1904 / 12 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 15 Jan 1904 18:00:01 GMT) scan diff

Meine Herren, die Maßregeln, die ergriffen worden sind, sind in der Tat tief eingreifend; sie sind es für die Bergwerke und für die Arbeiter. Aber der Herr Abg. Hue wird nicht bestreiten können und hat es auch in seiner Rede nicht getan, daß das, was wir getan haben, das einzig Mögliche war, d. h., die Arbeiter in allen denjenigen Zechen, in denen eine starke Verseuchung bereits nachgewiesen war, zu untersuchen, in denen, wo bisher eine solche Nachweisung nicht erfolgt war, und kein Verdacht vorlag, eine 20prozentige Stichprobenunter⸗ suchung vorzunehmen. Aus allen diesen zahlreichen Untersuchungen, zu denen übrigens gegenwärtig die Aerzte in vollständig ausreichender Zahl vorhanden sind, sind selbstverständlich den Arbeitern große Un— bequemlichkeiten erwachsen und auch für die Werke ganz enorme Kosten. Ich habe gestern, um nicht allzu weitläufig zu werden, unterlassen, auf die Frage der von den Werken aufgewandten Kosten zu kommen; ich will das hier nachholen. Nach den bisherigen Statistiken sie reichen bis etwa gegen Ende November sind aufgewandt worden: erstens für Einrichtung, Erhaltung und Bedienung der Kotunter— suchungsstationen, für die untersuchenden Aerzte, für die etwaige Einrichtung und Unterhaltung der Baracken seitens der Werke 781 003 S; zweitens für die Unterstützung der Wurm⸗ kranken und ihrer Familien ich habe mich gestern näher darüber ausgelassen, in welcher Form 372 813 ; drittens für die Wurmfreiheitsatteste, auch unter den näheren Bedingungen, die ich gestern ausgeführt habe, 43 735 M6; d. h. in Summa etwa 1 200 000 4 Das sind die zum großen Teil freiwilligen Darbietungen der Werke gewesen. Und wenn der Herr Abg. Hue verwiesen hat auf Aus— führungen des Abg. Hilbck im vorigen Jahre, daß die Werke nicht die Ausgabe von Hunderttausenden scheuen würden, um die Krankheit zu beseitigen, so sprechen diese Zahlen dafür, daß der Herr Abg. Hilbck im vorigen Jahre nicht übertrieben hat. Ich habe übrigens dasselbe gesagt.

Hierbei will ich noch auf eine Statistik eingehen von einer der größten unserer Gesellschaften, wo neben den Leistungen, die ich oben aufgeführt habe, auch noch diejenigen Leistungen speziell verbucht worden sind, die entstanden sind durch die besonderen Ausgaben für Aborte und Desinfektion. Bei dieser großen Gesellschaft beträgt der Anteil an den erwähnten 1260 000 SJ 114 399 S, dagegen die letzteren Aufwendungen 297 225 ½ (hört! hört! bei den National— liberalen), sodaß gegenüber dem Anteil von 114 399 „, welche in den obigen 1200 000 6 der genannten Ausgaben der Bergwerke sich bereits befinden, Ende November die Gesamtausgaben dieser Gesellschaft schon auf 411 629 M sich beliefen. Also mit kleinen Mitteln ist in der Tat nicht gearbeitet worden (sehr richtig! bei den Nationalliberalen), sondern mit einem Aufwand von Mitteln, wie es in keinem Lande der Welt wieder geschehen ist, wie überhaupt auf allen diesen Ge— bieten der Sozialpolitik wir immer allen anderen Ländern mit Siebenmeilenstiefeln vorangehen und mehr leisten als irgend ein anderer. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen,. Daher liegt nicht die geringste Ursache vor, uns in der Weise hier anzugreifen, wie es eben geschehen ist. Ich fühle mich vollkommen beruhigt darüber, meine Pflicht und Schuldigkeit in dieser Sache voll getan zu haben.

Dann hat der Herr Abg. Hue im Anschluß an die Bemerkungen, die ich gemacht hatte über die „Bergarbeiterzeitung“', auch ausge⸗ sprochen, ich hätte gestern aufgefordert, sein Blatt und seine Partei möge weiterhin zur Aufklärung beitragen. Gewiß, ich habe die Herren, wie sie dort standen, apostrophiert, sie möchten ihrerseits in unparteiischer Weise dazu beitragen, diese abscheuliche Krankheit mit zu bekämpfen, und das tue ich auch heute noch einmal wieder; denn nur mit vereinigtem guten Willen ist dieser schweren Krankheit über⸗ haupt beizukommen.

Er hat sich dann darüber beschwert, daß Versammlungen gestört, und den Aerzten verboten sei, in den Versammlungen Vorträge zu halten. Dieses Verbot der Aerzte geht mich nichts an; ich kann mir aber vorstellen, daß das Verbot der ärztlichen Beteiligung darum ge— schehen ist, weil in diesen früheren Versammlungen, wo Aerzte referiert haben, nicht sachlich gesprochen ist, sondern höchst wahrschein⸗ lich in agitatorischer Weise (Unruhe links), und daß man geglaubt hat, man wolle nicht mitwirken bei einer derartigen Ausschlachtung einer höchst traurigen Angelegenheit.

Meine Herren, dann hat der Herr Abg. Hue noch einmal davon gesprochen, daß die Sauberkeit die erste Notwendigkeit sei, um der Krankheit beizukommen. Er hat darüber geklagt, daß Aborte nicht existierten, und hat dabei allerdings in sehr geschickter Weise bald von Sachsen, bald von Braunkohlengruben, bald von Oberschlesien und dann gelegentlich wieder einmal von Westfalen gesprochen, sodaß die Täuschung für den nicht sachkundigen Hörer bestehen kann, all die Dinge bezögen sich auf Westfalen. Daß aber in West— falen in einer Weise für Aborte gesorgt ist, die alle An⸗ sprüche befriedigen muß, das habe ich bereits im März vorigen Jahres ausgeführt, indem ich gesagt habe und nach der Richtung sind noch weitere Verbesserungen eingetreten —, daß schon damals in einer großen Zahl der von der Krankheit ergriffenen Gruben auf je 12 Arbeiter 1 Abort käme. Ich habe sogar ein Beispiel angeführt, daß auf einer großen Zeche bereits auf 4 Arbeiter 1 Abort käme. Das ist auch eine Leistung, wie sie nirgends in der Welt wieder vorkommt, weder in Belgien, noch in Siebenbürgen, noch in Wales, wo die Seuche auch zu Tage getreten ist. Es wird bewundert, daß wir in Deutschland den Willen haben, solche Vorschriften zu erlassen und auch ernstlich durchzuführen.

Dann hat der Herr Abg. Hue gemeint, gerade bei Durchführung dieser Maßregeln sei es erforderlich, Arbeiterkontrolleure zu haben, und er beschwert sich darüber, daß in der Versammlung, die am 4. April unter meinem Vorsitz in meinem Ministerium stattgefunden hat, auf diesen Wunsch der Arbeiter bei dem Knappschaftsvorstand nicht einge⸗ gangen sei. Ich bestreite, daß die Arbeiterkontrolleure zur Kontrolle der Aborte notwendig sind. Hätten wir allerdings nur noch die frühere geringe Zahl der Bergaufsichtsbeamten, dann würde es allerdings nicht möglich gewesen sein. Seitdem wir aber seit einigen Jahren das Institut der Einfahrer haben, gerade in Westfalen, haben wir ein Material für diese kleinen Kontrollen bekommen, welches sich ganz vorzüglich bewährt hat. (Zuruf von den Sozialdemokraten.) Gerade in der vorigen Woche habe ich vom Oberbergamt in Dort mund einen Bericht bekommen, der sich in lobendster Weise über die Vorzüglichkeit der Leistungen der Einfahrer in der Kontrolle, ob Ab— orte vorhanden sind und Reinlichkeit herrscht, ausspricht.

Dann kam der Herr Abgeordnete Hue auf eine Ausführung des verstorbenen Berghauptmanns Täglichsbeck, die Ueberwachung sei aus⸗

reichend. Die Zeiten, wo der Berghauptmann Täglichsbeck mit der Sache befaßt war, liegen hinter uns; selbstverständlich sind wir vor Jahresfrist nicht in der Fülle der Kenntnis gewesen wie jetzt. Aber wer ist das von Ihnen allen gewesen, wer in der übrigen Welt? Ich behaupte, wir haben noch mit am besten Bescheid gewußt mit Ausnahme vielleicht der Aerzte in Brennberg, welche ihre Erfahrungen ein bis zwei Jahrzehnte eher gemacht haben als wir; aber im übrigen gab es in der Welt kein besser informiertes Land und keine besser in⸗ formierten Aerzte, als wir sie in unsern Revieren haben.

Dann sagte der Herr Abgeordnete, die Geheilten würden bald wieder infiziert, die ganzen Maßregeln, die wir ergriffen hätten, seien nutzlos und unnützerweise quälerisch für die Arbeiter. Er hat offenbar vergessen, was ich gestern ausführte, und was, wenn er sich mit der Materie beschäftigt hätte, er wissen müßte, daß nicht die Eier infizieren, fondern die Larven. (Zuruf von den Sozialdemokraten.) Nein, das haben Sie nicht gesagt, sondern im Gegen— teil gesagt, mit dem Schmutz über Tage kämen die Eier, dann entstände eine Gefahr auch für das ganze Haus, für die ge— samte Bewohnerschaft. Aber eine Fortpflanzung durch Eier ist nicht möglich; die Fortpflanzung kann nur geschehen durch Larven. Diese Larben können sich nur entwickeln in Feuchtigkeit und Wärme, also bei unserem Klima nur in den tiefen warmen und feuchten Gruben. Ob die Temperatur von 22 Grad, die ich gestern angab, oder die von 18 Grad, die der Herr Abgeordnete heute zitierte, richtig ist, darüber will ich mit ihm nicht streiten. Ich kann nur sagen, daß in der ärztlichen Konferenz, die ich am 5. Dezember abhielt, die Ansicht der Aerzte war, unter 20 Grad sei eine wirklich nennenswerte Entwickelung nicht mehr möglich. Es handelte sich nur darum, ob in ganz vereinzelten Fällen unter 1000 vielleicht in einem auch noch unter 22 Grad eine Entwicklung von Eiern zu Larven möglich sein könnte; für die Praxis ist das völlig irrelevant.

Dann wiederholte der Herr Abg. Hue Aeußerungen, welche früher der Herr Medizinalrat Dr. Tenholt gemacht hat, daß die Dejektionen durch das Berieselungswasser verspült würden, so in die Sümpfe der Bergwerke kämen und aus den Sümpfen heraus wiederum verpumpt würden zur Besprengung der Gruben, wodurch neue Gefahr entstände. Aber die neuen Untersuchungen haben überall ergeben, daß die Gefahr, Eier könnten sich im Wasser lange lebensfähig halten, äußerst gering ist es ist nicht völlig nach— gewiesen, daß sie nicht vorhanden ist, aber es ist überall nachgewiesen, daß sie äußerst gering ist. Es ist sogar nachgewiesen, daß in manchen Gruben, in denen früher jetzt ist das fast überall beseitigt das Be⸗ rieselungswasser aus den Sümpfen entnommen wurde, die Eier über— all getötet waren, wenn das Wasser salzhaltig war.

Dann kam der Herr Abgeordnete auf meine Weigerung zu sprechen, die Bergpolizeiverordnung in fremder Sprache zu erlassen. Meine Herren, ich frage Sie, in welchem Lande der Welt außer in Deutschland würde man auf den Einfall kommen, in anderer Sprache als der Sprache des Landes Verordnungen zu erlassen? (Lebhafte Zustimmung rechts und bei den Nationalliberalen.) Sowas kommt in keinem anderen Lande der Welt vor als in Deutschland. (Zuruf von den Sozialdemokraten.)

Dann hat sich der Herr Abgeordnete in sehr ungehörigen Aus— drücken über die Bergwerksbesitzer ausgesprochen und gesagt, sie brächen ungestraft in frivolster Weise die Bergpolizeiverordnung. Da unter⸗ schätzt der Herr Abgeordnete in erheblichem Maße die Berg— werksverwaltung in Preußen. (Sehr gut! bei den National- liberalen, Die Bergwerksverwaltung in Preußen sitzt den Werks— besitzern in einer Weise mit Verordnungen und strenger Durchführung der Verordnungen auf dem Nacken, wie es nirgendwo in der Welt geschieht. Ich bitte den Herrn Abgeordneten Hue, mir irgend ein Beispiel aus der weiten Welt zu zeigen, wo mit der eisernen Energie vorgegangen wird wie bei uns. (Sehr richtig! rechts. Widerspruch bei den Sozialdemokraten.)

Ebenso hat sich der Herr Abgeordnete über den Herrn Ober-

bergrat Bennhold von Dortmund eine Aeußerung erlaubt, die er

zwar nur in problematischer Weise getan hat, die aber ihren Zweck, wenn sie in dem stenograpischen Bericht seiner ‚Bergarbeiterzeitung“ erscheinen wird, doch nach seiner Meinung erfüllen wird. Er meinte, er würde dem Herrn Bennhold, der in einer Knappschafts⸗ vorstandssitzung den Arbeitervertretern gesagt habe, sie ver— ständen von der Verwaltung nichts, geantwortet haben, er sei ‚ein unverschämter Geselle!. Meine Herren, das sind keine Ausdrücke, die wir bisher in einem deutschen Parlament über Königliche Beamte zu hören gewohnt sind. (Lebhafte Zustimmung rechts. Zurufe bei den Sozialdemokraten) Es ist in der Tat zu⸗ weilen schwierig, mit Leuten, die nicht gewohnt sind, parlamentarisch zu verhandeln, in langen Sitzungen zusammen zu sein und die Sitzungen sich erschweren zu lassen durch Einwendungen, die nicht in parlamentarischer Form, nicht sachgemäß und nicht an der rechten Stelle vorgebracht werden. Ich will daraus den Leuten die parlamentarisch minder ge⸗ bildet sind, für ihre Person keinen Vorwurf machen; aber das kann ich aus eigener Erfahrung sagen: derartige Einwendungen können den sachlich an der Verhandlung streng Beteiligten sehr peinlich werden. Ich kann es wohl erklärlich finden, daß Herr Bennhold vielleicht in einem Unwillen die Aeußerung gemacht hat. (Zuruf von den Sozial⸗ demokraten.) Das ist keine Beleidigung, wenn ich den Leuten sage, sie verständen von der Verwaltung nichts. Ich habe übrigens die Sache nicht konstatiert; es ist nur die Aeußerung, wie sie der Herr Abgeordnete selbst gebracht hat.

Dann hat der Herr Abgeordnete den Vorwurf erhoben, wir sorgten in Westfalen nicht für Trinkwasser. Das ist richtig; aber das hat seinen Grund in einer alten Gewohnheit der dortigen Berg— leute. Es ist mir übereinstimmend versichert worden, daß die Berg⸗ leute in Westfalen, abweichend von den oberschlesischen Bergleuten, eine große Flasche mit dünnem Kaffee sich mitbrächten, Flaschen bis zum Maße von 3 1. Das ist mir höchst erstaunlich vorgekommen, aber in zuverlässiger Weise mitgeteilt worden, und ich habe keine Ursache, an der Richtigkeit der Mitteilungen zu zweifeln. In Schlesien haben die Bergleute nicht die Gewohnheit, Kaffee oder irgendwelche Getränke mitzunehmen; da wird ihnen Wasser in Fässern nachgefahren. Eine Wasserleitung überall durch die großen Zechen zu führen zu dem Zwecke der Trinkwasserzufuhr, würde wieder eine sehr enorme Ver— teuerung hervorbringen, sodaß daran schwerlich zu denken ist. Uebrigens wird wohl überall jetzt bei der Sprengwasserleitung für die Be—⸗ rieselung vollständig reines Wasser gebraucht, bei dem es nicht schadet, wenn es auch getrunken wird, und soviel ich weiß, ist in allen Fällen,

wo früher schmutziges Wasser aus den Sümpfen“ verwendet worden

ist, für die Abstellung dieser Mißbräuche gesorgt.

Zum Schluß will ich noch auf einige Ausführungen kommen, die der Herr Abgeordnete Hue am Ende seiner Rede gemacht hat, nämlich, daß die Arbeitszeit zu lang sei, und daß die durch die lange Arbest geschwächten Arbeiter für die Aufnahme der Krankheiten empfänglicher seien. Ich glaube nicht, daß das in bezug auf den Wurm irgendwie zutrifft. Im allgemeinen mag es ja wahr sein, daß, wenn zu viel ge— arbeitet wird, die Arbeiter empfänglicher für Krankheiten sind; aber bei der Wurmkrankheit ist das nicht der Fall, sondern es tritt die Zuführung durch den Mund ein, wie es beim Bandwurm ist, und kommen die Larven in den Körper hinein, so entwickeln sie sich im Körper. Wa nun aber seine Klagen über zu lange Arbeit betrifft ich nehme an, daß es sich hauptsächlich auf Westfalen bezog (Zuruf bei den Sozial— demokraten), ich muß das annehmen, da wir ja doch über den west— fälischen Distrikt und die Wurmkrankheit dort gesprochen haben —, so kann ich nur sagen ich habe augenblicklich die Statistik nicht zur Hand, aber mein Gedächtnis trügt mich nicht —: die letzte Monatsnachweisung dez Oberbergamts in Dortmund hat erwiesen, daß wenig über 15 Schichten pro Kopf und Monat an Ueberschichten verfahren sind. Das ist kein Uebermaß von Ueberschichten; es schließt aber nicht aus, daß einzelne Arbeiter erheblich mehr Ueberschichten verfahren, häufig aber aus freiem eigenen Willen; ja, ich glaube sogar, daß viele es dringend wünschen, um ihren Verdienst zu erhöhen. Die Arbeitszeit ist in Westfalen seit Jahrzehnten nur 8 Stunden gewesen und in allen übermäßig heißen Zechen ich weiß nicht, ob bei 28 oder 29 Grad die Grenze liegt ist die Arbeitszeit nur sechs Stunden. (Zuruf bei den Sozial— demokraten) Bei über 29 Grad ist die Arbeitszeit auch nicht von gestern, sondern schon lange Jahre nur 6 Stunden gewesen. Wir marschieren mit dieser Arbeitszeit in Westfalen wiederum an der Spitze nicht nur von Deutschland, sondern an der Spitze der ganzen Welt; ich weiß nicht, ob in Australien die Herren Arbeiter etwat mehr erreicht haben, in Europa nirgends. Sie haben also keine Ursache, sich zu beschweren, daß in Westfalen unmenschlich mit den Arbeitern umgegangen wäre.

Ich beschränke mich auf diese Ausführungen und hoffe, daß damit zur Genüge eine Erklärung erfolgt ist. Ich wiederhole nochmals aus voller Ueberzeugung: wir haben die Krankheit in ihren schwersten Folgen gebrochen; wir werden aber noch mehrere Jahre vier bis fünf, habe ich nicht gesagt möglichenfalls noch arbeiten müssen, bis wir sie vollständig vernichtet haben. Wir haben vor allen Dingen alle schweren Fälle gebrochen mit wenig Ausnahmen, und was zurückgeblieben ist, sind mit Wurm behaftete Personen, die nicht krank sind, aber für ihre Mitmenschen eine Gefahr sind, und die wir daher, so leid es uns tut, von der unterirdischen Arbeit ausschließen müssen so lange, bis sie geheilt sind. Die Frage der Pensionsberechtigung, der zivil rechtlichen Ansprüche üsw. will ich hier ausscheiden. (Bravo!) ö

11. Sitzung vom 14. Januar 1904. 1 Uhr.

Tagesordnung: Interpellation der nationalliberalen Abgg. Dr. Becker⸗Hessen, Buchsieb, Hagemann und Heyligenstaedt.. 1 , , , , m , ,

Welche Schritte gedenkt die Reichsregierung zu tun, um dem Wunsche der Handwerker, daß für die selbständigen Hand werker die obligatorische Alters- und Invaliditätt⸗ versicherung unter Zugrundelegung der Bestimmungen des Alters⸗ und Invaliditäteversicherungsgesetzes eingeführt wird, ent— gegenzukommen?“

Ueber den Anfang der Sitzung wurde in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet. Nach Begrüdung der Interpellation durch den Abg. Dr. Becker-Hessen nimmt zur Beantwortung das Wort der

Staatssekretär des Innern, von Posadowsky⸗Wehner:

Meine Herren! Die Ausführungen des Vorredners machen seinem Herzen alle Ehre, und namentlich haben mich seine Ausführungen an— genehm berührt, soweit sie sich auf die vorbeugende Krankenfürsorge erstrecken. Aber eine verantwortliche Regierung hat in einer derartig grundlegenden Frage doch die Verpflichtung, nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit dem Kopfe zu prüfen. Der Herr Interpellant sprach den allgemeinen Grundsatz aus, daß alle schwächeren Vollskreise Ansprüche auf die Hilfe des Staats haben sollten, soweit es sich um die Sicherung ihrer Zukunft handele. Meine Herren, das ist an und für sich schon ein außerordentlich gefährlicher Grundsatz, in dieser Allgemeinheit ausgesprochen. Wenn wir diesen Grund— satz annehmen, daß jeder Anspruch auf die Hilfe des Staats hat, soweit es sich um die Sicherung seiner Zukunft handelt, dann würden wir allerdings dem Idealstaate des Herrn Abg. Bebel sehr nahe stehen. (Sehr richtig! Heiterkeit; Ja, der Herr Abgeordnete ist sogar so weit gegangen, zu erklären, daß, wenn wir das nicht täten, darin eine nationale Gefahr läge. Er mag mir es nicht übel nehmen: ich stehe auf dem Standpunkt, daß, wenn wir den Grund— satz annehmen, den er hier von der Tribüne des Reichstags erklärt hat, ich darin eine nationale Gefahr für Reich und Staat sehen würde. (Sehr richtig) Auch ich will an die Allerhöchsten Botschaften des verewigten Kaisers Wilhelm des Großen anknüpfen. Wenn Sie die Verhandlungen nachlesen, die damals über die Frage der Invalidenversicherung gepflogen sind, und wenn Sie die beiden Allerhöchsten Botschaften, die zu jener Zeit ergangen sind, prüfen, dann werden Sie finden, daß diese sowohl wie die Verhand⸗ lungen des Reichstags über die entsprechenden Gesetze sich lediglich bezogen auf die Klasse der Staatsbürger, die unselbständig sind, d. h. auf die unselbständigen Arbeiter. Der Reichstag hat allerdings einmal den Versuch gemacht bei der Beratung der letzten Invaliden⸗ versicherungsnovelle, diesen Grundsatz zu verlassen, indem er im §?2 des Gesetzes bestimmte, daß durch Beschluß des Bundesrats die Versicherungepflicht auch auf solche Handwerker und Betriebsunter⸗ nehmer erstreckt werden könne, die nicht regelmäßig mindestens einen Lohn⸗ arbeiter beschäftigen. Man ging aber dabei von der Ansicht aus, daß diese Klasse der Handwerker und Betriebsunternehmer eigentlich weiter nichts wären als Arbeiter mit unständigen Arbeitgebern, und daß man sie deshalb wohl zu den unselbständigen Erwerbsklassen rechnen könne.

Staatsminister Dr. Graf

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

3weite Beilage

zum Deutschen Neichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

1904.

Berlin, Freitag, den 15. Januar

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Aber und darauf lege ich Wert der Bundesrat hat von diesen Bestimmungen des Gesetzet, welche im Reichstage dem Gesetzentwurf der verbündeten Regierungen eingefügt worden sind, bisher noch keinen Gebrauch gemacht. Es handelt sich also um die Frage, meine Herren und das ist eine Frage von geradezu grundlegender Bedeutung nicht nur für die ganze Soßialpolitik, sondern meines Erachtens für das Wesen von Reich und Staat —: Soll der Siaat die Verpflichtung übernehmen im Wege der Versicherungspflicht, nicht nur für die Zukunft der un selbständigen, sondern auch für die Zukunft der selb⸗ ständi gen wirtschaftlichen Existenzen zu sorgen? Soll man diesen großen Schritt tun, nicht nur unselbständige, sondern auch selb⸗ ständige Personen zwangsweise zu versichern? Nach meiner Ueberzeugung ist das geradezu ein Rubikon, den wir überschreiten sollen, und ich glaube, dieses hohe Haus und das ganze Volk muß sich deshalb darüber klar sein, welche Wurzeln zukünftiger Entwicklung in einem solchen Entschluß liegen würden. Der Herr Abgeordnete hat und das möchte ich noch besonders hervorheben erklärt, er wollte die ganze Handwerkerschaft ohne Rücksicht auf ihre Ein⸗ kommensverhältnisse der zwangsweisen Versicherung unter— werfen, und dann betont, der Handwerkeistand würde eine solche Maß⸗ regel mit Freuden begrüßen.

Meine Herren, was zunächst die Versicherung des Handwerker⸗ standes ohne Rücksicht auf seine Einkommenkverhältnisse betrifft, so muß ich bemerken, daß es doch noch sehr zahlreiche Handwerke gibt Gott sei Dank —, für welche der Grundsatz gilt, daß das Handwerk einen goldenen Boden hat (Na, na! rechts), daß es noch so zahlreiche Handwerker gibt, die derartige Einkommensverhältnisse haben, daß, wenn man sie einer obligatorischen Versicherung unterwerfen wollte, meines Erachtens weitere andere Kategorien mit viel größerem Recht den gleichen Anspruch erheben könnten. Meine Herren, was ist über⸗ haupt ‚Handwerker' ?“ Das ist in der Praxis ein außerordentlich flüssiger Begriff: der Handwerker ist häufig nicht zu unterscheiden einerseits vom Fabrikanten, anderseits vom Händler oder Kaufmann. Es gibt Handwerker, die gleichzeitig Händler sind oder ein Geschäft betreiben, das einen durchaus kaufmännischen Charakter hat, und es gibt Handwerker, die eigentlich fabrikmäßig arbeiten. Darüber ferner muß sich das ganze Haus klar sein und ich glaube, man muß solch ernsten Fragen, abgesehen von allen Verhandlungen, die bei den Wahlen geführt sind, klar ins Auge sehen —, daß, wenn Sie die Handwerker einer obligatorischen Versicherung unter⸗ werfen, mit ganz demselben Recht die Kaufleute es gibt auch sehr kleine Kaufleute mit sehr unsicherer Zukunft —, daß mit ganz demselben Recht die Bauern den gleichen Anspruch erheben werden (sehr richtig); ich habe viele Einkommensteuerveranlagungen gesehen und viele Hypothekenblätter in meinem Leben, und ich kann Ihnen versichern, daß es sehr zahlreiche, selbst Großbauern gibt, die nach ihren Einkommenverhältnissen viel ungünstiger stehen und auf viel unsichererer Grundlage für ihre Zukunft wie sehr viele Handwerker. Dehnen Sie aber die Versicherung auf die Kaufleute und Fabrikanten aus, dehnen Sie sie auf die Bauern aus, meine Herren, dann haben dasselbe Recht meines Erachtens auch Künstler und Gelehrte; diese sind meift nur angewiesen auf ihr Augenlicht, auf das Geschick ihrer Hände und haben deshalb auch eine sehr unsichere Zukunft. Schließ lich möchte ich noch erwähnen die Doktoren und Apotheker und aus diesem Kreise sind tatsächlich bereits ähnliche Gesuche an die Reichsregierung herangetreten und haben sie die Frage bereits in der Oeffentlichkeit angeregt. Man darf sich also darüber nicht einen Augenblick unklar sein: Wagt man diesen sozialpolitisch und staatsrechtlich ungeheuer wichtigen Schritt, die Zwangs- versicherung, die bisher nur für unselbständige wirtschaftliche ECxistenzen, für Arbeiter, galt, auf selbständige wirtschaftliche Existenzen auszudehnen, auf solche Existenzen, die in sich die Kraft zu haben glauben, selbständig jzu sein das ist das Entscheidende —, so wird Ihnen später kein Zieren helfen: Sie müssen alle die Staats bürger versicherungspflichtig machen, die überhaupt ein be- stimmtes Einkommen nicht haben. (Sehr richtig! rechts.) Sie können dann Ihren eigenen Grundsatz nicht nur auf die Hand— werker beschränken. Dann wären wir glücklich bei dem Zustande angelangt, der in Neuseeland besteht und teilweise auch in gewissen australischen Kolonien, in Neu-⸗Südwales, Victoria usw. Meine Herren, ich habe hier das Neuseeländische Gesetz vor mir; Sie gestatten ich habe es im Urtext vor mir —, daß ich es Ihnen sofort übersetze. Es heißt da unter einer An— zahl sonstiger Bedingungen, die vorgeschrieben sind, daß derjenige, der über 65 Jahre alt ist, der einen guten moralischen Charakter hat (Heiterkeith, der versichert, daß er in den letzten fünf Jahren ein anständiges und nüchternes Leben geführt hat (Heiterkeitj das muß er mit einem Zertifikat an Eides Statt versichern, und wenn er einen falschen Eid leistet, kommt er unter Umständen in Kriminal strafe und ferner derjenige, der versichert, daß er nicht ein Ein— kommen über 52 englische Pfund oder nicht ein Kapitalvermögen von mindestens 270 englischen Pfund besitzt ein Recht auf eine Staats- penston haben soll; die Gesetze von Victoria sichern die Pension auch jedem Staatsbürger zu, soweit er ein bestimmtes Einkommen oder Vermögen nicht hat und durch Krankheit unfähig ist, seinen Lebens- unterhalt selbst zu erwerben. Der Betrag dieser Staatspension oll in Neuseeland 18 englische Pfund betragen, und von diesen 18 englischen Pfund wird für jedes Pfund Einkommen, das er selbst besitzt, oder für je 15 Pfund Vermögenswert, die er besitzt, 1 Pfund abgezogen.

Meine Herren, hier haben Sie also das Ideal durchgeführt, wohin uns der Schritt führen würde, von der freiwilligen Versiche— rung zur Zwangsversicherung selbständiger Existenzen überzugehen.

Ich will mich hier über diese Frage nicht weiter aussprechen; ich kann Ihnen aber versichern, daß diese Gesetzgebung sehr ernste finanzielle Gefahren für gewisse Staaten mit sich gebracht hat, über die man auch in den Parlamenten derselben offen Klage geführt hat.

Der Herr Abgeordnete hat auch erklärt, der Handwerkerstand würde mit Freuden eine solche Gesetzgebung begrüßen. Ich bin mir über diese Freude etwas zweifelhaft (sehr richtig! rechts; denn ich habe die Verhandlungen der Innungsvertreter in Düsseldorf gelesen, und da waren die Ansichten ganz außerordentlich geteilt (sehr richtig! links), zum Teil geradejn ablehnend. Ich glaube auch, der Handwerkerstand wird die Frage etwas andert beurteilen, wenn er sich vollkommen über die Folgen einer solchen Gesetz⸗ gebung klar ist. Der Herr Abgeordnete hat selbst erklärt, bei den Privatversicherungsgesellschaften wären die Beiträge zu hoch und die Renten zu gering. Der Handwerkerstand aber wird die Beiträge, wenn er zwangsweise vom Reich versichert wird, auch ganz allein tragen müssen in Abweichung von der Versicherung der Arbeiter, wo Arbeilgeber und Arbeitnehmer je die Hälfte tragen. (Sehr richtig! rechts) Das wäre also schon eine sehr wesentlich verschiedene Grund⸗ lage gegenüber der Arbeiterversicherung. Aber zweitens wird auch der Handwerkerstand sofort das Gefühl haben, daß gegenüber seiner Leistung die Reichsrente zu gering sei (sehr richtig! bei den Sozial⸗ demokraten), selbst wenn das Reich für diese Kategorlen ebenfalls einen Reichszuschuß gewährte. Er wird also einerseits die Beiträge, die er allein zu zahlen hat namentlich die kleinen Leute unter ihnen, von denen der Herr Vorredner sprach recht hoch finden, die Rente aber recht dürftig; denn immerhin sind die Einkommensverhältnisse des Handwerkers in der großen Masse doch noch besser als die Einkommens verhältnisse der großen Masse der Arbeiter.

Der Herr Vorredner ist auch in einem kleinen Irrtum gewesen, soweit es sich um die gesetzlichen Bestimmungen für die gegenwärtige Versicherung der Handwerker handelt. Es existieren nach dem In validenversicherungsgesetz zwei Möglichkeiten für die Handwerker, sich zu versichern: einerseits die Weiterversicherung, wenn ein unselb— ständiger Handwerker selbständig wird, und anderseits die frei— willige Versicherung, und wenn der Herr Vorredner dabei bemängelt hat, daß nur die Handwerker, die unter 40 Jahre wären, von dieser Versicherung Vorteil hätten, so erinnere ich daran, daß das nur für die Uebergangszeit ist; die anderen jüngeren Handwerker wachsen hinein in die Versicherung, die können sich recht . zeitig versichern; wir konnten doch unmöglich jemandem, der noch gar keine Beiträge geleistet hat und über 40 Jahre alt ist, also dem Renteneintritt näher steht, sofort die vollen Vorteile der Reichs— versicherung geben. Ich gestehe allerdings zu, daß von dieser frei⸗ willigen Versicherung sehr wenig Gebrauch gemacht wird. Aber die grauen Karten, von denen der Herr Vorredner sprach, begreifen nicht die ganze Versicherungsmöglichkeit der Handwerker in sich; diese grauen Karten sind nur für diejenigen bestimmt, die sich freiwillig versichern, nicht aber für diejenigen, die sich weiter versichern.

Wenn der Herr Vorredner weiter behauptet hat, die Handwerker machten von der Welterversicherung deshalb keinen Gebrauch, weil sie im Falle der Selbständigkeit das Geld zurückbekommen könnten und dann einen gewissen Fonds hätten, um sich einzurichten, Handwerkszeug zu kaufen usw, so ist das ebenfalls ein kleiner gesetzlicher Irrtum; denn das Recht, die Beiträge zurückzuverlangen, erstreckt sich nur auf die in 55 42 und 44 des Gesetzes erwähnten Personen, aber nicht auf Gesellen, die sich selbständig machen.

Ich möchte jetzt eine weitere Frage zur Sache streifen, das ist die sehr wichtige finanzielle Frage. Ich habe in den letzten Jahren in Verbindung mit dem Reichsversicherungkamt eingehende Einsicht genommen in die Art und Weise, wie die Versicherungsanstalten in Deutschland ihre Geschäfte führen, und ich habe dabei bemerkt, daß die Renten in einzelnen Versicherungsanstalten in einer Weise ge⸗ stiegen sind, die mir zum Teil ernste Besorgnisse für die finanzielle Zukunft dieser Anstalten einflößt. Ich glaube, die Prüfung der Rentenansprüche, die mündliche Verhandlung mit denjenigen, die Rente nachsuchen, muß vielfach mehr individualisiert werden, als es bisher der Fall ist, und ich bin mir immer zweifel- hafter geworden, entgegen der Auffassung des Reichstags bei der Be—⸗ ratung des Invalidenversicherungsgesetzes, ob die bisherigen Organe, denen diese Prüfung und die Rentenfestsetzung obliegt, ob die Organe der allgemeinen Staatsverwaltung wirklich imstande sind, dieser sozialpolitisch und finanziell wichtigen Aufgabe so zu genügen, wie es erforderlich ist. Diese Organe der allgemeinen Staatsver⸗ waltung sind in einer Weise mit statistischen Arbeiten und mit sonstigen Aufträgen der vorgesetzten Behörden belastet, daß und das haben auch meine Herren Kommissarien bei der Prüfung der Geschäfts—⸗ ergebnisse anerkannt eine Anzahl derselben geradezu außerstande ist, diesem wichtigen sozialpolitischen Zweig die genügende Aufmerksamkeit zu widmen.

Aber weiter, meine Herren! Wir sind noch nicht am Ende mit den unselbständigen Kreisen, die man in die Invalidenversicherung einschließen kann. Ich bemerke, daß j. B. eine große Kategorie Un⸗ selbständiger, die Privatbeamten, schon sehr hörbar an die Pforten des Reichs geklopft haben, um auch der Segnungen der all— gemeinen Reichsversicherung teilhaftig zu werden. Wie soll nun überhaupt die bestehende Organisation weiter genügen, wenn wir in ganz unabsehbarer Weise die allgemeine Zwangsversicherung vergrößern? Nun, meine Herren, noch die finanzielle Frage im engeren Kreise! Von mir werden Sie glauben, daß ich den Weg, den seinerzeit das Reich eingeschlagen hat, die Zwangsversicherung für die Arbeiter einzuführen, aus tiefster Ueber zeugung für den politisch und sozialpolitisch durchaus richtigen Weg halte. Ich möchte aber doch daran erinnern, daß andere Völker, denen reiche politische Erfahrungen zur Seite stehen, die ein älteres öffentliches politisches Leben haben als Deutschland, schon da⸗ mals, wo wir die Zwangsveisichernng für die Arbeiter ein führten, ihrerseits ernste Bedenken hatten; sie hielten es für bedenk⸗ lich, in so großem Maße den Staat verantwortlich zu machen für die Zukunft ganzer Kategorien von Staatsbürgern, und das ist eigent⸗ lich der innere Grund, warum manche andere Staaten leider, wie ich sage uns auf diesem Wege der Arbeiterversicherung nicht

gefolgt sind. Ich halte, wie gesagt, soweit es sich um unselb⸗ ständige wirtschaftliche Existenzen handelt, jene Auffassung für eine unrichtige; aber ich bin doch der Ansicht, man kann auch zum Schaden unseres Volks das Versicherungsprinzip übertreiben, ja man kann das Versicherungsprinzip, um einem jeden seine Zukunft zu sichern, so übertreiben, daß schließlich die eigene Kraft, für sich selbst zu sorgen, selbst seine Zukunft zu sichern, vollkommen gelähmt wird, und das kann sehr bedenkliche psychologische Wirkungen auf den Charakter eines ganzen Volks haben. Wo wollen Sie aber die Mittel zu einer der⸗ artigen Erweiterung der Invalidenversicherung hernehmen? Sie haben uns das Zolltarifgesetz nur unter der Bedingung bewilligt, daß wir bis 1910 die Witwen- und Waisenversicherung einführen. Ich habe mich von dem Tage an, wo dieser Beschluß, im hohen Hause gefaßt worden ist, mit dieser Frage sehr eingehend beschäftigt; ich habe im Reichsamt des Innern bereits eine umfassende Denkschrift auf⸗ stellen lassen, welche die Grundlage enthält, wie dieses Projekt eventuell verwirklicht werden kann, und ich werde diese Denkschrift in allernächster Zeit sämtlichen verbündeten Regierungen zur Prüfung zugehen lassen. Dreierlei hat sich aus diesen Arbeiten mit unzweifel⸗ hafter Sicherheit ergeben. Erstens, wenn man diese Witwen, und Waisenvpersicherung auch auf die allerschmalste Grundlage stellt, auf eine Grundlage, die noch etwas Nennenswertes für die Witwen und Waisen bedeuten soll, daß dann und das möchte ich dem verehrten Herrn Abg. Trimborn bemerken es ganz undenkbar ist, eine solche Versicherung einzuführen, ohne die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu erhöhen. (Hört, hört! bei den Sozialdemokraten. Zweitens, wenn selbst die Beträge eingehen, die nach dem Zolltarifgesetz für eine Witwen, und Waisenversicherung vorbehalten werden, wird man wahrscheinlich eine allgemeine Witwen und Waisenversicherung nicht einführen können; sondern die Witwen⸗ versicherung wird sich darauf beschränken müssen, nur den Witwen, die wirklich erwerbsunfähig sind, Witwengeld zu gewähren. Drittens ergibt sich aus diesen Arbeiten, daß zur Durchführung der Witwen⸗ und Waisenversicherung, die meines Erachtens der nötigste und wichtigste sozialpolitische Schritt ist, den wir tun sollten denn da handelt es sich wirklich um Personen, deren Existenz im äußersten Grade gefährdet ist sehr große finanzielle Mittel nötig sein werden. Nun frage ich Sie, meine Herren: wäre es richtig, zu einer Zeit, wo die Hand⸗ werker selbst noch über die Frage der Zwangsversicherung so geteilt sind, wo wir noch so große, bereits festgelegte, mit erheblichen Opfern verbundene sozialpolitische Aufgaben vor uns haben, wo die drei be⸗ stehenden sozialpolitischen Gesetze noch sehr wesentlich nach den ver⸗ schiedensten Richtungen bin des Ausbaues bedürfen ich frage Sie, meine Herren, wäre es da richtig, in diesem Augenblick die Grund⸗ lagen der Allerhöchsten Botschaft, auf welchen unsere ganze Ver⸗ sicherungsgesetzgebung beruht, zu verlassen und einen vollkommen neuen, und wie ich glaube, nachgewiesen zu haben, sozialpolitisch und finanziell unübersehbaren Weg zu beschreiten?

Wir werden die Frage, die von den Herren Interpellanten an⸗ geregt ist, gewiß ernsthaft prüfen. Man kann auch prüfen, ob man nicht im Interesse der selbständigen Existenzen die freiwillige Ver⸗ sicherung noch nach einer gewissen Richtung hin weiter ausbauen kann. (Sehr richtig! rechts) Aber, meine Herren, das kann ich Ihnen sagen und davon wird sich aus meinen Ausführungen wohl der Herr Interpellant selbst überzeugt haben seine Interpellation ist ein zu leichtes Gefährt, um die ungeheuren finanzpolitischen und sozialpolitischen Lasten einer solchen Maßregel irgendwie vorwärts zu schieben. (Sehr richtig! rechts.) Ich fasse mich also dahin zusammen, meine Herren: wir wollen in die Prüfung der Frage eintreten; Sie können aber nicht von mir verlangen und ebensowenig von den ver

bündeten Regierungen, daß wir uns zu einer so entscheidenden Frage Frag

im gegenwärtigen Augenblick nach irgend einer Seite hin festlegen. (Brapo! rechts.)

Auf Antrag des Abg. Dr. Sattler (nl) beschließt das Haus die Besprechung der Interpellation.

Abg. Trimborn HZentr.): 21 eine Denkschrift über die Witwen⸗ und Waisenversicherung vollendet ist, erfüllt mich mit Be⸗ friedigung. Die Frage der Beiträge habe ich selbst vorsichtig genug seinerzeit bei den Zolldebatten offen gelassen. Wir werden uns schon in dieser Frage zurecht finden. Auch auf die vielleicht notwendige Beschränkung der Versicherung auf die Witwen, die selbst erwerbs⸗ unfähig sind, habe ich damals schon hingewiesen. Daß es vielen selbständigen Handwerkern heute schlechter geht als manchen Arbeitern, ist eine Tatsache. Leider haben die selbständigen Handwerker von der freiwilligen Versicherung bisher nur einen minimalen Gebrauch gemacht. Sie müßten in drastischerer Weise darauf hingewiesen werden, und die Handwerkerkammern könnten dazu viel tun. Die erste Vor— bedingung für die Handwerkerversicherung durch das Reich wäre, daß die Meinungen unter den Handwerkern selbst darüber geklärt wären. Sobald man die Sache im Anschluß an die Arbeiterversicherung lösen will, tritt sofort die Frage eines höheren Reichszuschusses für die höheren Versicherungsklassen auf. Unter den Handwerkern selbst

besteht noch gar keine Einigkeit; deshalb müssen wir zunächst die

Klärung der Meinungen abwarten. Den Innungen, Handwerker kammern und sonstigen Korporationen müssen zunächst konkrete Unter⸗ lagen und Vorschläge geboten werden, damit die Handwerker sich selbst die finanziellen Folgen klar machen. Einhellig sind meine Freunde der Ansicht, daß zunächst die Sicherung der Bauhandwerker, die Ver⸗ leihung des Rechtes zur Lehrlingshaltung an geprüfte Meister und dergleichen Fragen gelöst werden müssen. Inzwischen fordere ich die Handwerker zur freiwilligen Versicherung auf. Ist es nicht eine Schande, daß der Geselle das, was er jahrelang bezahlt hat, mit der Versicherungökarte in den Dreck wirft? ; Abg. Molkenbuhr (Soz.): Wenn es über Gesetze ein gewisses Recht des geistigen Eigentums gäbe, so wäre Herr Dr. Becker des Plagiat anzuklagen, denn es handelt sich hier um eine Sache, die er schon in den Drucksachen des Reichstags von 1889 finden kann. Damalg bereits haben meine Parteigenossen das beantragt, was Herrn Dr. Becker heute als großes Ideal vorschwebt. Er beweist eine völlige Ünkenntnis des bestehenden Gesetzes, und da muß man auch annehmen, daß er die Anträge nicht studiert hat, die bei der Schaffung des Invalidenversicherungegefetzes gestellt worden sind. Er hat davon esprochen, daß die Leute das Geld, das sie als Beiträge gezahlt . zurückverlangen werden. Ich mußte wirklich glauben, daß er annimmt, die Ehe ist ein selbständiger Handwerksbetrieb und die Frau darin der Meister. Herr Abg. Trimborn sagt heute, das Zentrum