen, und die Mehrheit wird sich das aussuchen, was zur Wahrung ihres Einflaͤsses am besten paßt. Auf Objektivität können wir dabei nicht rechnen Dieses Gesetz ist nicht von großen, gesunden, staats⸗ männischen Gedanken eingegeben, sondern von dem kleinlichen Gesichts⸗ punkt, ein einzelnes Normaljahr festzuhalten, und es wird nur das Kliquenwesen befördern. Unsere Kommunalverwaltungen müssen auf eine breitere Grundlage gestellt werden durch Stärkung des Einflusses des Mittelstandes. Versäumen Sie nicht diese Gelegenheit. Diese Reform ist uns feierlich versprochen worden, aber wir können die Vor⸗ lage nicht als eine Erfüllung der feierlichen Versprechuagen ansehen. Wir werden an der Verbesserung der Vorlage mitarbeiten; ob wir sie schließlich annehmen können, steht dahin.

Minister des Innern Freiherr von Rheinbaben:

Meine Herren! Ich bitte um die Erlaubniß, mit einigen Worten auf die Ausführungen der Herren Abgg. Dr. Bachem und Dr. von Heydebrand antworten zu dürfen. Der Herr Abg. Dr. Bachem sprach zunächst von einer Zeitungsmeldung, die sich auf den Herrn Vize⸗ Präsidenten des Staats⸗Ministeriums und mich bezog. Meine Herren, mir ist von einer derartigen Aeußerung nichts bekannt, und ich glaube, wir thun gut, derartige unbeglaubigte Aeußerungen hier aus der Diskussion auszuschließen. (Sehr richtig! rechts.)

Dann hat der Herr Abg. Dr. Bachem einen, ich muß sagen, ganz neuen Gedanken ausgesprochen. Er hat bemängelt, daß die Vor⸗ lage dabin geht, die Zustände des Jahres 1891 wieder herzustellen. Meine Herren, das ist der Ausgange punkt der ganzen Verhandlungen auch im vorigen Jahre gewesen; darüber sind die Parteien doch einig gewesen, daß das Gesetz diesen Zweck haben soll. (Zuruf im Zentrum: Niemals!) In der Kommissionsberathung kann ich immer nur die Uebereinstimmung darüber finden, daß das Gesetz den Zweck haben soll, die Verschlebungen wieder auszugleichen, die durch die Steuerreform in den Zusammensetzungen der Wählerabtheilungen hervorgetreten sind. Nur darum hat es sich gehandelt, und da die Verschiebungen durch die Steuerreform eingesetzt haben mit dem Jahre 18591, so ist in den ganzen Verhandlungen immer davon ausgegangen worden, die Zustände von 1891 wirder herzustellen. Ich wüßte auch nicht, wie man einen anderen Maßstab dafür finden wollte. Die Ideen des Herrn Abg. Dr. Bachem gehen ja viel weiter; die wollen überhaupt die ganze Entwickelung unseres Kom munalwahlrechts, wie sie sich auf Grund des Dreiklassenwahlsystems vollzogen bat, umstürjen und auf eine ganz andere Basis bringen. Dag sind ganz neue Gesichtspunkte, die weit über das hinausgeben, was bisher, wie ich annehme, als die Absicht der Staatsregierung und des hohen Hauses bezeichnet worden ist.

Dann hat der Herr Abg. Dr. Bachem bemängelt, ich hätte nicht vom Mittelstand geredet. Ich erlaube mir, das in Zweifel zu ziehen. Ich habe wiederholt ausgesprochen, daß die Staatsregierung an der Ansicht festhält, den Kreisen der Bevölkerung, die durch die Steuerreform in ihrem Wahlrecht verlürzt worden sind, und das ũist eben der Mittel⸗ stand dieses Wahlrecht wiederzugeben, und ich habe wiederholentlich betont, daß wir an dieser Auffassung festgebalten und demgemãß die se Vorlage gemacht haben, obwohl seitens der Provinzialbehörden eine dringliche Veranlassung, den Weg der Reform zu beschreiten, nicht anerkannt worden ist.

Also, meine Herren, ich glaube, darüber keinen Zweifel gelassen zu haben, daß die Staatsregierung mit dem Abg. Bachem in dem Wunsche einig ist, dem Mittelstande wieder das Maß von Wablrecht einjurãumen, was ihm zustand und was ihm durch die Wirkung der Steuerreform in gewissem Sinne genommen worden ist.

Nun, meine Herren, die Frage, ob einfache Majorität oder Zwei drittel ⸗Majorität! Ich halte das garnicht für eine Kardinalfrage und glaube, daß die Sache auch aus den Kommissionsverhandlungen

des vorigen Jahres hervorgeht. Der Herr Abg. Bachem hat die Güte gehabt, einige Mittheilungen daraus zu machen. Ich werde mir erlauben, auch einige Mittheilungen über die Stellungnahme des Herrn Vie Präsidenten des Staats. Ministeriums zu machen. Daraus wird heworgehen, daß auch er die Sache als durchaus diskutabel und nicht von besonderer Bedeutung bezeichnet hat. Der Herr Vize Präͤsident e: 2 Thatsächlich sei nach den vorliegenden Berichten der Unterschied sehr gering, ob man für die Beschließung des Ortzstatuts eine Zwei⸗ drittel ⸗Mehrheit oder eine einfache Mehrheit verlange. Dann sagte er weiter:

Falls die Mehrheit des Landtages sich für die einfache Mehrheit ausspreche, würde er persönlich möglicherweise sich auch damit ein⸗ verstanden erklären können. In der Praxis mache es kaum einen Unterschied, ob eine einfache oder Zweidrittel Mehrheit verlangt werde.

Gndlich spricht er sich nochmals namens der Regierung dahin aus:

Die Regierung würde vielleicht das Kompromiß annehmen, möglicherweise auch, wenn einfache Mehrheit für die Beschlüsse der Gemeindevertretung vorgeschrieben werde.

Also der Herr Vize Präsident hat diese Frage als durchaus diekatabel hingestellt.

Nun hat der Herr Abg. Bachem die Befürchtung ausgesprochen, daß, wenn man eine einfache Mehrheit als ausreichend ansähe, sich daraus fortwährend Kämpfe ergeben würden. Meine Herren, ich kann nicht einsehen, wie in der Sachlage irgend etwas geändert wird, wenn einfache oder Zweidrittel Majorität eingeführt wird, die Kämpfe in der Gemeinde bleiben genau dieselben, und gerade um den letzten Mann, der gerade die Zweidrittel⸗Majoritãt ausmacht, werden erst recht sehr lebhafte Kämpfe entstehen; man wird gerade den letzten Mann auf die linke oder rechte Seite zu ziehen suchen mit erlaubten oder unerlaubten Mitteln. (Sehr richtig) Also die Diskussion kann in der Gemeinde auch bei Zweidrittel⸗Majorität nicht ausgeschlossen werden. Ich habe gar kein Hehl daraus gemacht, daß diese ganze ortsstatutarische Regelung gewisse Bedenken hat. Man kann siꝛ aber nicht umgehen, weil, wie ich glaube bewiesen zu haben, ein Modus sich nicht finden läßt, der bei den großen Verschiedenheiten der Monarchie einheitlich und gleichmäßig das Ziel erreicht, die Ver⸗ schiebungen in der Zusammensetzung der Wählerabtheilung zu be- seitigen.

Dann hat Herr Bachem, abweichend von meiner Auffassung, die Gefahren, die aus der Zunahme der Sozialdemokratie zu besorgen sind, geringer eingeschätzt als ich. Meine Herren, das ist eben Auf⸗ fassungssache. Ich halte bei einem Gesetzentwurf, der auf lange Jahr⸗ zehnte hinaus zu wirken bestimmt ist, es für eine Pflicht der Staats regierung wie des hoben Hauses, mit äußerster Vorsicht zu verfahren, nicht bloß die gegenwärtigen Zustände ins Auge zu fassen, sondern auch die Entwickelung in der Zukunft; und wie die Entwickelung in Zukunft sein muß auf diesem Gebiet, habe ich, wie ich glaube, zablen⸗ mäßig dargelegt. Ich glaube, daß die Entwickelung derart ist, kann keinem Zweifel unterliegen. Wenn Sie aber auch nur die gegen⸗ wärtigen Verhältnisse ansehen, finden Sie, daß wir in 42 Städten und in 305 Landgemeinden bereits theilweise sozialdemokratische Gemeindevertreter haben, und zwar beberrschen sie zum theil die dritte Klasse vollkommen; in einzelnen Fällen haben wir selbst bis zu 50 bis 70 / Sozialdemokraten in den kommunalen Vertretungen. Also ich meine, das ist eine Sache, die doch sehr ernstlicher Erwägung bedarf, zumal, wie schon aus den Daten hervorgeht, sich das Eindringen der Sozialdemokratie durchaus nicht auf die dritte Klasse beschränkt, sondern sich in Landgemeinden auch auf die zweite, ja selbst auf die erste Klasse ausgedehnt hat.

Nun hat der Herr Abg. Bachem und auch Herr von Heydebrand bemängelt, daß der Grundgedanke des Gesetzes, es müsse derjenige Modus gewählt werden, der die Verschiebung in den Wähler abtheilungen am besten auszugleichen in der Lage ist, nicht präziser jum Ausdruck gekommen ist. Meine Herren, über die Tendenz des Gesetzes kann, glaube ich, ein Zweifel garnicht obwalten, und danach haben sich alle betheiligten Behörden zu richten: der Kreisausschuß, der Bezirksausschuß, der Provinzialrath, und ich vermag den Zweifel nicht zu theilen, daß diese Behörden dieser ihrer Aufgabe, wie sie sich aus dem Gesetz ergiebt, nicht gerecht werden würden. Ich bin aber durchaus damit einverstanden, daß wir in der Kommission erwägen, ob man nicht diese Direktiven mich in das Gesetz selber hineinarbeitet, und ich bin gern bereit, auch an diesen Arbeiten zu betheiligen.

Meine Herren, dann hat der Herr Abg. von Heydebrand noch ein spenielles Bedenken hervorgehoben, über das ich ihn, glaube ich, be—⸗ ruhigen kann. Herr von Heydebrand hat eine Bestimmuug vermißt, daß die Dreimarkleute nur in der dritten Klasse wählen sollen, wenn ich recht verstanden babe. Wir haben diese Frage natürlich auch erwogen; nach unseren Ermittelungen kommt aber der Fall, daß diese Dreimarkleute in die zweite oder erste Klasse gekommen wären, überhaupt nicht vor, und deswegen haben wir eine solche Bestimmung als entbehrlich weggelassen.

Ich glaube, meine Herren, damit im wesentlichen die Punkte be⸗ rührt zu haben, auf die ich im Augenblick antworten mußte.

Abg. Freiberr von Zedlitz und Neukirch (fr. kons ): Die beiderseitigen Parteistandpuntte sind unberechtigt, man muß die Vorlage ganz objektiv beurtheilen nach ibrem Zwecke. Die zweite Klasse muß wesentli h vom Mittelstand beberrscht werden. Aber das Wahlrecht derjenigen, welche am meisten Steuern zablen und durch die Steuer⸗ teform wesentlich mehr belastet sind, darf nicht geschmälert werden. Es handelt sich nur um die Beseitigung der Verschiebungen durch die Steuerreform, um Zurückführung der Verhältnisse auf diejenigen vor dieser Reform. Weitergebende Ziele dürfen wir hierbei nicht ver⸗ ken Die Vorlage glebt im wesentlichen die Mittel richtig an, sie entspricht auch den Vorschlägen der Kommission. Dle Fort- lassung der Bestim mung über die Dreimarkleute aus der Vorlage ist richtig, sie könnte fonst bedenkliche Folgen auch für das Landtags⸗ wabltecht haben. Die Differennierung der Gemeinden mit mehr oder weniger als 10 000 Ginwohnern ist ein richtiges Prinzip. Auf das Durchschnitts prinzip dürfen wir uns nicht so“ festlegen, daß es

auch zum Ausgangspunkt für eine Aenderung des Landtags wablrechts genommen wird. Die Zwölftelung ist ein richtiges und unschädliches Sicherhefitsventil für das Durchschnittsprinzipß, denn ant lönnten bei den steigenden Löhnen doch vielleicht die breiten assen auf Kosten des Mittelstandes ausschlaggebend werden. j Bachem unterschätzt die Gefahr der Sojlaldemokratie für * Gemeinden. Bie Erhöhung. des Durchschnittgß um 50 o/o uich Ortsstatut kann uns dem früheren Verhältnisse leicht wieder näher sübren. Wenn eine Gemeinde dieses Recht mißbraucht, wird 1 Benrkzaugschuß eg nicht genehmigen, und dann bleibt ez einfach * reinen Durchschnittsprinziy. Mit einfacher Mehrheit werden

9 sämmtlich. Beschlüffe in diesem Hause gefaßt, und wir werden

an eine Einführung der Zweidrittelmehrheit denken. Mit be—

sonderen Direktiven für die Gemeinden im Gesetz würden wir nicht weit kommen; auch der Kompromißantrag Fritzen. Sattler im vorigen Jahre enthielt keine Direktiven. An den Grundlagen des Wahl systems darf nichts geändert werden. Wir müssen und können die Hoffnung haben, daß die Gemeinden das Gesetz richtig ausführen.

Abg. Wintermeyer (fr. Volksp.): Auch für uns ist diese Frage keine Machtfrage. Wir wünschen die Einführung der geheimen Stimmabgabe, mit dieser schwinden alle Bedenken wegen der Auf⸗ regung in den Gemeinden. Eine wirklich Reform ist die Vorlage nicht. Eine plutokratische Wirkung bat das Wahlsystem schon vor der Steuerreform gehabt; man sollte sich also nicht auf das Jahr 1891 festlegen. Wenn wirklich die Vorlage die Wähler der zweiten Klasse von 13 auf 21 0 vermehrt, so ist das auch noch nicht sehr hoch. Es handelt sich aber auch um die erste Klasse. Die plutokratische Wirkung der Steuerreform liegt ja auch darin, daß einige wenige reiche Leute die erste Klasse bilden. Die Vorlage läßt aber die erste Klasse un⸗ angetastet; deshalb müßte das Durchschnittsprinzip auch auf die erste Klasse ausgedehnt werden. Für die Erböhung des Durchschnitts um 50G können meine Freunde nicht stimmen. Es ist gerade zweck⸗ mäßig, die Sozialdemokraten in den Gemeinden mitarbeiten zu lassen, dadurch werden sie am besten bekämpft. Wenn die Regierung der Ansicht ist, daß die Sozialdemokratie nur eine vorübergehende Er- scheinung ist, sollte sie sich freuen, wenn sie durch die Mitarbeit von ihren Phantastereien abgelenkt wied. Eine größere Einseitigkeit kann ich mir garnicht denken, als wenn man das Wahlrecht einer großen Volksmasse beschränkt. Wie die Regierung an den Grundlagen des preußischen Wahlrechts festhält, wird sie hoffentlich auch die Be⸗ strebungen zur Aenderung des Reichstazswahlrechts abweisen. Wir a Eben sb aus dieser Vorlage ein brauchbares Gesetz zu machen

n wird.

Abg. von Eynern (ul.): Herr Bachem meint, wir wollten nicht aus unserem Besitzstand herausgedrängt werden. In Rheinland und Westfalen, worauf er wohl anspielte, ist ein nationalliberaler Besitz⸗ stand in den Gemeindevertretungen überhaupt nicht vorhanden. Der Kampf gegen die ultramontanen Bestrebungen wird dort von allen 2 gemeinsam geführt. Gerabe in den nationalliberalen Wabl⸗ reisen des Westens treten Parteibestrebungen am wenigsten hervor. Wohl aber ist dies bei den Ultramontanen der Fall, z. B. in Barmen und Elberfeld. Herr Bachem erklärt, er und seine Freunde wollten gerade mit die sem Gesetz Parteipolitik treiben. Das übersteigt das Maß von Unvorsichtigkeit, das wir bisher gewöhnt waren. Baß er seiner Partei damit keinen Dienst gethan hat, kann er sich selbst denken. Mein Freund Schnitzler hat den Ausdruck ‚Mittelstand“ nicht gebraucht. Das war auch nicht nöthig, denn wenn wir den Zu— stand von 1891 wiederherstellen wollen, dann treiben wir damit Mittelstande pol itit.

Abg. Ehlers (freis. Vgg.): Der Verlauf der Sache wird davon abhängen, ob die Konservativen lieber mit den Nationalliberalen oder mit dem Zentrum gehen. Man unterschätzt die Wirkung dieser Vorlage, eine wesentliche Reform bringt sie nicht. Die Regierung sagt jetzt das Gegentheil von dem, was Herr von Miquel im vorigen Jahre sagte Seine Bedenken gegen die ortsstatutarische Regelung gelten auch heute noch; dadurch wird nur der Kampf um das Wahl⸗ recht in die Gemeinden geiragen, und in diesen würde der Kampf nach parteipolitischen Rücksichten noch viel schlimmer werden als bis⸗ her. Die Vorlage ist durch die neuen Zusätze noch bedenklicher ge—⸗ worden als die vorjährige. Ganz unverständlich ist mir die Be⸗ stimmung, daß das Durchschnittsprinzip wieder um 50 0/ verändert werden kann. Was aus der Sache wird, weiß man noch nicht; es kemmt darauf an, welche Parteien die Sache machen werden. Meine kleine Fraktion wird keinen Einfluß darauf haben.

Abg. Fuchs (Zentr.): Jede Partei muß Parteipolitik treiben, wenn sie sich nicht aufgeben will, es kommt nur darauf an, was für eine Parteipolitik sie treibt. Die Nationalliberalen kehten nur die Machtfrage berauß, und wenn es nach ihnen ginze, müßte das Gesetz heißen: Gesetz zur Sicherung der Herrschaft der nationalliberalen Partei in Rheinland und West—⸗ falen. Wir wollen dagegen nur den Mittelstand stärken. Wir Katholiken halten fest am Mittelpunkt der Kirche, an Rom; das Weltwerk der Kirche ist unser Glaubensbekenntniß. Die National⸗ liberalen meinen aber, für uns sei im preußischen Staat kein Platz.

Von Toleranz kann bei den Nationalliberalen keine Rede sein, fie

wollen den letzten Schwarzkittel aus der Gemeindevertretung beraus« bringen. Wir haben jetzt infolge der Verschiebungen, nicht erst seit der Steuerreform, sondern seit Jahrzehnten, nicht mehr ein Drei⸗ klassenwahlspstem, sondern nur noch eine Karikatur desselben.

Abg. Kreitling (fr. Volkep.): Regierung und Parteien sind darin einig, daß das Wahlsystem so schiecht ist, daß es geändert werden muß. Wir werden das Gute, wag die Vorlage enthält, an⸗ nehmen. Die Sozialdemokraten arbeiten hier in Berlin eifrig mit, wir wehren aber einen übermäßigen Einfluß derselben ab. In Berlin entfallen auf die dritte Wählerklasse 97 /o. eine Zahl, die wohl deutlich genug spricht. Die Eintheilung der Wähler in die drei Ab—⸗ tbeilangen ist eine rein mechanische, bei gleichem Steuersatz entscheidet das Alphabet der Namen; Hasse kommt noch in die zweite, Hesse aber schon in die dritte Abtheilung.

Minister des Innern Freiherr von Rheinbaben:

Meine Herren! Ich wollte zunächst in einem Punkt dem Herrn Vorredner widersprechen. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, ging er im Eingange seiner Ausführungen davon aus, daß die Staats regierung und das hohe Haus über die Unzulänglichkeit eder Unbrauch barkeit der Ausdruck ist mir nicht mehr gegenwärtig des Drei⸗ klassenwahlsystems einig wären, da kann ich nur sagen: parlez pour vous! (Heiterkeit) Die Staateregierung steht nicht auf dem Stand⸗ punlt.

Dann hat der Abg. Kreitling mit Recht einen Punkt angeregt, der für die Vollziehung der Gemeindewablen in den großen Städten von großer Bedeutung ist, nämlich die Frage der Zulässigkeit von Ab⸗ stimmungsbezirken, nicht von Wahlbezirken, die besondere Verordnete in die städtischen Kollegien entsenden, sondern von Abstimmungsbezirken, deren Resultat nachher zusammengestellt wird, um einen Kandidaten zu wählen. Der Herr Abg. Kreitling irrt nur insofern, als er glaubt⸗ daß diese Unzulässigkeit von Abstimmungsbezirken auf einer Verfügung meines Herrn Amtsvorgängers beruht, sie berubt thatsächlich auf der Entscheidung des Ober ⸗Verwaltungsgerichts. Dieses hat neuer dings erkannt, daß die Bildung solcher Abstimmungsbezirke nicht zulässig sei, weil die Städteordnung von einem Wahlvorstand spricht, und dieser Bestimmung genügt es also nicht, wenn verschiedene Ab stimmungabezirke gebildet werden, die jeder wieder einen Wahlvorstand für sich haben, da dann nicht die Einheitlichkeit der ganzen Wabl⸗ handlung gewährleistet sei, wie sie die Städteordnung beabsichtigt. Nun ist nicht zu verkennen, daß diese Entscheidung des Ober⸗ Verwaltungsgerichts für die großen Städte ganz außer⸗ ordentliche Mißstände mit sich bringt. (Sehr richtig! Ich habe Veranlassung genommen, bei den Behörden eine Rundfrage darüber zu halten, wie diese Mißstände zu beseitigen seien. Das Ober⸗Verwaltungsgericht hat seinerseits die Anregung gegeben, an verschiedenen Tagen wählen ju lassen, um dadurch das Zusammen⸗ strömen einer zu großen Menschenmenge an einem Tage urd in einem Lokale zu verhüten. Allein bei Verhältnissen, wie sie sich in Berlin herausgebildet haben, ist dieser Aushilfsweg unzureichend und vielleicht nicht gangkar. Ich bin im Begriff, zu erwägen, ob man nicht durch ine kleine zusätzliche Beflimmung zur Städte⸗ ordnung die Bildung von mehreren Abstimmungsbezirken für zulässig erklärt. Die Erwägungen sind noch nicht abgeschlossen. Im

Grunde kann ich aber Herrn Abg. Kreitling nur beistimmen, daß die jetzige Situation fär das Wablgeschäft in großen Städten erhebliche Mängel mit sich bringt.

Abg. Dr, van der Borght (ul): Ich beantrage die Ueber- weisung der Vorlage an eine Kommission von 21 Mitgliedern. Daß wir uns gegen den übermäßigen ultramontanen Einfluß wehren, kann uns niemand übelnehmen. Für die Katholiken baben wir in Preußen immer Platz, aber wir möchten doch nicht, daß sie überwuchern. Wie steht es denn mit der Toleranz des Zentrums? Für dieses ist es z. B. eine Kabinetè frage gewesen, ob an die Spitze eines Wasserwerks in Aachen ein Direktor gestellt werden könnte, der eine protestantische Frau habe. Gewiß hat die Reglerung ibre Stellung geändert, aber soll sie denn gar nichts Neues lernen? Die Sozialdemokraten können die Gemelndeverwaltungen fortgesetzt in Unruke halten durch Anträge und Reden, wie wir es ja auch im Reichstag erleben. Wenn Herr Bachem meint, die Nationalliberalen werden sich das ihnen auf den Leib ge⸗ schnittene Wahlsystem ohne jede Obj ktivität heraussuchen, so werden das wohl auch die Ultramontanen thun. Das Zentrum scheint dies—⸗ mal die ibm von den Konservativen dargereichte Bruderhand in dieser Angelegenheit ergreifen zu wollen.

Abg. Dr Irmer (kons.): Der Vorredner scheint trotz dieser Debatten nicht abgeneigt zu sein, in die dargereichte Bruderhand ein⸗ zuschlagen Herrn Kreitling erwiodere ich, daß die Konservativen nicht das Dreiklassenwahlsystem verwerfen; wir wollen es im Gegentheil konservieren und deshalb die Verschiebungen beseitigen, um es damit weiteren Angriffen zu entziehen.

Abg. Sittart (3entr.) erwidert dem Abg. van der Borght, daß keine Stadt so solerant sei, z. B. auf dem Schulgebiet, wie gerade Aachen.

Abg. von Eynern: Ich habe nie gesagt, für die Katholiken sei kein Platz; wenn sie alle weggingen, einen Fuchs würde ich behalten.

bg. Kreitling; Mit unserem Urth il über das Wablrechts— system stehen wir nicht allein da. Sie wissen ja, wer auch so ge⸗ urtheilt hat, wie wir.

Abg Fuchs: Herr von Cynern begreift sehr schwer. Ich sagte:

Wenn sie den Ultramontanismus bekämpfen, bekämpfen Sie den Katholizismus. Wer nicht ultramontan ist, ist nicht katholisch. Ultramontan sein beißt: den katholischen Glauben praktizieren, seine Grundsätze überall im Leben anwenden. Wenn Sie es noch nicht be— greifen, will ich es Ihnen zum vierten Mal sagen. ‚Aog. von Eynern: Die Darlegungen des Aba. Fuchs waren überflüssig. Jh glaube, gegen die Behauptung, daß Ultramontanismus und Katholizismus zufammenfallen, würde selbst der Papst in Rom protestieren. . .

Darauf wird die Vorlage einer Kommission von 21 Mit— gliedern überlassen. .

Schluß 31/ Uhr. NVächste Sitzung: Montag 11 Uhr. (Waarenhaussteuer⸗Gesetz )

Handel und Gewerbe.

(Aus den im Reichsamt des Innern jusammengestellten „Nachrichten für Handel und In dustrie“.)

Absatz deutscher Kohlen nach Loanda und für die

portugiesische Marine

Der sübafrikanische Krieg und die dadurch hervorgerufene außer ordentliche Steigerung der englischen Kohlenpreise können den gegen wärtigen. Zeitpunkt als geeignet erscheinen lassen, um die englische Kohle, die bis jetzt den gesammten Kohlenbedarf Loandas deckt, durch deutsche zu ersetzen.

Hierbei mag aber dahingestellt bleiben, ob eine derartige Ver—⸗ drängung der englischen Kohle und ihr Erfatz durch deutsche nach der gegenwärtigen Lage unserer Indaftrie überhaupt als ein erstrebens« werthes Ziel bezeichnet werden kann.

Bei guter Beschaffenbeit und günstigem Preise würde die deutsche Kohle auch leicht bei der portugiesischen Marine eingeführt werden können, die ihre Lieferungen im Submissionswege vergiebt und zur Zeit folgende Marken verlangt:

Albion Merthyr, Cambrian Navigation, Cyfarthfa,

Ferndale,

Harris's Deep Navigation, Hill's Plymouth Merthyr, Hoods Merthyr,

Lewis Merthyr,

Ibr jetziger Vertrag läuft am 30. Juni 1900 ab. Der Jahres verbrauch beträgt 2400-2600 t. Der Zuschlag ist mit 45 Schilling pro Tonne ertheilt. .

Weitere Abnehmer für deutsche Kohle könnten die portugiesische Rhederei Empreza Nacional und die Eisenbahngesellschaft werden. Erstere beziebt Oriental Merthyr, Smokeless steam, empfängt jäbrlich 12 15 000 t und bezahlt für die Tonne frei Bord England 14 Shbilling und Fracht mit Segelsckiff 15— 18 Shllling, mit Dampfer etwa 2 Shilling per Tonne mehr.

Die Babn Loanda— Ambaca hat einen Jahresverbrauch von 6 -= 6000 t. An sonstigen Kohlenkonsumenten ist in Loanda noch die Gaskompagnie vorhanden, die sich kürzlich aus einer englischen Ge—⸗ sellschaft in eine portugiesische verwandelt hat, bei der die Engländer zwar auch noch betheiligt sind, bei der aber die Einführung deutscher Koble bei günstigen Lieferungebedingungen keineswegs ausgeschlossen ist. Sie hat einen Jahresverbrauch von etwa 1500 t.

Der Jahresbezug deutscher Koble würde sich biernach im besten Falle auf ca. 24 000 t jährlich stellen.

(Nach einem Bericht des Kaiserlichen Konsuls in Loanda.)

Lockets Merthyr, National Merthyr, Naval Merthyr, Nixons Navigation, Ocean Merthyr. Peurikyber, Standard Merthyr.

Belgien.

Aenderungen in der Gesetz gebung. Im Laufe des Jahres 1899 sind in Belgien folgende bemerkengwerthe Veränderungen auf dem Gesetzgebungs⸗ und Verwaltungsgebiet der Zölle und indirekten Steuern eingetreten.

A. Zollwesen.

1) Zolltarifierung von Gegenständen für die Industrie. Ver⸗ fügungen des belgischen Finanz- Ministeriums vom 15. Februar, 2s. April und 6. September 1899 (vgl. Hand. Arch. 1889 1 S. 234, 480 u. 826).

2) Zuckerrübenzoll. Verordnung des belgischen Ministers für . und öffentliche Arbeiten vom 4 September 1899 (vgl.

nd. Arch. 1899 1 S. 1007).

3) Abänderung des Zolltarif. Gesetz vom 29. Dejember 1899 (vgl. Nachrichten fur Handel und Industrie Nr. 2 S. 5 von 1900.

gude rs Sierre, :

ucker steuer. bänderung des Zuckersteuergesetzes. Gesetz vo 29. Dezember 1898 (gl. Hand. Arch. 1899 LS. 97. .

Branntweinsteuer. Abzug für Rektifikattonsverlust bei der Ausfuhr von rektifisiertem Branntwein durch gewerbsmäßige Brenner oder durch Branntweinreiniger. Königliche Verordnung vom 253. März 1899 (vgl. Hand- Arch. 1895 1 S. 343)

Steuernachlaß für Branntwein, welcher zum Gasen von Bind⸗ faden, jur Anfertigung von rauchlosem Pulver und zur Hestellung von Pepton mittels Bierhefe verwendet wird. Königliche Verordnung vom 26. 26 , . 1 1. 3537)

euernachlaß für Branntwein zur Herstellung von ãther. n . vom 5. August 1899 ker w

Steuernachlaß für Branntwein zur Herstellung von Schwefel.

äther und Kunstseide. Königliche Verord . ker ,, ee lg,! rdnung vom 21. Oktober 1899 rkezu cker. Abänderun

den ausgeführten und jur öffentllchen Niederlage gebrachten Stärke

des Steuervergũtungssatzes für