1904 / 38 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 13 Feb 1904 18:00:01 GMT) scan diff

Deutscher Reichstag.

31. Sitzung vom 12. Februar 1904. 1 Uhr.

Tagesordnung: Forisetzung der zweiten Beratung des Reich shaushaltsetats in 1904 bei dem Etat des Reichsamts des Innern, und zwar bei dem Ausgabe— kapitel Reichs versicherungsamt“.

Ueber den Anfang der Sitzung wurde in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet; nach dem Abg. Dr. Mugdan ffr. Volksp.) nimmt das Wort der

Abg. Gamp (Rp.): Ich kann mich der Anerkennung der Recht—⸗ sprechung des Reichsversicherungsamts nur voll und ganz anschließen. Einzelne Beschwerden können wir hier nicht nachprüfen, wenn uns das ganze Aktenmaterial nicht zur Verfügung gestellt wird. Ich will aber einen Spezialfall anführen. Es war einmal ein kranker Schuh— macher bei mir, der sich darüber beschwerte, daß ihm die Stadt Berlin einen rückständigen Betrag seiner Rente vorenthalten habe, weil sie darauf Ansprüche erhoben habe wegen seiner Verpflegung im Krankenhaus. Das wäre doch im höchsten Grade ungerecht. Daß die Landwirte sich weigern, die Unfallverhütungsvorschriften zu be— folgen, ist unrichtig. Ste haben sich seinerzeit nur gegen unberechtigte Vorschriften des Reichsversicherungsamts gesträubt. Es geht doch zu weit, wenn z. B. jede Maschine von einem Aufseher bewacht werden soll. Solche Vorschriften sind praktisch unausführbar. Nicht nur aus Menschlichkeit, sondern auch aus ganz eigennützigen Motiven wird jeder verständige Mensch gute Unfallverhütungsvorschriften befolgen, weil dadurch die Unfallrenten sich vermindern. Herr Molkenbuhr hat auf die außerordentliche Zunahme der Unfälle in landwirtschaftlichen Betrieben hingewiesen. Daß die Sache eine besondere Bewandtnis haben muß, wird er sich ja selber sagen müssen. Es ist nämlich in der letzten Zeit der kleinste Unfall, auch der, daß man sich in den Finger schneidet, angemeldet worden. Das neue Unfallgesetz hat den Begriff der landwirtschaftlichen Nebenbetriebe ganz anders ausgelegt und sie den landwirtschaftlichen Betrieben untergeordnet, die früher zu den gewerblichen gehörten. Außerdem bezieht sich die Versicherung auch auf hauswirtschaftliche Verrichtungen, wodurch das gesamte Gesinde versicherungspflichtig geworden ist. In der Statistik sollten die Fälle ersichtlich gemacht werden, in denen eine Arbeitsunfähigkeit bis zu 13 Wochen eingetreten ist. Ich kann dem Abg. Molkenbuhr den Vorwurf einer unaufrichtigen Kampfesweise nicht ersparen, denn die Verhältnisse im Jahre 1962 lagen ganz anders als im Jahre 1889.

Abg. Dr. Becker - Hessen (nl. : Die Unterstellungen des Abg. Molkenbuhr, daß die ven n Aerzte in den Berufsgenossenschaften ihre Gutachten mit Rücksicht auf die Kommerzienräte . haben, muß ich im Namen der deutschen Aerzte mit Entschiedenheit zurück— weisen. Wir haben das Katzbuckeln nach keiner Seite gelernt. Unsere Gutachten beruhen lediglich auf wissenschaftlicher Basis. Der Wunsch des Abg. Trimborn, daß man durch Vorträge ufw. für die Selbst— versicherung der Handwerker wirken möge, ist in Hessen bereits erfüllt.

ygienische Vorträge wurden schon längst bei uns gehalten, und zwar aus reiem Antrieb durch die Aerzte zu einer Zeit, als von den Krankenkassen an solche Vorträge noch garnicht gedacht wurde. Der Abg. Körsten hat gestern den deutschen Aerztestand in einer Weise verunglimpft, daß dagegen der entschiedenste Protest erhoben werden muß. Es ist geradezu frivol, zu behaupten, daß unsere sozialpolitische Gesetzgebung den Arbeitern so gut wie gar nichts gebracht habe. Dem wider- sprechen die untrüglichen Zahlen des Stakistischen Fahrbuchs. Freilich weisen ja die. Sozialdemokraten immer und immer wieder auf die Geringfügigkeit der Renten hin. (Sehr richtig! bei den Sozial— demokraten) Mit diesem Zuruf beweisen Sie nur, daß Sie mit dem Volk in keiner wirklichen Berührung stehen. (Widerspruch bei den Sozialdemokraten.) Ich bin seit 14 Jahren Vertrauensarzt. (Eachen bei den Sozialdemokraten)... Mit diesem Lachen geht es Ihnen ebenso wie mit meiner Wahl am Stichwahlabend. Da hatten die Sozialdemokraten schon die roten Flaggen aufgezogen und die Musiker schon die Backen aufgeblasen, um die sozialdemokratische Siegeshymne zu spielen, als die Schreckensnachticht kam, daß nicht Herr Ükrich Ihr Genosse, sondern ich der Sieger war... Ich sage also, ich bin seit 14 Jahren Vertrauensarzt nicht der Berufsgenossen— schaften, wie Sie glauben, sondern der dortigen Arbeiter —, und ich kann aus meiner langen Praxis nur bestätigen, daß die Altersrente immer mehr zurückgeht, die Invalidenrente immer mehr in den Vordergrund tritt. Wenn Sie es immer so darstellen, daß die Arbeiter mit den Rentenbezügen unzufrieden sind, so ist das nach meiner Praxis nicht wahr, und sind sie unzufrieden, so haben Sie (zu den Sozialdemokraten) das verschuldet, indem Sie den Arbeitern immer wieder predigen, die Rente sei zu niedrig. Durchschnittlich stellt sich der Rentenbetrag auf die Höhe der Zinsen eines Kapitals von 6000 Herr Körsten erzählte uns von einer Versammlung von Holzarbeitern, wo 750,9 der Anwesenden verstümmelte Hände gehabt hätten. Es kommt doch sehr darauf an, zu welchem Zweck eine solche Ver— sammlung berufen war; in einer gewöhnlichen Holzarbeiterversammlung würden sich diese 75 nicht vorgefunden haben. (Zwischenruf bei den Sozialdemokraten Auch in meiner Gegend, in Isenburg und Sprendlingen, ist die Möbelfabrikation sehr im Schwange; ich habe sehr häufig solche Verstümmlungen zu begutachten und kann feftftellen, daß die Zahl sich lange nicht auf 75 9 beläuft. Herr Körsten hat sich auch über die Leistenbrüche verbreitet. Ich habe in meinen 14 Jahren Praxis 50 bis 60 solche Schäden zu begutachten gehabt. Wenn ein Mann, der schon früher mit einem Unterleibsleiden behaftet war, sich einen Bruch zuzieht, indem er eine schwere Last hebt, so ist das eben kein Unfall mehr (Widerspruch bei den Sozialdemoktaten), ja, das ist eben Ihre wunderbare Wissenschaft, die Sie ohne alle Erkenntnisquellen benutzen. Der Arzt kann dann nicht im Interesse des Arbeiters einen Unfall bekunden, dazu ist er nicht da, sondern es handelt sich um eine lange vorher vorhandene Krankheitserscheinung. Statt daß Sie die Arbeiter in den Gewerkschaftsblättern aufklären, stimmen Sie immer wieder in die entrüsteten Klagen ein: es ist eine Schande, daß der Mann, der sich da eben den Bruchschaden geholt hat, keine Unfallrente er— hält! Daß die Aerzte keine Atteste ausstellen, ist eine völlig aus der Luft gegriffene Behauptung. 90 , aller Aerzte sind ja Kassenärzte und dürfen sich ihrem Kassenvorstand gegen— über gar nicht weigern, ein. Zeugnis auszustellen. Es ist ebenso unrichtig, daß den Unfallverletzten keine Ginsicht in das Zeugnis gegeben wird; in den Fällen, wo die Einsichtnahme das Todesurteil des Verletzten bedeuten würde, wird man hoffentlich von den Aerzten nicht verlangen, daß sie so roh sind, die Einsichtnahme trotzdem zu gestatten. Die mediko⸗mechanische Behandlung hat man wohl überschätzt; vielfach ist auch die Ueberweisung in ein solches Institut nicht die richtige, weil seibst die Massage dort überwiegend durch Maschinen ausgeführt wird, und die Verpflegung tat. sächlich zu Beschwerden Veranlassung gegeben hat, die schon des⸗ wegen vielleicht begründet sein können, weil der dirigierende Arzt sich nicht auch noch um die Küche kümmern kann. Die Klagen über die Invalidenrenten und über deren Festsetzung kann ich, wenigstens was mein engeres Vaterland Hessen betrifft, im übrigen absolut nicht unterschreiben; auch gibt es immer noch sehr viel Arbeit⸗ geber, welche die Invaliden nach wie vor zu den früheren Löhnen weiter beschäftigen. Das Verlangen der Ausdehnung der Kranken— versicherung auf Dienstboten und landwirtschaftliche Arbeiter kann ich persönlich nur unbedingt unterstützen, und ich freue mich der zustimmenden Erklärung, die Graf von Posadowsky für sich hierbei abgegeben. Auf dem Wege des Baueg von Krankenhäusern, den er für notwendig erklärte, scheint mir aber speziell für den Osten Deutschlands die Sache nicht ausführbar; es wird vielmehr vorzuziehen sein, daß man in diesen Gegenden praftische oder pro physicatu geprüfte Aerzte mit einer stagtlichen Subvention domiziliert. Ich bin ein Freund der sozial⸗ politischen Gesetzgebung. Damit will ich der Regierung kein Kompliment machen, wenn es auch vorzuziehen ist, auf der Regierungsbank zu sitzen,

sehr belastet werden. Wir Aerzte werden ungeachtet der Verun—⸗ glimpfungen, denen wir in der sozialdemokratischen Presse und im Reichstage ausgesetzt sind, zum Wohle der deutschen Arbeiter an der Ausführung der sozialpolitischen Gesetzgebung mitwirken.

Abg. Dr. Spahn sZentr): Der Staatssekretär hat gestern über die Beleihung konfessioneller Anstalten mit Geldern der Landes⸗ persicherungsanstalt Angaben gemacht, die doch nicht ganz der Wirklich- keit entsprechen. Ich habe eine Zusammenstellung gemacht, wonach für e , , Anstalten in Preußen allein 99 Millionen geliehen worden sind.

Staatssekretär des Innern, von Posadowsky⸗Wehner:

Meine Herren! Ueber alles in der Welt kann man streiten, nur über Zahlen nicht; denn die müssen objektiv richtig und deshalb un— anfechtbar sein. Ich habe bemerkt, daß ich meine Mitteilungen selbst— verständlich nur gemacht habe auf Grund einer vom Reichsber— sicherungsamt eingereichten Uebersicht. Darin sind auch die Zahlen für die drei Versicherungsanstalten mit enthalten, die Angaben in dem gedruckten Bericht nicht gemacht haben. Ich muß nun selbst zuge— stehen, wenn, wie angeführt, in einem Bericht von einer Kirchen— gemeinde gesagt ist „Konfession nicht bekannt“, so berührt das einiger⸗ maßen eigentümlich (Heiterkeit); denn das ist doch das erste Kriterium einer Kirchengemeinde, welcher Konfession sie angehört. Ich habe hier die positiven Gesamtzahlen der Nachweisung des Reichsversiche— rungßkamts, die ich wiederholt mitteilen will. Danach sollen an Korporationen mit protestantischem Charakter 7 509 343 S, und an Korporationen mit vorwiegend katholischem Charakter 8963 448 gezahlt sein. Die verschiedene Summe, zu welcher Herr Abg. Spahn gelangt, kann nur an der verschiedenen Gruppierung liegen, etwas anderes erscheint nicht möglich; denn die Summen an sich müssen richtig sein. Ich werde aber Veranlassung nehmen, nochmals in eine eingehende Prüfung der Zahlen einzutreten.

Der Herr Abg. Gamp hat nun heute bei Beginn der Plenar— sitzung einen Fall hervorgehoben, in welchem angeblich die Armen⸗ verwaltung, wenn ich recht verstanden habe, Regreßansprüche erhoben hat auf die Unfallrente, die von einer Unfallberufsgenossen. schafst dem Unterstützten gewährt ist. Ein solcher Regreß⸗ anspruch ist ja an sich auf Grund des 5 25 des Unfall— versicherungsgesetzes und des § 29 des Seeun fallversicherungsgesetzes gesetzlich berechtigt; gegenüber dem Herrn Abg. Lesche habe ich das Rechtsverhältnis eingehend auseinandergesetzt auf Grund eines gleichen Falles, der unter das Seeunfallversicherungegesetz fiel. Wenn also ein Armenverband gegen eine Berufsgenossenschaft einen Regzreßanspruch erhoben hat wegen Armenunterstützung, die einem Hilfsbedürftigen gezahlt ist, der gleichzeitig für denselben Zeit raum Renten von einer Berufsgenossenschaft erhält, so stimmt das an sich mit den gesetzlichen Vorschriften vollkommen überein. Der Herr Abg. Gamp hat ferner angefragt, wie es eigentlich

Staatsminister Dr. Graf

mit den Unfällen in den landwirtschaftlichen Berufsgenossen⸗ schaften stände. Gemeldet sind im ganzen für das Jahr 190 122532 Unfälle, davon waren aber nur entschädigungs—⸗

pflichtig 57 934. Es ist hier auch der Wunsch ausgesprochen, zu den Sitzungen des Reichsversicherungkamts einen Arzt heranzuziehen. Ich will diesen Anregungen sehr ernstlich nachgehen. Ich glaube nicht, daß die Aerzte wünschen können, an der Rechtsprechung selbst teilzunehmen, weil es sich hierbei vorzugsweise doch um juristische Fragen handelt. Ich will aber erwägen, ob es praktisch wäre, zur Aufklärung des medizinischen Sachverhältnisses, zur Beurteilung von ärztlichen Zeugnissen, zur Stellung von Fragen an den erschienenen Kläger über seinen körperlichen Zustand, zur Beurteilung von Angaben des Klägers einen Vertrauensarzt als Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung zuzuziehen. Ich will mich zunächst in dieser Hinsicht mit dem Herrn Präsidenten des Reichkversicherungsamts in gutachtliches Benehmen setzen.

Hygienische Vorträge über Berufskrankheiten und über allgemeine Volkshygiene sind von mir bereits in der Ausstellung für Arbeiter⸗ wohlfahrt in Charlottenburg eingerichtet worden. Ich habe ferner bei dem preußischen Herrn Kultusminister angeregt, ob man nicht zunächst an der Berliner Universität einen Lehrstuhl für Gewerbe— krankheiten errichten könne. (Sehr gut! in der Mitte und links)

Gerade die Gewerbekrankheiten zu vertiefen in ihrer medizinisch— physiologischen Bedeutung würde für die Beurteilung von Renten— ansprüchen und Unfällen ganz außerordentlich wichtig sein. Ob es möglich sein wird, bei den Universitäten auch mediko⸗mechanische An— stalten einzurichten, wie sie jetzt in Privathänden sind, darüber kann ich in diesen Augenblick es ist ja die erste Anregung, die hier ge⸗ geben worden ist keine Erklärung abgeben. Ich will aber auch diese Frage mit dem preußischen Herrn Kultusminister erörtern.

Es ist auch heute wiederholt über die Entscheidung von Renten— ansprüchen gesprochen. Ich bin der Ansicht, daß es das Richtige wäre, unser ganzes Verfahren bezüglich der Feststellung von Renten wesentlich zu vereinfachen und damit zu verkürzen. Ich bin der Ansicht, daß wir einen bureaukratischen Aufbau für die Entscheidung dieser Fragen errichtet haben, der in gar keinem Verhältnis zur Sache steht (sehr richtig! und der insbesondere den Rentenempfängern selbst nicht nützlich ist. Die Voraussetzung aber für eine solche Verkürzung muß die sein, daß eine gründlichere Prüfung der Rentenansprüche in der örtlichen Instanz möglich ist (sehr richtig), sowohl nach der ärztlichen Seite wie nach den Tatsachen hin. (Sehr richtig) Ich kann nicht leugnen, daß ich immer von neuem den Eindruck habe, daß in der örtlichen Instanz diese Fragen nicht mit der Gründlichkeit behandelt werden, mit der sie behandelt werden müssen. (Sehr richtig! in der Mitte und links) Wer lange praktischer Verwaltungt— beamter gewesen ist, weiß ganz genau, daß der Schwerpunkt einer gerechten Beurteilung von Menschen und Verhältnissen immer in der örtlichen Instanz liegt (sehr richtig! in der Mitte und links), die unmittelbare Anschauung hat. Die Auffassungen der oberen Instanzen bauen sich immer, eine nach der anderen, auf der Sach darstellung der Ortsbehörden auf. Deshalb ist es so wichtig, daß die örtliche Instanz gewissenhaft ist und wirklich sorgfältig und un— parteiisch die persönlichen und tatsächlichen Verhältnisse feststellt. Die oberen Instanzen können die schönsten Erkenntnisse schreiben; sie müssen sich schließlich doch auf die örtlichen Feststellungen stützen; die sind der eigentliche Kernpunkt einer gerechten Entscheidung. Aber andererseit muß ich doch sagen und da stimme ich mit einzelnen

als im Dresdener Parteitag. Aber ich möchte auch meinerseits vor elner Ueberstũrzung der soꝛialpolitischen Gesetzgebung warnen; die weniger leistungs fähigen Schultern dürfen im weiteren Fortschritt nicht allzu

der Herren Vorredner von heute überein wir dürfen wirklich nicht bei den Rentenempfängern den Eindruck fortgesetzt verstärken, daß sie ungerecht behandelt werden. (Sehr richtig) Es bringt das geradezu,

wie ich schon einmal angedeutet habe, psychologische Erscheinungen mit sich.

Ich habe hier einen Aufsatz, der entnommen ist der Zeitschrift Die Unfallversicherungspraxis“. Da schreibt ein Schiedsgerichts⸗ vorsitzender, von dem man doch annehmen muß, daß er den Fragen unparteiisch gegenübersteht und die Sache gründlich kennt, nachdem er über das hohe Maß von Täuschung und Simulation gesprochen hat, was zur Erlangung von Renten oft angewendet wird, unter anderem folgendes:

So wirkt alles zusammen, der Versicherungsgesetzgebung eine düstere Kehrseite zu geben. So traurig es klingt, so kommt es der Wahrheit doch sehr nahe, wenn behauptet wird, daß in der Versicherungsgesetzgebung ein Keim zur Demoralisation der deutschen Nation liegt, den zu unterdrücken Aufgabe aller beteiligten Kreise sein muß.

und weiter sagt er: Die Rentensucht führt in vielen Fällen so weit, daß sie zu sehr schweren Erkrankungen führt und das Kapitel der traumatischen Neurose, der Autosuggestion, der Hysterie hat durch sie eine nam⸗ hafte Bereicherung erfahren. Ich glaube deshalb in der Tat, wir würden den Rentensuchern einen wesentlichen Dienst erweisen, wenn wir das Verfahren, was sich jetzt häufig jahrelang hinschleppt und in den Leuten so lange die Hoffnung nährt, daß sie ihre Lage doch noch verbessern könnten, wesentlich abkürzten, wenn wir ihnen aber auch gleichzeitig eine erhöhte Gewähr gäben einer sachgemäßen gerechten Entscheidung in der ört— lichen Instanz. (Sehr richtig) Es sind weiter gegen eine mediko⸗mechanische Anstalt in Berlin heftige Vorwürfe erhoben worden. Ich habe seinerzeit auf eine An— regung, die aus dem hohen Hause an mich erging, eine örtliche Prüfung einer großen Anzahl von Anstalten in Deutschland ver— anlaßt und kann nicht leugnen, daß über die Anstalt, von der gestern hier die Rede war, vom Reichsversicherungsamt nicht günstig berichtet (hört, hört! links) und daß vielfach die erhobenen Klagen und be— haupteten Mißstände als zutreffend befunden wurden. Der jetzige Inhaber dieser Anstalt hat aber ausdrücklich Abhilfe dieser Mißstände zugesagt; ich werde nicht ermangeln, nach einiger Zeit eine wiederholte Prüfung dieser Anstalt herbeizuführen. Es ist gestern von einem Herrn Redner weiter behauptet ich lese hier wörtlich nach der Zeitung, den stenographischen Bericht habe ich noch nicht vor mir —: Eine Musteranstalt ist die Heilanstalt der Nordöstlichen Bau— gewerksberufsgenossenschaft in der Großbeerenstraße. Der Leiter ist ein ehemaliger Vertrauenearzt und nun kommt das Entscheidende:

der Hauswirt der Vorsitzende der Berufsgenossenschaft. Ich habe einen Brief von dem Vorsitzenden der Nordöstlichen Bau— gewerksberufsgenossenschaft empfangen, der sich mir gegenüber recht⸗ fertigt, da er doch mehr oder weniger ein amtliches Organ ist, indem er erklärt:

Der ergebenst Unterzeichnete besitzt in der Großbeerenstraße kein Haus, auch ist in keinem seiner Häuser irgend eine Heilanstalt einer Berufsgenossenschaft oder einer anderen Körperschaft unter— gebracht.

(Hört, hört! rechts.) Ebenso hat der Vorsitzende der Nordöstlichen Baugewerks— berufsgenossenschaft nach dem Gesetz, 5 69 des Gewerbeunfall—⸗ versicherungsgesetzes vom 30. Juni 1900, und dem Statut, § 47, eine Einwirkung auf etwaige Heilanstalten der Sektionsvorstände nicht, da das Heilverfahren eine selbständige Obliegenheit der Sektions vorstände ist.

Ich habe mich für verpflichtet gehalten, diese Berichtigung, die mir

von einem Mann in ehrenamtlicher Tätigkeit zugegangen ist, hier dem

hohen Hause mitzuteilen. Abg. Freiherr von Richthofen-⸗Damsdorf (8. kons, schwer

verständlich): In der Aerztefrage unterschreibe ich selbstverständlich jedes

Wort, das zur Ehrenrettung der Aerzte gefallen ist. Die Vertrauensärzte sind mit einem Mißtrauen behandelt worden, als ob sie Mißtrauenz— ärzte genannt werden müßten. Aber ich möchte doch nicht verhehlen, daß das Vorgehen der Aerzte an einzelnen Orten in manchen Kreisen Verwunderung erregt hat, daß eine Mitschuld bei einzelnen Aerzten und vielleicht auch einzelnen Aerzteverbänden vorzuliegen scheint. Wir werden zu erwägen haben, ob wir nicht beamtete Distriktsärzte ein— führen sollen. Ich möchte diesen Gedanken indessen einstweilen nur hingeworfen haben. Wir sind durchaus gewillt, für die Unfallverhütung in landwirtschaftlichen Betrieben Sorge zu tragen, und werden mit Unfallverhütungsvorschriften für die Landwirtschaft einverstanden sein, wenn sie vernünftig sind.

Abg. Bömel burg (Soz,) behauptet, daß die Unfallhäufigkeit in den letzten 5— 6 Jahren erheblich zugenommen habe, auch in der Land wirtschaft. Besonders erheblich sei die Steigerung im Baugewerbe und im Bergbau. Die Unfälle stiegen in den einzelnen Be— trieben bis über 4090/9. Er sei der letzte, der die Bedeutung und die kleinen Fortschritte der soziglen Gesetzgebung verkenne; aber die Hauptsache sei doch die Erhaltung von Leben und Gesundheit. Für den Verlust von Leben und Gesundheit werde kein Ersatz geleistet. Leider seien die Anträge seiner Freunde auf weitergehende Unfallverbhütungsvorschriften abgelehnt worden. Unternehmer und Arbeiter müßten für die Einführung und den Ge— brauch der Unfallverhütungsmaßregeln erzogen, in den Fort— bildungsschulen und in den technischen Lehranstalten auf die Wichtig— keit der Sache hingewiesen werden. Auch sollten sämtliche Gewerbe⸗ inspektoren Vorträge darüber halten, wie es in Württemberg schon jetzt geschehe. Ausstellungen für Arbeiterwoblfahrtszwecke müßten in allen größeren Orten errichtet werden. Die Charlottenburger Aus— stellung sei schon zu klein. Die Berufsgenossenschaften hätten ihre Pflicht in bezug auf die Einführung von Unfallverhütungsvorschriften isher nicht erfüllt. Die Unfallverhütung müßte den Händen der Unternehmer entrissen und gesetzlich geregelt werden.

Abg. Erzberger (Zentr):; Mit dem Vorredner kann ich mich dahin einverstanden erklären, daß in der Tat eine große Zunahme der Unfälle eingetreten ist. Man darf aber auf der anderen Seite nicht vergessen, daß die Summe, die den Arbeitern aus der Unfallversicherungs⸗ gesetzgebung zugeflossen ist, während sie im Jahre 1886 1,9 Millionen betrug, sich im Jahre 1902 auf 107 Millionen belaufen hat, daß also die Arbeitgeberschaft, namentlich die kleinen Arbeitgeber, recht bedeutende und drückende Lasten auf sich genammen haben. Auf dem Gebiete der Unfallverhütung wird von den Berufsgenossenschaften noch recht wenig geleistet. Ich möchte die Anregung geben, daß man die Arbeiter auffordert, selbst Vorschläge zu Unfallverhütungsvor— schriften und maßnahmen einzureichen, und Prämien dafür aussetzt. Ferner möchte ich anregen, die Statistik dahin zu erweitern, daß die ,,,, für die inländischen und die ausländischen Verletzten gesondert aufgeführt werden. In der Kapitalabfindung scheint mir eine große Knguserigkeit bei den Berufsgenossenschaften zu herrschen. Ein weiteres Mittel zur Herabsetzung der Unfälle sehen wir in der Vermehrung der technischen Aufsichtebeamten bei den Berufsgenossenschaften. Gerade deren Berichte sind eine willkommene Ergänzung derjenigen der Gewerbeinspektoren. Wie auf der

unter Umständen bedenkliche

STerrorizmus in den Berufsgenossenschaften zurück.

wird als neu und als praktisch.

einen Seite eine durchgreifende Unfallverhütung. notwendig ist,

so ist auf der anderen ebenso notwendig eine Invalidenverhuͤtung.

. Unsere Wünsche hinsichtlich der Invalldenversicherung gehen dahin,

weit mehr Mittel als bisher gemeinnützigen Zwecken zu⸗ , Namentlich könnte mehr geschehen, wenn man sein Rlugenmerk auf die Wohnungẽsfrage richtete. Der Krankenpflege auf zem Lande sollten die Invalidenanstalten ihre besondere Aufmerksam⸗ keit widmen. Die Bestimmungen, die den Niederlassungen der kranken⸗ pflegenden Orden entgegenstehen, sind so quälerischer und kleinlicher Art, daß ihre Beseitigung eine zeitgemäße Forderung ist. Alle diese Bestimmungen müßten im sozialen Interesse mit einem dicken Strich

rden. . ; . , (Soz.): Man macht jetzt wieder in Sozialisten⸗ bekämpfung, wenn auch der Vorredner heute mit uns gnädiger um⸗ gegangen ist als früher. Hoch sind die Verwaltungskosten nur bei den BPerufsgenossenschasten, nicht bei den Krankenkassen, bei denen Arbeiter angestellt sind. Es ist eigentümlich, daß der Vorredner Ils Vertreter einer arbeiterfreundlichen Partei sich über die hohen Unfallversicherungskosten beschwert hat, die die Arbeitgeber belasten. (Widerspruch im Zentrum) Jawohl, er sprach bon den kleinen Arbeitgebern. Herr Becker warf uns dor, daß wir die Rentner unzufrieden machten. 20 6 Rente im Monat in in unsern Augen keine Altersversorgung, dabei müssen die Arbeiter verhungern, lamentlich wenn sie Frau und Kinder haben. Dafür, daß die Ar⸗ beiter von den Vertrauensärzten nicht allein, sondern auch bon den von den Berufsgenossenschaften abhängigen Aerzten ein Gutachten über Unfälle und , . ich 616 ,.

q . ie Aerzte weichen immer mehr vo

von Fällen anführen z ) . i; Fall, in dem ein Arzt erklärte, bisher habe er ein Gutachten ausgestellt, . . könne es ncht mehr, wenn er seine Cxistenz behalten wolle. Die Warnung des Herrn Becker vor einer Ueberstürzung der sozial⸗ politischen Gesetzgebung wird ihm, hei den nächsten Wahlen Tausende von Stimmen kosten, das Wahlglück wird ihm nicht wieder hold sein. Der Staatssekretär will das Reichsversicherungsamt nur als Reyisions⸗ instanz gelten lassen. Dann müßte aber an Stelle der bisherigen Rekursinstanz, auf die die Arbeiter nicht verzichten können, eine Zwischeninstanz zwischen Schiedsgerichten und Reichs versicherungsamt geschaffen werden, und dann würden ja die Kosten und die Arbeits⸗ kast dieselben sein. Die Zahl der Unfälle, die dauernd teil, weise Erwerbsunfähigkeit nach sich gezogen haben, ist seit 1887 gewachsen, und noch mehr die Zahl, der vorübergehend teilweisen Erwerbtunfähigkeit. Glaubt nun, irgend ein Arzt, daß die schweren Unfälle irgendwie erheblich abgenommen haben? Nein, es handelt sich hier einfach um eine Wirkung des Vertrauensarztsystems. Die Entschädigung für das Jahr und den Kopf hat eine ganz ge⸗ waltige Verminderung erfahren; das trifft auch auf die Leistung der Knappschaftskassen zu. Die Vollrente wird nur noch sehr selten, die SHilfslosenrente fast gar nicht mehr gewährt. Daß das Vertrauen zu den BVertrauensärzten der Berufsgenossenschaften geschwunden ist, ist Tat⸗ fache. Wir müssen deshalb eine Aenderung des Gewerbeunfallgesetzes

rkort und fort verlangen. Herrn Becker bitte ich, dahin zu wirken, daß . * freie Arztwahl endlich einmal auch den Berufsgenossenschaften gegen⸗

lber zum Durchbruch kommt.

. Staatssekretär des Innern, vwon Posadowsky⸗Wehner:

Eine Behauptung des Herrn Vorredners möchte ich richtig stellen. Ich habe nie dafür gesprochen, daß man den Rekurs ganz beseitigt, . sondern ich bin der Ansicht, daß die Vorschrift, die im Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes von 1896 enthalten war, praktischer war, d. h. daß an Stelle des Rekurses die Revision beim Reichsversicherungs⸗ amt gesetzt werde, wenn das Schiedsgericht nicht mehr wie 25 00 der Vollrente bewilligt hat. Es konnten also alle großen grundsätz⸗ lichen Fragen immer noch beim Reichsversicherung samt entschieden

Staatsminister Dr. Graf

werden. Aber wegen jeder kleinen Summe unter 25 oo würde das Schiedsgericht endgültig entschieden haben, und es konnte nur wegen formaler Mängel der Instanzenweg weiter

beschritten werden. Außerdem hatte die Bestimmung den großen Vorzug, daß nicht sieben Mitglieder an der Entscheidung teil nahmen, sondern nur fünf, und das ist, meine ich, ausreichend. Ich glaube, Sie haben den ganzen Apparat viel zu groß aufgebaut im Verhältnis zur Sache, und die Sache würde schnell entschieden, die Verletzten würden schneller zu ihrer Rente kommen, wenn Sie das . Verfahren vereinfachten. Wir werden jetzt, wo wir zu über 14000

Rekursen jährlich gekommen sind, geradezu gejwungen werden, die

Revision einzuführen, weil die Verhältnisse nicht mehr haltbar sind. Die Reste häufen sich in einer Art an, daß man kaum die Verant⸗ . wortung hierfür übernehmen kann. Das Recht hat der Arbeiter, und das ist von psychologischem Interesse für den Mann, daß er nmnöglichst schnell endgültig Recht bekommt. Wag die Vorträge über Hygiene und Unfallverhütung betrifft, so hält bereits der Professor Hartmann Vorträge über Unfallver— hütung in der Ausstellung in Charlottenburg für Arbeiterwohlfahrt. Daß die Ausstellung jetzt schon zu klein, ist richtig. Ich hatte bereitß in meiner Anmeldung für diesen Etat beim Schatzamt eine Erweiterung in Aussicht genommen; aber auch diese Erweiterung hat mit Rücksicht auf die allgemeine Finanz— lage zurückgestellt werden müssen. Ich hoffe, daß es für den

nächstjährigen Etat möglich sein wird, die bereits veranschlagte Erweiterung vorzunehmen. Vollständig in dem Sinne wie ein

Museum wird die Ausstellung in Charlottenburg nie werden. Es war Grundsatz bei Einrichtung dieser Ausstellung, daß das Reich nicht selbst die Ausstellungsgegenstände erwirbt; denn dann würden

wir sehr bald nur eine Sammlung von altem Eisen haben. Eine

LLeschichtliche Sammlung wollen wir nicht, sondern eine Sammlung der

modernsten Unfallverhütungseinrichtungen. (Sehr gut!) Infolgedessen kann auch nur das ausgestellt werden, was von den Fabriken angeboten Die Ausstellungsgegenstände sind deshalb einem fortwährenden Wechsel unterworfen. Ich gebe aber zu, daß es vielleicht ein praktischer Weg ist, um zu einer Verbesserung der Vorrichtungen für Unfallverhütung bei Maschinen zu gelangen, = daß man Preisausschreibungen macht für diejenigen, welche besonders ausgezeichnete Unfallverhütungsborrichtungen an Maschinen erfinden. Selbstverständlich müssen solche Erfindungen erst gründlich praktisch ausprobiert werden. Die Fonds für solche Preisausschreibungen würde der Etat des Reichsamts des Innern wohl bieten.

Was die Größe der Kapitalabfindungen in den ersten Jahren nach Erlaß des letzten Unfallversicherungsgesetzes betrifft, so erscheinen diese allerdings ziemlich umfangreich. Ich glaube aber, der Herr Vorredner hat dabei vergessen, daß auf Grund dieses neuen Gesetzes noch eine ganze Masse alter Fälle abgefunden wurden. Dadurch waren natürlich in den ersten Jahren die Summen der Abfindungen auffallend hoch. Ich persönlich ich habe in der Kommis— sion kein Hehl daraus gemacht bin kein großer Freund der Kapitalabfindung, weil die Leute, welche eine solche bekommen, sehr leicht in der Lage sind, daß ihnen von den Angehörigen usw. das Geld abgenommen wird, oder daß sie es in bedenklichen Unternehmungen vergeuden (sehr richtigh, daß sie wirtschaftlich ver⸗

fehlte Unternehmungen machen; dann sind die Leute gegenüber dem Nichts und verfallen dem Armenverband, weil der Rentenanspruch durch Annahme der Kapitalabfindung verwirkt ist. Es ist schon hier im Reichstage gerügt worden, daß eine Berufsgenossenschaft voll— ständig geschäftsmäßig sämtlichen Rentnern die Kapitalabfindung an⸗ geboten habe. Ich halte das für ein recht gefährliches Verfahren. (Sehr richtig) Darin, glaube ich, wird der ganze Reichstag einig sein, daß viel besser als die ganze Rente ist, dem Arbeiter seine Gesundheit zu erhalten (sehr richtig); denn die Rente kann das nie ersetzen. Da muß ich allerdings sagen ich sage es absichtlich von dieser Stelle aus —, daß die Beruftz= genossenschaften ernster mit den Unfallverhütungsmaßregeln vor gehen müssen. (Sehr richtig) Vor allem muß ich diesen Appell an die Bauberufsgenossenschaften richten. (Hört, hört) Diese haben sich jetzt endlich entschlofsen nach langen Verhandlungen, im ganzen 49 technische Aufsichtsbeamte anzustellen. Bekanntlich sind nur 10 Bauberufsgenossenschaften unter Aufsicht des Reichsversicherungs⸗ amts, 2 unter Aufsicht der Landesbehörden. Nun hat man zwar bei den Bauberufsgenossenschaften erkannt, daß diese Zahl der tech— nischen Aufsichtsbeamten nicht ausreicht. Auf dem 18. ordentlichen Verbandstage der deutschen Bauberufsgenossenschaften in Stettin am 5. September v. J. ist daher beschlossen worden, auch ehrenamtliche Aufsichtsbeamte anzustellen; mit diesen ehrenamtlichen Aufsichts— beamten würde das gesamte Aufsichtspersonal 95 im Deutschen Reich betragen. Ob diese ehrenamtlichen Aufsichtsbeamten sehr wirksam sein werden, darüber will ich mir zur Zeit noch kein Urteil erlauben; aber das Reichsversicherungsamt, dem ich aufgegeben habe, sehr nachdrücklich auf die Bauberufsgenossenschaften hinzuwirken, daß endlich die nötige Anzahl technischer Aufsichtsbeamten angestellt werde, sagt in seinem Bericht:

Aber auch die 95 Aufsichtsbeamten genügen zur ausreichenden Kontrolle der Baubetriebe noch nicht. Nach Ansicht des Reichs⸗ versicherungsamts werden zur Ueberwachung der 120 158 Betriebe also nur der 10 Berufsgenossenschaften, es gibt aber 12 Berufs⸗

genossenschaften im Reich mindestens 120 technische Beamte unter der Voraussetzung er— forderlich sein, daß jeder Beamte jährlich 1000 Betriebe je einmal revidieren kann. Also, wenn man nun die 49 berufsmäßigen Beamten rechnet, so würden nach der Ansicht des Reichsversicherungsamts noch 71 technische Aufsichtsbeamte fehlen, wenn nur jeder Beamte 1000 Baubetriebe je einmal im Jahre revidieren soll.

Daß in der Tat gerade das Baugewerbe ein recht gefährliches Gewerbe ist, darüber habe ich aus einer Eingabe der Nordöstlichen Baugewerksberufsgenossenschaft ein ziemlich unverdächtiges Urteil. Dort heißt es:

Aus der Statistik der Baugewerksberufsgenossenschaften und den Nachweisungen des Reichsversicherungsamts über die gesamten Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften geht hervor, daß der

Grad der Unfallgefahr im Baugewerbe viel höher ist als in anderen

Betrieben. Zum Beweise dessen sei es uns gestattet, einen Ver⸗ gleich zu ziehen zwischen den Folgen der Unfälle derjenigen

denen ziffernmäßig die meisten Be⸗ und denjenigen bei der Nord⸗

Berufsgenossenschaften, bei triebsverletzungen vorkommen,

östlichen Baugewerksberufsgenossenschaft, wobei wir die Nach⸗ weisungen des Reichsversicherungsamts für die Jahre 1885186 bis 1900 zu Grunde legen. Danach entfielen auf 1000 versicherte Personen durchschnittlich: bei der Rheinisch-West— fälischen Hütten- und Walzwerks⸗Berufsgenossenschaft 141,62, bei der Süddeutschen Eisen⸗ und Stahl ⸗Berufsgenossenschaft

47,23, bei der Knappschaftsberufsgenossenschaft 85, 84 und bei der Nordöstlichen Baugewerksberufsgenossenschaft 33,39 verletzte Arbeiter. Hat es hiernach zwar den Anschein, als wäre bei den drei ersten Berufsgenossenschaften die Unfallgefahr eine höhere als bei der Nordöstlichen Baugewerksberufsgenossenschaft, so ergibt sich doch bei Gegenüberstellung der Entschädigten zu den gemeldeten Unfällen, daß die Folgen der Bauunfälle ganz erheblich schwerer sind als die übrigen Unfälle. Zu entschädigen waren bei der Rheinisch⸗Westfälischen Hütten und Walzwerks⸗Berufsgenossenschaft 6, 85 oo, bei der Süddeutschen Eisen- und Stahl⸗Berufsgenossenschaft 14,10 0, bei der Knappschaftsberufsgenossenschaft 11,87 ½ und bei der Nordöstlichen Baugewerksberufsgenossenschaft 24,86 0/9. Daraus ergibt sich ohne weiteres die große Unfallgefahr des Baugewerbes, welches solche folgenschwere Betriebsunfälle zeitigt. (Hört! hört!) Also war dort im Baugewerbe der höchste Prozentsatz der Unfälle zu entschädigen! Wenn man hier aus einer durchaus un— verdächtigen Eingabe ersieht, wie gefährlich der Baubetrieb ist bei den hohen Gebäuden, wie sie jetzt aufgeführt werden, dann müssen die Bauberufegenossenschaften sich auch entschließen, energisch an die Sache heranzugehen. (Sehr richtig!) Ich bin fest entschlossen, wenn die Bau—⸗ berufsgenossenschaften ihren gesetzlichen Verpflichtungen nicht nach— kommen, dem Bundesrat eine Aenderung der bestehenden Gesetzgebung vorzuschlagen, die ihm das Recht gibt, zwangsweise in solchen Fällen vorzugehen. (Bravo Abg. Kulerski (Pole) spricht sich für eine Herabsetzung der Altersgrenze zum Empfange der Altersrente und dafür aus, daß die Unfallverhütungsvorschriften auch in polnischer Sprache angeschlagen werden. Wenn der höchste preußische Verwaltungsbeamte es wage, im preußischen Abgeordnetenhause zu sagen: „Ihr habt zu gehorchen, wir zu befehlen“, so könne man sich denken, daß die unteren Ver waltungsbeamten in der Mißhandlung der armen polnischen Renten— empfänger wahre Schimpforgien feierten. Die schlimmsten groß⸗ polnischen Agitatoren seien die Beamten des Ostens, die die Unzu— friedenheit unter den Polen vermehrten.

Staatssekretär des Innern, Staatsminister Dr. Graf von Posadowsky⸗Wehner:

Meine Herren! Wenn hier behauptet ist, daß die Versicherungs—⸗ anstalten Darlehen an Kirchengemeinden nicht gegeben haben, so glaube ich, erklärt sich das auf dem sehr einfachen Wege, daß in allen preußischen Provinzen meines Wissens Provinzialhilfskassen oder ähn- liche provinzielle Kreditanstalten bestehen. Diese Kirchengemeinden nehmen ihre Darlehen aus den Provinzialhilfskassen, und es liegt für sie gar keine Veranlassung vor, aus den Fonds der Versicherungs— anstalten Anleihen zu machen. Diese Darlehen werden mit langen Tilgungssristen gewährt und sind für die Kirchen. und Schul—⸗ gemeinden viel leichter zu erreichen als die Anleihen von der Ver—⸗ sicherungsanstalt.

Gegenüber den Angriffen. die der Herr Vorredner gegen die

mir bei meiner intimen Kenntnis dieser Verhältnisse die Versuchung sehr nahe, das Bild einmal von der anderen Seite zu zeigen. Ich tue das nicht, weil diese Frage nicht in den Reichstag gehört. (Sehr richtig) Ich habe heute morgen in der Zeitung gelesen, daß der Kollege des Herrn Abg. Kulerski, Herr Korfanty, in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt ist, und da wird er ja Gelegenheit haben, in durchaus legitimer Weise seine Beschwerden vorzubringen.

Nach einigen persönlichen Bemerkungen vertagt sich darauf das Haus.

Schluß 6i½ Uhr. Nächste Sitzung Sonnabend 1 Uhr. (Wahl eines Schriftführers an Stelle des erkrankten Abg. Krebs; Wahlprüfungen, darunter die des sozialdemokratischen Abg. Braun; Fortsetzung der Beratung des Etats des Reichs⸗ amts des Innern.)

Preußischer Landtag. Herrenhaus.

4. Sitzung vom 12. Februar 1904, 12 Uhr.

Ueber den Beginn der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Herr von Graß erstattet den Bericht der Kommission für Eisenbahnangelegenheiten zu dem Bericht über die Ergeb⸗ nisse des Betriebes der vereinigten preußischen und hessischen Staatseisenbahnen im Rechnungsjahre 1902 und beantragt namens der Kommission seine Erledigung durch Kenntnisnahme.

Herr von Graß führt u. a. aus, daß die Saisonkarten für Sachsengänger den Arbeitermangel im Osten förderten, und richtet an den Minister die Frage, ob die Erleichterungen, die dem Personal in bezug auf den Dienst gewährt werden, günstig auf die Betriebts⸗ sicherheit cingewirkt hätten, und ob die staatliche Fürsorge dazu bei⸗ getragen habe, das Personal von den Umsturzbestrebungen fernzuhalten.

Minister der öffentlichen Arbeiten Budde:

Meine Herren! Ich möchte zunächst die angenehme Pflicht er⸗ füllen, dem Herrn Berichterstatter meinen Dank auszusprechen für die wohlwollende Beurteilung, die die Staatseisenbahnverwaltung in seinem Bericht gefunden hat.

Wenn ich dann auf einige Punkte seines Berichts näher eingehe, so möchte ich zunächst betonen, daß, als ich das erste Mal die Ehre hatte, vor diesem hohen Hause zu sprechen, am 2. April v. J., ich die erfreuliche Mitteilung machen konnte, daß die befürchteten 35 Mil⸗ lionen Defizit im preußischen Staatshaushaltsetat voll von der Eisenbahnverwaltung gedeckt würden, einesteils durch 15 Millionen Ersparnisse, die im Betriebe gemacht werden konnten, und fernerhin durch erhebliche Mehrergebnisse des Betriebs. Heute bin ich, wie der Herr Berichterstatter schon angeführt hat, in der noch glück⸗ licheren Lage, Ihnen mitzuteilen, daß ich mich damals etwas geirrt habe, daß das Defizit nicht nur voll ausgefüllt, sondern daß es auch möglich gewesen ist, fast 16 Millionen Mark Ueberschüsse zu erzielen. Diese sind in den Ausgleichsfonds geflossen, der mit Ihrer hohen Zustimmung im Interesse der Eisenbahnverwaltung, im Interesse der Staatsfinanzverwaltung im vorigen Jahre begründet worden ist. (Bravo!)

Das ist ein hocherfreuliches Resultat, und ich werde bei der späteren Etatsberatung noch näher nachweisen können, welchen Segen der Ausgleichsfonds in Zukunft haben kann und haben wird.

Das günstige Ergebnis des Jahres 1902 ist nun nicht ausschließlich auf Verkehrssteigerung zurückzuführen, sondern auch außer auf andere wirtschaftliche Maßnahmen auf die zweckmäßige Einverleibung der Main⸗ Neckarbahn, die der Herr Berichterstatter ja schon erwähnt hat. Diese Eingliederung in das große Netz der preußisch⸗hessischen Eisenbahn⸗ gemeinschaft hat für alle drei beteiligten Staaten: Hessen, Baden und Preußen ein günstiges Ergebnis gehabt, weil natürlich die Verwaltung dieser kleinen Bahn viel mehr gekostet hat als sie selbständig war, gegenüber heute. Wir waren in der Lage, für Preußen infolge dieser Eingliederung 4 Millionen Mark Mehrergebnis aus der Main⸗Neckar⸗ bahn zu erzielen, als sie früher gebracht hat. Die Hauptursache des Mehrerträgnisses unserer Eisenbahnen bleibt aber die außerordentlich günstige Verkehrsentwickelung, und wenn ich auch heute nicht näher darauf eingehen kann, wie sich der Verkehr über den 1. April 1903 fortentwickelt hat, so möchte ich doch kurz erwähnen, daß die Steigerung nicht bloß bis Ende des Betriebsjahres 1902, dessen Bericht jetzt zur Beratung steht, angedauert hat, sondern noch fortbesteht, und daß auch das Betriebsjahr 1903 ein außerordentlich günstiges Ergebnis für die Eisenbahnverwaltung und für die ganzen preußischen Staatsfinanzen haben wird.

Ich darf vielleicht den Ausführungen des Herrn Berichterstatters noch einige Bemerkungen über das Schlußergebnis des Berichtsjahres 1902, das mit dem 31. März 1903 abschließt, hinzufügen. Die Rente der preußischen Staatseisenbahnen, und zwar berechnet von dem fort⸗ geschriebenen Anlagekapital von 8384 Millionen im Jahre 1902, be—= lief sich auf 6 56 0/0 gegenüber 6,41 0ͤ0 im Vorjahre, also eine Steigerung. Wenn man nun aber in Betracht zieht, daß die gesamte preußische Staatsschulden nur 6889 Millionen Mark betragen, so geht bieraus hervor, daß die preußischen Eisenbahnen gesamte preußische Staatsschuld verzinsen, sondern weit darüber hinaus er⸗ hebliche Erträge abwerfen. Es geht ferner daraus hervor, daß der preußische Staatseisenbahnbesitz, der, wie ich eben erwãhnte, 8384 Millionen Mark beträgt, weit höher ist als die gesamten preußischen Staatsschulden in der Zahl von 6889 Millionen Mark. Die Verzinsung der andern deutschen Staatseisenbahnen im Betriebsjahr 1902 ist erheblich niedriger, nämlich: 3, 19, 3, 86, 2, SViz bezw. 2, 86 00 des Anlagekapitals. Die angegebenen Zahlen beweisen die Wirtschaftlichkeit der großen Staatseisenbahnverwaltung, die das kräftige Rückgrat der gesamten preußischen Staatsverwaltung bilden. (Bravo!)

Wesentlich für die Beurteilung der Rentabilität unserer Staats- eisenbahnen ist der Betriebskoeffizient, das ist also das Verhältnis der Ausgaben zu den Einnahmen. Der Betriebskoeffizient betrug im Jahre 1901 bei den preußischen Staatsbahnen 61, 75 und ist im Jahre 1902 heruntergegangen auf 61,34, also auch ein Beweis für die Besserung in der wirtschaftlichen Lage unserer Eisen—« bahnen. Die Betriebskoeffizienten bei anderen deutschen Staatseisen⸗ bahnverwaltungen haben folgende Höhe: 72,41 0, 70,93 σ, 71 9200 und bei einer Verwaltung sogar 81,59 /o. Die große preußisch⸗

nicht bloß di

preußischen Beamten in den polnischen Landesteilen gerichtet hat, läge

bessische Eisenbabngemeinschaft stebt also in ibrem Betriebskoeffijienten erheblich günstiger als alle übrigen deutschen Staatseisenbahnver- waltungen.

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