1904 / 294 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 14 Dec 1904 18:00:01 GMT) scan diff

ausgesprochen, und unser Redner Trimborn hat damals gewünscht, daß die Handwerkskammern mehr für die Aufklärung unter den Handwerkern nach dieser Richtung tun sollten. Wenn einmal gesagt wird, die Handwerker kennten die Vorteile des Gesetzes nicht, dann aber, sie seien mißgestimmt darüber, welche großen Vorteile ihren Gesellen zu⸗ fließen, während sie nichts bekommen, so ist das ein Widerspruch. In Süddeutschland sind die Gewerbemeister intelligenter, sie kennen die Vorteile des Gesetzes, aber sie wissen auch, daß sie einen großen Geld—⸗ aufwand erfordern. Die Klagen über die Beiträge für die Kranken— und Unfallversicherung würden doppelt groß werden, wenn noch die obligatorische Versicherung für Alter und Invalidität hinzukäme. Sämtliche süddeutschen Handwerker haben sich gegen diese Zwangs— versicherung autgesprochen, ebenso der liberale süddeutsche Gewerbe— berein, speziell in meiner Heimat Württemberg. Wir können deshalb dem Antrag nicht zustimmen. Charakteristisch ist es, daß er gerade von den Nationalliberalen kommt, die, als es sich darum handelte, ür die Zwangsinnungen einzutreten, die Freiheit des Handwerkers pro— klamierten und den Zwang verwarfen. Wir halten die obligatorische Zwangs versicherung für Alter und Invalidität, zu der notwendigerweise auch die Kranken. und Unfallversicherung hinzukommen müßte, für verfehlt. Dem Handwerkerstand ist vielmehr dadurch gedient, wenn man den Handwerkerschutz aus baut. Derjenige sorgt nicht am ent schiedenfien für die Interessen des Handwerkerstandes, der gleich ein halbes Dutzend von Wünschen erfüllen will, sondern der diejenigen Fragen gesetzgeberisch löst, welche vom gesamten Handwerkerstand ver⸗ treten werden. Das heißt nicht Handwerkerversicherung, sondern Aus—⸗ dehnung des Handwerkerschutzes und gesetzliche Festlegung des Hand— werkerrechts. Wir werden nicht ein Gebiet betreten, auf dem uns Staatssozialismus und Zukunftestaat drohen.

Abg. Dr. Mugdan (fr. Volksp.): Der Antrag, wie er formuliert ist, setzt von vornherein die Einführung einer obligatorischen Ver— sicherung voraus. Wir haben aber die Üeberzeugung, daß der Kreis der versicherungspflichtigen Personen zur Zelt nicht ausgedehnt werden soll. Den Fall, daß jemand, der selbständig ist, unselbständig werden kann und umgekehrt, hat das Gesetz in, geradezu klassischer Weise herücksichtigt, indem es demjenigen, der einmal versicherungs— pflichtig gewesen ist, die Möglichkeit gibt, sein ganzes Leben lang bei der Versicherung zu bleiben, und es jedem Nicht— versicherungspflichtigen vorbehält, freiwillig der Invalidenbersicherung beizutreten. Die jetzige Bewegung, die zum großen Teil von den Handwerkskammersekretären ausgegangen ist, hat im Handwerk selbst einen außerordentlich geringen Widerhall gefunden. Der Antrag— steller übersteht die großen Kosten und scheint ferner zu übersehen, daß über die Fragen über die er Erhebungen wünscht, schon von den Handwerkskammern Erhebungen angestellt sind. Auf dem Deutschen Handwerkertage in München wurde die Versicherungspflicht für alle diejenigen vorgesehen, die ein Einkommen bis 4000 haben. Und auch den Staatszuschuß von 50 S sahen die Münchener Vorschläge vor. Damit würden die Handwerker, die dann vielleicht in den Genuß einer Invalidenrente und unwahrscheinlicherweise in den Genuß einer Altersrente eintreten könnten, kaum einverstanden sein.

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Daß von der freiwilligen Versicherung so wenig Gebrauch gemacht

wird, liegt zum Teil daran, daß das Gesetz noch nicht lange genug besteht, zum Teil aber wohl auch an der Unkenntnis. Es follte deshalb darauf gehalten werden, daß in den Fortbildungs—⸗

schulen den Lehrlingen in populärer Weise der Inhalt des Gesetzes vorgetragen wird, der an sich schwer verständlich ist. Ich möchte noch auf eines aufmerksam machen. Man hat bei dem Geseß don 1889 für die Versicherungspflicht alle möglichen Ueber— gangsbestimmungen getroffen, die die Versicherung erleichterten. Ich möchte zu erwägen geben, ob es nicht jetzt noch möglich wäre, ein

damals begangenes Unrecht gut zu machen. Es handelt sich dabei nur um einen, kleinen Kreis von Personen, nämlich um diejenigen Handwerker, die am 1. Januar 1599 40 Jabre alt waren und bis

dahin nicht versicherungspflichtig gewesen wären. Von den im Antrag gewünschten Maßregeln wird unser Volk keinen Vorteil haben; es wird ihm im Gegenteil nur Nachteil daraus erwachsen. Wir halten es immer noch mit dem Wort, daß derjenige am allerbesten fährt, der es am besten versteht, sich selbst zu helfen. Abg. Nißler (d. kons. : Die Stimmung der selbständigen Hand⸗ werker in Süddeutschland geht mit wenigen Ausnahmen dahin, daß sie von dieser Zwangsversicherung nichts wissen wollen. Auch von

meinem Standpunkte aus verneine ich die Frage der Notwendig— keit einer solchen Ausdehnung des Zwanges. Die Handwerker, welche der Wohltat der Versicherung teilhaftig werden wollen, haben schon jetzt Gelegenheit dau gemäß den Vorschriften über die freiwillige Versicherung. In meinem Kreise sind die Handwerks— meister in den kleinen Städten und auf dem platten Lande durchaus gegen die Zwangeversicherung Unserem Handwerkerstande

soll man nicht neue Lasten auferlegen, wie es bis jetzt geschah, sondern ian sollte Wandel schaffen in bezug auf die unlautere Konkurrenz, die ihn bedroht. Wenn ihm nicht über kurz oder lang geholfen wird, wird der Handwerker Lohnarbeiter heruntergedrückt sein. Die Sozialgesetzgsebung hat große Wohltaten gebracht, aber endlich einmal muß Halt gemacht werden in der Belastung, und darum stebe ich hier auf dem ablehnenden Standpunkte der Regierung. Wir können die verbündeten Regierungen nur ernstlich anspornen, auf diesem Gebiete nicht weiterzugehen. .

Abg. Stadthagen (Soz): Von allen Seiten tönt das Lied: Wir haben ein warmes, ein sehr warmes Herz für den Handwerker st und darum lehnen wir den Antrag ab. Die ausschlaggebende Partei läßt heute durch Herrn Erzberger erklären, und zwar im Gegen⸗ satze zu Herrn Trimborn und seinen Ausführungen im Januar, daß die Jrvalidenversicherung jwar eine Wohltat sei, aber sie dürfe nicht ver— allgemeinert werden, sonst komme man geradeswegs in den Zukunfts— staat. Welcher Widerspruch in der Argumentation! Sie geben zu, daß, wenn es dem Handwerker, dem kleinen Mann, dem Bauern gut gehen soll, dies nur im Zukunftsstaat geschehen könne. Ich danke Ihnen für dieses Zugeständnis. Mit dem Antrag bewegen sich die

man

zum

stand,

Antragsteller ganz auf dem Boden der Nationalliberalen alter

Richtung, die durch Herrn Bamberger erklären ließen, jetzt könne ö. 22m , . * 3 . 5 21 .

Bebel zum Geheimen Rat ernannt werden, denn die Regierunge⸗

vorlage der Versicherung sei durchaus sozialistisch. staate kommen Sie auch gegen Ihren Willen, auch nech so sträuben. Herr Trimborn hat tatsächlich die Not— wendigkeit dieser Versicherung der Handwerker zugegeben und ge— meint, dies würde niemand leugnen. Nun, heute hat dies Herr Erzberger geleugnet, und das ist auch gar nicht wunderbar. Das Zentrum muß eben bald so, bald so Stellung nehmen. Der Antrag Becker ist nichts als ein kleiner Teil der von uns schon 1889 ge— stellten Anträge. Tas Invalidengesetz ist ja bloß mit Ach und Krach 1389 gegen das Zentrum mit 20 Stimmen durchgegangen; es hätte eine viel größere Mehrheit gehabt, wenn es für unz annehmbar gewesen wäre. Wir waren mit unseren Anträgen viel weiter gegangen. Der Begriff des selbständigen Handwerkers ist nicht zu definieren; es kemmt allein auf die soziale Lage als Kriterium an. Wir wollten alle Arbeiter, Handwerker, kleine Bauern mit einem Einkommen unter 2000 M versichern. Das haben Sie (zu den Nationalliberalen) damals abgelehnt, weil es Ihnen zu weit ging; jetzt, nach 15 Jahren, kommen Sie mit einem noch dazu so abgeschwaͤchten Vorschlag, den Herr Becker stol; als eine ganz neue Idee hinstellt. In ganz Preußen sind mit einem Jahreseinkommen von 3000 „n besteuert 1,050, der Bevölkerung! Nun spricht der Antrag von Handwerkern, und die Antragsteller reden vom Handwerkerstand, aber eine Grenze wird nicht gezogen. Der selbständige Handwerker ist mehr und mehr im Verschwinden begriffen. Ihr (zu den Nationalliberalen) warmes gern für die Handwerker bekundet sich in Wirklichkeit darin, daß ie ihm Zölle auferlegen, die die Großindustrie fördern, daß sie ihm durch die Kartellpolitik das Leben noch mehr erschweren. Wo bleibt denn das Antitartellgesetz, welches Herr Spahn fix und fertig in seiner Kommode zu haben erklärte? Wenn er die Kommode öffnet, werden wir übrigens nichts weiter als eine neue Pandorabüchse für den Handwerkerstand herauskommen sehen. Noch 1896.97 forderte das entrum in einem besonderen Antrag die Beschränkung des Ver— icherungszwanges auf die Fabrikarbeiten und dessen Aufhebung

Zum Zukunfts⸗ wenn Sie sich

für alle übrigen Kategorien! Und unter i,. Antrage standen auch die Trimborn und Hitze. Also immer derselbe Widerspruch: bald wird die Versicherung gepriesen, bald die Belastung be⸗ klagt. Wir verlangen, daß das schmale Recht des Arbeiters ausgedehnt werde auf alle weiteren sozial schwachen Klassen; wir lassen uns nicht mehr abspeisen. Der Antrag Becker geht uns nicht weit genug; ganz unverständlich aber ist es, daß err Erzberger sich sogar vor den Erhehungen scheut. Wir haben ja den Weg gewiesen, wie die ungerechte Belastung gerechter gestaltet werden kann. Nehmen Sie die Kosten aus einem Zuschlag zur Einkommensteuer auf die Einkommen von mehr als 3000 „M! Daneben bietet sich ja der Weg der Vermögenssteuer. 10isñ, derselben in Preußen ergäbe schon 7665 Millionen, oder auf Deutschland übertragen 1 Milliarde, weit mehr, als gebraucht wird. Sollte es wirklich für die vermögenden Großindustriellen so schwer sein, 10/0 Vermögenssteuer zu zahlen? In Preußen hat sich das Vermögen dieser Leute in 7 Jahren von 63 auf 75 Milliarden er— höht; da ist der Reichtum, den Sie noch verstärkt haben durch den neuen Zolltarif. Die Landesversicherungsanstalten sind übrigens weit hinter dem zurückgeblieben, was die Krankenkassen bezüglich des Heil- verfahrens leisten; auch nach dieser Seite wünschen wir den An— trag Becker ausgebaut. Herr Becker bemängelte, daß manche derartige Heilanstalten auch mit Kegelbahnen und mit Orchestern ausgestattet seien. Fürchtet er vielleicht, daß durch die Kegelbahnen das monarchische Gefühl getötet werden könnte? Wenn diese Heilanstalten Anstalten zu Gunsten des Volkswohls sind, dann verekeln Sie sie doch dem Volke nicht mit solchen kleinlichen Ausstellungen. Ich nehme an, daß auch das Zentrum und selbst die Konservativen nicht so außer⸗ ordentliche Furcht vor Erhebungen haben; es handelt sich doch bloß um die Ermittelung der Wahrheit. Einen solchen zahmen Antrag können Sie doch wirklich ohne Angst vor dem Zukunftsstaat an— nehmen.

Abg. Dr. Pachnicke (fr. Vgg.): Es werden so viel Erhebungen ver⸗ anstaltet, warum nicht auch über diese Angelegenheit? Aber die Zu— stimmung zu dem Antrage enthält auch die Zustimmung zu deffen Grundprinzip: der Ausdehnung der obligatorischen Versicherung auf andere Kreise. Wir sehen zwar den Anfang, aber nicht das Ende. Man kommt darauf hinaus, daß jedermann ein Staatspensionär ist und das können wir nicht mitmachen. Äus dem Näichs uschuß können sehr leicht statt fünf 15 Millionen werden, wenn die Versicherung noch weiter ausgedehnt wird. Die nächsten, die der Versicherung unter— stellt werden müßten, wären Loch die Privatangestellten. Die Auf⸗— bringung der Kosten will der Abg. Stadthagen durch Zuschlag von 0 õ zur Vermẽgenssteuer herbeiführen. Wohl gemerkt, nicht L pro Mille, sondern 1 09! Das wäre der Reichszuschuß; dazu kommt aber dann die Prämie der einzelnen, und die müßte ziemlich hoch sein, wenn man die Handwerker einigermaßen zufriedenstellen will. Man müßte ungefähr einen Beitrag von 25 S im Jahr, also das Doppelte der Einkommensteuer für viele Handwerker, einführen. Dehnt man aber die Versicherung noch weiter aus, so läuft das schließlich auf eine Pension der Bemittelten hinaus. Die Handwerker haben ja jetzt schon die Möglichkeit der Selbstversicherung, ein Ausbau dieses Gedankens würde den Antrag uübeiflüssig machen. Unser Handwerk hat gar nicht den Drang, stets zu allem möglichen gezwungen zu werden. Das haben wir gesehen an der gesetzlichen Befugnis, sich zu Zwangeinnungen zusammen zu tun. Von 10 g00 Innungen sind nur 2900 Zwangsinnungen. Erwecken Sie keine Illusionen bei den Handwerkern, auch nicht hinsichtlich des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb. Mit dem Befähigungsnachweis würden Sie dem Handwerker nichts weiter als eine Fessel anlegen. Unsere Gewerhbetreibenden fühlen den Druck. der polizeilichen Befugnisse gerade genug. Eigentümlich ist die Haltung der Kon— seiwativen zu dem Antrag des Zentrums, Offizieren und Beamten die Gründung und den Betrieb von Warenhäusern zu verbieten. Herr Rettich forderte gesonderte Abstimmung, und seine Fraktion stimmte dagegen. Die Rechte hat damit die Probe auf ihre Mittelstandfreundschaft sehr schlecht bestanden. Auch wir sind bereit, dem Handwerkerstande, soweit es geht. zu helfen. Die Lage des Handwerktz ist verschieden. (Vizepräsident Dr. Paasche bittet, den Kreis der Erörterung nicht zu weit zu ziehen; man fei bei der Ausdehnung der obligatorischen Versicherung auf die Hand— werker) J.. Die Größe ist verschieden nach der Lage des Srtes der kleinen Städte Vizepräsident Dr. Paasche wiederholt feinen Wunsch) „Ich darf dann erwarten, daß der Präsident seine Mahnung guch auf die folgenden Redner ausdehnt. (Vizepräsident Dr. Paasche: Ich werde tun, was meines Amtes ist, das ist selbstverständlich; ich bitte, mir keine Vorschriften u machen) Konsequenz des Präsidiums halte ich für selbstverständlich, und dies Selbstverständliche wollte ich nur aussprechen. Dem Können des Gesetz gebers sind ganz bestimmte Schranken gezogen, die nicht überschritten werden kö5nen. Das Handwerk muß sich erreichbare Ziele stecken, und dazu rechne ich vor allem eine bessere Ausbildung, Pflege, des Genossenschaftswesens, Regelung des Submissionewesens Beseitigung der Gefängnigarbeit. Ein weiteres Mittel ist die Be⸗ seitigung der Borgwirtschaft gegenüber dem Handwerk. Die Fürsorge für, das Handwerk ist nicht Sache einer Partei. Wir wollen nicht Agitation, sondern nützliche Einzelarbeit.

Vizepräsident Dr. Paasche: Ich konstatiere, daß der Redner trotz

der muß

meiner Mahnung kein Wort über den Antrag gesprochen hat. Abg. Bruhn (8. Reformp.): Wir werden für die Resolution Becker und Genossen stimmen. Weite Kreise des Handwerks glauben daß der Regierung wohl der gute Wille, aber nicht das Verftandnis für die Lage der Handwerker innewohnt. Der Staats sekretär sagte seinerzeit, daß die Handwerker, die 1000 M6 zu den sozialen Gesetzen zu zahlen hätten, sehr wohlhabende große Handwerker sein müßten. Der Staatssekretär mag in anderen Fragen sehr bewandert sein, in Handwerkerfragen aber ist er es nicht, denn in Handwerker kreisen hat man Aufstellungen gemacht, wonach z. B. ein Berliner Tischlermeister mit 13 Arbeitern und 2 Gesellen und Maschinen— betrieb 937 M. jährlich für die sozialen Gesetze zu zahlen hat also keinahe 1000 SM. Ein Tischlermeister hat bei einem umfatz von 6 200 „Mp. einen Reingewinn von 6 9½, also 4002 2 Das ist ein Großbetrieb. Bei kleineren Betrieben aber stellt sich die Sache wesentlich ungünstiger. Der Beschluß des Handwerker— tages in Magdeburg war mehr zufällig, weil der Abg. Euler nach Schluß der. Diskussion noch das Wort ergriff und auf die Bebelschen Fleischtöpfe hinwies. Der Staatssekretär hatte darauf hingewiesen, daß prinzipiell die unselbständigen Arbeiter versichert werden sollen. Ich meine, es sollten die Notleidenden bersichert werden, dazu rechnen wir bei den Handwerkern diejenigen, die ein Einkommen bis zu 2009 ½Æ½ haben. Viele Handwerker stehen sich schlechter als weite Kreise der Arbeiter. Wir wollen dem Handwerk wieder auf die Beine helfen, damit es wieder einen goldenen Boden hat. Wenn diese Versicherung eingeführt würde, so würde auch die Zahl der wirklich notleidenden Handwerker immer geringer werden.

Staatssekretär des Innern, Staatsminister Dr. Graf von Posadowsky-Wehner:

Meine Herren! Die Frage der Zwangeversicherung der Hand— werker ist in diesem hohen Hause bereits im Laufe dieses Jahres erörtert worden. Ich glaube, ich habe damals über den Standpunkt, welchen die verbündeten Regierungen zur Sache einnehmen, keinerlei Zweifel gelassen. Es war gewiß eine große Tat des deutschen Volkes, unter der Führung von zwei deutschen Kaisern die sozialpolitische Gesetzgebung ins Leben zu rufen, eine Gesetz⸗ gebung zu Gunsten derjenigen Kreise unseres Volkes, die infolge der Natur unserer gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse nicht selbständig sein können und verhältnismäßig wenig Aussicht haben, einmal selbständig zu werden. Aber jeder, der die Dinge vor⸗

urteilsfrei ansieht, muß zugestehen, daß damit auch ein sehr gewagter

deutschen Volke ein Arbeitsprogramm gestellt war, welches ez kaum in einem Menschenalter vollkommen durchführen kann.

stehe auf dem Boden fester Ueberzeugung, daß die sozialpolitisch Gesetzgebunng für unser deutsches Volk unermeßlichen Segen gebracht und den Lebensstand unserer Arbeiterbevölkerung in einer so unge⸗ ahnten Weise gehoben hat über den Lebensstand der Arbeiterklassen anderer Völker, daß wir dieser sozialpolitischen Gesetzgebung auch zum großen Teil den staunenswerten industriellen Fortschritt verdanken den Deutschland in den letzten 30 Jahren errungen hat. (Seht richtig) Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß diese Auf. fassung auch bei der Ausstellung in St. Louis eine allgemeine war daß man dort bei den Vertretern aller anderen Nationen die ueber jeugung hatte, daß das, was wir auf kunstgewerblichem und industriellem Gebiet geleistet haben, nur ein Volk leisten kann, welches die Kraft, den Mut und die Opferfreudigkeit gehabt hat, in dieser Weise den Lebensstand seiner untersten Klassen zu heben. ( Sehr richtigh

Aber jedes Lichtbild hat auch seine Schattenseiten. Ich will mich in Uebereinstimmung mit dem eben geäußerten Wunsche des Herrn Präsidenten streng an das thoma probandum halten; sonst würde mir heute die Versuchung sehr nahe liegen ich werde aber eine andere Gelegenheit hierzu ergreisen näher auszusühren, welche Schatten— seiten und welche Gefahren in der Ueberspannung des Versicherungt— prinzips für unser gesamtes Volk liegen. (Sehr gut) Es treten jetzt schon psychologische Erscheinungen hervor, welche eine Schwäche, einen Mangel an Tatkraft bei manchen Arbeitern bekunden, nicht mehr in der Sammlung ihrer noch vorhandenen Kräfte für ihr Dasein zu ringen, sondern sich zu verlassen auf die Rente. (Hört, hört! und Bewegung.) Die Rente wird bisweilen geradezu eine fixn Idee, das höchste Glück, welches man mit gerechten oder ungerechten Mitteln zu erreichen sucht. (Hört! hört! und Sehr gut) Damit hängt auch auch darüber behalte ich mir eingehende Ausführungen vor das ungewöhnliche Anwachsen der Rentenlast überhaupt zusammen. (Hört! hört.)

Ich meine also: wenn man auch auf durckaus sozialpolitischem Grunde steht und die Einführung der sozialpolitischen Versicherung in Deutschland für eine große, unsterbliche Tat hält, so muß man sich doch davor hüten, einen Weg zu gehen, der sozusagen aus ganz Deutschland nur einen großen Versicherungsstaat machen will. (Sehr gut!) Eine solche Organisation können sich vielleicht Staaten wie Neuseeland erlauben mit einer kleinen Bevölkerung und außerdem mit einer sehr beschränkten, unter scharfer Aufsicht stehenden Einwanderung; auch in einzel nen Sonderstaaten des australischen Gesamtstaats hat man ein derartiges System der allgemeinen Versicherung eingeführt, berechnet in Zuschüssen zu dem Einkommen, welches derjenige, der sich nicht mehr selbständig er— nähren kann, noch aus eigenen Quellen hat. Ich habe bei einer früheren Gelegenheit einmal diese australische Gesetzgebung ein— gehend auseinandergesetzt. Aber wenn wir in einem großen Staats— wesen, wie Deutschland, datselbe System einführen wollten, dann frage ich den Herrn Antragsteller: was bleibt dann eigentlich noch übrig von Nicht versicherten? (Sehr richtig) Meine Herren Sie können es dann gar nicht verhindern, auf alle die Kreise, die sich in gleicher Vermögenslage wie die Handwerker be— finden, in gleicher Unsicherheit ihrer Zukunft, auch den ent— sprechenden Versicherungszwang auszudehnen. (Sehr richtig) Dann bleibt eigentlich nur nicht versichert von Staats wegen der von den Geschäften zurückgezogene Rentier. (Sehr richtig! Heiterkeit.) Ob das gerade der Teil unserer Bevölkerung ist, der die Kraft und Stärke unseres Volkes darstellt, das ist mir zweifelhaft. (Sehr gut! Wer selbständig bleiben will und dabei bleibe ich stehen auch die Kraft haben, für seine Zukunft selbst zu sorgen, der muß den Spartrieb besitzen, seine Zukunft zu sichern, und auch das Risiko seines Geschäfts laufen. (Sehr richtig) Wenn wir durch Staatsfürsorge dieses Risito abschwächen, ja voll— kommen aus der Welt schaffen, wenn wir dieses Risiko auf die Gesamtheit legen, so glaube ich, würden wir unserem Volke die stärkste und wichtigste Wurzel seiner Kraft rauben. (Lebhafte Zu— stimmung.) Deshalb kann ich dem Herrn Antragsteller nur sagen: die verbündeten Regierungen werden den Weg, den er zeigt, nicht gehen. (Bravo!)

Meine Herren, dann ist heute auch die Handwerkeifrage berührt, und ich bin gezwungen, sozusagen zu meiner Selbstverteidigung ein paar kurze Bemerkungen hierzu zu machen.

Der Herr Abg. Raab hat kürzlich einen Passus aus einer sozial— demokratischen Zeitung vorgelesen, die mich einmal ausnahmsweise gelobt hat, weil ich erklärt hätte: „mit dem Handwerk sei es aus“; das wäre doch einmal eine richtige Ansicht gewesen, die ich geäußert hätte. Wenn ich nicht fürchtete, auch beschuldigt zu werden, mich eines unlauteren Wettbewerbes schuldig zu machen, würde ich eine Prämie aussetzen für den, der mir in urkundlicher Form nach— weist, daß ich jemals eine solche oder ähnliche Aeußerung getan habe. (Hört, hört Jene Behauptung ist vollkommen unrichtig. Es ist auf Grund der Verhandlungen, die hier in diesem Hause über die Handwerkerfrage gepflogen worden sind, seinerzeit ein sehr ober— flaächlicher und mißverstandener Bericht in eine Zeitung gekommen, wie das ja häufig der Fall ist. (Sehr richtig) Dieser Bericht ist durch viele andere Zeitungen gegangen, und immer hat man sich gedankenlos, möchte ich fast sagen mit dem Schlagwort abgefunden: ich hätte erklärt, mit dem Handwerk sei es aus, mit dem sei nichts mehr anzufangen. Nein, meine Herren, eine solche herzlose und törichte Aeußerung habe ich nie' getan; aber ich habe allerdings gesagt, daß es unter den modernen industriellen Verhältnissen für gewisse Zweige des Handwerks immer schwerer werde, mit dem Großbetrieb Schritt zu halten, und daß man die Hilfe des Handwerks nicht in einer veralteten, fast mittelalterlichen Gesetzgebung suchen soll, sondern darin, daß man die kaufmännischen Kenntnisse und das gewerblich -technische Verständnis und Geschick des Handwerks vertieft (sehr richtig), daß man es dem Handwerk erleichtert und da mag man einmal einen tiefen Griff in die Staatskasse tun —, die besten Maschinen, die es gibt, in ihrer Anwendung kennen zu lernen und sich anzuschaffen, und daß die Kommunen den Handwerkern eine billige automatische Kraft von einer Zentralstelle aus zur Ver— fügung stellen, eine Kraft, die es dem Handwerker ermöglicht, im Wettbewerb mit den Großbetrieben immer noch bessere, individuelle Arbeit zu leisten. (Sehr richtig h

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

Schritt in wirtschaftlicher Beziehung getan war, daß damit dem

M 294.

Zweite Beilage zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

Berlin, Mittwoch, den 14. Dezember

1904.

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(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Meine Herren, die Handwerkerfrage ist ja verkoppelt mit der ganzen Mittelstandsfrage, und ich habe in dieser Beziehung Aeußerungen in diesem hohen Hause gehört, denen ich nur sehr bedingt beistimmen kann. Es macht sich jetzt bei der Behandlung dieser Mittelstands⸗ frage ebenso, wie es von der äußersten Linken geschieht, eine gewisse Feindschaft gegen die Assoziation des Kapitals geltend. (Zurufe rechts.) Die Assoziation des Kapitals macht sich geltend in den großen Banken, die damit den Geldmarkt beherrschen wollen, sie macht sich geltend in den industriellen Kartellen und trustartigen Ringen, die sich assoziieren, um Rohstoff, Halbfabrikate und Ganzfabrikate zu liefern, und sie macht sich endlich geltend in den großen Waren— häusern, die auch nichts anderes sind als eine Assoziation des Kapitals, um dem Publikum seine täglichen Lebensbedürfnisse zu liefern. (Sehr richtig! links.) Ich gestehe ohne weiteres: diese Assoziation des Kapitals hat sehr düstere Seiten und ist für den Mittelstand eine große Gefahr! (Sehr richtig! rechts) Darüber kann man sich nicht einen Augenblick zweifelhaft sein. Aber man darf auch nicht ver— gessen, daß auf dieser Assoziation des Kapitals sozusagen auch unser ganzer Kulturfortschritt beruht. (Sehr richtig! links. Heiterkeit.) Meine Herren, würden wir denn ein so hochkultivierter Staat sein, wie Deutschland jetzt ist, ohne die Assoziation des Kapitals? Haben wir denn nicht durch die Assoziation des Kapitals alle die großen Verkehrseinrichtungen, alle die Einrichtungen, die einem Kulturstaat den Stempel aufdrücken, überhaupt erst erreicht? Und wie kommt es, daß andere, kapitalärmere Staaten auch kulturell rückständig sind? Weil sich dort die Assoziation des Kapitals nicht bilden kann, weil man dort nicht den Mut und die Rechtssicherheit hat, sich zu großen Unternehmungen zu vereinigen und die Kultureinrichtungen zu schaffen, auf die wir schließlich doch slol; sind, und deren wir uns erfreuen.

Meine Herren, man greift die Warenhäuser an, man hat auch versucht, sie durch eine Warenhaussteuer einigermaßen in ihrem wirt— schaftlichen Einfluß unschädlich zu machen, ich glaube, bisher ohne irgend welchen sichtbaren Erfolg. (Sehr richtig! rechts.) Aber worauf beruht denn der Zulauf der Warenhäuser? Ich bin der letzte, der ein Loblied auf sie singen will; aber sie hängen eben mit unseren ganzen modernen Verkehrseinrichtungen zusammen. (Sehr richtig! links) An dem Tage, meine Herren, wo Sie in Berlin die Untergrundbahn beseitigen, wo Sie die billigen Verkehrsgelegenheiten abschaffen, sind die Warenhäuser gewesen.

Ich meine, wenn man die modernen Kapitalassoziationen, die auf manchen Gebieten überhaupt nur imstande sind, das zu schaffen, was die moderne Kultur erfordert, angreift, darf man auch nicht ganz vergessen, welcher Kulturfortschritt andererseits in mancher Be— ziehung durch diese Assoziationen geschaffen ist. Nun will man auch im Interesse des Mittelstandes, der mittleren Betriebe, gegen die Ringe und Kartelle vorgehen, und ich gestehe auch hierbei, daß die Ringe und Kartelle nach mancher Richtung ungünstig gewirkt haben und zum Teil dafür habe ich sprechende Beweise ihre Macht in einer ungehörigen Weise ausnutzen. (Sehr richtig! rechts und links. Aber wenn man eine Gesetzgebung gegen die Kartelle fordert diese Frage ist ja noch nicht enschieden, weil die Kartellenquete noch nicht beendigt ist so muß ich darauf hin— weisen, daß wir bis jetzt eigentlich in keinem Staate das Muster einer Gesetzgebung finden, welches geeignet wäre, den gewollten Zweck auch zu erreichen. (Sehr richtig! links) In Amerika besteht eine Gesetzgebung gegen die Trusts. Nun, meine Herren, was diese Gesetzgebung dort erreicht hat, darüber sind wir uns wohl doch alle klar. In Amerika hat man auch in verschiedenen offiziellen

Aeußerungen die Ergänzung jener Gesetzgebung als wünschens— wert hingestellt; aber ein positives neues Gesetz ist bis jetzt noch nicht zustande gekommen, und wenn man sich bei uns

einmal entschließen sollte, ein derartiges Gesetz zu machen, so muß es ein Gesetz sein, das auch wirklich wirksam ist, das die Auswüchse des Kartellwesens beseitigt, ohne doch den großen wittschaftlichen Faktor lahmzulegen, der in der Assoziation des Kapitals beruht. Man soll einmal von dem Börsengesetz gesagt haben, das wäre ein Gesetz, durch das man vierspännig durchfahren könnte. Erläßt man ein Gesetz gegen die Auswüchse der Kartelle, so darf das jedenfalls nicht ein Gesetz sein, von dem es auch heißen könnte: durch dieses Gesetz kann man ja vierspännig durchfahren.

Meine Herren, ich habe Aeußerungen hier im Laufe der Generaldebatte gehört, die auf einem ziemlich feindlichen Stand— punkt gegenüber der Gewerbefreiheit zu stehen schienen. Meine Herren, die Gewerbefreiheit ist zusammen geboren worden mit der Redefreiheit in den Parlamenten (sehr richtig! links) und mit der Preßfreiheit, und von den beiden letzten Freiheiten macht man doch einen ziemlich weitgehenden Gebrauch. (Heiterkeit) Ich glaube, wer auf dem Standpunkt der Rede und Preßfreiheit steht, der wird auch nicht die Gewerbefreiheit beseitigen wollen und be— seitigen können. (Sehr richtig! in der Mitte und links). Ich glaube, es zeigen sich jetzt einzelne wirtschaftliche Richtungen, die von dem Staate viel zu viel verlangen in bezug auf die Eingriffe in den Gang des wirtschaftlichen Lebens. (Sehr richtig!) Es wird uns hier so oft die französische Revolution an die Wand gemalt. In der französischen Revolution hat man ja mit rauher Hand viele be— stehenden Rechte beseitigt; man ist sehr scharf gegen Anderedenkende vorgegangen, indem man ihnen das Denken einfach dadurch un— möglich machte, daß man ihnen das Organ nahm, wo man den Sitz der Gedanken anzunehmen pflegt. CHeiterkeit.) Wenn Sie sich aber das moderne Frankreich ansehen, so hat sich trotz der zehn oder elf Revolutionen, glaube ich, die es seitdem er lebte, dort die innere soziale Gliederung verhältnismäßig wenig ge ändert. Eigentlich haben sich nur die Namen und die Personen geändert, die großen sozialen Schichten sind ganz dieselben geblieben wie vorher, und in dem republikanischen Frankreich, das uns von der

äußersten Linken so oft vorgehalten wird, hat man bis heute die demokratischste Maßregel, die in Deutschland, in Preußen seit länger als 50 Jahren ergriffen worden ist, bis jetzt nicht ergriffen, das heißt die Staatsbürger auch nach ihrem Einkommen zu den Staatslasten heranzuziehen. (Sehr richtig! in der Mitte.)

Meine Herren, ich meine also: es kann für den Mittel— stand noch vieles geschehen, und es muß north vieles geschehen (sehr richtig! rechts); aber dazu muß man sich vor allem auch in den Einzelstaaten entschließen, noch große Mittel aufzuwenden, um den Mittelstand in seiner technischen und kaufmännischen Aus— bildung zu heben und ihm möglich zu machen, diese vertiefte Bildung auch wirklich anzuwenden. Aber weder ein sozialistischer Volkstribun noch der extremste Vertreter der Mittelstandspartei wird es ermög— lichen, sei es durch eine kollektivistische Gesetzzebung, sei es durch eine Gesetzgebung, die zu längst überwundenen, wirtschaftlichen Formen zurückkehren will, die moderne wirtschaftliche Entwickelung auf— zuhalten, in der wir uns befinden, und auf der schließlich unser ganzes Staatswesen beruht. Beide Richtungen, meine Herren, werden nie tealisiert werden.

Einer der Herren Vorredner hat auch meine früheren Ausführungen zu der Belastung von Handwerksbetrieben mit Versicherungsbeiträgen und zu der Höhe des Reinertrages solcher Betriebe bestritten. Ich habe mir die Mühe genommen, von einem Tischlereibetriebe zu ermitteln, wie hoch sich dort der Reinertrag gestellt hat und wie hoch dieser Betrieb mit Versicherungsbeiträgen belastet ist. Es war nämlich in Fachzeitschriften behauptet worden, daß die Versicherungs— beiträge und die sonstigen Unkosten so hoch wären, daß ein Tischlerei⸗ betrieb in Berlin mit 18 Gesellen und 2 Lehrlingen und mit einer Produktion von 66 700 6 für den Unternehmer kaum einen Gewinn von 4000 S ergebe. Ich habe nun die Verhältnisse eines Tischlereibetriebes auf Grund der Bücher ganz eingehend ermitteln lassen. Was ergab sich dabei? Der Reingewinn dieses Tischlerei⸗ betriebes, der 1902s03 23 bis 24 Gesellen, 190304 rund 38 Ge— sellen mit Einschluß des Meisters beschäftigte, ist 1902.‚03 auf 18 000 ½, 190304 auf 29 230 ermittelt, sodaß im Durchschnitt der Jahre 190203 und 180304 für jeden Beschäftigten sich ein Reingewinn von 769 M für das Jahr ergab. (Hört, hört! bei den Se zialdemokraten Nach dem von mir geprüften Tischlereibetriebe fiel auf einen Gesellen durchschnittlich ein fertiggestellter Warenwert von 5869 SV Geht man nun von der in jenen Fachzeitschriften der Tischlermeister angegebenen Produktion von 66700 1 Warenwert aus und verteilt bei 5869 S Warenwert pro Geselle diesen Waren— wert auf die einzelnen Titel, so dürfte sich, nach Maßgabe des ge— prüften Tischlereibetriebes, bei einer Warenproduktion von 66 700 4 der Reingewinn nicht auf 4000 4, sondern auf 12119 stellen (Hört, hört! bei den Sozialdemokraten), also auf die dreifache Summe. Die Versicherungsbeiträge berechnen sich aber in dem geprüften

Tischlereibetriebe pro Kopf auf 71,11 „Æ„ pro Jahr, stellen sich also wegen der höheren Durchschnittslöhne etwas höher als in dem Artikel in der Fachzeitschrift der Tischlermeister,

und in Prozentsätzen des Preises der angefertigten Waren würden die Versicherungsbeiträge sich siellen auf etwa 1,2116 Oo und in Prozentsätzen der gejahlten Löhne auf 3,6 (, so daß auf 1000 Lohnzahlung 36 M Versicherungsbeitrag entfallen.

Damals ist behauptet worden, die Versicherungsbeiträge wären für diesen Betrieb, der bei 66 000 S6 Produktion nur einen Rein—2— ertrag von 4000 Mαν abwürfe, vollkommen ruinös. Nach dieser Be⸗— rechnung, die sehr sorgfältig auf Grund buchmäßiger Ermittelung auf gestellt ist, ergibt sich also, daß auf 1000 M Lohnzahlung nur 36 4 Versicherungsbeiträge entfielen. Das kann für das Handwerk nicht ruinös sein, an diesem Versicherungeprozentsatz wird kein Handwerker zu Grunde gehen.

Meine Herren, ich schließe meine Betrachtung damit: wir wollen alles tun, um das Handwerk nicht nur zu erhalten, sondern auch zu heben, soweit eine verständige und wohlwollende Verwaltung dies vermag. Aber ich möchte die Vertreter der Mittelstandsparteien dringend davor warnen, dem Handwerk im Wege des Versicherungs— zwanges Staatshilfe und eine Sicherung seiner Lage zu versprechen,

die aus den angegebenen Gründen nicht gewährt werden kann. (Bravoh Abg. Patzig (ul.): Ich glaube, die Erklärungen, die wir

eben gehört haben, haben eine große allgemeine Bedeutung. Es ist mit raschen Schritten vorgegangen worden in der ganzen sozialen Ent. wicklung. (Lachen bei den Sozialdemokraten) Dieses Lachen ändert an so gewaltigen Tatsachen nichts; die Schattenseiten sind nicht ausgeblieben, und die Schichten des Mittelstandes haben diefer Entwickelung nur unter schweren Entbehrungen zu folgen vermocht. Nun heißt es, es soll etwas geschehen, die Technik muß entwickelt, das Fachschulwesen gefördert werden usw. Aber die Staatefürsorge in Anspruch ju nehmen für die Sicherung der Existenz, sei für absehbare Zeit unmöglich. Trotzdem glaube ich, aus den Worten des Staatssekretärs eine gewisse Befürwortung des Antrages Becker entnehmen zu können. Nachdem wir im Anfange dieses Jahres die runde, ablehnende Erklärung auf unseren Antrag be— kommen haben, sind wir mit dem Antrage gekommen, doch wenigstens Erhebungen über die Lage des Handwerks in dieser Richtung zu ver⸗ anstalten. Auch wir bekümmern uns nur um die Schichten des Handwerks, die nach ihrer sonialen Lage unterstützungsbedürftig sind; nicht der gut rentable Betrieb schwebt uns vor, den uns der Staats—⸗ sekretär eben zergliederte, und den uns nun wohl die Sozial— demokraten immer und immer wieder in der Agitation entgegenhalten werden. Wir möchten unterrichtet sein, bis zu welcher Grenze im Handwerk die Unsicherheit der Existenz etwa geht, um daraus Material sür die Abgrenzung zu gewinnen. Dies der Inhalt unseres An— trages, der keineswegs uns und noch viel weniger den Reichstag auf die obligatorische Handwerkeversicherung festlegen will. Nach dem Mißerfolg unserer Interpellation haben wir die Resolution ein- gebracht, gerade weil wir hoffen durften, nach den damaligen Aeußerungen des Abg. Trimborn das Zentrum zu gewinnen, und es befremdet uns sehr, jetzt eine so ablehnende Erklärung zu hören. Material wollen wir haben, eine Klärung, die im Januar auch der Abg. Trimborn gewünscht hat. Nun ist heute ein Redner des Zentrums hervorgetreten und hat uns gesagt, daß wir auf, dem schönsten Wege seien, in den Zukunftsstagt der sozialdemokratischen

Partei zu marschieren, die ich in diesem Augenblick hier nicht ver—⸗

So

treten sehe. (3urufe) Ich verstehe diesen Einwand nicht. lange wir uns auf den Standpunkt der Gewerbefreiheit stellen, kann doch von einem solchen Abmarschieren in den Zukunftsstaat nicht die Rede sein. Ueber die Durchführung der Maßnahmen heute zu sprechen, geht nicht gut an. Dagegen muß ich mich aber wenden, . wir den staatssozialistischen Stein ins Rollen gebracht, falsche Illuflonen erweckt haben. Den Anfang der Hasenjagd haben wir nicht gemacht, wir sind nur hineingezogen durch die große Fülle von Anträgen, die von anderer Seite gestellt worden sind. Was wir wollen, verpflichtet niemand, treibt niemand in den Zukunftsstaat hinein. Wir wollen nur ein klares Bild haben, welche Schichten des Handwerks einer Hilfe bedürfen. Ich hoffe, daß unser Antrag, wenn nicht die Zustimmung der Regierung, so doch die Unterstützung eines großen Tesles des Hauses finden wird. Die gewünschten Erhebungen würden vielleicht am Ende des nächsten Jahres vollendet sein können; die Handwerkskammern haben dem Münchener Handwerkertag schon einige Grundlagen gegeben.

Abg. Meyer⸗Bielefeld (d. kons.), sehr schwer verständlich, weist darauf hin, daß seit der Interpellation über den gleichen Gegenstand sich eine Klärung in den Kreisen des Handwerkerstandes noch nicht vollzogen habe, die Vorlage also noch nicht spruchreif sei. Im Prinzip wären wohl manche Handwerker für die Versicherung; als man ihnen aber die Konsequenzen des Antrages klar gemacht habe, hätten sie sich dagegen erklärt. Der Redner äußert dann einige Wünsche über eine Verbesserung der Bestimmungen über die Selbstoersicherung der Hand— werker, u. 4. auf Einführung einer höheren Lohnklasse und sonstigen weiteren Ausbau der freiwilligen Versicherung.

Abg. Raab (Wirtsch. Vgg.) führt aus, daß die letzten Abände⸗ rungen des Invalidenversicherungègesetzes die Bestimmungen über die freiwillige Versicherung verschlechtert hatten, namentlich durch Erhöhung der Wartezeit von 335 auf 50900 Wochen, wofür den verstorbenen Abg. Roesicke die Schuld treffe. Der Abg. Hilbck hätte sogar beantragt, die Wartezeit auf 560 Wochen zu erhöhen. Danach sei es kein Wunder gewesen, daß von der freiwilligen Versicherung so wenig Gebrauch gemacht worden sei. Jene Bestimmungen, die auch die Regierungen nicht gewünscht hätten, müßten wieder beseitigt werden. Uebrigens möchte er wissen, ob er, Redner, nachdem die zehn Jahre noch nicht zu Ende seien, nach den alten oder neuen Vorschriften ver= sichert würde. Der Widerstand gegen die Versicherung der Hanowerker nehme sich gerade so aus, wie seinerzeit der Widerstand gegen den Neunuhrladenschluß, die Sonntagsruhe usw. Der kleine Gewerbe— treibende wolle nicht auf das Bettel⸗ und Gnadenbrot der Gemeinde angewiefen sein. Ben Handwerkern fehle nichts so sehr als ein bißchen Nachdenken. Dazu möge die Tätigkeit der Handwerkskammern führen. Von einem Hinsetzen an die Staatskrippe, von der Abg. Erzberger ge⸗ sprochen habe, könne keine Rede sein, da die Handwerker genug Beiträge zu leisten haben. Auch der Hinweis auf den roten Lappen, wirke nur auf gewisse große Tiere, die weder hier, noch im Bundesrafe vertreten seien.“ Auch denjenigen Handwerkern, die sich aus trotzigem Stolz gegen den Vorschlag wehren, zu einer gesicherten Existenz im In⸗ valid tätsfalle zu verhelfen, sei Aufgabe der Gesetzgebung. Der Schutz der Schwachen erstrecke sich gesetzlich ja sogar auf die gesunden Arbeiter; man habe in dieser Beziehung den manchesterlichen Stand—⸗ punkt verlassen. Wenn nicht heute, so werde im nächsten oder in 5 Jahren das durchgeführt werden, was der Antrag wolle; habe sich doch auch die Haltung der Nationalliberalen zum ; esseren gewendet. Graf Posadowsky follte kein Verteidiger der Warenhäuser sein, Er nannte sie eine Assoziation des Kapitals, während Minister Möller in ihnen bloß die höhere Intelligenz erblickte. Wir sehen in den Warenhäusern bloß eine Assoztation der Gewissenlosigkeit und geschäft⸗ lichen Frivolität. (Der Präsident Graf von Ballestrem ersucht den Redner, nicht von der Sache abzuschweifen. Der Redner erwidert dem Staatssekretär, daß er sein Urteil über diese bekannte Handwerker⸗ rede nicht aus ungenauen Zeitungsberichten geschöpft hahe. Er und seine Freunde wünschten auf geistigem Gebiet Freiheit, auf wirtschaft⸗ lichem Ordnung.

Abg. Erzberger: Der Staatssekretär warnte uns vor mittel alterlichen Anträgen. Die Aeußerungen des Staatssekretärs über die Warenhäuser werden ebenso mißverstanden werden wie seine früheren Aeußerungen über das Handwerk. Zurückweisen muß ich auch, daß der Fortschritt auf den Syndikaten aufgebaut sei. Der Staatssekretär sprach von der Gewerbe, und Preßfreiheit. Er vergaß die Wucher freiheit, der endgültig der Abschied gegeben ist. Mit der Annahme des Antrages Becker würden wir uns für die obligatorische Handwerkerversicherung binden. Der nationalliberale Antrag würde, durchgeführt, uns in den Staatssozialismus hineinführen, weil dann auch die Bauern und andere mit denselben Wünschen kommen würden. Ich kann deshalb nichts von dem zurücknehmen, was ich in meiner ersten Rede gesagt habe. Herr Stadthagen hat mich in einen Gegensatz zu dem Abg. Trimborn bringen wollen. Er tat dies, indem er Herrn Trimborn nicht vollständig zitierte, wo von der Weiter— entwickelung der freiwilligen Versicherung die Rede war. Auch ich

bin für eine solche Weiterentwickelung. Wenn Herr Trimborn damals sagte, eine Entschließung ist uns heute nicht möglich, so gilt das heute noch mehr. Herr Stadthagen sagte, die

Invalidenversicherung würde mit Unrecht eine Wohltat genannt. Ein anderer Sozialist, Millerand, bezeichnete auf dem Arbeiterschutz⸗ kongreß in Basel in diesem September die ganze deutsche Versicherungs⸗ gesetztebung als ein erhabenes Monumentalwerk. Die Sozial- demokraten haben keinen Grund, uns den Vorwurf zu machen, daß wir seinerzeit das Invalidenversicherungsgesetz abgelehnt haben. Sie haben dasfelbe getan, aber nicht aus dem Grunde wie wir, sondern aus Uebertrumpfungstaktik. Wir bitten, den Antrag der national liberalen Partei abzulehnen, eine Entscheidung der ö. ist heute unmöglich. .

Präsident Graf von Ballestrem; Ich habe vorhin dem Abg. Raab unrecht getan, ich wußte nicht, daß der Staatssekretär die Frage der Warenhäuser berührt hatte.

Abg. Froelich (8. Reformp.): Mir hat heute der Obermeister der Berliner Tischlerianung, Rahardt, der auf der Tribüne sitze, gesagt, daß die 2300 Berliner Tischlermeister von Herzen eine Sicherstellung der Handwerker wünschten. Nun hat der Staatssekretär wunderbare Töne geflötet von den Waren— häusern, aber mit dem fortschreitenden Kulturumschwung und schein⸗ baren Aufschwung hat zweifellos der Niedergang des Mittelstandes Schritt gehalten. Nichts hat sich mit so positiver Sicherheit ver¶ mehrt als die Schulden. Und das ist ganz natürlich, wenn sich auf der einen Seite das Kapital so konzentriert. Die nicht selbständigen Existenzen haben sich um 66 vermehrt. Ist es ein Wunder, daß die Handwerker sozialdemokratisch wählen, wenn sie sehen, welchen Standpunkt die Regierung einnimmt? 333 0 der Handwerker haben sozialdemokratisch gewählt, um, wie man sich ausgedrückt hat, der Regierung zu jeigen ‚was eine Harke ist“. Ich weiß ganz genau daß der deuische Handwerker ein deutscher Mann ist durch und durch und nicht deshalb sozialdemokratisch wählt, um mit den Sozial demo⸗ kraten zusammen in Arm in Arm in den Zukunftsstaat hineinzuwandern. Es ist das eben ein Zeichen seines Unmutes, dem er Ausdruck geben will. Nun hat man mit Beziehung auf die großen Warenhäuser von

der „Modernen Intelligenz“ gesprochen. Wenn ich schon das Wort „Intelligenz. höre! In dem Worte „Intelligenz“ liegen zwei

deutsche-Begriffe, Klugheit und Schlauheit; aus diesen beiden setzt sich die Intelligenz zufammen. Klug ist der Deutsche, schlau ist der

Jud'. Graf Posadoweky hat bezweifelt, daß ein mittlerer Hand