1904 / 291 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 10 Dec 1904 18:00:01 GMT) scan diff

Dentscher Reichstag. 108. Sitzung vom 9. Dezember 1904, Nachmittags 1 Uhr. Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Tagesordnung: Fortsetzung der ersten Beratung des Reichshaushaltsetats und des Etats der Schutzgebiete ö. 1965, des zweiten Nachtragsetats für 1904 und er Gesetzentwürfe, betreffend die Friedenspräsenzstär ke des deutschen Heeres und betreffend Aenderung der Wehrpflicht.

Vor Eintritt in die Tagesordnung nimmt das Wort der

Reichskanzler Graf von Bülow:

Meine Herren! Die verbündeten Regierungen hatten die Absicht, die mit Rußland, Rumänien, Belgien, Italien, der Schweiz und Serbien vereinbarten Handelsverträge diesem hohen Hause nach dem Schluß der ersten Lesung des Etats vorzulegen. Die Verhandlungen mit Oesterreich⸗Ungarn waren, wie den Herren bekannt ist, auf einen toten Punkt gelangt und mußten wegen erheblicher Meinungsverschiedenheiten abgebrochen werden. Infolge von Mitteilungen, die uns jetzt von österreichisch · ungarischer Seite gemacht sind, ist Aussicht vorhanden, auch mit diesen unseren Nachbarn zu dem gewünschten Einverständnis zu kommen. (Hört, hört! links.) Selbstverständlich halten wir daran fest, daß entsprechend den von mir in diesem hohen Hause abgegebenen Erklärungen wir nur einem Handelsvertrage unsere Zustimmung geben und die Ihrige zu einem solchen nachsuchen können, der uns eine genügende Garantie gewährt, daß der deutsche Vieh⸗ bestand gegen Seuchengefahr geschützt bleibt. (Bravo! rechts und in der Mitte.) Auch haben wir hinsichtlich der österreichisch ungarischen Einfuhrzölle Wünsche, die im Interesse unserer Ausfuhrindustrie zu erfüllen sind, wenn ein Handelsvertrag zustande kommen soll.

Da das Einbringen der bereits fertiggestellten sechs Handels— verträge die Verhandlungen mit Oesterreich Ungarn stören würde, während andererseits nach der Geschäftelage dieses hohen Hauses die volle Durchberatung der Verträge noch vor Weihnachten nicht sicher erschien, so werden die verbündeten Regierungen Ihnen die neuen Handelsverträge erst gleich nach den Weihnachtsferien vorlegen. Wir werden bestrebt sein, dahin zu wirken, daß das Inkrafttreten der neuen Verträge und des neuen Zolltarifes dadurch keine Verzögerung erleidet.

Unter diesen Umständen darf ich an dieses hohe Haus die Bitte richten, in eine Besprechung der handelspolitischen Situation zur Zeit nicht einzutreten.

Darauf tritt das Haus in die Tagesordnung ein.

Staatssekretär des Reichsschatzamts Freiherr von Stengel:

Meine Herren! Durch den bisherigen Verlauf der Debatte bin ich veranlaßt, in der ersten Lesung des Etats nochmals das Wort zu ergreifen. Ich werde mich dabei möglichst kurz fassen, um Ihre Zeit nicht länger, als unbedingt nötig, in Anspruch zu nehmen.

Ich möchte zunächst einen rein formellen P⸗uwꝓkt vorwegnehmen. Der Herr Abgeordnete Dr. Spahn hat angeregt, es möchte in der Folge dem Reichshaushaltsetat ein alphabetisches Register beigegeben werden. Ich kann zusagen, daß von unserer Seite diese An— regung gern in Erwägung gezogen werden wird. Es ist mir zur Zeit nur fraglich, ob eine solche Beilage zu dem Etat nicht möglicherweise die rechtzeitige Drucklegung für den Reichstag gefährden kann; denn es bedarf gegenwärtig schon immer der äußersten Anstrengungen, mit der Diucklegung des Reichsetats bis zum Zu⸗— sammentritt des Reichstags rechtzeitig fertig zu werden.

Der Herr Abg. Freiherr von Richthofen hat die Frage an mich ge⸗ richtet, wie es sich verhalte mit dem Schicksal der Resolutionen des Reichstags vom 14. Mai d. J. Diese Resolutionen betreffen bekanntlich drei verschiedene Gegenstände. Es soll danach einmal die Einführung einer Steuer auf Stärkezucker, sodann die Heranziehung der Rübensäfte zur Zuckersteuer, endlich die Gewährung von Erleichterur gen an diejenigen inländischen Süßstoffinteressenten, die durch die Ausführung des Süß⸗ stoffgesetzes besonders hart getroffen woiden sein sollten, regierungesseitig in Erwägung gezegen werden. In bezug auf die ersten beiden Punkte sind jedoch die bereits früher aus anderem Anlaß eingeleiteten Unter⸗ suchungen und Erwägungen noch nicht so weit gediehen, daß ich in der Lage wäre, dem hohen Hause schon heute über die Ergebnisse dieser Ermittelungen eine Mitteilung zu machen. Ich muß mich deshalb für heute auf die allgemeine Bemerkung beschränken, daß bei den großen Schwierigkeiten, die in der Sache selbst liegen, und die seinerzeit auch von den Herren Antragstellern selbst anerkannt worden sind, noch eine gewisse Zeit vergehen wird, bis die verbündeten Regie— rungen in der Lage sein werden, zu den Anregungen, die in den Resolutionen enthalten sind, nach der einen oder anderen Seite hin Stellung zu nehmen.

Anlangend sodann die Beseitigung etwaiger Härten in betreff der Ausführung des Süßstoffgesetzes, so scheint nach den in⸗— zwischen gepflogenen Erhebungen allerdings in zahlreichen Fällen den Inhabern von Süßstoffen, insbesondere den kleinen und kleinsten Händlern, ohne ihr Verschulden durch das Inkrafttreten des Gesetzes ein Vermögensnachteil erwachsen zu sein. (Hört, hört! in der Mitte.) Ich habe nun versucht, einen Weg zu finden, um diesen Nachteil auszugleichen, ohne natürlich auf der anderen Seite die Reichskasse, auf die ich doch auch Rücksicht zu nehmen habe, in zu erheblichem Maße zu belasten. Ich glaube auch, daß das Ziel, das mir dabei vorschwebt, im großen und ganzen sich erreichen lassen wird. Nur darf man dabei das eine nicht außer acht lassen, daß es sich im vorliegenden Falle nicht um einen vollen Ersatz des erlittenen Schadens oder des entgangenen Gewinns handeln kann, sondern daß, wie das auch in der Resolution selbst ausdrücklich hervorgehoben worden ist, es sich nur handeln kann um die Gewährung einer Erleichterung an die betreffenden Interessenten. Zu unseren Mitteilungen über die Einzel⸗ heiten hoffe ich im Laufe der weiteren Beratungen in der Budget⸗ kommission noch reichlich Gelegenheit zu erhalten.

Der Herr Abgeordnete Storz hat in der vorgestrigen Sitzung be⸗ hauptet:

Der Schatzsekretär hat bedauert

ich entlehne diese Aeußerung aus dem Stenogramm —,

daß die Mehrerträge an Zöllen diesen Aermsten der Nation es ist da von Witwen und Waisen der Arbeiter die Rede zukommen, dagegen ist der Herr Abg. Spahn so menschenfreund⸗ lich, diese Zuweisung an diese Aermsten der Nation noch erhöhen

Und weiter sagt der Herr Abgeordnete:

Waisen diese Unterstützung zu mißgönnen, so ist der Grund lediglich der, daß er sich im Zustande absoluter Ratlosigkeit befindet. Wenn der Herr Abg. Storz das letztere von mir annimmt, so muß ich mich ja wohl oder übel in mein Schicksal fügen. (Heiterkeit; Was aber den übrigen Teil meiner Ausführung anlangt, so möchte ich doch den Herrn Abgeordneten bitten, die betreffende Stelle meiner Rede nochmals einer kurzen Durchsicht zu unterziehen. Ich glaube, er wird sich dann rasch davon überzeugen, daß der Vor— wurf, den er gegen mich erhoben hat, ein unbegründeter ist. Es ist dann in meiner Etatsrede von mehreren Seiten bemängelt worden, ich hätte zwar das dringende Bedürfnis einer Besserung der Reichseinnahmen in drastischer Weise hervorgehoben, aber ich hätte es unterlassen, an diese Darlegungen positive Vorschläge zu knüpfen. Das letztere konnte und durfte ich aber auch gar nicht, solange die verbündeten Regierungen über die dem Reichstag in dieser Beziehung zu machenden Vorlagen noch keinen Beschluß gefaßt haben. Eine folche Beschlußfassung des Bundesrats wird aber zweckmäßig erst“ erfolgen können, wenn die hauptsächlichsten Handelsverträge genehmigt sind und wenn auch der künftige Vertragstarif sich genauer übersehen lassen wird. Vorerst kam es mir hauptsächlich nur darauf an, die be⸗ denkliche Finanzlage, in der wir uns befinden, vor dem Reichstage möglichst offen darzulegen und auf die Notwendigkeit einer demnächstigen Sa⸗ nierung des Reichshaushalts hinzuweisen. Mit Befriedigung darf ich auf Grund der nun hinter uns liegenden bisherigen Etatsberatungen das eine feststellen, daß meine mahnenden Worte doch nicht ganz ungehört verhallt sind, daß vielmehr auch bei der Mehrheit dieses Hauses die Ueberzeugung von einer eventuellen Notwendigkeit der Erschließung weiterer Einnahmequellen Eingang zu finden scheint, und wer in diesem hohen Hause es nicht vor aller Welt seinerseits schon verkündet haben sollte, daß diese Notwendigkeit besteht, der hat es sich vielleicht zu Hause unbelauscht in seinem stillen Kämmerlein doch selbst ge⸗ standen. (Heiterkeit, Sind wir aber, meine Herren, entschlossen und sind wir festen Willens, an eine gründliche Besserung der Reichs— finanzen Hand anzulegen, dann sollte ich denken, werden wir uns schließlich auch über einen zweckentsprechenden Weg einigen können, der zum Ziele führen wird, mögen ja heute noch die Meinungen hierüber weit auseinandergehen. Sie werden mir erlassen, mich des näheren über die einzelnen Steuerprojekte zu äußern, welche die bisherige Debatte zutage gefördert hat. Ich möchte nur das eine versichern, daß alle die Vorschläge, die im Laufe der Beratungen zutage getreten sind, von unserer Seite auf das sorgfältigste werden geprüft werden, wennschon ich nicht ver⸗ hehlen will, daß manche dieser Vorschläge kaum mehr sich in den Grenzen des Möglichen zu halten scheinen. Im übrigen glaube ich mich Ihres Einverständnisses sicher halten zu dürfen, wenn ich sage, daß die Initiative hier nur von dem Reichsschatzamt und von den verbündeten Regierungen wird ausgehen können. Wir sind auch schon seit Monaten an der Arbeit, und wir sind pflichtmäßig be— müht, eine annehmbare Lösung zu finden. Daß wir uns dabei leiten lassen von schonender Rücksichtnahme auf die wirtschaftlich Schwachen, das erachte ich für selbstverständlich (Bravo!), wie dies ja von mir in meiner ersten Etatsrede auch schon hervorgehoben worden ist. Wie weit hierin gegangen werden kann, ohne den Zweck der Reform aus dem Auge zu verlieren, darüber werden die gesetzgebenden Faktoren die endgültige Entscheidung treffen müssen. Leicht, meine Herren, ist die Aufgabe freilich nicht, und darüber dürfen wir uns auch im klaren sein, daß Opfer werden gebracht werden müssen. Aber es sind schon größere Schwierigkeiten überwunden worden. Und was die Opfer anlangt, so dünkt mich, daß die Erreichung des hohen Zieles der Wiederherstellung geordneter Reichsfinanzen einem jeden aufrichtigen Vaterlandsfreunde auch ein Opfer wert sein sollte. (Bravo!) .

Meine Herren, es ist von einigen Seiten nun empfohlen worden, und auch aus der Presse habe ich verschiedene des fall sige Anregungen entnommen, mit den Maßnahmen zur Sanierung der Reichsfinanzen doch lieber noch zu warten, bis sich die künftige Wirkung des Zolltarifs klar und sicher übersehen lasse. Das hieße meines Erachtens nichts anderes, als die in der Tat dringend gebotene Besserung der Finanzlage verschieben ad Calendas Grascas. (Sehr richtig!) Denn die von den wechselnden Konjunkturen abhängigen Einnahmen aus den Zöllen lassen immer nur eine unsichere und im höchsten Grade problematische Schätzung zu. Eine solche unsichere Schätzung können wir aber auch schon vornehmen, sobald die durch die Verträge modi⸗ fizierten Sätze unseres Zolltarifs einmal feststehen. Anscheinend ist der Wunsch nach einer solchen Vertagung der Besorgnis entsprungen, wir möchten durch Mehrerträge insbesondere der Zölle in eine Art von embarras de richesse geraten und schließlich nicht mehr wissen, wohin mit den Ueberschüssen. Meine Herren, vorläufig fehlt mir in dieser Beziehung der Glaube. (Heiterkeit, Wer aber wirklich mit solchen Ueberschüssen rechnet, den gestatte ich mir doch einfach zu erinnern an das Reformgesetz vom 14. Mai dieses Jahres, das ja bereits verfassungsmäßige Vorsorge getroffen hatte, daß solche Ueberschüsse künftig nur zur Entlastung des Extraordinariums, zur Verminderung und Tilgung der Reichsschulden Verwendung finden sollen. Das war ja eben mit einer der Haupt⸗ gründe, der uns veranlaßt hat, jenes Reformgesetz vom 14. Mai dieses Jahres den weiteren Maßnahmen zur Sanierung der Reichsfinanzen vorauszuschicken. Und ich kann nur lebhaft bedauern, daß dieses Gesetz nicht schon 20 Jahre früher erlassen worden ist. Von anderweiten Vorteilen, die daraus für unsern Reichs haushalt erwachsen sein würden, wären dadurch der Reichskasse in dem Zeitraum dieser 20 Jahre nicht weniger als 544 Millionen Mark an Reicheschulden erspart geblieben, und wir wären heute in der Lage, für die Verzinsung der Reichsschulden rund 20 Millionen Mark weniger aufwenden zu müssen. So sehr klein und unbedeutend, wie es mehrfach hinzustellen versucht worden ist, ist demnach dieses Reformgesetz vom 14. Mai dieses Jahres denn doch nicht gewesen. Und nun frage ich, meine Herren, und diese Frage richte ich ganz besonders an die Adresse des Herrn Abg. Müller⸗Sagan —: wäre es denn wirklich ein so großes Unglück, wenn wir vielleicht doch schon in absehbarer Zeit in die Lage kommen sollten, wenigstens einen kleinen Teil unserer Reichsschuld zu tilgen, und wenn wir vielleicht schon in den nächsten Jahren in die Lage kommen sollten, die fällig werdenden Schatzanweisungen des Reichs mit Bar⸗ geld anstatt mit neuen Schuldtiteln einzulösen? und wäre es wirklich ein so großes Unglück, wenn es sich etwa ermöglichen ließe, die zur

Wenn der Reichsschatzsekretär so weit ging, den Witwen und

fonds gelegentlich, wenigstens zu einem kleinen Teile, wieder zurückm. erstatten? Ich glaube, die Beantwortung dieser Fragen dem hohen Hause getrost überlassen zu können.

Zum Schlusse, meine Herren, gestatten Sie mir noch zwe Worte zu dem bei den Beratungen wiederholt betonten Kapitel der Matrikularbeiträge! Es ist von verschiedenen Seiten eine Er, höhung der ungedeckten Matrikularbeiträge über den in der Vor— lage vorgesehenen Betrag von rund 24 Millionen hinaus und in Ver— bindung damit eine Verteilung der Matrikularbeiträge auf die Einzel⸗ staaten nicht nach dem bisherigen Maßstabe der Bevölkerungszahl sondern nach dem Grade der Leistungsfähigkeit der betreffenden Bundesstaaten in Anregung gebracht, wobei als Vorbild uf Oesterreich⸗ Ungarn hingewiesen worden ist. Wenn ich den letzteren Vorschlag, die Aenderung des Verteilungsmaßstabs für dir Matrikularbeiträge, vorwegnehmen darf, so möchte ich bemerken, daß an demselben eigentlich nur neu ist der Hinweis auf den Vorgang Oesterreich⸗Ungarns. Mir ist hier aber doch das eine schon sehr

würde übertragen lassen auf das Reich mit seinen 25 Gliedstaaten. Näher läge meines Erachtens der Hinweis auf den Vorgang der Schweh. Ich habe selbst bereits bei früherer Gelegenheit Veranlassung genommen, darauf aufmerksam zu machen, daß wir bei dem benachbarten Bundek— staate, der Schweiz, einen solchen Vorgang für uns bereits haben. In der Schweiz ist in der Tat die Abstufung der Kantone nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit wenn ich mich recht entsinne: in 10 oder 1 verschiedenen Klassen längst durchgeführt. Aber der Durchführung boten sich in der Schweiz auch keine besonders großen Schwierig, keiten dar, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil in der Schwe tatsächlich Bundesbeiträge dasselbe, was bei uns die Matrikulan, beiträge sind in der Tat nicht zur Erhebung gelangen.

Jedenfalls würde sich bei uns die Sache nicht ohne eine Verfassungz— änderung machen lassen, ohne eine Verfassungsänderung, die um so schwieriger durchzusetzen sein wird, als in der Tat ein gerechter Verteilung maßstab ungemein schwer zu finden ist. Man kann ja den Versuch machen, aber ich kann nicht bergen, ich hege die Vermutung, daß noch ziemlich viel Wasser die Spree abwärts laufen wird, bis es uns gelingen wird, uns hierüber zu verständigen.

Den andern Vorschlag, der gemacht worden ist, Preußen möge die Matrikularbeiträge der zwölf kleinen Bundes staaten aus seiner Tasche be⸗ streiten, glaube ich doch kaum ernst nehmen zu können. Die 12 Staaten würden zu Preußen in ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis geraten, welches dem föderativen Gedanken durchaus widerstreben würde. Von der Frage, ob Preußen hierzu überhaupt geneigt sein würde, und ob auch die übrigen Bundesstaaten einer derartigen Verfassungsänderung eine solche würde ja doch in Fiage kommen zustimmen würden, kann ich hier ganz absehen. Wir werden also wohl oder übel uns dabei bescheiden müssen, die Matrikularbeiträge in ihrer rohen Form bis auf weitere fortbestehen zu lassen.

Was wäre nun aber die Folge einer Ueberlastung aller oder doch des größten Teiles der Bundesstaaten mit Matrikular= beiträgen? Manche geben sich der Vorstellung hin, daß die Er— höhung der Matrikularbeiträge sofort ein starkes Anziehen der direkten Steuerschraube in den Einzelstaaten zur Folge haben müßte. Nun wohl, gesetzt einmal diesen Fall, würde dadurch nicht sofort auch der ganze Mittelstand in Mitleidenschaft gezogen werden? (Sehr richtigh Indes wie grau ist auch diese Theorie! Im praktischen Leben voll— zieht sich die Sache doch wesentlich anders. Die nämlichen Ab— geordneten oder deren Fraktionsgenossen, die hier im Reichstage einer Erhöhung der reichseigenen Einnahmen widerstreben dieselben Ab— geordneten und deren Fraktionsgenossen dürften wenig geneigt sein, in den Landtagen der Einzelstaaten für eine Erhöhung der direkten Ab— gaben sich zu erwärmen, und wie ich beifügen will, sie würden dagegen vielfach auch mit vollem Rechte Bedenken erheben; denn wie wir in den jüngsten Tagen erst aus dem Munde eines Mitgliedes dieses hohen Hauses ja selbst vernommen haben, ist in der Tat in der Mehr— heit der Einzelstaaten die direkte öffentliche Steuerlast schon zu einer solchen Höhe vorgeschritten, daß sie in manchen Bundesstaaten kaum mehr weiter gesteigert werden kann.

Was wäre nun die weitere und letzte Folge einer solchen Ueberlastung der Einzelstaaten mit Matrikularbeiträgen? Diest letzte Folge wäre: man trachtet so viel als möglich zu sparen an der Erfüllung der Kulturaufgaben. Abgesehen von anderen Nachteilen für die Volkswohlfahrt, wird dabei vor allem in Betracht kommen, daß man notwendige öffentliche Bauten und sonstige Unternehmungen zurückstellt oder doch möglichst zu verlang⸗ samen trachtet. Tausende kleiner Gewerbetreibender, Tausende von Tagt⸗ löhnern, von Arbeitern entbehren dadurch einer lohnenden Beschäftigung und eines ausreichenden Arbeitsverdienstes. In einem ansehnlichen Teile des Reichs gerät die Befreiung von Grund und Boden von den Kosten der Feudallasten, soweit sie angewiesen ist auf Staatshilfe, ins Stocken zum großen Schaden des landwirtschaftlichen Besitzes, insbesondere zum großen Schaden des kleinen und des kleinsten Bauern— standes. Ungenügend besoldete, dürftige Landesbeamte harren mit ihren Familien vergeblich von Jahr zu Jahr auf eine endliche Ver— besserung ihrer Lage. Sehen Sie, meine Herren, das ist die prakiische Seite einer Ueberlastung der Bundesstaaten mit Matrikularbeiträgen. Darum sage ich, meine Herren, und damit will ich meine Rede schließen: wer auf diesem Wege um die Notwendigkeit der Bewilligung neuer Einnahmequellen für das Reich zur Sanierung seiner Finanzen herumzukommen glaubt, der rede mir von allem in der Welt, nur rede er mir von einem nicht, er rede mir nicht von schonender Rücksichtnahme auf die wirtschaftlich Schwachen! (Bravoh Abg. Dr. Graf zu Stolberg. Wernigerode (' kons): Unsen Stellung zum Etat hat mein Freund von Richthofen schon dargelegt, und da die Ausführungen des Reichschatzsekretärs, die wir eben vernommen haben, sich im großen ganzen mit unserer Stellung decken, so will ich darauf nicht weiter eingehen. In der Generaldebatte ist auch über die Tätigkeit des Oberhofmeisters Ihrer Majestät der Kaiserin, des Freiherrn von Mirbach gesprochen worden. Nach meiner Ansicht ist dies eine rein interne preußische Angelegenheit, die nicht von den Reichstag gebört; da sie aber hier zur Sprache gehig

worden ist, so möchte ich im Namen meiner Freunde erklären, daß wir mit dem übereinstimmen, was der Abg. Gir nenn über diesen Gegen⸗ stand gesagt hat. Die Militärvorlage hat hier im allgemeinen eine sehr, günstige Aufnahme gefunden. Der Schatzsekretär und der Kriegs. minister haben sich darüber mit wünschenswerter Offenheit ausgesprochen.

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

zu wollen.

Versorgung unserer Kriegeinvaliden gestifteten Gelder dem Invaliden⸗

zweifelhaft, ob der Vorgang Oesterreich⸗Ungarns ohne weiteres sich

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen

M 291.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Wenn der Abg. Bebel unter Hinweis auf den tussisch · japanischen Krieg gemeint . die Gefahr von Rußland her scheide jetzt aus, denn Rußland sei ja finanziell und militärisch ruiniert und könne in absehbarer Zeit keinen Krieg gegen uns führen., so hoffe und wünsche ich, daß wir niemals einen Krieg mit Rußland führen werden; ein solcher Krieg wäre ein großes Unglück und außerdem eine bewußte Torheit. Ich muß aber der Behauptung widersprechen, daß Rußland so ohnmächtig wäre, daß es gar keinen Krieg

Zweite Beilage

Berlin, Sonnabend, den 10. Dezember

übrig als eine, und zwar eine recht gründliche neue Steuerbelastung.

Nun sollen die wirtschaftlich Schwachen geschont werden; heute hat

der Staatesekretär schon diese Erklärun eingeschränkt, indem er sagte, man müsse erst sehen, wie welt diese Bedingung eingehalten werden könne, um nicht den Zweck der neuen Belastung zu vereiteln. Die Bevölkerung draußen will nicht mehr an dieses Versprechen glauben, und zwar deswegen, weil dieses Won schon viel zu oft gesprochen worden ist. Wie war es 18877. Wie war es bei dem Flotten⸗ programm? Immer dasselbe Schausplel; immet wunde das Ver⸗ sprechen gegeben und nachher einfach ignoriert. Jetzt ist dem Herrn Spahn endlich das Geständnis entschlüpft, daß der All—

führen könnte, Bei Herrn Bebel ist der Wunsch der Vater des

edankens. . dritten Teil feiner Armee mobilisiert. Wenn man auf seine Jiederlage hinweist, so erinnere ich an die Besgtzung von Port Arthur. Dort sieht man, was die russische Armee leistet. Rußland ist aller. dings in einer schwierigen Lage, aber das war es schon oft. Als 1812 Moskau abgebrannt war, war es in einer noch schwierigeren Lage. Trotzdem konnte 1314 der Kaiser Alexander in Paris der Welt den Frieden geben. Wir dürfen unsere Sicherheit nicht auf eine Speku— fation auf die Schwäche unserer Nachbarn gründen. Wir können unsere Sicherheit nur dadurch begründen, daß wir uns selbst stärken. In bezug auf die Militärvorlage ist eigentlich nur die Ver⸗ mehrung der Kavallerie bekämpft worden. sch ter und taftifchen Fragen können sich Theorie und Praxis diametral gegenüberstehen. So kann man theoretich nachweisen⸗ daß ein Bajonettkampf heutzutage unmöglich ist, und daß eine Kavallerie⸗ attacke auf Infanterie ebenfalls unmöglich ist. Tatsächlich aber kommt beideös vor. Bei jeder Verbesserung der Handfeuer⸗ waffen und der Infanterietaktik sagte man immer, daß es nun mit der Wirkung der Kavallerie vorbet sei. Daß dies aber stets un⸗ zutreffend gewesen ist, beweisen die Erfahrungen gut den Kriegen seit 1859, wo ich in die Armee eintrat, bis 1870. 1866 hat bei Königgrätz bie Kavallerie der österreichischen Armee einen geordneten Rückzug er⸗ möglicht. Die bedeutende Rolle, die unsere Kavallerie im Kriege 1870 gespielt hat, ist noch in aller Erinnerung. Kaiser Napoleon hat sie ausdrücklich in seiner Unterredung mit Kaiser Wilhelm nach der Schlacht bei Sedan anerkannt. Der Glanzpunkt für die, Kavallerie war die Schlacht bei Mars la Tour. Also die pessimistischen Auf⸗ faffungen, die man bisher über die Kavallerie geäußert hat, haben sich in feiner Weise bestätigt. Man sagt, die Japaner siegten ohne Ka⸗ vallerie, es sei das ein Beweis, daß man keine Kavallerie brauche. Die Japaner haben aber Schwärme von Spionen, an denen die Russen

sedesmal merken, daß Japaner im Anzuge sind. Wenn die Russen schon so

bald immer den Japanern wieder kampfbereit gegenüberstehen, so zeigt auch dieses, daß die Japaner ihre Siege nicht voll ausnützen können, eben, well sie keine Kavallerie haben. Etz genügt aber nicht; daß wir eine tüchtige Kavallerie haben, wir brauchen auch tüchtige Kapallerie⸗ führer. Das bringt mich auf die vielbesprochenen großen Manöber. attacken der Kavallerie. Ich glaube, diejenigen, die diese Attacken so abfällig kritisieren, sind sich über den doppelten Zweck dieser Attacken nicht ganz klar. Diese sollen uns erstens Führer schaffen und ferner soll die Infanterie lernen, sich im Ernst⸗ falle kaltblütig angreifen zu lassen,⸗ Die Klagen über die anz ungenügenden Entschädigungen für Quartierleistungen, die ich in so ungleichmäßiger Weise auf das platte Land kon⸗ zentrieren, während die großen Städte gar. nicht getroffen werden, und die Klagen über unzureichende Rücksichtnahme bei der Regulierung von Flurschäden sind so allgemeiner Natur, daß ich glaube, sie hier vorbringen zu müssen. Was die zweijãhrige Dienst / zeit anbelangt, so hat diese sich im allgemeinen bewährt. Bie Inten sität des Dienstes hat aber zu einer solchen Ueherarbeitung und nervzsen Ueberspannung der Offiziere und namentlich der Unter- offiziere geführt, daß wir dringend einer Vermehrung namentlich der Zahl der Unteroffiziere bedürfen. Ich habe schon bei der ECtats⸗ beratung im vorigen Jahre ausgesprochen, daß die Soldatenmißhand⸗ lungen nicht einzig und allein, aber doch zum gioßen Teil auf diese Ucberbürdüng des Ausbildungäpersonals zurückzuführen seien. Es follten doch gerade diejenigen, die diese Mißhandlungen stets so be⸗ klagen, dafür sorgen, daß das Unteroffsizierkorps an Zahl erhöht und beffer besolder wird. Ich kann im Namen meiner Partei erklären, daß wir die von der Regterung geforderten Kompensationen für die Festlegung der zweijährigen Dienstzeit als das Minimum betrachten. Der Reichstag könnte die Verantwortung für eine Herabminderung nicht übernehmen. Ich habe die Ueberzeugung, daß das, was hier ge—⸗ fordert wird, Annahme findet; aber für einen Gesetzentwurf, der, wie dieser, auch eine Wirkung nach außen hin hat, ist es nicht gleich⸗ gültig, ob er mit geringer oder großee Majorität angenommen wird. Deshalb hoffe ich, daß der Reichstag diesem Gesetze mit großer Mehr⸗ heit seine Zustimmung erteilt.

Abg. von Vollmar (Soz.): Alles sonst Notwendige zu den bisher berührten Einzelheiten des Etats heute beiseite lassend, will ich mich auf einige Bemerkungen beschränken, welche Aeußerungen vornehmlich vom Bundesratstische betreffen, auf die mir eine fofortige Entgegnung notwendig erscheint. Der Schatzsekretär hat mit einer sonst nicht gewohnten Offenheit die Finanzlage des Reiches ohne Verschleierung dargestellt, und diese neue Form hat auf allen Seiten eine gewisse relative Anerkennung gefunden. Wir sind von der trostlofen Lage des Reichsfinanzwesens keiner wegs üũber⸗ rafcht worden. Solche Illusionäre sind wir nicht, daß wir etwa glauben, daß mit der zunehmenden Schärfe und Kompliziert⸗ heit der Mordwaffen die Kriege unblutiger werden, noch daß man aus einer Kasse wie der Reichskasse unaufhörlich herausschöpfen könnte. Wer fehen wollte, konnte auch sehen, wohin wir auf diesem Gebiet mit der Zeit geraten würden. Lesen Sie nur die Reden unferer Parteibertreter auf lange Jahre zurück durch; wir haben un⸗ abläffig auf dieses kommende Ergebnis hin ewiesen. Wer draußen die letzten Reden des Reicheschatzsekretärs kf. könnte fast, wenn er nicht genau hinsteht, auf den Gedanken kommen, sie seien von einem Rebner der äußersten Opposstion gehalten worden. Man könnte fast ein gewiffes Bedauern mit der jetzigen Stellung des Reichs⸗ schatzfekretars haben. Als Finanzmann kam er aus einem leidlich gut situserten Haufe, wo man seit Jahrzehnten mit Ueberschüssen arbeitet. Dort war man nur bestrebt, die Ueberschüsse in allen möglichen Strümpfen und Säcken unterzubringen, um nachher gelegentlich als Segenspender dazustehen. Und dieser selbe Reichsschatzsekretär ist nun in ein folches Elend geraten, in eine so beillose Schuldenmacher⸗ und Verschwenderwirtschafk, wo man Einnahmen und Ausgaben nicht einmal mehr buchmäßig ausgleichen kann, wo man vielmehr Stiftungs⸗ fonds bereits angegriffen hat und laufende Ausgaben aus Anleihen besestigte. Was glaubt nun der Schatzsekretär in dieser Lage zum Besten des Reichs tun zu müssen? Die Künste jener, die versuchen, die Verantwortung für diesen Zustand von sich abzulehnen, müssen wir für die Bevölkerung draußen zergliedern, damit diese Versuche frucht . loz bleiben. Die verbündeten Regierungen und die bewilligende Reichttagsmehrheit sind voll und ganz verantwortlich für diese Lage und werden verantwortlich sein für die neuen Steuern, so sehr man sich auch noch geniert, dieses heiße Eisen anzugreifen. Von Sparen, wo man sparen könnte, ist keine Rede; eine Menge neue Aufgaben sind aufgezählt und neue Anleihen schon in Aussicht genommen, auch um den verpulverten Reichsinvalidenfonds wiederherzustellen. Mit der pessimistischen Haltung gegenüber den Erträgen aus den en verträgen hat der Staatssekretär vollkommen recht; es bleibt also nichts

Soweit sch unterrichtet bin, hat Rußland noch nicht

In militärischtechnischen

emeinheit im Vergleich zu den Preisen des Auslandes eine Ver, 7 . beschert sein wird; wir werden das Volk draußen an dieses Wort erinnern, wenn das Volk die Folge dieses famofen Zolltariss an seinem eigenen Leibe spüren wird. Das Schön⸗ heitspflaster des Zolltarifs, die Witwen. und Waisenunterstützung, hat Herr Spahn verteidigt und an diesem Versprechen festhalten zu wollen erklärt. Wir werden ja sehen; bekanntlich ist der Weg zur Hölle mit guten Vorfätzen gepflastert; an ung soll (s nicht sehlen. Ihr Gedächtnis zu stärken Schon bei der Beratung des Zolltarifs schränkte ja Herr Trimhorn seine ursprünglich viel weitergehende Forderung . stark ein, In den Wahlen ging eine Aeußerung einen Zentrumsmitgliedes durch die Presse, daß das Beste an dem Zolltarif noch die Witwen und Waifenversiche rung sei, vorausgesetzt, daß sie bis 1910 nicht wieder p aufgehrben fei. Der andere Vorhehalt, die Aufhebung der städtischen SDtt ois, ist ja auf dem besten Wege, wieder, abzubröckeln. Soll gründlich Ordnung in das Steuerchaos gebracht werden, Dann kleibt nichts übrig, als direkte Einkommen und Erbschafte⸗ steuern von Reichs wegen einzuführen, die aber immer wieder an— geblich aus föderativen Gründen nicht bewilligt worden sind, tatsäch— lich aber, weil unfere herrschenden Klassen den unbemittelten die Ehre des Zahlens für die Reichsbedürfnisse neidlos üherlassen. Der Fehlbetrag darf nicht, durch eine Zuschußanleihe, eine un— erhörte, verfassungswidrige Ausnahmemaßregel, bestritten werden, sondern man wird in verfassungs mäßiger Weise die Matrikular= beiträge voll heranziehen müssen, weil sie das einzige Element sind, das geeignet ist, die kräftigen Schultern einisermaßen stärker zu belasten, und weil sie den einzigen Sporn für die Einzelstaaten lilden, auf Sparsamkeit zu dringen. Allerdings hat sich bisher dieser Sporn nicht als besonders scharf erwiesen. Auf die Koloniglpolitit gehe ich nicht ein; das ganze Haus weiß ja, wie grundsätzlich wir jeder Form der heutigen offziellen Kolonialvolitik entgegen sind. Was die Militär, vorlagen angeht, so ist noch keinem Kriegsminister die Begründung der RNeuforderungen schwerer gemacht worden als dem gegenwärtigen. Vie Brohungen von Ssten und Westen können jetzt nicht mehr zafür angeführt werden. Rußland ist in militärischer und moralischer Weise auf lange Zeit so gelähmt, daß von einer Gefahr von seiner Seite nicht die Rede ist. Europa ist dadurch geradezu eine Last abgenommen worden. Die Rekrutenziffer Frankreichs kann nicht mehr über- schritten werden. ge Reichskanzler meinte allerdings, in Frankreich wären noch Revanchegelüste vorhanden, und er verwies auf Jaur etz Bemühungen. Er vergaß, von dessen Erfolgen nach dieser Richtung zu sprechen. Gerade Jaurès hat bei Beratung des englisch⸗ französischen Vertrages dafür gesorgt, daß dieser Vertrag nicht einer Mißdeutung ausgesetzt wird. Es gibt allerdings in Frank⸗ reich Narren und Elende, die Herrn Jaurès und seine Freunde der Valerlandslosigkeit beschuldigen, wie es auch bei uns der Fall ist. Infolge der Niederlage von Frankreichs Alliierten haben jene Gelüste guch nen empfindlichen Stoß erhalten. Wir Soßigldemokraten sind auf dem besten Wege, daß überall der friedliche Einfluß gestärkt und unwiderstehlich gemacht wird. Man sollte bei den vorhandenen . ken, namentlich mit Rücksicht auf die Haager Be— trebungen, nicht eine weitere Vermehrung der Armee vorschlagen. Man spricht von einer Mäßigung der Militärverwaltung Ich glaube, diefe Mäßigung ist keine freiwillige und nur eine vorläufige, Das weitere werden' Sie bei der großen Floltenvorlage sehen, deren Umrisse wir schon erkennen und für welche die Flottenfreunde Propaganda machen. Der Reichekanzler hat neulich sich wiederholt mit dem Ton des Herrn Bebel beschäftigt. Welchen Ton schlägt der Reichskanzler an? Er hat unsere Ausführungen in einer so verärgerten und per— fönlichen Art zuerst im vorigen Jahre und auch jetzt behandelt, daß die könferbative englische Presse das für eine mutwillige Heraus— forderung eines Teils des deutschen Volkes bezeichnet hat. Der Reichs⸗ kanzler scheint den Zweck zu verfolgen, einen Teil des Parlaments zu brüskiecen. Einem Teil des Hauses gefällt ja diese Art, aber in bezug auf die bleibende Wirkung seiner Rede gibt er sich Taͤuschungen hin. Das deutsche Volk wird ja später seine Antwort geben. Aber den Scharfmachern, den Staatsstreichmännern ist doch nicht nur mit Wortgefechten gedient, die wollen Taten sehen, daß der So zial demokratie an die Gurgel gefaßt wird. Der Reichskanzler weiß doch, daß diefe Art des Vorgehens gegen die Sozialdemokratie ein sehr gefährlicher Weg ist und daß er auf die Dauer außerordentlich wenig Erfolg verspricht; die Zügel würden ihm außererdentlich schnell entriffen werden, denn die Herren da drüben (nach rechts) brauchen einen starken Mann mit wenig Hirn und Nerven bis zum äußersten, und das ist der Reichskanzler nicht. Gegenüber einer so großen Bewegung wie der sozialdemokratischen sollte der Reich kanjler fich nicht an Aeußerlichkeiten, sondern an den Kern halten, Aber wer jetzt, wo gewaltige Neuerungen sich vorbereiten, nicht auf diefen Kern eingeht, mag ein formgewandter Diplomat sein, ein Staatsmann ist er nicht. Was der Reichskanzler sonst alles vor— gebracht hat, bezog sich im wesentlichen auf das Verhältnis der Sozialdemokratie zu Rußland. Er hat die Rolle der Regierung einerfeits und der Parteien anderseits nicht genügend auseinander gehalten. Wir Sozialdemokraten haben nur verlangt, daß Deutsch⸗ land sich nicht in die Verhältnisse Rußlands mische. Der Reichs—⸗ kanzler hat uns in dieser Beziehung ganz ohne Grund angegriffen. Ich kenne keinen Sozialdemokraten, der eine Sehnsucht nach der ge⸗ panzerten Faust irgendwo hätte, der ein, Sehnsucht nach einem Krieg hätte, am wenigsten, daß unfer Vaterland dabei den kürzeren zöge, eine Niederlage erlitte. Theoretisch kann man ja der Meinung sein, daß die Früchte eines ausbrechenden europäischen Krieges den Sozial- demokraten zufielen; der Reichskanzler hat ja selbst einen solchen Gedanken ausgefprochen. Es gibt Leute genug, die seit Jahren auf eine militärische Lösung der sozialen Frage hinarbeiten, und deren Daß so groß ist, daß in einem Blatt zu lesen war eine ruffische Invaston in Deutschland würde wenigstens den Vorteil haben, daß Deutschland von der Pest der Sozialdemokratie befreit würde. Auf eine Intervention in Ostasien u drängen, dazu lassen wir uns nur deshalb nicht bestimmen, weil uns die Situation auf dem Kriegsschauplatz und im Innein Rußlands noch nicht reif dazu erscheint. Wir verlangen Neutralität, aber nicht eine formelle, sondern eine tatsächliche Neutralität, nicht nur eine solche, die durch den Wunsch, sich dem Nachbarn gefällig zu zeigen, in allen ihren Ecken und Spitzen umgebogen wird. Bebel hat nach dieser Seite eine Anzahl Anklagen erhoben, auf die der Kanzler mit keinem Worte geantwortet hat. Wir lassen uns von niemand das Recht nehmen, unser Rationalgefühl ganz nach eigenem Ermessen ein, zuschaͤtzen und über die Würde Deutschlands nach außen hin nach unserer eigenen Ueberzeugung zu urteilen, und ehrliche Gegner müssen froh fein, daß uns diese Dinge am Herzen liegen. Darum werden wir auch nicht ruhen, hierauf immer wieder zurückzukommen. Man

Staatsanzeiger. 19901.

spricht davon in der weitesten Oeffentlichkeit, daß die Emission einer ruffffchen Anleihe in Deutschland erfolgen soll, und daß Deutschland davon den größten Teil für Lieferung von Kriegsmaterial und einer neuen Flotte erhalten soll. Es wäre ein Verbrechen, den Teutschen überhaupt zu raten, den Russen unter den gegenwärtigen Verhältnissen Geld zu leihen, und es wäre eine krasse Verletzung der Neutralität, wenn die Reichsregierung zuließe, daß in Deutschland eine neue Flotte für Rußland gebaut wird. Die offizielle Stellung Deutsch⸗ lands hat durchaus nichts zu tun mit den Sympathien und Anti⸗ pathien seiner Bürger. Sie können freie Menschen nicht dazu jwingen, weil Rußland sich in einem Kriege befindet, daß amtliche Interessen bei der Grenze Rußlands aufhören sollen; Ich hätte begriffen; wenn der Kanzler sich in Rücksicht auf die inneren rufssischen Verhältnisse Schweigen auferlegt hätte. Aber unbegreiflich ist mir, wie man die Bekämpfung des russischen Despotismus als Verbrechen auslegen kann, und nur erklärlich aus der eingewurzelten Dienstfertigkeit und Untertänigkeit gegen Rußland, die in Preußen von alters her in Uebung war, die in Rußland selbst offizielle Kreise dahin brachte, Deutschland als Satelliten Rußlands zu betrachten, und das Schweifwedeln vor Rußland als traditionell ansteht. Diese Vorliebe für Rußland scheint mir nichts weiter als cine Rückwerficherung gegen die Demokratie; hat, doch der Staats⸗ anwalt in Königsberg selbst erklärt, das Deutsche Reich habe ein Interesse an der Aufiechterhaltung der Despotie in Rußland. Der Ranzler warf uns zuerst vor, wir gingen mit Begacht darauf aus, den ÜUmsturz der bestehenden Ordnung in Ruß—= land zu wünschen. (Mit gehobener Stimme:) Jawohl, Herr Reichskanzler, den wünschen wir, und wir haben dabei das ganze gebildete Europa zu Komplicen. Der Kanzler ist zu meinem Erstaunen dann so weit gegangen, den Königsberger Prozeß zu ver⸗ teidigen, jenen Prozeß, in dem alle Künste der Korruption des russischen Despotlsmus vor einem deutschen Gericht zu Tage traten und Der der preußischen Justizpflege eine nicht wieder gut zu machende Blamage zugefügt hat. Nur an juristischen Meinungt⸗ verschiedenheiten sei der Prozeß gescheitert, Ich wundere mich, vom“ Kanzler, der doch auch ein Stück Jurist ist, solche Meinung zu hören. Der 5 102 des Strafgeseßtzbuchs hat nur Maßregeln der unmittelbaren Gewalt im Auge, nicht eine reine literarische Pro⸗ paganda. 1575 hat sich der Abg. Reichensperger gegen jene andere falsche Auslegung des 5 102 gewendet und ausgeführt, daß z. B. bei dem Polenaufstande bon 1836 die ganze gebildete Welt für die Polen Partel genommen habe, genau so, wie 1325 für die Griechen; und Windthorft meinte, es fei nichts fataler, als die Politik mit dem Strafrecht in Verbindung zu setzen. Selbst die Russen gingen in bezug auf die Auslegung des 5 192 nicht so weit wie in Deuischland die Behörden und schließlich auch der Kanzler selbst. In dem neuen russischen Gesetz buch gilt auch als Voraussetzung für das Einschreiten der Begriff der Unruhen, nicht die stterarische Propaganda; und wir sollten doch in Deutschland nicht russischer sein als die Russen selbst. Im übrigen wird die Sache „an zuständiger Stelle“ weiter verhandelt werden, wie der Kanzler sagte. Wir verstehen unter dieser Stelle den Reichstag und werden nicht verfehlen, das Nötige dazu zu tun. Neber das Verhältnis zu England will ich dem Gesagten nichts hinzufügen; wir haben wirklich kein Intereffe daran, den englischen Hetzern weitere Vorwände zu bieten. Auch über das Verhältnis zu Oesterreich⸗ Ungarn wird sich besser bei den Handelsverträgen sprechen lassen. Ich komme nun zu einigen Kaiserlichen Depeschen, die großes Aufsehen erregt haben. In der Kühle des Deveschenstilz können, wir von den Amerikangrn sernen. In einer Beziehung ift dieser Depeschenwechsel nicht ohne Nutzen auch für Deutschland. Das Oberhaupt des Reiches hat in der Depesche an den Präsidenten Roosevelt sich nicht an dessen Person gewandt, sondern auch seine Bewunderung für die amerilanische Union ausgesprochen. Wir Sozialdemokraten sehen in den Zuständen der Vereinigten Staaten durchaus nicht unser Idegl. Der republikanische Kapftalizmüs ist nicht besser als der monarchische. Aber wir können von Amerika freie Selbstbestimmung lernen, daß es sich seine Regenten selbst wählt und nach einer gewissen Zeit das Mandat zurücknimmt. Es bedarf dort auch keines Gesetzes zum Schutz gegen eigenmächtige Ein⸗ griffe in die Volksrechte Auch der loyalste Deutsche kann aus dem Vepeschenwechfel lernen, daß es in der Staats, und Gesellschafts- ordnung nichts Absolutes gibt, er kann Lie Lehre ziehen, daß in Deutschland die unfreien, verworrenen politischen Verhaͤltnisse nicht in Ewigkeit fortdauern können, daß das deutsche Volk endlich freieren Verhältnissen entgegengehen wird.

Reichskanzler Graf von Bülow:

Meine Herren! Ich möchte zunächst in aller Kürze eine Bemerkung richtig stellen, die der Herr Vorredner, der Herr Abg. von Vollmar, soeben über mich gemacht hat. Er hat ge⸗ meint, wenn ich ihn richtig verstanden habe, ich hätte am ver⸗ gangenen Montag in verärgertem Tone gesprochen. (Heiterkeit rechts.) Meine Herren, so leicht ärgere ich mich nicht. Ich halte mich an einen Rat, den einmal der selige Feldmarschall Wrangel seinem Adjutanten gab, als dieser ihn fragte, ob er, der Feldmarschall, sich bei einer Besichtigung, die nicht besonders gegangen war, geärgert hätte. Darauf erwiderte ihm der alte Feldmarschall: Mein Sohn,“ sagte er zu ihm, „ich ärgere mich so selten Gurufe: mir!) als möglich, ich ärgere lieber die andern.“ (Sehr gut! und große Heiterkeit.)

Nun hat der Herr Abg. von Vollmar weiter gemeint, ich hätte die sozialdemokratische Partei herausgefordert. Meine Herren, mich wundert, daß ein so hervorragender Dialektiker, wie der Herr Abg. von Vollmar, glaubt in Vergessenheit bringen zu können, daß das Herausfordern auf der ganzen Linie doch bisher die Sache der Sozial⸗ demokratie war. (Sehr richtig! rechts und bei den Nationalliberalen.) Die Sozialdemokratie richtet beständig die heftigsten Angriffe gegen die Regierung, gegen die Minister, gegen den Staat, gegen Gott und alle Welt. Das sollen wir ruhig herunterschlucken. Sobald aber jemand etwas sagt, was der Sozialdemokratie nicht gefällt, so wird sie empfindlich. (Sehr richtig! Widerspruch bei den Sozialdemokraten.) Das gibt uns einen Vorgeschmack von der Meinungsfreiheit, die in der sozial⸗ demokratischen Zukunftsordnung herrschen würde. (Heiterkeit und Sehr wahr! rechts.) Vorläufig sind wir aber noch nicht so weit, daß wir den Türkenkopf abzugeben hätten, auf dem man herumtrommelt. Die Sozialdemokratie aber soll das Pflänzchen Rühr mich nicht an sein, das niemand antasten darf. Ich habe ebenso gut das Recht, meine Meinung zu äußern, wie Sie (3ustimmung bei den Sozial⸗ demokraten), und werde mich daran nicht hindern lassen.

Wenn aber der Herr Abg. bon Vollmar mir weiter Vorhaltungen ge⸗ macht hat über die Tonart, in der ich zu sprechen pflege, so habe ich wohl hier ünd da selbst in der mir wohlwollenden Presse gelesen, ich sel zu höflich, zu liebenswürdig, ich befleißigte mich zu urbaner

Formen, ich möchte einmal recht grob werden, denn das gefalle dem