1905 / 150 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 28 Jun 1905 18:00:01 GMT) scan diff

Großbritannien und Irland.

Ihm Unterhaguse erwiderte, dem. W. T. B. zufolge, gestern auf eine Anfrage, ob ,,. erhoben worden seien wegen der An— gelegenheit des von den Russen zum Sinken gebrachten Dampfers „Ithona“, und ob dem russischen Kreuzer ‚Terek‘ ähnliche Instruk⸗ tionen gegeben worden seien wie dem „Dnjepr“, der Unterstaats⸗ sekretär des Auswärtigen Earl Perey, der britische Botschafter in St. Petersburg habe Anweisung erhalten, die Angelegenheit in der— selben Weise zur Kenntnis der russischen Regierung zu bringen, wie in dem Falle des von dem Kreuzer „Dnjepr“ versenkten Bampfers „St. Kilda?“. Sodann begann das Haus die Spezialberatung der Gesetzesvorlage, betreffend die Einwanderung von Fremden.

Frankreich.

In dem gestern abgehaltenen Ministerrat teilte, dem „W. T. B.“ zufolge, der Ministerpräsident Rouvier mit, er werde am Nachmittag eine Besprechung mit dem deutschen Botschafter Fürsten Radolin haben, der ihm die Antwort Deutschlands auf die französische Note zustellen werde. Der Ministerrat beschloß dann, im Senat eine Amnestie⸗ vorlage einzubringen, die sich auf die vom Staatsgerichtshofe Verurteilten, ferner auf Ausstands⸗, Preß⸗ und Versammlungs—⸗ delikte und auf die aus Anlaß der Angelegenheit der militärischen Auskunftszettel ergriffenen Disziplinarmaßregeln erstrecken solle.

Der Empfang des deutschen Botschafters Fürsten Radolin bei dem Ministerpräsidenten Rouvier fand gestern nachmittag um 4 Uhr statt und dauerte etwas über eine Stunde.

In Pariser deutschen diplomatischen Kreisen wird, wie die „Agence Havas“ meldet, versichert, daß Deutschland in seiner Antwortnote, trotz der in der französischen Note enthaltenen Ausführungen, auf seinem Standpunkte beharre, und den Zusammentritt einer Konferenz als das ge⸗ eignetste Mittel ansehe, die marokkanische Frage auf diplomatischem Wege zu ordnen. In der deutschen Note werde darauf hingewiesen, daß die Kaiserliche Regierung nicht glaube vor der Konferenz eine Verständigung über die Fragen herbeiführen zu können, die Gegenstand der Be— ratungen der Konferenz sein sollten. Die deutsche Regierung sei nach wie vor der Ansicht, daß es zur Aenderung des gegen⸗ wärtigen Standes der Dinge in Marokko des Einvernehmens aller Signatarmächte der Madrider Konvention bedürfe. Der allgemeine Ton der Note sei in freundschaftlichem Geiste, im Geiste der Verständigung und der Loyalität gehalten, der es Frankreich leicht zu machen scheine, die Zugeständnisse in der Form, auf die Deutschland Wert zu legen scheine, zu machen, und der es Frankreich unmöglich mache, seine Zustimmung zu der Konferenz zu verweigern, da Frankreichs Aufgabe, an der algerischen Grenze für Ordnung und Sicherheit zu sorgen, anerkannt und erleichtert werden solle.

Im Senat brachte gestern der Justizminister Chaumis die vom Ministerrat beschlossene Amnestievorlage ein; sie wurde der Amnestiekommission überwiesen. Diese Kommission beriet gestern über den ihr zugewiesenen Entwurf, betreffend den Erlaß von Strafen wegen Konkursvergehen, und beschloß, ihn mit dem die Streikvergehen betreffenden Teil der Amnestievorlage zu vereinigen.

Die Deputiertenkammer hat die vom Senat bereits ge— nehmigte Vorlage angenommen, nach der die Arbeitsdauer in Bergwerken nach und nach herabgesetzt werden soll. Darauf wurde die Beratung der Vorlage, betreffend Trennung von Staat und Kirche, fortgesetzt.

Die sozialistischen Deputierten Rouanet und Vigne werden die Regierung am 7. Juli über die in Französisch⸗Kongo von einzelnen Kolonialbeamten verübten Grausamkeiten sowie über die Kolonialpolitik in Madagaskar interpellieren Der in Paris eingetroffene Generalgouverneur von Madagaskar, General Gallieni wird dem Kolonialminister bei dieser Debatte zur Seite stehen

Rußland. Wie die St. Petersburger Telegraphenagentur“ erfährt, hat der amerikanische Botschafter in St. Petersburg

am 25. d. M. dem Minister des Aeußern Grafen Lams⸗ 19mm 0e dorff den Vorschlag mitgeteilt, den Anfang des Monats * 2

August neuen Stils als Termin für die Zusammen— kunft der Bevollmächtigten Rußlands und Japans in Washington zu wählen. Noch an demselben Tage habe Graf Lamsdorff geantwortet, daß Rußland mit dem Vorschlage einverstanden sei.

In der Stadt und im Kreise St. Petersburg beginnt heute, wie dem, W. T. B.“ berichtet wird, die Einberufung der Reservisten, die drei Wochen beanspruchen wird. Die Gesamtzahl der in der Residenz und dem Fabrikrayon Ein— berufenen wird auf 80 000 angegeben.

In dem Vororte von Odessa Peresyp versammelten sich vorgestern 2000 Arbeiter, um über das Eintreten in den Ausstand zu beraten. Als Militär anrückte, wurde es aus der Menge mit Steinen beworfen. Die Truppen feuerten sofort, Ifhof ! zwei und verwundeten eine Person. Gestern herrschte in Odessa der allgemeine Ausstand. Die Arbeiter zogen in großen Haufen durch die Straßen. An vielen Stellen spannten sie die Pferde der Straßenbahnwagen aus und verhinderten den Verkehr. Alle Läden waren geschlossen.

Spanien.

Der Minister des Innern hat, wie dem „W. T. B.“ mitgeteilt wird, erklärt, daß die neuliche Konferenz des Ministerpräsidenten Montero Rios mit dem deutschen Bot⸗ schafter von Radowitz die marokkanische Frage be⸗ troffen habe, er müsse sich aber absolutes Stillschweigen auf— erlegen wegen der delikaten Lage, die sich aus den Ver⸗ , zwischen zwei befreundeten Mächten ergebe.

Der Minister des Aeußern hatte gestern längere Unterredungen mit dem deutschen 8 rfh as und mit dem französischen Geschäftsträger.

Belgien.

In der Repräsentantenkammer erwiderte gestern der Kriegs“ minister auf die Anfrage, ob für den Kriegsfall Maßnahmen zum Schutz der Neutralität Belgiens getroffen seien, daß die Regierung die Landesberteidigung dauernd intakt erhalte.

Türkei.

Aus Konstantinopel meldet das Wiener „Telegr.⸗ Korresp⸗Bureau“, daß am Sonntag bei Pendag im Bezirk Kratowo eine 29 Mann starke serbische Bande vernichtet worden sei, wobei die türkischen Truppen einen Verlust von wei Toten und 12 Verwundeten gehabt hätten. Der Ein⸗

ruch weiterer Banden aus Serbien werde gemeldet.

Serbien. Zu den Verhandlungen über den serbisch-türkischen , n. ernannte, dem „W. T. B.“ zufolge, die Regierung als Hauptdelegierten den serbischen Gesandten in

Konstantinopel Simitsch, als Sachverständige den Zolldirektor Kukitsch und den Zollrevisor Josimowitsch. Die Ver⸗

handlungen werden in Konstantinopel geführt werden und dieser Tage beginnen. Die Abreise der Delegierten soll in der nächsten Woche erfolgen.

Schweden und Norwegen.

Der König hat, wie „W. T. B.“ meldet, durch den Reichsmarschall den Blättern ein Schreiben . lassen, in dem Allerhöchstderselbe für alle neuen Beweise der Treue und Liebe, die er von Tausenden empfangen habe, seinen Dank ausspricht. Er habe in den letzten Tagen aus Anlaß der Vermählung seines ältesten Enkels viele Beweise der Teilnahme erhalten, die ihm zur aufrichtigen Freude ge⸗ reicht hätten und für die er herzlich danke. .

Das „Svenska Telegrambyran“ meldet: Am 23. Juni hat der Minister des Auswärtigen Graf Gyldenstolpe an die schwedischen Gesandten im Auslande ein Rund— schreiben gerichtet, in dem er ihnen mitteilt, daß der König dem außerordentlichen Reichstage einen Vorschlag, betreffend das Unionsverhältnis, habe zugehen lassen, sowie daß der König, bis Schweden seine Einwilligung zur Aufhebung der Reichsakte gegeben hat, an seinem Beschlusse festhalte, die durch den Beschluß des Storthing vom 7. Juni in Norwegen eingesetzte ungesetzliche Regierung nicht anzuerkennen. J

Das Journal „Nya Dagligt Allehanda“ erfährt, daß der König der Frage, ob ein Prinz Bernadotte den Thron Norwegens besteigen solle, prinzipiell entgegenstehe und daß es nicht in seiner Absicht liege, diesem Plane zuzustimmen. Nur in dem Falle, daß der schwedische Reichstag den Wunsch aussprechen sollte, daß ein schwedischer Prinz den norwegischen Thron besteige, werde der König die Frage aufs neue in Er— wägung ziehen.

In der Ersten Kammer führte gestern, wie ‚W T. B.“ be⸗ richtet, G. A. Berg bezüglich der Aufhebung der Union aus, der schwedische Reichstag könne Norwegen nicht eher als souveränen Staat anerkennen, als bis die berechtigten Forderungen Schwedens erfüllt seien. Lithander von der Rechten erklärte, Schwedens Sicherheit und nationale Ehre verlangten, daß dem revolutionären Vorgehen Norwegens der energischste Widerstand entgegen gesetzt werde. Im weiteren Verlaufe der Sitzung forderten ver— schiedene Redner militärische Rüstungen, um jedermann klar zu machen, f es Schweden ernst mit seiner Forderung sei. Der Staatsminister Ramstedt führte aus: Nach dem Beschlusse des Storthing vom 7. Juni habe es nur zwei Wege für Schweden gegeben: entweder zu Machtmitteln zu greifen oder zur Auf— lösfung der Union mitzuwirken. Der Wunsch zu Machtmitteln zu greifen, werde kaum von jemandem gehegt; allein, es seien Forderungen aufgestellt worden, deren Festhalten zu solchen Maßregeln führen müsse. Der rechtmäßigste Zorn dürfe Schweden nicht zum Kriege veranlassen. Was würde es dabei ge— winnen? Eine Vereinigung in der einen oder der anderen Form mit einem besiegten Norwegen könne keinen Vorteil für Schweden mit sich bringen, sondern im Gegenteil die größte Gefahr. Unfere Ehre fordere zu allererst, daß wir die Angelegenheit mit Ruhe prüfen und kluge Selbstbeherrschung beobachten. Wenn nicht weiter gehende Mittel angewandt werden sollten, gebe es nichts Würdigeres für Schweden, als freiwillig zur Auflösung der Union mitzuwirken und danach zu trachten, künftig Ruhe und Frieden auf der Halbinsel aufrechtzuerhalten. Der Minister wies schließlich in bestimmter Weise die Behauptung zurück, daß der Standpunkt der Regierung von dynastischen Interessen beeinflußt sei.

In der Zweiten Kammer führte Hammars kjöld aus, die Handlungsweise des norwegischen Storthing fei in ganz Schweden als die größte Rechtskränkung aufgefaßt worden. Die Nation habe einen Schlag ins Gesicht erhalten, aber sich dagegen erhoben. Der Redner tadelte die Regierung, weil sie nicht auf die Stimmung des Volts gehört habe. Er kein Freund von Anwendung von Machtmitteln, am wenigsten des Krieges, aber das äußerste scharfe Mittel sei ihm lieber, als daß Schweden sich mit Füßen treten lasse. Debatte erklärte der Justizminister Berger, man sei einig, Norwegen nicht mit Machtmitteln zur Union zwingen Was die von Schweden zu stellenden Bedin—

angehe, so dürften nicht unmögliche Schwierig⸗ gemacht werden. Andererseits müßten aber die recht—⸗ mäßigen Interessen Schwedens in allem wahrgenommen werden. Der Minister wies sodann den Tadel, daß der Re— gierungsentwurf nicht die Bedingungen näher angebe, als unverdient zurück. Es dürfe auch nicht dienlich sein, daß der Reichstag selbst diese Bedingungen in allen Einzelheiten bestimme. Als der Beschluß des Storthing vom 7. Juni bekannt geworden sei, habe er Unwillen und Erbitterung in Schweden hervorgerufen. Viele hätten gefordert, daß kräftige Maßregeln gegen Norwegen ergriffen würden. Der Regierungsentwurf sei als Schwäche aufgefaßt worden; aber das Gegen⸗ teil sei der Fall, denn eine Schwäche würde es gewesen sein, wenn die Regierung den vielen großen und kräftigen Worten nachgegeben hätte. Man würde dadurch auf einen gefährlichen Weg gekommen sein, und es sei besser gewesen, Kaltblütigkeit zu zeigen. Der Regierungs⸗ entwurf habe den besten Weg eingeschlagen. Darauf wurde der Regierungsentwurf einem Ausschuß überwiesen. ;

Beide Kammern haben gestern den Ausschuß gewählt.

Asien.

Der General Linewitsch telegraphiert, wie dem W. T. B.“ mitgeteilt wird, unter dem 26. Juni: .

Am 25. Juni ergriff der Feind die Offensive gegen unsere Kavallerie= vorposten südlich der Eisenbahn. Der Feind, der Verstärkungen an Infanterie und Kavallerie erhielt, vertrieb unsere Vorposten nach Norden zu. In der Gegend von Hailingchen wurde am 24. Juni einer unserer Kavallerievorposten im Tale des Tsinkheflusses von den Japanern vertrieben. Wir sandten freiwillige Jäger zur Ver—⸗ stärkung, doch diese gerieten bei Santsiatay in das feindliche Artillerkefeuer. Japanische Infanterie ist in den koreanischen Bergen gesehen worden. Am 22. Juni griff der Feind die Sotnien unserer Vorhut an, die sich nach einem Kampf zurückzogen.

Aus Tokio wird amtlich berichtet:

Der Feind griff in Stärke von fünf Kompagnien mit sechs Kanonen am 26. d. M. die Umgebung von Changhiatsen, 12 Meilen nordwestlich von Kwangpsing, an und wurde zurück— geschlagen. Unsere Kavallerie besetzte am gleichen Tage Kusiöng, 10 Meilen nördlich von Ayongsyong im Norden Koreas.

In Simla verlautet, nach einer Meldung des „Reuter⸗ schen Bureaus“, der Vizekönig Lord Curzon habe der Reichsregierung mitgeteilt, wenn in den über die mili⸗ tärische Befehlsgewalt in Indien erlassenen An— ordnungen nicht bedeutende Aenderungen vorgenommen würden, werde er von seinem Amt zurücktreten.

Afrika.

Die „Agence Havas“ meldet aus Tanger vom gestrigen Tage, Hadja hmed el Torres, der dortige Vertreter des Sultans, sei benachrichtigt worden, daß das General⸗ gouvernement von Algerien das Verbot, Truppen und Munition, die für Udjda bestimmt seien, über französische Häfen zu transportieren, aufgehoben habe.

Im weiteren Verlauf der darin

gungen keiten

(Redner) sei

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und die geheime Wahl.

Parlamentarische Nachrichten.

Der Bericht über die gestrige Sitzung des Herren— hauses befindet sich in der Ersten Beilage. 8 ö

Der heutigen (45) Sitzung des Herrenhauses wohnten der Justizminister Dr. Schönstedt und der Minister des Innern von Bethmann-Hollweg bei.

Auf der. Tagesordnung sieht zunächst der Bericht der XVII. Kommission über den von dem Abgeordnetenhause unter Abänderung der Regierungsvorlage angenommenen Gesetz— entwurf, betreffend die Abaͤnderung einzelner Bestimmungen des Allgemeinen Berggesetzes vom 24. Juni 1865/1892. (Arbeiterverhältnisse)⸗

err von Burggzorff referiert zunächst kurz über die Ver— handlungen der Kommission unter Hinweis auf den schriftlich erstatteten Bericht. In der Kommission war man der Meinung, daß der Zeit— punkt der Einbringung des Gesetzes als verfehlt angesehen werden müsse. Die Staatsregierung hätte vielleicht besser getan, wenn sie in den Streit, der zwischen Arbeitgebern und Arbeitern ausgebrochen war, nicht eingegriffen hätte. Nun aber habe die Regierung die Vorlage einmal gemacht und man müsse damit rechnen. Es seien ver— schiedene Abänderungsanträge eingebracht, die aber sämtlich abgelehnt worden seien, meist mit 11 gegen 8 oder mit 12 gegen Stimmen. Ein Teil der Kommissionsmitglieder habe geglaubt, die Abänderungsvorschläge ablehnen zu müssen, weil man mlt dem Gesetz nicht einverstanden sein könne, auch wenn es verbessert würde. Fin anderer Teil habe die Anträge abgelehnt, um das Zustande, kommen der Vorlage nicht zu gefährden. Er beantrage namens der Kommission, dem e nn n g in der Fassung des Abgeordneten— hauses die verfassungsmäßige Zustimmung zu geben und die Petitionen, die sich auf diesen Gesetzentwurf beziehen, durch die Beschlußfassung über den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. In der Generaldiskussion erhält zunächst das Wort Graf von TieleWinckler; Es liegt mir ob, den Stand— punkt zu vertreten, den ein Teil meiner Freunde dieser Vorlage gegen⸗ über einnimmt. Die bisherigen Verhandlungen haben uns nicht zu der Ueberzeugung bringen können, daß die Staatsregierung mit der Einbringung dieses Gesetzes eine glücklich Hand gezeigt hat. Wir sind der Meinung, daß der Zeitpunkt der Einbringung nicht glücklich gewählt war, denn er mußte zu der Annahme führen, daß die Staats. regierung beabsichtigte, durch Gewährung bon Konzessionen auf sozialpolitischem Gebiet einen Teil zu befriedigen und dadurch den im Gange befindlichen Streik aus der Welt zu schaffen. Selbst— verständlich hätte uns dieser Gesichtepunkt nicht veranlaßt, gegen das Gesetz zu stimmen, denn das Unglück war einmal geschehen. Unsere Pauptbedenken richten sich gegen die obligatorischen Arbeiterausschüsse Wir sehen in den Arbeiterausschüssen ein gefährliches Instrument in den Händen der Sozialdemokraten, das sie benutzen werden, um den Kampf gegen die heutige Staats— und Wirtschaftsordnung zu führen. Wir können nicht einsehen, aus welchem Grunde man der Sozialdemokratie eine Waffe für diesen Kampf in die Hände geben soll. Der Bergbau, der hier zunächst betroffen wird, wird sich ja mit den Bestimmungen noch ab— finden vermöge der konservativen Struktur, die ihm innewohnt. Wir bezweifeln aber, daß die Großindustrie imstande sein wird, die Schwierigkeiten in die sie durch dieses Gesetz zweifellos hineinkommen wird, für die Dauer zu ertragen. Unser größtes Bedenken richtet sich gegen die geheime Wahl. Wir befürchten, daß mit deren Einfügung in das Gesetz der Auffassung, daß die Arbeiterschaft schon heute einen Anspruch auf das geheime Wahlrecht im allgemeinen besitzt. Vorschuh geleistet und Anerkennung verschafft wird. Wir sind entschlossen, dieser Auffassung entgegenzutreten und darum ist ein Teil meiner politischen Freunde nicht in der Lage, für dieses Gesetz zu stimmen. int von , Wenn die Staatsregierung den ungewöhnlichen Weg betreten und bevor sie diese Vorlage dem Land⸗ tage der Monarchie vorlegte, die Frage an das Herrenhaus gerichtet hätte, ob der gegenwärtige Zeitpunkt ihm zweckmäßig erschiene, in eine neue gesetzliche Aenderung der Arbeiterverhältnisse im Bergbau⸗ betriebe heranzutreten, so wäre die Antwort des Herrenhauses zweifellos ein kategorisches Nein gewesen. Wenn eine derartige neue gesetzliche Regelung notwendig erschien, wenn die Staatsregierung die Einführung von ebligatorischen Arbeiterausschüssen für zweckmäßig erachtete, wenn sie namentlich glaubte, ein früheres Versprechen ein⸗ lösen zu müssen, so hätte sie damit schon früher kommen müssen, denn Carlyle bezeichnet es mit Recht als eine der vornehmsten Aufgaben einer wahrhaft konservativen und staatserhaltenden Polltik. Dinge aufzugeben, die man doch nicht mehr erhalten kann, und das zu erhalten was erhalten werden muß. Erst der große Streik des vergangenen Winters hat die Staatsregierung zum gesetz⸗ lichen Einschreiten gebracht, und es ist dadurch der Anschein erweckt, oder hat doch wenigstens erweckt werden können, als ob dieses Vor- gehen ewissermaßen den Lohn für den treik bedeute. Ich gebe zu, daß die preußische Staatsregierung sich dabei auf einen ähnlichen Vorgang in England berufen kann. Nach dem großen Streik in Cheffield war es der konservative Minister Digraeli, der den Arbeitern das unbeschränkte Koalitionsrecht und gleichzeitig das allgemeine Wahlrecht gab. Aber die Tatsache bleibt doch be—⸗ stehen, daß die Gabe, welche die Stgatsregierung jetzt den Berg— arbeitern entgegenbringt, ein Anreiz für spätere Streiks sein kann. Und wenn es den Anschein hat, daß ein Schaden dadurch wirklich entstanden ist, wenn die Begehrlichkeit durch das Vorgehen der Regierung bereits gestärkt sein sollte, so ist es die Regierung, die durch ihr unzeitgemäßes. Vorgehen diesen Schaden herbeigeführt hat, und der Schaden ist nicht wieder gut zu machen dadurch, daß das Herrenhaus die Voilage ablehnt und sie zum Scheitern bringt. Die Mehrheit der Neuen Fraktion meint vielmehr, daß es ein schwerer politischer Fehler des Herrenhauses sein würde, wenn es die Vorlage zu Fall brächte. Der Inhalt der Vorlage ist unserer Meinung nach nicht derartig, daß er Bedenken erregt. Das Verbot des Wagennullens ist keine unberechtigte Forderung. Es mögen Mißbräuche darin vorkommen oder nicht, jedenfalls geht es auch ohne Nullen. Das beweist die Tatsache, daß das Nullen lediglich im Ruhrrevier geübt wird, dagegen im Saarrevier und in Oberschlesien, auch in anderen Ländern z. B. in England, gänzlich unbekannt ist. Auch in der Einführung der obligatorischen Arbeiterausschüsse an und für sich können wir keinen wirklichen Schaden erblicken; ihre Wichtigkeit wird wesentlich überschätzt, wie der Kollege Zweigert bei der ersten Lesung überzeugend nachgewiesen hat. Sie stoßen sich daran, daß ge—⸗ heime Wahl für die Ausschüsse vorgesehen wird, aber ist diese, ab— gesehen vom Reichstagswahlrecht, ein vollständiges Novum in der preußischen Gesetzgebung? In der Kreisordnung, einem außerordent⸗ lich konservativen Gesetz, das nur den modernen Ausbau des alten deutschen ständischen , darstellt, ist die Wahl zu den Kreistagen geheim. uch in der Städteordnung gibt es ge⸗ wisse geheime Wahlen, und vielleicht wird die geheime Wahl bei den Arbeiterausschüssen gerade das wirksamste Schutz⸗ mittel gegen den Terrorismus wn n , Agitatoren sein. Allerdings fällt den Ausschüssen keine positive Tätigkeit zu, aber der Mangel kann dadurch gut gemacht werden, daß man sie an der Ver⸗ waltung der Wohlfahrteinrichtungen teilnehmen läßt. Jedenfalls irn sie eine legale Arbeitervertretung, und ich will lieber mit einer olchen verhandeln als mit einer anderen. Dem a. wird der Vorwurf gemacht, daß es die Begehrlichkeit anreist. Aber wo hat jemals ein Entwurf, der sich auf der mittleren Linie befand, von vorn herein allgemeinen Beifall gefunden? Denken Sie nur an die Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen an die Einführun i . Arbeiterversicherung,. Auf die Dauer wird und 966 sich die Wahrheit hließlsh Bahn brechen. Ich kann hierbei nicht unterlassen, mich gegen ein Argument des Handelsministers in der Kommission für die Notwendigkeit der Ein⸗ bringung dieser Vorlage zu wenden. Er führte für diese Notwendig

keit an, die Gefahr, daß die Materie im Reichstage erledigt werde, seh für ihn so groß gewesen, um gerade diesen Moment für die Ein⸗ hringung der Vorlage zu wählen. Er sagte weiter in der Kom— misston: „Aber die Gefahr, die Berggesetzgebung ins Reich verlegt zu sehen, ist allerdings für den Bergbau von einer solchen Wichtigkeit, zaß jeder Schritt, diese Gefahr zu verhüten, sich von selbst rechtfertigt. Mit, diesem Argument hat der Handelsminister mehr als Ressort— ninister denn als Stagatsminister gesprochen. Als Staateminister konnte er seinen Einfluß im preußischen Staateministerium dahin geltend machen, daß die preußischen Stimmen im Bundesrat so snstrulert würden, daß sie mit seiner Ansicht übereinstimmen. Ueber die Resolution des Herrn von Burgsdorff will ich jetzt nur sagen, daß, wie die große Mehrheit der Neuen Fraktion den Zeitpunkt der Ein— kringung der Gesẽtzesporlage als unzweckmäßig erachtet hat, ein fehr großer Teil der Fraktion auch den Zeitpunkt für diese Resolution als unzweckmäßig erachtet. Durch die Ablehnung der Vorlage reizen Sie unnütz und spielen ein gefährliches Spiel. Hat doch auch bereits die „Kreuzzeitung' abzuwiegeln begonnen. Die Ab— sehnung der Vorlage würde den Beifall derer finden, an deren Beifall dem Herrenhbause am wenigsten gelegen sein kann. Durch die Annahme der Vorlage schädigen Sie keine allgemeinen Interessen, stirken aber die Autorität der Regierung, und dies liegt gerade im hitalsten Interesse des Herrenhauses. Hlernach glaube ich hoffen zu können, daß das Herrenhaus der Vorlage unter Ablehnung aller Lbänderungsvorschläge seine Zustimmung nicht versagen wird.

(Schluß des Blattes.)

Statiftik und Volkswirtschaft.

Die Gewerbeaufsicht in Berlin 1904.5)

Nach den soeben eischienenen „Jahresberichten der Königlich Preußischen Regigrungs⸗ und Gewerberäte und Bergbehörden für oJ“ waren im Aussichts bezirk Berlin, der Charlottenburg, Schöne⸗ berg und Rirdorf mitumfaßt, 12967 (10439) Fabriken und diesen gleichgestellte Anlagen vorhanden, von denen 8735 (6469) Betriebe Arbeiterinnen im Alter von über 16 Jahren und F777 (3347) Fabriken jugendliche Arbeiter beschäftigten. Es waren in diesen 12 967 (10439) Fabriken usw. tätig: 168 764 (154 480) erwachsene männliche Arbeiter, 88 797 (78160) über 16 Jahre alte Arbeiterinnen lund zwar 35145 (29238) von 16 bis A Jahren und 53 652 (48 25) über 21 Jahre alte], ferner 15 159 (4 II19) junge Leute von 14 bis 16 Jahren 18297 (8323) männlichen ind 6862 (5796) weiblichen Geschlechts]! und 48 (86) Kinder 131 (45) Knaben und 17 (41) Mädchen! insgesamt 272 768 (246 845 Arbeitskräfte. Von den 12 967 (10 438) Fabriken usw. sind im Be⸗ richts sahre 4611 (3625) von den Gewerbeaufsichtsbeamten revidiert worden; diese revidierten Betriebe beschäftigten 172 383 (153 115)

ibeitskcäfte, von denen 1098 527 (99 115) erwachsene Arbeiter, 54 909 (45 817) erwachsene Arbeiterinnen, 4792 (4744) männliche und i837 (3423) weibliche jugendliche Arbeiter von 14 bis 16 Fahren owie 12 (10) Knaben und 6 (6) Mädchen unter 14 Jahren aten. Die Gesamtzahl der während des Jahres 1904 Fabriken und diesen gleichgestellten Anstalten des Aufsichts— hezirks Berlin vorgenommenen Revisionen betrug 8481 (65325, bon denen 339 (309) in der Nacht und 309 (283) an Sonn und Feiertagen erfolgten; 3242 (2405) Fabriken wurden einmal, 806 (745) weimal und, 777 (613) drei- und mehrmal revidiert. Außerdem wurden hön den Polizeibehörden anläßlich der Bekanntmachung des Bundesrats hom 23. Januar 190 in 2643 Gast. und Schankwirtschaften 5392 Revisionen ausgeführt; ferner wurden 2237 (2778) Besichtigungen von eineren Betrieben vorgenommen.

Die Amts zimmer der Berliner Gewerbeaufsichtsbeamten wurden m Berichtsjahr von 2455 (1902) Arbeitgebern und von 210 (180) Irbeitern auf gesucht. Die Zunahme der Besuche der Arbeit“ eber ist auf das Inkrafttreten der Konfektionsordnung vom 17. Fe— ruar 1904 und auf, die erheblich gebesserte Lage der Industrie zurlck⸗ führen. Der Bericht führt aus, daß, während bei den Leitern der oßen und mittleren Betriebe jetzt im allgemeinen ein durchaus entgegen. bmmendes Verhalten gegenüber den Wuͤnschen der Gewerbeinspektoren itestellt werden könne, dieses bei den kleineren Unternehmen och oft zu vermissen sei. Immerhin sei eine wesentliche Besserung stzustellen, insbesondere hätten die zahlreichen Bäcker- und Fleischer— heister eingesehen, daß ein durchgreifender Wandel in ihren oft noch recht angelhaften Betriebsstätten habe eintreten müssen. Von den rbeitern, die tagsüber an ihre Arbeitsstätten gebunden sind, wird Er schriftliche Verkehr vorgezogen. Aus ihren Kreisen sind auf ver— hiedenen Wegen 6423 (416 Beschwerden eingegangen. In Arbeiter⸗ . haben die Gewerbeaufsichtsbeamten 13 (13) Vorträge ge— Ulten. Die Zahl der im Aufsichtsbezirk beschäftigten Kinder ist von s im Vorjahre auf 48 im Berichtsjahre gesunken; der Be⸗ cht führt diese Erscheinung mittelbar auf das Kinderschutz— etz vom 39. März 1903 zurück, insofern als anzunehmen daß durch dieses Gesetz auf die Schäden der Kinderbeschäftigung ehr als bisher aufmerksam gemacht sei. Andererseits habe das ge⸗ mnte Gesetz die unerwartete Wirkung gehabt, daß häufig schul— ichtige Kinder, im Besitz von Arbeitskarten, in Fabriken und gleich— tellten Anlagen als Laufburschen und mädchen im guten Glauben genommen und beschäftigt sind, bis ihre Enilassung durch die Auf htebeamten veranlaßt wurde. Im übrigen ist die gewerbliche itigkeit von Kindern in Werkstätten wenig verbreitet, jedenfalls sher nur in wenigen Fällen, z. B. im Tütenkleben, zur Kenntnis Behörden gelangt; dagegen muß nach gelegentlichen Auskünften n Fabrikanten f Hoff werden, daß schulpflichtige Kinder häufig ibren Eltern in deren Wohnung mlt gewerblichen liten beschäftigt werden, wo eine Kontrolle durch die Ge⸗ beaufsichtsbeam en und durch die Pollzei nicht möglich Der Beaufsichtigung zugänglicher ist die noch ziemlich breitete Beschäftigung der Kinder beim Austragen von Backwaren, * und Zeitungen, das nach § 8 Abs. 2 des genannten Gesetzes der höhtren Verwaltungsbehörde bis zum 21. Dezember 19604 von Ubt Morgens ab für die Dauer einer Stunde vor dem Vor taggunterricht zugelafsen war. Nach dem Erlöschen dieser Äus— ne suchen viele Eltern die Weiterbeschäftigung ihrer Kinder vor br Morgens nunmehr dadurch zu ermöglichen, daß sie der Polizei⸗ ide ihre eigene Beschäftigung mit dergleichen Arbeiten anmelden, uich sie das Recht zu erlangen glauben, fich von ihren Kindern kbig helfen oder vertreten zu lass.n. Dieser irrigen Auffassung bon den Aufsichtsorganen energisch entgegengetreten werden. Die nen, die wegen Uebertretung des Reichsgesetzes (30. März 1963) . Polizeiverordnung (21. Dezember 1899), betreffend die ge⸗ liche Kinderbeschäftigung häufig in Höhe von 1 big 6M verhängt en mußten, betrafen besonders häufig Bäckermeister, die Kinder G llhr früh zum Austragen von Backwaren benutzten. Sie 8 der Zahl der jugendlichen Arbeiter (von his 16 Jahren) von 14 119 auf i5 1bg, also um 7,3 v. S., rührt biegend von der Einbeziehung der Putzmachereien und Maß— ldereien für Frauen., und Kinderbekleidung in den Kreis der ufsichtigten her; nur zum geringen Teil von der vermehrten Be— ang Jugendlicher in der Industrie, die nur in der Metall. eitung und Maschinenindusfrie zu beobachten war, wo sse durch anhaltende Sireilg befördert wurde. Mehrfach wurde von den Jäerbeaufsichteßeamten nich tan gemessene Befchäftigung jugend seärbeiter angetroffen und 3 so in einem großen Elektrizitäts. ie Tätigkeit in einer noch mangelhaft eingerichteten Metallbrenne, in anderen Betrieben der Trangport schwerer Gegenstände, in einer tal 12 stündige tägliche Arbeit als Mitfahrer und in einigen eben die Bedienung gefährlicher Arbeitsmaschinen.

Aufmerksamkelt gewidmet. In mehreren Fällen wurde die Zahl der Lehrlinge herabgesetzr. Dem Inhaber einer mechanischen Werkstätte wurde die weitere Haltung von Lehrlingen untersagt, weil er sich Mißbandlungen von Lehrlingen hatte zu schulden kommen lassen und weil er wegen derartiger Ausschreitungen bereitg wiederholt bestraft war. Eine Beschwerde dieses Unternehmers beim Berirksausschuß hat aber den Erfolg gehabt, daß ihm die Befugnis zum Halten von Lehrlingen nur auf zwei Jahre entzogen wurde. Einen günstigen Einfluß auf die Ausbildung der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter erwartet der Bericht von der beschlossen Bestimmung des Berliner Magistrats, gemäß der a LLe mannlichen Arbeiter unter 15 Jahren zum' Befuch der Fortbildungsschulen verpflichtet sind.

Das Anwachsen der Zahf der erwachsenen Arbeiterinnen von 78 160 auf 88 796 ist (ahnlich wie die Steigerung der Zahl der jugendlichen Arbeiter) in erster Linie und vornehmlich als eine Folge der Ausdehnung der S§5 1385 bis 139 und 1396 der Gewerbeordnung auf Pie Putzmachereien und Maßschneldereien der Frauen und Kinder⸗ bekleidung anzusprechen; nur zum kleinen Teil beruht sie auf tatsächlicher Nehreinstellung von Arbeiterinnen. Hierzu ist zu bemerken, daß in 120 Betrieben festgestellt wurde, daß noch zablreiche Heimarberterinnen stundenweise in Konfektionswerkftätten arbeiten, aber nicht als Werkflatten. arbeiterinnen gemeldet sind; die Zahl der letzteren wäre bei richtiger Meldung also noch höher ausgefallen, als sis angegeben wurde. Eine wirkliche, betrachtliche Zunahme der Arbeiterinnen weisen nur die Metall⸗ hearbeitung (390), die Maschsnenindustrie (279), die Lederindustrie (cdl), die Nahrungemittelindustrie (14) und die polygraphischen Gewerbe H28) auf; in den meisten Fällen ist die Ursache für diese Zunahme in, der besseren allgemeinen Geschäftslage zu suchen. Eine wefentfiche Abnahme der Arbeiterinnen zeigte allein die Papierindustrie. Ausnahmen von den gesetzlichen Bestimmungen über die Beschäftigung der Arheiterinnen wurden in 160 Fällen gewährt. Die Zunahme dieser Bewilligungen beweist die weitere Verbreitung der sogenannten englischen Arbeitszeit von kürzerer Dauer (8 bis 9 Stunden) und mit kleineren Pausen.

Die Einführung der neuen Bestimmungen und Verordnungen vom 17. Februar 1904, betr. die Ausdehnung der §§ 135 bis 139 und 1389 der Gewerbeordnung auf die Konfektions« werkstätten, Maßschneidereien für Frauen- und Kinder— bekleidung und Putzmachereien, hat, wie der Bericht hervor—

bebt, einige Schwierigkeiten bereitet, weil den Vorschriften nicht überall das nötige Interesse und Verständnis entgegen— gebracht wurde, und es auch nötig war von festgewurzelten

Gewohnheiten abzuweichen. So sahen sich Inhaberinnen von Putz= stuben gezwungen, ihre jugendlichen Arbeiterinnen zu entlassen und durch erwachsene zu ersetzen, weil nur diese zu häufigen Ueberarbesten herangezogen werden duͤrfen. Ferner mußte den häufigen Verfuchen entgegengetreten werden, Putzmacherinnen als Verkäuferinnen an— zusehen und nach Bedürfnis bald als gewerbliche Arbeiterinnen, bald als Handelsgehilfinnen zu beschäftigen, ohne die für erstere vor— geschriebenen Arbeitszeiten innezuhalten. Die in den in Rede stehenden Betrieben beschäftigten Arbeiterinnen ihrerseits befanden sich nfter, durch eine in der Arbeiterpresse und in Versammlungen verbreitete irrige Auffassung verleitet, in dem falschen Glauben, daß sie nunmehr unbedingten Anspruch auf frühzeitigere Entlassung an den Vorabenden der Sonn⸗ und Festtage hätten, und beschwerten sich vielfach über die ihnen zugemutete und vermeintlich ungesetzliche Ueberarbeit. In manchen Betrieben hat man es versucht, die Beschränkung der Arbests⸗ zeit dadurch zu umgehen, daß man einfache gewerbliche Arbeiterinnen Zuschneiderinnen, Durchseherinnen usw.) als Direktricen bezeichnete und sie wie Betriebe beamte, Werkmeister u. dgl. über die für Fabrikarbeiterinnen zulässige Zeit hinaus beschäftigte. Die sem Mißbrauch wurde in allen jur Kenntnis gelangten Fällen gesteuert. Für die weibliche Körperkonstitution als ungeeignet wurde die Beschäftigung von Frauen an schweren Heftmaschinen, das Tragen schwerer Säcke in Lumpensortieranstalten u. dgl. erklärt. In Kon- fektionswerkstätten finden sich die Arbeitsstätten nicht selten in Wohn⸗ und Schlafräumen; es wurde darauf hingewirkt, wenigstens die Betten aus den Arbeitsräumen zu entfernen. Den Forderungen der Kleider ablagen und Speisewärmvorrichtungen für die Arbeiterinnen kommen die Besitzer älterer Fabriken oft nur ungern oder auch garnicht nach. In einem gerichtlichen Strafverfahren wurden die Inhaber einer bedeuten den Konfektionsfirma, die sich beharrlich weigerten, einer polizeilichen Verfügung zur Beschaffung geeigneter Garderoben und Waschgelegenheiten für ihre Arbeiterinnen zu entsprechen, in letzter Instanz vom Kammergericht zu 50 MS Geldstrafe verurteilt. . Aeber unsittliches Verhalten von Werkmeistern gegen die ihnen unterstellten Arbeiterinnen wurden mehiere Beschwerden geführt; die eingeleiteten Untersuchungen boten aber nur in einem Falle genügende Anhaltspunkte zur strafrechtlichen Verfolgung.

Zur Arbeiterbewegung.

In Cöln wurden, der „Köln. Itg.“ zufolge, gestern zwischen den Vertretern des Verbandes der rheinisch-westfälischen Brauereien und den Vertretern der organisierten Arbeiter Verhandlungen über die Beilegung des Kampfes geführt. (Vgl. Nr. 1473 d. Bl.) Die Verhandlungen dauerten von Mittag bis spät abends, führten aber noch nicht zu einer endgültigen Entscheidung. Es sei aber, fügt das Blatt hinzu, eine bedeutende Annäherung jwischen den beiden Parteien zu verzeichnen, und es bestehe die begründete hoff ung, daß der Bierboykott in den nächsten Tagen aufgehoben werde.

Zur Lohnbewegung der Hafenarbeiter in Emden (bgl. Nr. 149 d. Bl.) erfährt die „Rh. Westf. Ztg.“, daß einige Unter nehmer die Forde rungen der Arbeiter erfüllten; die größten Reeder⸗ firmen widerstreben dagegen. Sechs große Frachtdampfer warten auf Entlöschung.

Zur Aussperrung der baverischen Metallarbeiter (vgl. Nr. 49 d. Bl) meldet die Köln. Ztg.“ daß die rheinisch-west⸗ fälischen Werke des Maschinenbaues sowie der Eisen« und Stahlindustrie keinen Arbeiter einstellen werden, der von den bayerischen Werken infolge der bekannten Vorgänge aus— gesperrt sei.

Kunst und Wissenschaft.

A.- E. In, der Junisitzung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie wurde ein Brief des Professors Dörpfeld. Athen perlesen, in dem er die deutschen Anthropologen um sorgfältige Unter. suchung von Fall zu Fall bittet, ob die in sogenannten Hockergräbern sich findenden menschlichen Skelette nicht auch erkennen lassen, daß die Leichen vor ihrer Bestattung einem Dörr- oder Röstverfahren unter— worfen worden sind. Dörpfeld vermutet nämlich, wie aus seinen Mitteilungen im interngtionalen Kongreß für Archäologie bekannt ist, zunächst aus philologischen Gründen (weil das bisher mit „verbrennen! übersetzte griechische Wort genauer durch brennen. oder ‚dörren' wiederzugeben istf;, daß die Griechen ihre Toten nicht verbrannten, sondern nur durch Feuer dörrten, und hat neuerdings durch in Rostock ausgeführte chemische Untersuchung zweifellos altgriechischer Menschenknochen festgestellt, daß solche in der Tat einem Prozeß unterzogen worden sind, der kein Verbrennen, sondern bestenfalls ein Dörren oder Rösten gewesen sein kann, Es entsteht nun die fernere Vermutung, daß auch bei denjenigen Indo⸗ germanen, die gleich den Kelten (während der Zeit, wo sie Mittel⸗ und Süddeutschland bewohnten) ihre Toten nicht verbrannten, sondern in hockender Stellung begruben, die gleiche Sitte herrschte, und es ist jedenfalls von großem Interesse, dieser Frage durch die chemische Untersuchung der gefundenen Gebeine auf den Grund zu gehen. Professor Dr. Schwe in furth legte neue Eolithe vor, die er in der Nähe bon Theben (Oberägypten) in beträchtlicher Zahl ,. hat und die nach übereinstimmender ungefährer Größe und

schleifung der Flächen bis zu nahezu Kugelgestalt sich als handliche

undi betr. Zahlen für das Jahr 1903 sind in Klammern

Der sachgemäßen Ausbildung der Lehrlinge wurde weitere

lichem Wege, wie es bei minder festem Steingeröll sich häufig findet

erscheint bel Feuerstein ausgeschlossen, auch deuten die übereinstimmenden kleinen polygonalen Begrenzungeflächen, von deren Winkeln stern⸗

förmig nach allen Richtungen schmale Risse oder Falten verlaufen, auf

Bearbeitung durch Menschenhand. Es bleibt indessen rätselhaft, wie diese erfolgt sein kann. Nicht fern dem Fundort wurde eine

Stelle im Gebirge entdeckt, die nach der Menge und Art der sich vorfindenden Feuersteinartefakte eine paläolithische Werkstatt gewesen zu sein scheint. Professor Dr. von Luschan, der in allernächster Zeit Berlin verläßt, um auf Wunsch der British Association for the advancement of sciences in Kapstadt Vorträge zu halten. legte neben einer großen Anzahl Photographien von Armenien Gipsabgüsse von Reliefporträts aus Sendschirli vor, um durch den Vergleich davon zu Überzeugen, daß sich eine unverkennbare Aehnlichkeit ergibt zwischen ersteren und den vor—

semitischen Bewohnern Vorderasiens und Syriens im 33. oder

14. Jahrhundert vor Chr, die von jenen Reliefbildern dargestellt werden. Die Aehnlichkeit erscheint in manchen ir fr er frappant, besonders in den extrem hohen und kurzen Köpfen und der Nasenform. Derselbe Vortragende machte ferner durch Vorlage verschiedener Menschenschädel auf einen bisher wenig beachteten, wenn auch bekannten kleinen Schãdel⸗ knochen aufmerksam, der erst bei einem unter 1000 Schädeln so deutlich sichtbar ist wie an den vorgelegten, auf ein kleines Knötchen oder Höckerchen nämlich, das sich immer oberhalb und hinter dem aͤußeren Gehörgang findet und stets mit einer kleinen Grube dahinter korrespondiert. Man ist erst durch die Untersuchung peruanischer Schädel zu der Wahrnehmung gelangt, daß es sich hier um einen besonderen Schädelteil handelt, um eine getrennte Knochenschuppe als das Element, aus dem jenes Höckerchen sich entwickelt. Bse Beobachtung ist von großem Interesse als ein Beweis mehr für die Entwicklung des Schädels der höheren Tiere zu immer größerer Einheitlichkeit der Bildung. Was am Schädel des Krokodils sich noch deutlich in ver— schiedene Teile sondert, ist bis zur höchsten Entwicklung am Menschen— schädel bereits so fest und organisch miteinander verbünden, daß nur selten noch sich der Nachweis früherer Sonderentwicklung führen läßt, wie im vorliegenden Falle.

Professor von Luschan stellte hierauf das Skelett eines männlichen rhachitischen Schimpansen vor, dessen Lebensgeschichte ziemlich genau bekannt ist, da das in der Gefangenschaft geborene Tier 8 Jahre 2 Monate alt geworden und während seiner letzten 5 oder 6 Jahre im Dresdener zoologischen Garten Gegenstand der Beobachtung gewefen ist. Der Vergleich mit dem daneben gestellten Skelett eines normal ge— bildeten Schimpansen ergab recht merkwürdige Verschiedenheiten, namentlich der Kopfform und -größe, welche bei dem mit kol ossal dicken Scheitelbeinen ausgestatteten rhachitischen Schimpansen von monströser Ausdehnung war; Gehirngewicht 970g gegen 356 bei un— gesah, gie ge i, 6 ö

Dr. O. Solberg berichtete nach eigenen Beobachtungen und

Erfahrungen über Gebräuche der Mittel mesa n ö gebung, Heirat und Tod. Dieser Indianerstamm gehört der am Tolorado heimischen Gruppe der Moqui, Indianer an und bewohnt in dem terrassenartig aufsteigenden Hochland die oberste Stufe, ein ziemlich trockenes und unfruchtbares Gebiet. Seine Abgeschiedenbeit hat seltsame Gebräuche entstehen lassen und bis heute erhalten. Die Namengebung der Neugeborenen findet stets vor Sonnenaufgang unter mannigfaltigen Zeremonien statt und schließt immer mit dem Augen⸗

lick des Sonnenaufgangs durch eine Begrüßung des lichtfpendenden

Gestirns und dessen Anrufung zu Gunsten des Neugeborenen. Kenn— zeichnend für den Sinn des Volks ist seine Vorliebe für allerhand Mummenschanz. Ohne Maskerade und öffentliche Aufzüge geht es bei keiner Heirat, selbst bei keinem Todesfall ab, und da alle Dorf⸗ insassen an jedem solchen Anlaß eifrig teilnehmen, ist diese Art an Volksbelustigung fast in Permanenz erklärt. Wunderlich ist beispiels⸗ weise, daß bei jeder Hochzeit ein Kampf zwischen dem Vater des jungen Ehemannes und sämtlichen alten Frauen des Dorfes statt— findet, ein Kampf, der mit nassen Lehmklößen geführt wird, womit man sich gegenseitig bewirft oder beschmutzt. Natürlich endet der ungleiche Kampf immer mit der Niederlage des Schwiegervaters der Braut, aber selten früher, als bis man ihm alle Kleider vom Leibe gerissen und ihm das Gesicht so mit Lehm perkleistert hat, daß er nicht mehr aus den Augen sehen kann. Dr. Solberg bewies an einer großen Anzahl vorgeführter Lichtbilder, in welcher jeder Beschrei⸗ bung spottenden, grotesten Art diese Maskeraden stattfinden. Die bei Herstellung der Masken bewährte erfinderische Fertigkeit übertrifft . was man von ähnlichen Leistungen bei anderen Naturbölkern ennt.

Zum Schluß sprach Dr. Träger unter Vorzeigung vieler Licht⸗ bilder über die Troglodyten des Matmata in Südtunis. Ein anstrengender Ritt brachte den Vortragenden von der Küste land einwärts nach dem 600 m über dem Meere gelegenen Matmata. Es war Dr. Träger gesagt worden, er werde dort einen von 1200 Ein— wohnern. Berbern oder Kabylen bewohnten Ort und etwa 200 Wohnhäuser finden, auch war er vorbereitet auf eine ganz un—⸗ gewöhnliche Herstellungsart dieser Wohnungen; dennoch wirkte der Anblick auf ihn als eine große Ueberraschung. Denn von den erwarteten 200 sah er nur ein Haus, die massiv erbaute Wohnung des französischen Militärgouverneurs; alle übrigen Wohnungen bestanden in Brunnen von meist kreisrundem Querschnitt, 18 m Burchmesser und 10— 15 m Tiefe, die unter Benutzung des eine Menge kleiner Hügel bildenden Terrains in einem steinharten, mit Sand bedeckten Lehm angelegt worden waren. Erst wenn man die etwa 20 m betragende

Böschung eines solchen Sandhügels erstiegen, sah man sich am Rande des Brunnenschachtes und in der trockenen Tiefe desselben das Treiben vieler Menschen, namentlich Kind nn,

die in dem Lichthof ihren Tummelplatz hatten, während die großen Erdhöhlen gleichenden Wohnungen, zuweilen 2 bis 3 Etagen, sich ringsum in den Lehm eingebohrt zeigten, der so sest steht wie Mauerwerk und daher nur in seltenen Fallen durch solches befestigt ist. Den Zugang zur Brunnensohle bildet ein Gang, der vom Fuß des Hügels radial in diesen hereingeführt ist. Blickt man auf diese sonderbare Stadt von oben, so stellt sie sich nur als eine große An= zahl runder Erdöffnungen dar, und selten sieht man Menschen sich außerhalb bewegen, da ihre gegenseitigen Beziehungen sich besser im kühlen Innern ihrer Wohnungen, als in der brennenden Sonne der Oberwelt abwickeln. Die Rücksicht auf das Kühlwohnen im Sommer und das Warmwohnen im Winter, dessen Regen nicht übermäßig unbequem werden und selten mehr bewirken als eine vorübergehende kleine Wassersnot am Grunde der Brunnen, hat wohl im wesentlichen diese Art, die Wohnungen anzulegen, hervor gerufen und ist maßgebend für ihre Beibehaltung. Früher mögen auch Verteidigungsrücksichten maßgebend gewesen sein: denn unter diesem Gesichtspunkte sind auch die in,, der benachbarten Stämme angelegt, gleichfalls aus Lehm, aber über der Erde und aus langen, nur bon einer Seite zu betretenden tunnelartigen Gebäuden be⸗ stehend, deren häufig drei übereinander und viele Wand an Wand nebeneinander gebaut sind, sodaß sie eine Art Burgwall bilden mit Oeffnungen nur nach dem gemeinschaftlichen Hofe. Jedenfalls sind auch ki andere Art Wohnungen höchst merkwürdig. Man würde indessen fehlgehen, wollte man annehmen, daß die Erdwohnungen der Matmata allen und jeden Komfort ausschlössen. Dr. Träger betrat eine Wohnung, die sogar den Eindruck der Behaglichkeit machte und in der u. a. ein kostbares Bett auf steinernen Füßen stand. Die Be⸗ wohner der Matmata sind noch unverfälschte Berber; aber es scheint, daß ihre Sprache im Aussterben und der vollständige Ueber⸗ gang zum Arabertum in naher Aussicht ist.

Eine Kaiser Joseph⸗Ausstellung' im Nordböhm ischen Gewerbemuseum in Reichenberg wurde kürzlich eröffnet. Sie verdient, wie das „Zentralblatt der Bauverwaltung“ mitteilt, sowohl vom kultur⸗ und kunstgeschichtlichen, als auch vom nationalen Standpunkte die weiteste Beachtung. Dank der Teilnahme der Museen von Braunschweig. Dresden, Görlitz, Innsbruck, Leipa, Linz, Prag und Wien sowie zahlreicher rival err ist es

Wurfkörper ' kennzeichnen. Ein Abschleifen und Abrunden auf natür⸗

Dr. Pazaurek, dem Leiter des Museums, möglich geworden, eine sehr