1900 / 138 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 12 Jun 1900 18:00:01 GMT) scan diff

, zum Bundegrath, Gesandter der Freien und Hansestadt Lübeck Dr. Klügmann: Nachdem der Herr Staats sekretär des Reichs Justizamts das . der Läbecker Verordnung zu den Reichsgesetzen hier ausführlich dargelegt bat, babe ich nicht geglaubt meinerseits das Wort nehmen zu sollen trotz der . . Angriffe, die die Verordnung bier erfahren hat. Aber eine Aeußerung des Herrn Vorredners nöthigt mich, nun doch auf einige Augenblicke Ihre Aufmerksamkeit in An⸗ spruch zu nehmen. Er behauptete, die lübische Regierung habe nicht die Erklärung abgeben können, daß sie zum Erlaß dieser Verordnung durch Erfahrungen veranlaßt worden sei, die in erregten Zeiten in Lübeck über das Strikepostenstehen gemacht worden seien. Ungern gehe ich auf die Denkschrift zurück, die vor einem Jahre vorgelegt werden ist; aber wenn Sie sie ansehen, werden Sie eine Reihe von Faͤllen finden, die gerade in Lübeck vorgekommen sind, und zu schweren Bestrafungen geführt haben. Und diese Fälle sind es, die schon seit längerer Zeit den Senat bewogen haben, in Be⸗ dacht zu nehmen, dem Strikepostenstehen ein Ende zu machen. (Aha! bei den Sozialdemokraten.) Ja wohl! Das wurde ja eben bestritten von dem Herrn Vorredner, und um das zu konstatieren, habe ich das Wort genommen. Es liegt in der That nicht so, daß infolge der Verhandlungen, die hier stattgefunden haben, der Senat in Lübeck auf den Gedanken gekommen ist, eine solche Verordnung zu erlassen; er hatte das schon im voraus in Aussicht genommen und wartete nur das Ergebniß der Verhandlungen hier im Reichstage ab. Nun muß ich sagen: wie die Theorie austommen kann, daß die Gesetzgebung es handelt sich übrigens ja nur um eine Polizeiverordnung —, daß das Pollzeiverordnungsrecht in den Einzelstaaten dadurch lahm gelegt werden soll, daß über denselben Gegenstand hier im Reichstage kein Be⸗ schluß zu stande kommt, das verstehe ich garnicht. Sie würden ö die Gefetzgebung in den Einzelstaaten brach legen können dadurch, daß Sie hier einen Antrag im Reichstage beschließen, den der Bundes rafh nicht annimmt, und damit wäre die Sache für die Gesetzgebun der Partikularstaaten ein für alle mal erledigt. Darauf können si dle Bundesstaaten auf keinen Fall einlassen. Ich darf noch Eins versichern: hätte der Senat die Ueberjeugung gehabt, daß das Koalitiongrecht der Arbeiter geschädigt oder gar, wie es heißt, ihm ins Gesicht geschlagen werde durch diese Verordnung, so hätte er sie nicht erlassen. Ez ist in der That eine Uebertreibung, eine Behauptung, die nicht aufrecht erhalten werden kann, daß das Koalitionszrecht der Arbeiter, welches ja , ,. ge⸗ sichert ist (lebhafte Zwischenrufe von den Sozialdemokraten), ebenso wie auch die Strikes auch diese sind reichs esetzlich gesichert —, daß die Strikes nicht durchgeführt werden önnten ohne Strikepostenstehen. (Zurufe,. Jawohl, das ist be⸗ hauptet worden. (Glocke des Präsidenten) Ich kann Ihnen einfach mittheilen, daß seit der Verordnung mehrere Strikes in Lübeck durch- geführt worden sind ohne Ee en feen Also, wie wollen Sie behaupten, es sei unmöglich, wie vorhin gesagt wurde, einen Strike durch zuführen ohne Strikepostenstehen? ,. die Arbeiter das wirklich nicht vermocht, so würden sie zweifellos, wie sie das in anderen Fällen emacht haben, die gerichtliche Hilfe gegen ein nach ihrer Meinung den eichsgesetzen widersprechendes Gesetz in Anspruch genommen haben. Nichts von alledem ist geschehen, sondern sie haben das Strikepostenstehen unterlassen, weil sie es nicht nöthig hatten. (Zuruf) Ja wohl, nur deshalb! Also, es ist völlig un⸗ berechtigt, zu behaupten, ohne Postenstehen seien Arbeitseinstellungen überhaupt nicht möglich. Das Gegentheil ist ja auch ganz natürlich. In kleinem Berufsstande ist der Verkehr unter den Genossen so leicht wie unter den Arbeitern. In den Werkstätten, auf den Straßen, von Haus zu Haus treffen sie sich täglich und sehen sich. Ebenso auch von Ort zu Ort, durch ihre Agenten, durch ihre Agitatoren, durch die Fachgenossen, die Zeitungen u. s. w. Da brauchen sie nicht dieses äußerlich hervortretende, den Strike auf fällig und störend dokumentierende Strikepostenstehen. Der lübische Senat ist gewiß nicht dle letzte Regierung, die erkennt, daß soziale Reformen infolge der großen Umgestaltungen, unseres wirthschaftlichen Lebens erforderlich sind. Lübeck ist in vielen Beziehungen vorangegangen mit sozialen Einrichtungen Das Gewerbegericht besteht in Lübeck seit 1878, lange bevor das Reich sich der Sache annahm; wir haben Dienstbotenkrankenkassen nach den Normen der Arbeiterpersicherung längst eingerichtet. In der Frage der Arbeiterwohnungen liegt ähnlich wie in Hamburg augenblscklich ein Gesetzentwurf den gesetzgebenden Köiperschaften in Läbeck vor. Alle diese und andere Reformen setzen die Uebereinstimmung sämmt⸗ licher Bevölkerungéklassen voraus, denen sie auch Opfer auf⸗ erlegen. Der gute Wille bei den übrigen Gesellschafteklassen ist aber nur zu erreichen, wenn dem Hinaustreten des wirih— schaftlichen Kampfes auf die Straße, welches hauptsächlich die Gesell⸗ schaftsklassen gegen einander erbistert, Einhalt geschieht. Ich darf sagen, daß die neueren Strikes, welche sich in Lübeck abgespielt haben, sich sehr viel ruhiger abgewickelt haben als früher jweifellos doch ein Vortheil für alle Betheiligten! Ich kann auch versichern, daß das gegenseitige Verhältniß der Organe der Poltzeiverwaltung und der Arbeiter infolge dieser Verordnung durchaus nicht gelitten hat.

Staatssekretär des Auswärtigen Amts, Staats-Minister Graf von Bülow:

Meine Herren! Es ist im Laufe der Digfussion eine italienische Publikation zur Sprache gebracht worden, welche vor der Auswande⸗ rung nach Deutschland warnt. Ich möchte zunächst konstatieren, daß es sich nicht um einen amtlichen Erlaß, nicht um ein amtliches Zirkular handelt, sondern um eine Notiz, die in einer italienischen Zeitschrift erschienen ist, die etwa den Charakter trägt der bei uns im Reichsamt des Innern eischeinenden „Nachrichten für Handel und Industrie.

Eine Reihe fremder Staaten legt das Bestreben an den Tag, ihre Arbeiter abjuhalten, nach Ländern auszuwandern, wo sie lohnendere Arbeitsbedingungen finden. Zu den Mitteln, die Aus⸗ wanderung zu verhüten, gehört auch, Nachrichten einzuziehen über Arbeits und Lebensverhältnisse in den fremden Ländern und solche Nachrichten, wenn sie ungünstig lauten, der Oeffentlichkeit zu⸗ gänglich zu machen. In dem vorliegenden Falle ist die italienische Regierung von ihrem Agenten offenbar irthümlich informiert worden. (Zurufe von den Sozialdemokraten) Ich habe nicht unterlassen, diesen falschen Behauptungen in geeigneter Weise entgegenzutreten und bin nach Möglichkeit bemüht gewesen, derartige irrige Vorstellungen zu beseitigen. (Bravo! rechts. Zurufe bei den Sozialdemokraten.)

Bevollmächtigter zum Bundesrath. Großherzoglich sächsischer Ge—⸗ heimer Legationsrath Dr. Paulßen: Meine Herren, wenn etwas geeignet ist, den Beweis zu erbringen, wie schwer es ist, darzulegen, daß die hier angefochtenen Gesetze gegen die Reichsgesetze verstoßen, so ist es die Verschiedenheit der Begründung und die Verschiedenheit der Bestimmungen, die hier von den einzelnen Rednern für ihre Meinung angezogen worden sind. Ich will nicht auf diese einzelnen Gesichtspunkte, die hier in Betracht kommen, eingehen, ich habe in dieser Hinsicht mich allenthalben den Ausführungen dez Herrn Staatzsekretärs des Reichs ⸗Justizamts anzuschließen. Benn die reußische Regierung steht vollständig auf diesem Standpunkte. Ich möchte nur auf einen Gesichtspunkt noch hinweisen. Ich muß der Behauptung enlschieden widersprechin, al sei es ein illoyales . einzelner Bundesstaaten, wenn sie mit ihrer Gesetzgebung in die hler behandelte Materie des Bruchs des Kontraktoerhältnissez ländlicher Arbeiter ö, n. ihren Arbeitgebern e, eg. Diese Materie ist von der Reichggesetzgebung noch nicht ergriffen worden. Bekanntlich regelt daz Verhältniß der gewerblichen Arbeiter zu ihren Arbeit⸗ gebern die Gewerbeordnung, ebenso das Verhältniß der Hand⸗ lungzangestellten zu ihren Hrirn ß n das Handels gesetzbuch. Für die Verhältnisse der landwirthschaftlichen Arbeiter gegenüber ihren Arbeitgebern besteht ein entsprechendeg Reichsgesetz nicht.

Soweit das Bürgerliche Gesetzbuch zivilrechtliche Bestimmungen ent⸗ hält, die hier auch Bezug haben, ist es in dem hier behandelten Falle respektiert. Es ist von niemandem behauptet worden, daß das vor⸗ liegende Gesetz gegen die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbucht verstößt. Da also ein Gesetz, welches die Verhältnisse der landwirth⸗ schaftlichen Arbeiter zu ihren Arbeitgebern regelt, nicht besteht, ist die Landegsgesetzgebung mit vollem Fug berechtigt, auf diesem Gebiet ein⸗ zugreifen, wenn die gesetzgebenden Korporationen dieses Bedürfniß für vorliegend erachten. So hat der Staat Reuß j. L. verfahren. Ich glaube, daß , ,, dagegen nicht zu erheben sind.

Akg. Schwartz ⸗Läͤbeck . Der Lübecker Senat hat im Einverständniß mit den Lübecker Industriellen diese Verordnung er⸗ lassen; gleichzeitig sind durch Uriasbriefe die Arbeiter, welche sich bei Strikebewegungen in erster Linie betheiligt hatten, in ganz Deutsch⸗2 land arbeitslos gemacht worden. An den Ausschreitungen, die früher stattgefunden haben, sind die Unternehmer selbst Schuld gewesen, denn sie hatten die Arbeitswilligen mit Knütteln und Revolvern bewaffnet, und daraus sind die blutigen , entstanden, von denen hier jetzt Gebrauch gemacht wird.

Abg. Dr. Roesicke⸗ Kaiserslautern (b. k. F.) tritt den Aus⸗ fällen, welche der Abg. Stadthagen auf die kontraktbrüchigen Arbeit⸗ geber gemacht habe, entgegen. Man sei nicht sowohl berechtigt, von einer Sklaverei der Arbeiter, sondern der Arbeitgeber zu sprechen, in der sie sich namentlich zur Zeit der Erntearbeiten befänden. Der landwirthschaftliche Arbeitgeber verdiene die absprechende Beurtheilung nicht., die Herr Stadtbagen ihm angedeihen ließe. Im welteren nimmt Redner den Abg. Freiherrn von Wangenheim, welchen der Abg. Stadthagen angegriffen hatte, in Schutz. Für den ländlichen Arbester seien die Naturallöhne eine Wohl⸗ that, die man ihnen von der linken Seite doch nicht verärgern sollte; wenn die ländlichen Arbelter sich lediglich auf die Geldlöhne an⸗ gewiesen sähen, würden sie erst merken, was ihnen mit den Natural⸗ löhnen entgehée. Man sollte also die ländlichen Arbeiter nicht auf diese illoyale Weise unzufrieden zu machen sich bestreben. Auch er gönne den ländlichen Arbeitern ganz gewiß die hohen Löhne wie den industriellen Arbeitern, aber dazu gehöre auch, daß man die ländlichen Arbeitgeber in den Stand setze, diese Löhne zu zahlen. Die Industrie aber verlange billige Nahrungsmittel, und damit werde dem Land⸗ wirth die Möglichkeit entzogen, seine Arbeiter besser zu entlohnen.

Aba. Baudert (Soz.): Die Erörterung hat ergeben, daß man thatsächlich in den Einzelstaaten darauf ausgeht, durch Partikular⸗ gesetze zu erreichen, was vom Reichtztage durch die Arbestswilligen⸗ vorlage nicht zu erreichen war. Auch in Sachsen⸗Weimar wird ähnliches geplant, nur will man das Vorgehen Preußens abwarten.

Damit schließt die Besprechung. Nach einer persönlichen Bemerkung des Abg. Stadthagen wird der Gegenstand verlassen.

Darauf tritt das Haus in die zweite Lesung des Gesetz⸗ entwurfs, betreffend die Bekämpfung gemein— gefährlicher Krankheiten, ein.

Referent ist der Abg. Dr. En dem ann (nl).

Zu § 5 (Fortdauer der Geltung der landesrechtlichen Be⸗ stimmungen über die Anzeigepflicht) liegt ein Amendement des Abg. Dr. Böckel (b. k. F.) vor. Der Antragsteller ist nicht anwesend. S 5 wird ohne Debatte unverändert an⸗

genommen. . 1 sz 14 besagt nach den Kommissionsbeschlüssen:

Für kranke und krankheits⸗ oder ansteckungs verdächtige Personen kann eine Absonderung angeordnet werden.

Die Absonderung kranker Personen hat derart zu erfolgen, daß der Kranke mit anderen als den zu seiner Pflege bestimmten Per— sonen, dem Arzte oder dem Seelsorger, nicht in Berührung kommt, und eine Verbreitung der Krankheit tbunlichst ausgeschlossen ist. Werden auf Erfordern der Polizeibehörde in der Behausung des Kranken die nach dem Gutachten des beamteten Arztes zu diesem Zwecke nothwendigen Einrichtungen nicht getroffen, so kann, falls der beamtete Arzt es für unerläßlich und ohne Schädigung des Kranken für zulässig erklärt, die Ueberführung des Kranken in ein geeignetes Krankenhaus oder in einen anderen geeigneten Unterkunfts—⸗ raum angeordnet werden. .

Auf die Absonderung verdächtiger Personen findet Vorstehendes Anwendung. Jedoch dürfen verdächtige Personen nicht in demselben Raum mit Kranken untergebracht werden. Ansteckungsverdächtige Personen dürfen in demselben Raum mit krankheitsverdächtigen Personen nur untergebracht werden, soweit der beamtete Arzt es sür zulässig hält. Wohnungen oder Häuser, in welchen erkrankte Personen sich befiaden, können kenntlich gemacht werden. Für daz berufsmäßige Pflegepersonal können Verkehrsbeschränkungen an geordnet werden. ⸗‚

Abg. Wurm (Soz.) befürwortet einen Antrag, auch dem be—⸗ handelnden Arzte, dem Vertrauensmann des Kranken, den Zutritt zu gewähren.

Abg. Rembold (Sentr.) wünscht einen Zusatz, wonach An⸗— gehörigen und Urkundspersonen, soweit es zur Eiledigung wichtiger und dringender Angelegenheiten geboten sei, der Zutritt unter Be— obachtung der erforderlichen Maßregeln gegen eine Weiterverbreitung der Krankheit gestattet sein solle

Abg. Reißhaus (Sox) hat einen Zusatz beantragt, wonach durch die Isolierung des Kranken ein Zwang auf die von ihm ge— wünschte Heilmethode nicht ausgeübt werden dürfe.

Abg. Antrick (Soz,) lenkt die Aufmerksamkeit des Hauses auf verschiedene Uebelstände in den Krankenhäusern, welche die Vorstände nicht beseitigen könnten, weil es ihnen an den geeigneten Mitteln fehle zur Kontrole des Wärterpersonalz. Sogar in Anstalten wie der Charits herrschten bedenkliche Mißstände. Ganz unkundige Wärter würden angestellt. Es sei vorgekommen, daß die Wärter selber krank. sogar mit einer ansteckenden Krankheit behaftet gewesen seien, sie hätten mitunter einen achtzehnstündigen, fast ununterbrochenen Dienst. Kranke seien gestorben, ohne daß der Wärter es bemerkt habe. Die gelernten Wärter erhielten neben freier Kost und Woh nung nur 21 4, nicht etwa wöchentlich, sondern monatlich. Die Arbeiter hätten einen wahren Widerwillen gegen die Krankenhausbebandlung der Charité nicht allein, sondern auch vieler anderer Krankenhäuser.

Abg. Prinz zu Schönaich⸗Carolath (ul.) tritt dieser Schilderung entgegen und fordert die Angabe der Krankenhäuser, wo solche himmelschreienden Mißstände herrschten. Die deutschen Kranken- häuser seien ollen ausländischen Krankenhäusern überlegen. Sollten aber solche Zustände irgendwo vorhanden sein, so müsse Remedur ein⸗ treten. Vereinzelte Ausnahmen kämen nicht in Betracht

Abg. Reißhaus: Um Ausnahmen handelt es sich nicht. Die Zustände in Eisurt sind edenfalls schlimm genug.

Präsident des Kaiserlichen Gesundheitsamts Dr. Köhler: Nur durch eine augreichende Isolierung der Kranken kann der Zweck des Gesetzes durchgeführt werden. Dieser Zweck sollte nicht abgeschwächt werden, wie es die Anträge wollen. Bie Mängel einzelner Kranken⸗ häuser sollen nicht bestritten werden, wir werden den Anschuldigungen nochgehen und prüfen, ob sie begründet sind; zur Zeit muß ich sie als mindestens übertrieben bezeichnen.

Geheimer Medizinaltath im Kaiserlichen Gesundheitsamt Dr. von Kirchner stellt die Behauptungen der soztaldemekcatischen Redner in Bezug auf die Krankenhäuser richtig.

Abg. Dr. Müller⸗ Sagan (fr. Volksp.) weist den von sozial⸗ demokratischer Seite erhobenen Vorwurf, . das Verfahren des Pro⸗ fessor Neißer in Breslau perbrecherisch gewesen sei, zurück.

Der Antrag Rembold witd angenommen und mit einer geringfügigen weiteren, vom Abg. Bau dert beantragten . der ganze § 14 nach Ablehnung der anderen

nträge.

Der Rest des 2 wird nach unerheblicher Debatte angenommen, ehenso die Resolution wegen Einführung einer allgemeinen obligatorischen Leichenschau.

Dritfe Lesung der Deckungsvorlagen und der Flott

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Schluß 837 Uhr. Nächste Sitzung Diens ta

des Reichs⸗Seuchengesetzes; kleinere Vorlagen.)

Preunßischer Landtag. Herrenhaus.

12. Sitzung vom 11. Juni 1900, 2 Uhr.

Der Präsident begrüßt das neu berufene und eingetretene Mitglied Herrn von gi, w. und theilt u. a. mit, daß dem Hause von Below das Präsentationsrecht worden ist.

Zur Berathung steht zunächst der in abgeänderter Fassung vom Abgeordnetenhause zurückgelangte Gesetzent wurf über die Zwangserziehung Mindersähriger.

Berichterstatter Ober ⸗Bürgermeister Giese empfiehlt namenz der IX. Kommission die unveränderte Annahme des Gesetzes in der Fassung des Abgeordnetenbauses, obwohl die Abänderungen des Ab, geordnetenhauses nicht durchweg Verbesserungen seien. Zu den Aenderungen gehöre außer der Ueberschrift u. s. w., in der es statt „Zwangserziehung“ „Fürsorgeerziehung“ heißen solle, die in 10, wo entgegen dem Beschlusse des Herrenhausetz die ursprüngliche Re—= ,, wiederhergestellt worden sei, nach der die Zöglinge in Arbeitshäusern und Landarmenhäusern nicht untergebracht werden dürften. Die Kommission habe sich aber um so mehr dabei beruhigen können, alt der Minister des Innern eine zufriedeastellende Erklärung abgegeben habe.

Minister des Innern Freiherr von Rheinbaben:

Meine Herren, ich bitte um die Erlaubniß, mich nur kurz zu dem von dem Herrn Referenten behandelten 5 10 äußern zu dürfen. Daz Abgeordnetenhaus hat hinsichtlich des § 10 die Fassung der Regie, runge vorlage wiederhergestellt. Der § 10 enthält also die positive Bestimmung, daß die Zöglinge nicht in Arbeitshäusern und Land— armenhäusern untergebracht werden dürfen, wenn sie das schulpflichtige Alter zurückgelegt haben. Der Herr Referent hat aber meines Er—⸗ achtens vollständig zutreffend hervorgehoben, daß das nur eine schein« bare materielle Aenderung der Beschlüsse des Herrenhauses msst. Meine Herren, waß bezwecken wir mit dem ganzen Para— graphen? Wir bezwecken, diejenigen jugendlichen Elemente, die infolge eigener verderblicher Anlagen oder infolge der ungünstigen Einwirkung ihrer Eltern oder der sonstigen Verhältnisse, in denen sie aufwachsen, der Gefahr der Verderbung ausgesetzt sind, dieser Gefahr zu entreißen, ihnen der Religion wieder ans Herz zu führen, die Schule auf sie wirken zu lassen und ihnen, soweit er— forderlich, eine feste und gedeihliche Ersiehung zu geben. Soweit also eine Anstaltserziehung erfolgt und die Kinder nicht in Familien unter⸗ gebracht werden, muß die ser Gesichtspunkt der maßgebende für die Erziehung sein. Es würde infolgedessen unzulänglich sein, einzelne dieser jugendlichen Elemente mit den in Landarmenhäusern detinierten oder in Arbeits« häusern untergebrachten zusammenzubringen, denn für diese Anstalten sind eben nicht die maßgebenden Gesichtépunkte der Erziehung aus— schlaggebend, sondern entweder die bloße Versorgung der Armen in Arbeitshäusern oder die Bestrafung der Korrektlonellen. Es würde also unzulässig sein, eine derartize Vermischung vorzunehmen und die in den verschiedenen Anstalten Befindlichen gemeinsam zur Arbelt zu bringen oder durch dasselbe Aufsichtspersonal beaussichtigen zu lassen. Aber ich stimme dem Herrn Referenten darin bei und darüber bestand auch im Abgeordnetenhause kein Zweifel bei den Mehrheits— partelen —, daß der Wortlaut des § 10 keine Anwendung findet, wenn die Fälle so liegen, wie sie der Herr Referent dargelegt hat. Wenn beispielsweise in einer Arbeitsanstalt ein leerstehender Flügel ist, der durch eine besondere Mauer vollständig von der alten Anstalt abgetrennt ist, so daß, wenn ich so sagen darf, ein Durcheinanderlaufen der Fürsorgezöglinge und der Korrigenden ausgeschlossen ist, so sehe ich keinen Grund, warum in diesem Falle der leerstehende Flügel nicht zur Unterbringung von Fürsorgezöglingen Verwendung finden soll, denn dann sind sie ja nicht im Arbeitshause, sondern in einem besonderen, selbständigen Gebäude untergebracht. Aehnlich würde die Sache liegen, wenn eine Provinz ein Gut gekauft hat und auf einem leerstehenden Vorwerle die Fürsorgezöglinge unterbringen will. In beiden Fällen findet eine Vermischung der Zöglinge mit den Korrigenden nicht statt, die wir ja auch unter allen Unständen verhüten wollen, und so liegt kein Grund vor, weshalb diese Baulichkeiten nicht zu Zwecken der Fürsorgeerziehung verwendet werden sollten. Ich erkläre, daß ich sogar noch einen Schritt weiter gehe, nämlich, daß ich auch keinen Hinderungsgrund für eine gewisse gemeinschaftliche ökonomische Ver⸗ waltung sehe, derartig, daß manche Bedarfsartikel gemeinsam bezogen werden und der Absatz gewisser Produkte gemeinsam erfolgt, und ich gebe auch noch eine dritte Erklärung ab, daß mir auch kein Hin— derungsgrund vorzuliegen scheint für eine Generalverwaltung mit einer einheitlichen Spitze und Oberleitung. Aber daran halte ich fest, und darüber bestand auch in der Kommission des Abgeordneten— hauses kein Zweifel, daß das Arbeitspersonal für die Korri—= genden nicht jzur Fürsorgeerziehung verwendet werden darf. Denn die Fürsorgejöglinge sollen erlogen und nicht nach den für die Korrigendenanstalten maßgebenden Gesichtspunkten behandelt werden.

Ich glaube also, meine Herren, daß der Herr Referent recht

eingeräumt

hat, wenn er sagt, daß hier nur ein scheinbarer und nicht ein

materieller Widerspruch vorhanden ist, und deshalb würde ich Sie bitten, den Beschlüssen, wie sie vom Abgeordnetenhause an unt gelangt sind, Ihre Sanktion zu geben, und damit dag wichtige Geset zum Abschluß zu bringen, das, wie wir alle hoffen, einem tie empfundenen und schweren Mißstande in unserem Vaterlande Abhilfe zu bringen geeignet ist. (Bravo!)

Ober. Bürgermeister Struckmann kann sich dieser Interpretation des Ministers nicht anschließen. Sie weiche ab von den Intentionen des Abgeordnetenhauses, und es werde der Anschein erweckt, als ob da andere Faktor der Gesetzgebung sich geirrt habe. Es wäre nicht wünschengwerth, wenn es uͤblich würde, hinterher solche Interpretationen juzulaffen. Auch der Wortlaut deg Paragraphen wibersprech: dieler Interpretatiol. Dag Abgeordnetenhaug habe also keineswegs dat, selbe beschlossen wie das Herrenhaug. Dagegen ließe sich ja nich einwenden, daß eine Korrigendenanstalt ihre jur Verfügung stebenden Gebäude zur Unterbringung der Fürsorgezöglinge verwende, aber bie Leitung müsse jedenfalls eine gesonderte fein; denn der Geist, der bon oben 6 in eine solche Anstalt gebracht werde, sei die Haupt sache Vieser Geist müsse ein erzieblicher fein, nicht ein milltärischer. Sparsamkeitzrücksichten dürften da nicht mitspielen.

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

Recht zu geben, das Wablsystem zu ändern.

Ruhe schaffen.

M 138.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Freiherr von Manteusfel erkennt on, daß das Abgeordnzten⸗ haus die Vorlage in einigen Punkten verhessert habe. Die Abänderung von „Zwangtersiehung. in „Fürsorgeerziehung“ sei im höchsten Grade eschmacklos; tröstlich sei es aber, daß das Volk stets Zwangserziehung een werde. Das Herrenhaus habe den Zwang gegen die Eltern durch- auJ gewollt. Indessen müsse er auch vom Herrenhause fagen: Der Klügere giebt nach. In Bezug auf § 19 habe das Herrenhaus nur bestimmter gesagt, was vom Abgeyhdnetenhause gemeint sel. Man liznne sich auf die Inteipretation des Ministers in Zukunft berufen, und damit sei der Sache gedient. Die Bedenken des Herrn Struck⸗ mann gegen die einheitliche Oberleitung seien unbegründet. Für die Korrigendenanstalt werde ein technischer Direktor vorhanden sein. PMiesem könne dech der Leiter der Fürsorgeanstalt, ein Geistlicher oder elt unterstellt sein, ohne daß seine Zöglinge darunter Schaden sitten. ; J ; ;

Damit schließt die allgemeine Besprechung.

In der Einzelberathung verwahrt sich

Ober⸗Bürgermeister Struckmann gegen den Schluß des Be⸗ richterstatters, daß er mit seinem Widerspruch gegen 5 10 allein stehe. Im Abgeordnetenhause habe Abg. von Zedlitz dem Minister bestritten, doß die Fassung des Ahgeordnetenhausetäz und des Herrenhauses nur redaktionell verschieden sei.

Herr von Levetz ow hält die Aenderung des Abgeordnetenhausetz für elne Verschlechterung im Sinne des Herrn Struckmann. Durch die Erklärung des Ministers sei aber die Fassung des Abgeordneten⸗ hauses ungefährlich geworden.

8s 10 wird unverändert in der Fassung des Abgeordneten⸗ hauses angenommen, ebenso der Rest des Gesetzes und das Gesetz im Ganzen einstimmig.

Es folgt der mündliche Bericht der X. Kommission über den Gesetzent wurf, betreffend die Bildung der Wähler—⸗ abtheilungen bei den Gemeindewahlen.

Berichterstatter Graf Botho zu Eulenburg empfiehlt namens der Kommission die unveränderte Annahme des Gesetzentwurfs in der Fassung des Abgeordnetenhauses.

Wie in der Kommission wird auch im Plenum die Dis⸗ kussion über die 55 1 und 5 bezw. 2, 3 und 4 verbunden.

Die Ober⸗Bürgermeister Becker und Marx wollen dem §z 2 folgende Fassung geben:

In den wach der jedesmaligen Volkszählung mehr als 10000 Einwohner zählenden Gemeinden werden, die Wählerabtheilungen derart gebildet, daß auf die erste Abtheilung 5/14, auf die zweite Abtheilung ig, auf die dritte Abtheilung 1 der Gesammtsumme der im z J bezeichneten Steuerbeträge aller Wähler fallen, eine höhere Abtheilung aber nicht mehr Wähler zählen darf als eine niedere.

Ferner beantragen sie, die 55 3 und 4 zu streichen; eventuell wollen sie in den 55 Wbis 4 die Drittelung so ändern. daß ent⸗ weder jeder Wähler, dessen Steuerbetrag den auf einen Wähler ent⸗ fallenden durchschnittlichen Steuerbetrag uübersteigt, stets der zweiten oder der ersten Abtheilung zugewiesen wird; bei Berechnung des Ddurchschnittlichen Steuerbetrags sind die Wähler, die zur Staatteinkommensteuer nicht veranlagt sind, und wo das Wahlrecht an einen Einkommensteuersatz von 5 S geknüpft ist, auch die zu diesem Satze ver— anlagten Wähler, sowie die Steuer, mit welcher dieselben in die Wäblerliste eingetragen sind, außer Betracht zu lassen; oder daß bei der Bildung der Wählerabtheilungen an Stelle des auf einen Wähler entfallenden durschnittlichen Steuerbetrages ein den Durch— schnitt bis zur Hälfte desselben übersteigender Beirag tritt; oder daß auf die erste Wählerabtheilung 51, auf die zweite Ab— theilung ia, auf die dritte Abtheilung 1 der Gesammtsumme der im z 1 bezeichneten Steuerbeträge aller Wähler fallen, eine höhere Abtheilung aber nicht mehr Wähler zählen darf als eine niedere.

Weiter beantragen sie zu 5 3, daß die Wabl zwischen den im

§z 2 zugelassenen drei Wahlsystemen in den betreffenden Gemeinden

durch Ortszstatut erfolgen soll. Im § 4 wollen sie Oꝛrtsstatute nur

im 1, 11., 21 und ff. Jahre abändern oder aufheben lassen. Die

Einführung, Abänderung oder Aufhebung der Ortsstatute soll der

Bestãtigung, und jwar in Landgemeinden durch den Kreisausschuß,

in Stadtgemeinden durch den Bezirlsausschuß, unterliegen.

„Im Falle der Ablebnung auch dieser Fassung beantragen die

Herren: Zur Beschlußfassung über die erste Einführung der Orts

statute genügt die Mehrheit, zur Abänderung oder Aufbebung der

Drtsstarute bedarf es aber in der Gemeindevertretung der Mehrheit

von zwei Dritteln der anwesenden Stimmberechtigten.

Ober · Bürgermeister Becker hält es für notbwendig, seinen ab— veichen den Standpunkt trotz der Aussichtslosigkeit zu vertreten. Das Durchschnittsprinzsp sei für die Wählereintheilung so ungeeignet wie möglich. Bedenklich sei es auch, der Gemeinde durch Ortsstatut das Es werde dadurch eine hr bedenkliche Bewegung in die Gemeinden eingeführt. Die Zweidrittel⸗ Majorität widerspreche der Stärteordnung. Man wolle dadurch mehr Warum lasse man aber dann nicht den 10 jährigen Zwischenraum zu? In Gemeinden, wo die Zweidrittel. Majoriät chwankend sei, könne in jedem Jahr eine Aenderung eintreten. Dazu komme dann noch das modifizierte Durchschnitteprinzip alles Aus— nahmen, die die Regel kaum noch erkennen ließen. Die vorgesehenen Kautelen machten eben die Sache noch bedenklicher. Beim ZIwoͤlftelungs system dagegen bedürfe es keiner Kautelen, unter ihm würden in den Gemeinden Ruhe und Frieden herrschen. Solange man das Dreiklassensystem aufrecht erhalte, könne man gegen das Brite lun gespften ebenso wenig etwas einwenden wie gegen as Drittelungs system. Dieses wirke nur etwas zu sehr in Gegenden mit industrieller Bevölkerung. Es kämen in die zweite Klasse bessere Arbetter, Werfmeister u. w. Sei das aber ein Nachiheil im Muteresse Les Mittelftandes? Dis Siatistik iasse sich für beide Hit ne verwerthen; man sollte doch nicht nach der Schablone . Deshalb hielten seine Freunde nach wie bor dag wölftelungasystem für das beste. In der Kommission sei ö. Dauprantrag mit 9 gegen 6 Stimmen, die von den Ver— w ern der Städte ausgingen, abgelehnt worden. Er habe ee tet daß wenigsteng seine Unteranträge angenommen werden A en, die sich auf den Boden der Bescklüsse der Mehrheit stellten. ni salle die Mehrheit zur Beschlußfassung über die erste Einfüh— e. der Ortsstatute nicht genügen? Mit demselben Rechte könne 3 die Mehrheit auch vom Herrenhause verlangen. Er babe den 1 daß das Gesetz noch andere Absichten habe, mit denen er

. Hlfte, „die aber an, anderem Orte verfolgt werden könnten. 36 erichterstatter Graf Gulenburg hahe früher als Minifter dag

stelungssystem vertreten.

Minister des Innern Freiherr von Rheinbaben—

Meine Herren! Ich muß junächst einen Ausdruck, den der Herr . bei seinen letzten Ausführungen gebraucht hat, mit Be—⸗ . zurückweisen. Er hat gemeint, es handle sich nicht um

ne obiettive Gesetzgebung. Meine Herren, ich betone ausdrücklich,

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Zweite Beilage zum Deutschen Reichs⸗Anzeiger und Königlich Preußischen Staats⸗Anzeiger.

Berlin, Dienstag, den 12. Juni

für die Staatsregierung handelt es sich um eine sehr objektive Gesetz gebung. Es handelt sich um die Einlösung eines Ver sprechens, welches die Staatsregierung wiederholt in feierlichster Weise gegeben hat; es handelt sich darum, ein Ziel zu erreichen, dag das Abgeordneten haus scwohl wie dieses Haus stets als ein berechtigtes anerkannt hat, nämlich den mittleren Ständen unseres Volkes das Maß an Wahlrecht wieder einzuräumen, das ihnen vor der Steuerreform zustand und nur unter dem Einfluß dieser Reform genommen worden ist.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn wir nicht die Auswüchse des Dreiklassenwahlsystems beseitigen, wir dadurch die Axt an die Wurzel dieses Wahlsystems legen; will man es erhalten, so ist es durchaus nothwendig, diese Auswüchse, die sich unter dem Ein— fluß der Steuerreform herauzgeblldet haben, zu beseitigen.

Wie man sie beseitigt, darüber, fürchte ich, werde ich mich mit dem Herrn Vorredner nicht verständigen können. Da Kind seiner Muse ist nun einmal das Zwölftelungesystem, während wir uns für das Durch⸗ schnittssystem entschieden haben. Der Herr Ober ⸗Bürgermeister hat aber am Gingange seiner Ausführungen über die beiden Systeme als Kardinalfehler des Gesetzes es bezeichnet, daß es überhaupt eine ortz⸗ statutarische Regelung des Gemeindewahlrechts zulleße. Ja, ich ver⸗ kenne nicht, daß die ortsstatutarische Regelung ihr Mißliches bei einer so wichtigen Angelegenheit hat; aber ich meine, man soll die Dinge auch nicht allzu schwarz darstellen. Ich erwähne in dieser Beziehung einmal, daß wir z. B. in der Hannoverschen Landgemeindeordnung nur ganz wenige generelle Grundsätze haben für die Bildung des Wahlsystems, daß im übrigen die Gemeinden vollständig in der Lage sind, sich das Wahlsystem, was ihnen als das zweckmãßigste und für ihre Verhaͤltnisse passendste erscheint, auszuwählen, und ich wage zu behaupten, daß trotz dieser weitgehenden Befugnisse der Land⸗ gemeinden in Hannover nirgends die schweren Nachtheile in die Er— scheinung getreten sind, von denen Herr Ober ⸗Bürgermeister Becker sprach.

Ich erinnere aber auch an Vorgänge in der Rheinprovinz. Dort hatten die Gemeinden das Recht, einen Zensus einzuführen bis zu I6 (, derart, daß alle diejenigen, welche diesen Zensus nicht zahlten, überhaupt von dem kommunalen Mitbestimmungsrechte aus— geschlossen waren. Wir haben in der Rheinprobinz eine große Zahl von Gemeinden gehabt mit einem Zensus von 12, 18, 24 S. Tausende und Abertausende von kleineren Elementen waren durch diesen Zensus vom Wahlrecht durchaus aus— geschlossen. Das war doch eine Fundamentalfrage des Gemeinde⸗ rechts, über die beschlossen werden mußte. Nun ist eine solche Beschlußfassung in den meisten Gemeinden erfolgt, und ich muß auch hier bestreiten, daß dadurch eine so tiefgehende Aufregung eingetreten sei und eine so schwere Schädigung des kommunalen Lebens, wie sie Herr Ober Bürgermeister Becker von dem vorliegenden Gesetz befürchtet.

Nun sagt Herr Ober. Bürgermeister Becker, das Zwölftelunge⸗ prinzip sei das an sich richtigere, das Durchschnittsprin ip das falschere; er sagt, das Zwölftelungeprinzip schließ; sich vlelmehr an das Drei— klassenwahlsystem an als das Durchschnittsprinzip. Ja, meine Herren, dieser Darlegung vermag ich beim besten Willen nicht zu folgen Das Dreiklassenwahlsystem hat doch an sich die Bedeutung, daß die Steuersumme gleichmäßig in drei Theile getheilt und darnach die Wahlberechtigung abgemessen wird. Dleses Prinzip wird vollständig aufgegeben bei der Zwölstelung; denn es wird nicht mehr nach „i gleichmäßig getheilt, sondern es wird nach ein, in und /ig getbeilt. Es findet also eine grundsätzliche Abweichung

on dem System des Dreiklassenwahlrechts statt. Es steht allo dem Dreiklassenwahlrecht das Zwölftelungsprinzip viel ferner als das Durchschnittsprinziv; denn das Durchschnittsprinzip hält im allgemeinen das Dreillassensystem aufrecht und bringt nur hinsicht- lich derjenigen, die mehr als den Durchschnittssteuerbetrag zahlen, eine Modifikation dieses Systems mit sich.

Aber abgesehen davon, ob das Durchschnittsprinzip oder das Zwölftelungeprinzip sich dem Dreiklassenwahlsystem mehr oder weniger anschließt, ist doch die Frage die, welches System an sich das richtigere und natürlichere ist, und da kann ich mich den Schlußfolge— rungen des Herrn Vorredners auch nicht anschließen. Die Zwölftelung ist für mich eine Willkärlichteit, sie ist ein ad hoc gemachtes Prinzip, um gewisse Unregelmäßigkeiten und Verschiebungen auszugleichen, aber an sich ist sie doch vollkommen willkürlich. Ein Prinzip ist überhaupt garnicht darin, sondern es ist lediglich ein Auskunftsmittel, das man mit voller Ueberlegung und auch mit vollem Rechte getroffen hat, um gewisse Verschiebungen, die eingetreten sind, auszugleichen. Aber ein materieller Grund, eine innere Berechtigung wohnt dem Prinzip nicht bei. Da muß ich sagen, daß das Durchschnittsprinziv viel berechtigter ist, indem es den Gedanken jum Ausdruck bringt, daß diejenigen Elemente, die in der That ein Mehr als die mittlere Leistung für die Gemeinden aufbringen, auch mindestens ein Durchschnittzwahlrecht haben sollen, also in der zweiten Klasse wählen sollen. Das ist ein an sich sehr berechtigter sozialer Gedanke. Aber ich glaube, es ist völlig müßig darüber zu streiten, welches von beiden Prinzipien das richtige ist. Eg giebt überhaupt kein absolut richtiges Prinzip. In vielen Fällen wird das Durchschnittsprinziv das richtige sein, in vielen Fällen das Zwölftelungsprinsip. Die Verhältnisse sind in der Monarchie zu verschieden, um mit einem derartigen Prinzip alle Verschieden⸗ heiten decken zu können, und ich muß gegenüber dem Herrn Vorredner betonen, daß die Regelung nach dem Zwölftelungsprinziv durchaus nicht so unschädlich ist, wie er es hingestellt hat. Ich habe das vorige Mal schon dargelegt, daß das Zwölftelungsprinzip in Gemeinden mit ausgeglichenen Verhältnissen viel radikaler wirkt als das Durch- schnitteprinzip. Denn in Gemeinden, wo die Verhältnisse gleich. mäßig sind, kommt schon jetzt der mittlere Steuerjahler in dle mittlere Abtheilung, nämlich in die zweite Klasse. Genau so wirkt das Durchschnittsprinzip; es erhält also die bestehenden Zustände auf⸗ recht, während das Zwölftelungsprinzip weit darüber hinauzwirkt, weil

Eh O.

es alle Elemente, die über fünf Zwölftel hinaus steuern, in die erste Klasse, die über vier Zwölftel in die zweite Klasse und nur die Elemente, die innerhalb der letzten drei Zwölftel steuern, in dritte Abthellung bringt. Also in vlelen Gemeinden wird das Zwölfte⸗ lungeprinzip viel schärfer wirken als das Durchschnsttsprin zip. Ich will nicht die Zahlen wiederholen, die ich früher schon vorgetragen habe. Andererseits erreicht die Zwölftelung noch nicht einmal das Ziel, die Abschichtung der Wählerabtheilungen herzustellen, wie sie im Jahre 1391 vorhanden war. Ich werde mir einige Daten anzu⸗ führen erlauben. Um Köln anzuführen, das dem Herrn Ober Bürger meister Becker besonderg nahe liegt, so waren dort im Jahre 1891 in der ersten Abtheilung von allen Wählern rund 3 oo, in der zweiten Abtheilung rund 170ͤ und in der dritten Abtheilung rund 79 oso. Unter dem Einfluß der Steuerreform sank der Satz in der ersten Abtheilung von 30jso auf 080 og, in der zweiten von 17 og auf 6 O, und infolge dessen stieg der Prozentfatz aller übrigen Wähler von 79 ( auf 92 ocM, sodaß 92 oυί— aller Wähler der dritten Abtheilung zugehörten. Ich wage zu behaupten, daß das keine gesunden Zustände sind, die dem Mittelftand das ihm gebührende Wahlrecht geben. Wie würde sich die Sache nach Einführung der Zwölftelung in Köln stellen? Ich habe hier die Bertchnaung auf einer anderen Grundlage, nämlich, wie sich die Verhaͤltnisse nach Tausendtheilen der Bevölkerung gestalten würden. Danach bemoß sich in Köln die zweite Abtheilung im Jahre 1891 auf 11,70 pro Mille der Be⸗ völkerung; nach der Zwölftelung würde sie nur 9 33 auf daz Tausendstel erhalten; es würden also noch nicht einmal die Zustände vom Jahre 1891 in Köln nach dem Zwölftelungsprinzip hergestellt. Ein noch viel prägnanteres Beispiel ist Berlin. In Berlin ist es dahin gekommen, daß nur Leute mit weit über 10003 6 Steuern in die jweite Abtheilung kommen, und auch in Berlin würde der Zustand von 1891 mit der Zwõlftelung noch nicht hergestellt werden. Denn während hier im Jahre 1891, nach Tausendsteln der Bevölkerung berechnet, 11,42 in der zweiten Abtheilung wählten, würden nach dem Zwölftelungsprinzip nur 7 065 in die jweite Abtheilung kommen. Also das Zwölftelungtprinzip ist keineswegs die Panacee, das einzige Heilmittel für die Schäden, um deren Besserung es sich hier handelt. Ich kann nur noch einmal sagen, bei der großen Verschiedenheit der Verhältnisse ist es nicht anders möglich, als daß man verschiedene Modalitäten zuläßt, je nachdem die Verhältnisse das eine oder das andere erfordern.

Nun hat der Herr Ober⸗Bürgermelster Becker bemängelt, daß

die Beschlußfassung über die Ortsstatute nur mit Mehrheit erfolgen soll. Er hat ausgeführt, daß man bisher in unserer Gesetz⸗ gebung die Zweidrittelmehrheit nicht kennt. Dag ist nicht zutreffend. Beispielsweise ist in der Kreisordnung diese Zweidrittelmajoritãt aus- drücklich vorgesehen. Gewisse für die Kreise wichtige Angelegenheiten können nur mit Zweidrittelmehrheit des Kreistages beschlossen werden. Aber es läßt sich in der That darüber streiten, ob eine Zweidrittel⸗ mehrheit oder eine andere zu wählen ist; die Regierungs vorlage hatte die einfache Majorität vorgesehen. Aber so, wie die Dinge einmal nach den Beschlüssen des Abgeordnetenhauses liegen, muß man, um die Regelung zum Abschluß zu bringen, die Zweidrittelmehrheit wählen, und ich würde glauben, daß das hohe Haus diesen Abschluß stark gefährdet, wenn man auf den Vorschlag der einfachen Majorität zurückkommen sollte. Kritik an einem Wahlreformgesetz zu üben, ist überaus leicht. Ich bitte Herrn Becker, mir einen anderen Vorschlag zu machen; ich würde daran dieselbe Kritik üben, wie er sie an unserm Entwurf geübt hat. Es giebt kein Wahlsystem, das nicht der berechtigten Kritik unterliegen könnte. Aber wenn man den Willen hat, muß man auch den Weg gehen. Wenn man den Willen hat, die Kommunalwahlreform zum Ab= schluß zu bringen und dem Mittelstand das Wahlrecht wiederzugeben, das ihm gebührt, so darf man sich nicht bei den Einzelheiten aufhalten, sondemn muß den gefunden Gedanken anerkennen und mit Rücksicht auf den Beschluß des Abgeordnetenhauses den Weg wählen, der sich allein bietet, das ist eben die Vorlage, wie sie aus dem Abgeordnetenhause gekommen ist. Wir haben jetzt den dritten Versuch gemacht, diese schwierige Materie zum Abschluß zu bringen; ich würde es bedauern, wenn dieser Versach scheiterte, und derjenige, der hofft, daß damit die Sache begraben ist, würde sich irren. Wir würden im nächsten Jahre ganz genaus vor denselben Schwierig⸗ keiten stehen. Wer den Abschluß will, dem bleibt nichts übrig, als sich auf den Boden der Vorlage zu stellen. Und im Interesse des Zustandekommens dieser wichtigen Vorlage und der Be— friedigung des Mittelstandes hinsichtlich seines Mitbestimmungsrechts bei den Kommunalwahlen kann ich nur dringend bitten, die Vorlage so, wie sie aus dem Abgeordnetenbause bierher gelangt ist, auch zum Abschluß zu bringen. (Lebbaftes Bravo.) Ooer-Bürgermeister Becker will das Beispiel der Landgemeinden Vannovers für die größeren Gemeinden nicht gelten lassen. Das Hreikllassensystem bleibe bei dem Zwölftelungsspstem bis auf 1 nach dden und a/ in nach unten völlig unverändert. Er boffe, daß daz Gesetz, dessen Zustandekommen schon sehr schwierig gewesen sei, keine lange Lebene dauer baben werde.

Damit schließt die allgemeine Besprechung.

Sz 1 wird mit großer Mehrheit angenommen.

S 2 wird ebenfalls unverändert, unter Ablehnung des Dauptantrags und des Eventualantrags Becker⸗Marr, an⸗ genommen.

: * 33 und dem dazu gestellten Antrag Becker⸗Marx emer

Ober Bürgermeister Bender, daß durch die ortastatutarische Bestimmung darüber, ob an Stelle des auf einen Wähler ent fallenden durchschnittlichen Steuerbetrags ein den Durchschnitt big zur Dälfte desselben üÜbersteigender Betrag treten oll, eine große Beunruhigung, ein destruktiveg Element in die Gemeinden

e nm, werde. Die Gemeinden brauchten Ruhe, um vorwärts zu kommen.

Berichterstatter Graf zu Eulenburg weist darauf hin, daß diese Bestimmung troßz der Bedenken nicht entbehrt werden könne.

Der Antrag wird abgelehnt und S 3 unverändert an⸗ genommen.