stãndigkeitsgelüsten unserer polnischen Staatsbürger fürchteten. Das eine war eine ebenso alberne Erfindung wie das andere. (Zuruf bei den Polen) Wie sich die russischen Verhältnisse weiter ent⸗ wickeln, was in Rußland weiter vor sich geht, ist lediglich Sache der Russen. Das versteht sich von selbst, daß wir ein Uebergreifen der Unruhen auf unser Gebiet nicht dulden werden. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen, in der Mitte und rechts.) Bei uns werden wir die Ordnung aufrecht zu erhalten wissen, darauf verlassen Sie sich. (Lebhaftes Bravo ]) .
Meine Herren, was nun die Marokkofrage angeht, so kann ich Ihnen in dieser Beziehung keine neuen Tatsachen vorführen. Ich kann auch nicht alles sagen, was die Akten enthalten. Es erscheint mir aber durchaus angemessen und berechtigt, daß die Vertretung des deutschen Volkes weiß, wie der verantwortliche Leiter unserer auswärtigen Politik zu einer Frage steht, die über ihren unmittelbaren materiellen Wert hinaus die inter⸗ nationale Stellung des Reichs berührt und ernste Schwierigkeiten geschaffen hat. Ich glaube, das geschieht am besten, indem ich Ihnen in ganz einfachen Linien ein Bild der Entwicklung dieser Frage gebe.
Es ist Ihnen bekannt, daß Deutschland schon jur Zeit der Madrider Konferenz, also vor 26 Jahren, in Marokko keine Sonder⸗ vorteile suchte, sondern, wie damals alle übrigen Mächte, eine ruhige und unabhängige Entwicklung des scherifischen Reichs begünstigte. Indem wir an diesem Standpunkt festhielten, konnte eine deutsche Aktion wegen Marokko nur defensiver, nicht aggressiver Natur sein. Also keine territorialen Erwerbungen in Marokko, wohl aber Achtung vor den bestehenden Verträgen, Achtung unserer politischen Stellung zu Marokko als einem unabhängigen Staat, Achtung unserer wirt⸗ schaftlichen Gleichberechtigung in Marokko.
Nun hatten Anfang April vergangenen Jahres England und Frankreich wegen überseeischer Fragen ein Abkommen mit einander geschlossen. In bezug auf Marokko bedeutete dieses Abkommen eine Desinteressierung Englands zu Gunsten Frankreichs. England ver⸗ pflichtete sich durch dieses Abkommen, Frankreich in Marokko freie Hand zu lassen. Selbstverständlich haben wir niemals der englischen Regierung das Recht bestritten, ebensowenig wie später der spanischen, über die marokkanischen Interessen ihrer Untertanen nach Gutdünken zu verfügen. Aber deutsche Rechte konnten durch ein englisch · französisches Abkommen nicht aufgehoben werden. (Sehr richtig! bei den Liberalen, in der Mitte und rechts Diese unsere Rechte ergaben sich aus der zwischen den größeren europäischen Staaten, den Vereinigten Staaten von Amerika und Marokko am 3. Juli 1880 zu Madrid abgeschlossenen Konvention und aus dem deutsch⸗ marokkanischen Handelsvertrag vom 1. Juni 1890. Haupt⸗ sächlich kam der Artikel 17 der Madrider Konvention in Betracht, durch welchen Marokko allen auf der Madrider Konferenz vertretenen Mächten das Recht der Behandlung als meistbegünstigte Nation eingeräumt hat. Wenn also Frankreich auf Grund des französisch· englischen Abkommens in Marokko Sonderrechte erwerben wollte, welche mit dem Meistbegünstigungsrecht der anderen Staaten in Widerspruch stehen, so hatte es nicht nur die Zustimmung von Marokko, sondern auch diejenige der übrigen Signatarmächte einzu⸗
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err. Re. wert eg aninfffe in Marokko mit gehört zu werden. (Sehr richtig) Unsere Handelsinteressen in Marokko sind zu erheblich, als daß wir eine Entwicklung der Dinge hätten zu⸗ lassen können, an deren Ende die vollständige Abschließung von Ma⸗ rokko stand. Wir haben ein erhebliches Interesse daran, daß die noch freien Gebiete in der Welt nicht noch weiter eingeschränkt werden (lebhafter Beifall, und daß der Betätigung unserer Industrie und der Ausbreitung unseres Handels in einem kommerziell wichtigen und vikunftsreichen Lande die Wege nicht verschlossen werden. Und wenn gesagt worden ist, diese unsere Handel sinteressen wären nicht erheblich genug, um eine ernsthafte Ver⸗ tretung zu rechtfertigen, so erwidere ich darauf, daß jedes Land das Recht hat, selbst zu entscheiden, wie hoch es den Wert solcher seiner Interessen schätzen will. (Lebhafte Zustimmung.) Jedenfalls trifft das „minima non curat praetor“ nicht auf Angelegenheiten zu, bei denen das Vertragsrecht und das Ansehen eines Landes in Frage kommen.
Meine Herren, ich hätte lebhaft gewünscht, daß die Ver⸗ ständigung mit Frankreich über die Vereinigung unserer vertrags⸗ mäßigen Rechte in Marokko mit dem französisch⸗englischen Abkommen sich rasch, glatt und geräuschlos vollzogen hätte. Von diesem Wunsche geleitet, habe ich mich vor diesem hohen Hause bald nach dem Ab⸗ schluß des englischfranzösischen Abkommens über Marokko in ent- gegenkommender und versöhnlicher Weise ausgesprochen. Ich hob damals hervor, wir brauchten bis auf weiteres nicht anzunehmen, daß unsere Interessen und Rechte in Marokko verletzt werden würden. Ich be⸗ tonte, wir hätten keinen Grund, a priori zu glauben, daß dem eng⸗ lisch⸗französischen Ablommen eine Spitze gegen uns gegeben werden solle. Die Andeutung, welche in diesen Worten lag, war, wie ich glaube, verständlich; sie war jedenfalls voller Courtoisie. Meine Er⸗ wartung, daß die andere Seite, bevor sie an die Verwirklichung ihrer Pläne in Marokko ging, an uns herantreten und sich mit uns verständigen würde, hat sich jedoch nicht erfüllt. (Hört, hörth Man machte uns keine, jedenfalls keine ernsthafte und ausreichende Mitteilung über das Abkommen. Ein Teil der französischen Presse war bemüht, dem Abkommen eine Spitze gegen Deutschland zu geben. Auch sonst trat die Tendenz hervor, uns Schwierigkeiten in den Weg zu legen.
Meine Herren, der Minister, der die Verantwortung, die schwere Verantwortung trägt für die Sicherheit und den Frieden eines großen Landes, darf sich nicht einschläfern oder düpieren lassen; er soll aber auch nicht vorzeitig die Nerven verlieren, sondern abwarten und schweigen können, bis sich die Situation in der einen oder anderen Richtung geklärt hat.
Dieser Augenblick kam, als die französische Regierung sich an= schickte, ohne weitere Erklärung, ohne Anfrage bei uns aus dem Ab⸗ kommen mit Marokko die weitestgehenden Konsequenzen zu ziehen. Zu diesem Zwecke wurde der französische Gesandte Herr! St. Rens Taillandier nach Fez geschickt, welcher der marokkanischen Regierung Vorschläge unterbreitete, deren Annahme Marokko in eine ähnliche Lage gebracht haben würde wie Tunis. Diese Vorschläge wurden in Formen gestellt, die als Ultimatum gelten konnten. Indem sie uns hiervon in Kenntnis setzte, teilte die marokkanische Regierung uns
gleichzeitig mit, der französische Gesandte habe sich zur Unterstũtzung seiner Forderungen auf ein europäisches Mandat berufen. Damit waren unsere vertragsmäßigen Rechte aus der Madrider Konvention offenkundig verletzt, die durch internationale Verträge verbürgte Souveränität von Marokko in Frage gestellt, unsere wirtschaftlichen Interessen in Marokko in absehbarer Zeit mit Vernichtung bedroht. Die verschiedenen Phasen der langwierigen diplomatischen Kampagne, die sich seitdem abgespielt hat, will ich nicht im einzelnen rekapitulieren. Die Gesichtspunkte, die für uns während dieser mehrmonatlichen Verhandlungen leitend waren, sind in einem Erlaß zusammengefaßt, den ich am 11. April d. J. an den Kaiserlichen Botschafter in London gerichtet habe, den ich vor diesem hohen Hause verlesen will:
„Obwohl ich aus Euerer Exzellenz Berichterstattung entnehme, daß die öffentliche Meinung in England einer sachlichen Würdigung marokkanischer Angelegenheiten und insbesondere unserer Marokko⸗ Politik wenig zugänglich ist, möchte ich doch nicht unterlassen, Sie über die Hauptgesichtspunkte dieser letzteren zu orientieren.
In dem englisch ⸗französischen Abkommen ist die Erhaltung des status quo ausdrücklich vorgesehen. Wir waren daher berechtigt, anzunehmen, daß, falls im Laufe der Zeit Neuerungen eingeführt werden sollten, welche geeignet wären, die Interessen der Fremden zu berühren, Deutschland zu denjenigen Staaten gehören würde, mit welchen man deswegen in Verhandlung treten werde. Hiervon ausgehend, traten wir aus der Beobachterrolle nicht heraus bis zu dem Augenblick, wo die marokkanische Regierung unsern Vertreter in Tanger fragen ließ, ob wirklich der französische Gesandte, wie er das vor dem Machsen erklärt habe, Mandatar der europãischen Mächte sei. Ungefähr gleichzeitig damit erfuhren wir, daß das von dem Gesandten zur Annahme vorgelegte Programm Forderungen enthalte, welche mit dem status quo unvereinbar sind. Um jeden Zweifel an den Endabsichken der französischen Regierung zu be⸗ seitigen, machten einige inspirierte Organe der großen Pariser Presse Stimmung für den Gedanken, daß Marokko zu Frankreich in das gleiche Verhältnis wie Tunis zu bringen sei.
Wir stehen auf dem Standpunkte, daß diesem französischen Vorhaben die völkerrechtliche Grundlage fehlt, und daß dadurch die Interessen aller derjenigen Staaten beeintrãchtigt werden, welche bei den früheren marokkanischen Konferenzen mitberaten haben und jetzt nicht von Frankreich gefragt worden sind. Der Einwand offiziöser französischer Blätter, daß es sich bei den früheren Konferenzen nicht um eine politische Aenderung, sondern lediglich um die Regelung privatrechtlicher Interessenfragen gehandelt habe, ist rabulistisch und nicht stichhaltig. Denn eine Aenderung, wie die Tunifikation von Marokko, welche darauf hinausläuft, das nicht französische Element nach dem Vorgange von Tunis gänzlich aus dem marokkanischen Geschäftsleben zu ver⸗ drängen, berührt selbstverständlich die fremden Privatinteressen in ihrer Gesamtheit. Eine Befragung der Vertragsstaaten ist daher nicht zu vermeiden, sofern Frankreich nicht den Rechtsboden ver⸗ lassen und lediglich die Machtfrage stellen will.
Was England und auch Spanien angeht, so bestreiten wir keiner der beiden Regierungen das Recht, über die marokkanischen Interessen ihrer Untertanen für Gegenwart und Zukunft nach Gut⸗ dünken zu verfügen. Wir glauben aber nicht, daß eine der beiden
. No n tig über die Interessen der Ange⸗ hörigen der e d ed, taaten, j. 8 über ö. VDeutschen zu
disponieren. Diese unsere Annahme wird gestützt durch den Ar⸗ tikel des englisch⸗französischen Vertrags, wo die Erhaltung des status quo ausdrücklich vorgesehen ist.
Es werden jetzt in der englischen Presse große Anstrengungen gemacht, um, wie dies übrigens schon seit Jahren gebräuchlich ist, der deutschen Politik allerlei düstere Pläne unterzu— schieben. Auf unsere Lage paßt der Spruch: Cet animal est très méchant, quand on Pattaque il se dèfend. Wir treten für unsere Interessen ein, über welche, anscheinend ohne unsere vertrags⸗ gemäße Zustimmung, verfügt werden soll. Die Bedeutung der Interessen ist dabei Nebensache. Derjenige, welchem Geld aus der Tasche genommen werden soll, wird sich immer nach Möglichkeit wehren, gleichviel, ob es sich um 5 Mark oder um 500d handelt. (Zuruf und Heiterkeit) Daß wir wirtschaftliche Interessen in Marokko haben, bedarf keines Beweises. Wenn wir dieselben still⸗ schweigend preisgeben, so ermuntern wir damit die zuschauende Welt zu ähnlichen Rücksichtslosigkeiten gegen uns bei anderen vielleicht größeren Fragen. (Sehr richtig!) Euere Exzellenz werden also, da wo Sie eine Besprechung der Marokkopolitik für angezeigt halten, sagen können, daß Deutschland in Marokko für die Interessen seiner Reichsangehörigen eintritt, welche dort identisch sind mit den Interessen der Angehörigen aller übrigen Vertragsstaaten und mit der Erhaltung der offenen Tür. Ferner, daß Deutschland nicht die Absicht hat, bei diesem Anlaß durch Sonderverhandlungen sich Sondervorteile, welcher Art es auch sei, in Marokko oder anderswo zu verschaffen. (Lebhafter Beifall.)
Meine Herren, in Uebereinstimmung mit diesem Gesichtspunkte
haben wir von dem Augenblicke an, wo die Marokkofrage, nicht durch unsere Schuld, in ein akutes Stadium getreten war, eine neue Konferenz der Madrider Konferenzstaaten als den sichersten Weg zu einer friedlichen Lösung des entstandenen Interessenkonflikts angesehen. Wir haben also in dieser Frage von Anfang an einen klaren Rechts— standpunkt eingenommen und festgehalten. Dieser Rechtsstandpunkt schloß die Anerkennung der besonderen Stellung in sich ein, die Frankreich als algerischer Grenznachbar einnimmt, wie seiner Rechte aus seinen früheren Verträgen, mußte aber gegenüber einer unberechtigten und gefährlichen Ignorierungs— politik um so entschiedener zur Geltung gebracht werden. (Lebhaftes Bravo rechts, in der Mitte und links.)
Die französische Regierung hat nunmehr den Konferenzgedanken angenommen, sich mit uns über das Konferenzprogramm verständigt, und die anderen Signatarmächte ebenso wie auch Rußland werden an der neuen Marokkokonferenz teilnehmen. Es versteht sich von selbst, daß wir auf dieser Konferenz das, was wir bisher für recht und billig gehalten haben, auch weiter vertreten und verteidigen werden. (Bravo!)
Meine Herren, darin sollen uns auch die von alter Feindschaft und Mißgunst unternommenen Versuche nicht beirren, der deutschen Politik falsche Beweggründe unterzuschieben, Mißtrauen zu säen und insbesondere die deutsche Friedensliebe zu verdächtigen. (Sehr guth)
Man hat uns nachgesagt, daß wir nach einem Anlaß suchten, um Über Frankreich herzufallen. Meine Herren, warum sollten wir
das? Aus Revanche? Wofür? Oder aus bloßer Rauflust? Das ist absurd. Dann hieß es wieder, wir wollten Frankreich zwingen, mit uns gegen England zu gehen. Das ist ebenso absurd. Alle diese und ähnliche Ausstreuungen, alle diese und ahnliche Lügen erklären sich nur daraus, daß feindselige Stimmungen gegen uns bestehen, gegen die wir auf der Hut sein müssen. (Sehr richtig! rechts, in der Mitte, bei den Nationalliberalen und Freisinnigen.)
Meine Herren, dieser Rückblick auf die Entwicklung der marokka⸗ nischen Angelegenheit soll mir nicht den Anlaß bieten, feierlich und in schönen Worten vor diesem hohen Hause, vor Europa, vor der Welt den friedlichen Grundzug unserer Politik zu versichern. Denn gerade unsere Haltung gegenüber der Marokkoangelegenheit, wie ich sie in großen Umrissen gezeichnet habe, beweist unanfechtbar, daß, wenn wir die deutschen Rechte und Interessen zu wahren bestrebt sind, wir doch auch materielle Schwierigkeiten und diplomatische Gegnerschaften ohne Mißachtung der Rechte anderer, ohne Provokation friedlich zu überwinden trachten. (Bravo) Indem wir das tun, sind wir ganz im Rahmen der deutschen traditionellen Politik, die seit der Erlangung unserer Einheit kein höheres Ziel und kein höheres Interesse gekannt hat, als die Kräfte innerer und äußerer Kultur zu entfalten und allezeit gegen die Schrecken des Krieges gerüstet zu sein. (Bravo) Wer das noch nicht erkannt hat, der will es nicht sehen, und da helfen auch rednerische Versicherungen nichts. (Lebhafter, anhaltender Beifall auf fast allen Seiten des Hauses.) z
Hierauf wird gegen 6 Uhr die Fortsetzung der Beratung auf Bonnerstag 1 Uhr vertagt.
Preufzischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 2. Sitzung vom 6. Dezember 1905, Vormitttags 11 Uhr. ((Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)
Ueber den Beginn der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden. : .
Auf der Tagesordnung stehen die Interpellation des Abg. Strosser (kon): . .
Ist der Herr Minister der öffentlichen Arbeiten in der Lage und bereit, Auskunft darüber zu erteilen: 1 wodurch nach den Er⸗ gebnissen der amtlichen Untersuchung das Eis enbahnun glũck hei Spremberg herbeigeführt ist und ob insonderheit die qi ft der Strecke in,, , als wesentliche Ursache des Un alls anzusehen ist, 2) welche aßnahmen seitens der Königlichen Staatzregierung getroffen sind, um ähnlichen Unfällen für die Zu⸗ kunft tunlichst vorzubeugen?“
und die Interpellation der Abgg. von Schenckendorff (nl), von Eichel (kons.) und Genossen:
„Die Unterzeichneten richten anläßlich des am 7. August d. J. stattgehabten großen Eisenbabnungläcks bei Sprem berg auf der Berlin⸗Görlitzer Eisenbahn die Anfrage an die Königliche Staatzregierung? I) Auf welche Umstände ist der Zusammenstoß der beiden Schnellzüge zurückzuführen? 2) Welche Maßnahmen hat die Königliche Staatsregierung im Interesse der größeren Betriebs sicherheit bereits getroffen, und welche Maßnahmen e. insbesondere beabfichtigt, um ähnlichen Vorkommnissen in Zu unft nach aller Tunlichkelt vorzubeugen?“ ö
Nach der Begründung der an erster Stelle erwähnten
Interpellation durch den Abg. Strosser (kons.) erhält das Wort
ĩ dorff (nl): den Interpellanten, die ba hee en 8 3 nn 2 , gehören auch die
A meinẽ sämtlichen Abgeordneten, die die hier in Frage kommenden Wahl kreise und auch die unglücklichen Opfer dieser Katastrophe vertreten. Das Spremberger Cisenbahnunglück hat eine noch größere Beunruhigung
in der Bevölkerung bervorgerufen als das Altenbekener, das mehr einer Verkettung unglücklicher Unmstände seinen Ursprung ver— dankte. Hier lag weniger eine solche Verkettung vor, als vielmehr eine Reihe grober Nachlässigkeiten, besonders im Dienstbetriebe der Beamten. Es müssen positive Maßregeln getroffen werden, die, soweit es möglich ist, die Wiederkehr einer Katastrophe verhindern. Es liegt bereits eine mit Tausenden von Unterschristen bedeckte Petition dem Hause vor, die Strecke Kottbus — Görlitz zweigleisig auszubauen. Die Be⸗ friebssicherheit der Gisenbahn muß unter allen Umständen erhöbt werden. Vom Standpunkte dieser gereckten Kritik aus können wir nicht umhin, zu= zugestehen, daß in dieser Beziehung, namentlich wenn man das Ausland zum Vergleich heranzieht, fortdauernd viel geschehen ist. (Der Redner geht Luf die betreffenden statistischen Zahlen näher ein) In dem Spremberger Falle wird die Katastrophe auf die Kopflosigkeit des vielleicht nicht ganz nüchtern gewesenen Stations beamten zurückgeführt; aber die Schwere des Unfalls wäre doch, gemildert worden, wenn nicht gleichzeitig eine Reihe weiterer Dienstvernachlässigungen vorgelegen hätte. Gegen den Alkoholgenuß der Beamten muß streng eingeschriüten werden, wenn Pflichtwidrigkeiten infolge desselben vorkommen. Allerdings ist die Alkoholfrage eine etwas eigene, der Alkoholgenuß kommt in den besten Famillen dor. Die größere Sicherheit ist zweifellos auf den zwei⸗ gleisigen Bahnen vorhanden, die Zugfolge läßt sich dort viel besser regeln. Wir müssen das Ziel verfolgen, alle Hauptbahnen zweigleisig auszubauen, allerdings nur allmählich, soweit es mit den Finanzen im Einklang steht. Insbesondere ist der Ausbau der Strecke Kottbus — Görlitz unbedingt erforderlich; denn es ist zu berũcksichtigen, daß außer den fahrpkanmäßigen Personenzügen auch noch viele Güterzüge und während des Reiseverkebrs eingelegte Züge verkehren. Der Osten ist in diefer Beziehung noch immer gegenüber dem Westen unseres Vaterlandes vernachlässigt. Der Redner weist insbesondere auf die Eingabe der Görlitzer Handelskammer an den Minister, in der um den Ausbau der Strecke Kottbus — Görlitz zu einer zweigleisigen ersucht wird, hin und richtet an den Minister die dringende Aufforderung, diesen Wunsch Niederschlesiens möglichst schnell zu erfüllen. Für die Sicher heit des Betriebes sei auch die Besserstellung der Beamten, nament./ lich der Eisenbahntelegrapbisten, von Einfluß. Das Haus habe bei früheren Etatsberatungen immer den Standpunkt vertreten, und er selbft habe z. B. 1897 dem Wunsche Ausdruck gegeben, daß die Eisenbahn⸗ lelegraphenbeamten besser gestellt werden müßten. ur dann könne man ein tüchtigeres Beamtenpersonal baben. In dem Bestreben, die fechnischen Einrichtungen der Cisenbahn zu wervollständigen, werde das Haus die Regierung stets unterstützen. Man könne ein volles, unbedingtes Vertrauen zu unserer Eisenbahnverwaltung haben; aber es n zu wünschen, daß sie aus solchen Vorkommnissen eine Lehre ziehen möge.
Minister der öffentlichen Arbeiten von Budde:
Meine Herren! Ich bin den Herren Interpellanten dafür dankbar, daß sie mir Gelegenheit gegeben baben, mich vor dem Lande, vor diesem Hause über den traurigen Unfall auszusprechen, den wir bei Spremberg gehabt haben. Meine Herren, es ist mir ein Bedürfnis als Chef der Verwaltung, Ihnen zu sagen, daß ich diesen Sommer schwer gelitten habe unter den 14 Opfern der Katastrophe, daß ich mitgefühlt habe die Aufregungen, denen die übrigen Passagiere, die in dem Zuge waren, natürlich ausgesetzt gewesen sind. Und ferner be⸗ daure ich diejenigen Beamten und Bediensteten, die den Unglũdksfall verursacht haben; denn, meine Herren, was in der Presse öfter gesagt
wird, die Staatzeisenbahnverwaltung suche nur einen Sündenbock bei
einem Unfall, trifft nicht zu. Nein, meine Herren, der Sündenbock spielt für mich gar keine Rolle; ich betrachte ihn nur als einen be⸗ dauernswerten Mann. Denn ich glaube nicht, daß der Fall vor⸗ kommen wird, daß jemand absichtlich sein eigenes Leben oder das der Reisenden in Gefahr bringt, sondern es handelt sich um menschliche Zufälligkeiten, und diejenigen bedaure ich, die ihnen verfallen sind. (Sehr richtig h
Meine Herren, ich muß mir nun bei Beantwortung der Inter⸗ pellation, trotzdem der letzte Herr Vorredner eine große Ausführlich keit von mir erwartete, eine gewisse Reserve auferlegen (Bravo);
denn der Unfall befindet sich noch in der Untersuchung des Straf⸗
tichters; ich habe nicht das Recht, dem Strafrichter vorjugreifen, ich
habe sogar die Pflicht, zu vermeiden, daß ich irgend jemanden durch die ich habe erfahren müssen, waren sehr herb, waren sehr hart; aber
meine Rede beeinflusse. Was ich also jetzt ausführe, soll nicht die
Schuldfrage berühren, sondern die Ursachen des Unfalls klar—⸗ stellen, wie ich sie als Verwaltungschef erkannt habe.
allerdings den Unfall in dies selten möglich ist.
einer Weise klargelegt (Hört, hört!) Wenn ein Professor, der Betriebsdienst lehr tt, vom Katheder herunter seinen Schülern ein Beispiel konstruieren wollte, daß auf einer eingleisigen Bahn ein Unglück nicht vorkommen könnte, dann hätte er dieses Beispiel erfinden sollen und hinzufügen sollen: So viel Unsinn kann nicht zusammen gemacht werden; ergo ist auch der eingleisige Betrieb ein durchaus gesicherter. Wenn er aber gesagt hätte: ‚Das kann auf einer eingleisigen Bahn vorkommen, daß 7 Personen ganz direkt wider ihre Instruktionen handeln“ —, dann würde man dem Herrn Professor gesagt haben: du übertreibst, das kann nicht vorkommen. (Sehr richtig!)
Meine Herren, wie ist nun der Unfall passiert? Ich muß da kurz vorweg bemerken, daß auf einer eingleisigen Strecke der Melde⸗ dienst derartig eingerichtet ist, daß, wenn ein Zug von A nach B fährt, A bei B anfragt: „kann der Zug kommen“; ist die Strecke frei, so antwortet B: Zug kann kommen“; ist sie nicht frei, dann antwortet B: ‚Zug muß warten‘. Nun hat der Stationsassistent, der übrigens meines Wissens 4 Jahre auf der Station war und — soweit mir bekannt — kein Gewohnheitssäufer gewesen sein soll, sondern wahrscheinlich nur durch Unglück — bei einem Urlaub dem Alkoholgenuß verfallen war und sich durch näãcht⸗ liches Schwärmen zur Versehung des Dienstes unfähig gemacht hatte, schwer gefehlt. Dieser Mann hat eine Depesche von der Station Schleife, der nächsten vor Spremberg, bekommen, ob der Zug abgelassen werden könnte, der von Görlitz nach Berlin unterwegs war. Die hat er nicht gelesen, sondern er hat dummes Zeug tele—⸗ graphiert, hat sogar die Depesche, die nach der anderen Seite gegeben werden mußte, für einen Zug, der von Spremberg nach Berlin ab⸗ fahren sollte, nach Schleife abgegeben. (Hört, hört!) Durch das viele dumme Zeug, das er auf dem Morsestreifen telegraphiert hat, das zum Teil ganz unverständlich ist, hat er den Beamten am Apparat in Schleife konfuse gemacht. Meine Herren, mit Rücksicht darauf, daß hier alles schon ausführlich erwähnt worden ist, erlassen Sie es mir wohl, die einzelnen Morsestreifen vorzulesen. Jedenfalls, die Depesche des Stationsassistenten, der wahrscheinlich im Alkoholgenuß gewesen ist und den Apparat, trotzdem er ein ordentlicher und gut ausgebildeter Beamter gewesen ist, falsch bedient hat, hat den Mann in Schleife verdreht gemacht, sodaß er ohne Zustimmung von Spremberg den Nachzug von Schleife nach Spremberg abließ.
Dieser von Görlitz kommende Zug sollte in Spremberg kreuzen; das war alles festgesetzt, aber trotzdem läßt der Stationsassistent in Spremberg den Zug, der auf der Station war, los, wiewohl ihm von Schleife telegraphiert war: ‚Nachzug 112 bier ab. Da war das Unglück fertig!
Nun kam aber noch weiter hinzu: wenn die Kreuzung nach Schleife verlegt werden sollte, dann mußte der Stationsdienstleiter an den Zugführer eine schriftliche Order geben, die auf den Block aufgeschrieben wird. Der Zugführer quittiert auf dem Stamm, daß er die Order bekommen hat, und muß zu dem Lokomotivführer hin gehen und ihm die schriftliche Order vorzeigen, daß die Kreuzung ver⸗ legt worden ist; anders soll dies nicht stattfinden. Auch diese Vorschrift ist wahrscheinlich, soweit die Feststellung hat gemacht werden können, nicht beachtet, sondern der noch lebende Zugführer behauptet: er habe den Lokomotivführer mit dem Stationsassistenten sprechen sehen und habe geglaubt, daß alles abgemacht wäre, der Lokomotivführer habe ihm etwas zugerufen — und dergleichen Behaup⸗ tungen mehr. Der Lokomotivführer hat sein Versehen mit dem Tode gebüßt, folglich ist darüber nicht mehr zu reden.
Das Unglück wäre weiterhin aber nicht passiert, wenn der End, weichensteller auf dem Bahnhof seine Schuldigkeit getan hätte. Er mußte die beiderseitigen Glockensignale hören, von Schleife und von der anderen Seite her. Auch der Mann ist konfuse gewesen (hört hörth, hat nachher einige Entschuldigungsredensarten gemacht, und hat nichts getan.
Dann, meine Herren, sind noch vier Schrankenwärter auf der Strecke gewesen, die den Unfall auch noch hätten verhüten können, indem sie rechtzeitig dem einen oder anderen Zuge entgegen gelaufen wären, mit der roten Fahne ihn zum Halten gebracht hätten. Diese haben wohl das Alarmsignal, das in der letzten Not noch er⸗ lassen ist, läuten gehört, und da ist der eine auf die Idee gekommen, sein Läutewerk wäre in Unordnung, deshalb läutete es immer von neuem, während es noch nie vorher in Unordnung gewesen war.
Es zeigt sich bei diesem Unfall, daß viele Umstände zusammen⸗ gewirkt haben, um ihn herbeizuführen, und ich kann die ganze Sache nur so bezeichnen: es herrschte auf dieser Strecke eine große Be triebsbummelei! (Hört, hört) Der ganze Unfall ist mit dem Ausdruck Betriebs bummelei gekennzeichnet, in die ich natürlich von Verwaltungs wegen bereits eingegriffen habe, indem samtliche Personen, die mittelbar oder unmittelbar bei dem Unfall beteiligt gewesen sind, schon beseitigt wurden. (Bravo Meine Herren, ich stehe nicht an, Ihnen zu erklären, daß die Ver—⸗ waltung die Schuld trägt. Ich als Chef der Verwaltung trage die Schuld; denn ich bin verantwortlich für das, was die mir unterstellten Beamten tun. Meine Herren, ich bin aber, glaube ich, dazu ermächtigt, autoristert von den etwa 400 000 Kameraden, die mit mir zusammen⸗ arbeiten, zu erklären, daß ich es tief beklage, daß sieben von unsern Kameraden ihre Schuldigkeit an ihrer Stelle nicht getan haben. (Bravo ) Ich glaube aber — und da werden wir vielleicht bei der
hat, wie
Wagennot, über die wir nachher sprechen werden, noch darauf kommen — sagen zu können, daß die Leistungen des Personals in
diesem anstrengenden Herbstverkehr ausgezeichnet gewesen sind, sodaß wir bei diesem Unfall doch nicht auf eine allgemeine Bum melei schließen dürfen (sehr richtig!, sondern ich glaube dem Personal auch heute trotz dieses Unfalls das Zeugnis ausstellen zu können, daß ein guter Geist im Personal ist, und daß der gute Geist uns auch über solche Unfälle hinweghelfen und dafür sorgen wird, daß sie nicht wieder vor⸗
kommen. (Bravo!)
Meine Herren, nun ist in der Presse selbstverständlich eine große Erregung über den Unfall gewesen, und diese Erregung hat mir in diesem Sommer das Leben auch nicht leicht gemacht. Die Kritiken,
dafür bin ich Minister und muß das ertragen können, sonst soll man
nicht Minister werden. (Heiterkeit. — Sehr richtig) Ich weiß, daß
die Presse schnell berichten muß, und finde deshalb die A d Selbstverständlich habe ich unmittelbar nach dem Unfalle eine s ue nen, mn
ganz eingehende Untersuchung nicht durch die zuständige Eisenbahn⸗ direktion, sondern auch durch meine Kommissare eintreten lassen, die
die Uebertreibungen, die in der Presse geschehen sind, erklärlich. Wenn aber behauptet worden ist, daß die mir unterstellten höheren Beamten aus Kriecherei, wider besseres Wissen ihr technisches Urteil durch Fiskalität beeinflussen ließen und die Fiskalität über die Betriebssicherheit stellten, so muß ich sagen, das haben die höheren Beamten,
die wahrlich mit Pflichttreue, mit Sachkenntnis, mit einem Eifer
arbeiten, wie in irgend einem anderen Ressort, doch nicht verdient. Meine Herren, die Vorwürfe der Presse gipfelten darin: das ist nichts als Plusmacherei, das ist Fiskalität, das ist Bureaukratie, und was alles noch jusammen gehört, während die Verbältniffe hier so klar liegen, daß an einer Stelle eine schwere Betriebsbummelei gewesen ist, die mit Fiskalität und dergleichen gar nichts zu tun hat. Ich kann hier erklären, daß, soweit die Betriebssicherheit und die Einrichtungen, die für die Betriebssicherheit getroffen werden müssen, in Frage kommen, mir noch niemals eine Mark als Minister gefehlt hat, und würde sie mir fehlen, meine Herren, dann würde ich nicht mehr Minister sein. (Bravo) Ich bin auch überzeugt, daß bei denjenigen Ausbauten, die wir weiterhin nötig haben, mir die Mittel nicht fehlen werden, und als ich in diesem Sommer, im Juli schon, sah, daß wir einer Katastrophe mit den Wagen entgegengehen, habe ich mich nicht gescheut, an den Finanzminister zu gehen und zu sagen: wir haben keine Etats⸗ mittel, wir müssen außeretatsmäßig an Wagen bestellen, was bis zum 1. April 1905 geliefert werden kann; der Landtag, das Abgeordneten haus wird schon damit einverstanden sein. Sie sehen, daß in der Eisenbahnverwaltung in der Hinsicht, was Verbesserungen der Ver kehrs⸗ und Betriebssicherheit betrifft, keinerlei Fiskalität besteht. Deshalb ist die Behauptung auch nicht richtig, daß die Strecke Kottbus — Görlitz eingleisig wäre, weil man aus Fiskalität zu sparsam wäre, das zweite Gleis zu bauen. Nein, meine Herren, hier waltet ein anderer Grund ob! Ich darf vielleicht einen Vergleich anführen. Niemand spannt vor einen Wagen 4 oder 6 Pferde, wenn er die Last mit 2 Pferden fortbewegen kann; er müßte gerade einen Luxussport treiben. Und niemand baut in einer Fabrik eine Maschine von 100 Pferdekräften, wenn er weiß, daß er reichlich mit 50 Pferde⸗ kräften auskommt, sondern er wartet mit der Vermehrung der Betriebs⸗ kraft so lange, bis sich sein Betrieb so gesteigert hat, daß er nun genötigt ist, sich eine größere Betriebskraft anzuschaffen. Dasselbe ist bei Ausgestaltung einer Bahn mit Gleisen der Fall. So lange man mit einem Gleis auskommen kann, wird man sich auch mit diesem begnügen, und alles, was der Herr Abg. von Schenckendorff aus Denkschriften sehr richtig angeführt hat, bezieht sich darauf, daß man dann, wenn die Verkehrsdichtigkeit so groß geworden ist, daß die Aufenthalte auf eingleisigen Strecken wegen der Zugkreuzungen größer werden müssen und das Durchbringen der Züge zu sehr erschweren, auch das zweite Gleis bauen muß. Ja, meine Herren, man wird unter Umständen dann sogar das dritte und vierte Gleis bauen.
Die Vorwürfe der Presse gipfelten hauptsächlich darin, daß sie sagte, das Unglück sei passiert, weil die Strecke eingleisig war. Ich kann gegen diese Logik nichts einwenden. Zwei Züge wären natürlich nicht zusammengefahren, wenn sie sich auf einer zwei⸗ gleisigen Strecke bewegt hätten. Aber daraus darf man doch nicht den Schluß ziehen, daß nun deshalb, weil einmal auf einer ein— gleisigen Strecke zwei Züge zusammengefahren sind, eine Strecke zweigleisig gemacht werden muß, die mit 11 Zügen nach der einen und mit 12 Zügen nach der andern Richtung, eventuell noch mit jwei weiteren Bedarfszuügen, befahren wird. Ich erinnere Sie an die ganz großartige Leistung, die wir im Jahre 1870 gehabt haben. Da haben wir 12 Züge, d. h. in jeder Richtung, also 24 Züge mit den Leer- zügen, gefahren, und zwar wochenlang unter den allerschwierigsten Verhältnissen, also lange, schwere Militärzüge und mit den doch immerhin nur mangelhaften Sicherheits und Meldeeinrichtungen, die wir im Jahre 1870 gehabt haben. Und hier waren wir normalmäßig auf der Strecke Görlitz -Kottbus noch nicht so weit. (Zuruf.) Die niederschlesische Bahn leistet ja das, was sie leisten soll. Ich nehme es dem Herrn Abg. von Schenckendorff und den betreffenden Vertretern durchaus nicht übel, wenn sie die Gelegenheit benutzen, ein zweites Gleis von neuem anzuregen. Daß der Verkehr auf einer zweigleisigen Bahn sicherer ist, kann man durchaus nicht behaupten. Man hat sich schrecklich über eine Notiz in der Nord⸗ deutschen Allgemeinen Zeitung“ oder im „Staatsanzeiger“ aufgeregt, in der gesagt war, daß der eingleisige Betrieb durchaus sicher wäre. Die Statistik beweist, daß auf den zweigleisigen Strecken viel mehr Zusammenstöße vorkommen als auf den eingleisigen. Ob zwei Züge von vorn aufeinander stoßen oder hinten aufeinander auffahren, dürfte wohl gleichgültig sein; im Gegenteil, unter Umständen kann, wenn die hinteren Wagen des vorderen Zuges stark besetzt sind, das Betriebsunglück viel schwerer sein, als wenn zunächst die Lokomotive, dann der Pack und Postwagen zertrümmert worden. Von 1895 — 1904 kamen auf den preußisch⸗hessischen zweigleisigen Strecken, nämlich auf 12 545 km 91 Zusammenstöße auf freier Strecke vor, dagegen auf den eingleisigen Hauptbahnen von 7797 Km Länge nur 14 Zusammenstöße. Dabei wurden auf den zweigleisigen Strecken 33 Reisende und 13 Beamte getötet, auf den eingleisigen Strecken kein Reisender. Also auf den zweigleisigen Bahnen ist die Sicherheit durchaus nicht größer als auf den eingleisigen. Wenn man nun sagt: bei Spremberg sind die Züge aufeinander gefahren, weil die Strecke eingleisig war, dann bedenken Sie folgenden Fall auf zweigleisiger Linie. Ich nehme an, daß bei der Einfahrt in einen Bahnhof ein Personenzug auf einen Güterzug aufgefahren ist; das kommt leider oft vor. Dann hätte der Kritiker dasselbe Recht, zu sagen: da das vorgekommen ist, so ver,
lange ich, daß grundsätzlich der Personenverkehr von dem
Güterverkehr getrennt wird und daß die zweigleisigen Bahnen von nun an alle dreigleisig oder viergleisig ausgebaut werden. Mit demselben Recht kann man dies verlangen, wie den zweigleisigen Ausbau der Spremberger Strecke wegen des Zusammenstoßes.
Wie andere Staaten über den eingleisigen Berkehr denken, das mag Ihnen eine kleine Statistik zeigen. Auf einer Reihe außer- preaßischer eingleisiger Bahnen verkehren bedeutend mehr Züge als auf der Strecke Berlin — Görlitz, wo 11 Züge in der einen, 12 Züge in der anderen Richtung fahren, in diesem Winter verkehren sogar nur 21 Züge. Auf der Strecke RostockWarnemünde verkehren 35 Züge mit 8 Schnellzügen, Dortrecht — Kerstern 32 mit 8 Schnellzügen, Gmund - Eger 32 mit 10 Schnellzügen, Luzern —-Zug 32 mit 12 Schnelljügen. Wir haben eine große Anzahl von eingleisigen Strecken, auf denen viel mehr Züge verkehren als auf der Strecke Görlitz -Kottbus. Sollte ich das anerkennen, daß das Spremberger Unglück die Ursache wäre, die Strecke auszubauen, daß also die Ein⸗ gleisigkeit des Betriebs eine Gefahr an sich bildet, dann müßte ich als der für die Betriebsunglücke verantwortliche Minister den Be- trieb auf allen eingleisigen Bahnen schließen oder, wenn ich nicht so weit gehen wollte, auf allen, auf denen Schnellzüge ver⸗ kehren. Denken Sie an die Bahn, die jetzt in zweigleisigem Ausbau begriffen ist, nach Swinemünde, die diesen Riesenschnellzugs⸗ verkehr im Sommer hat, denken Sie an die Bahn nach unseren Nord⸗ seebädern, was die für einen Verkehr hat. Ich glaube, es wäre nicht richtig, aus diesem Unglück zu schließen, daß alle Strecken, auf denen ein Schnellzug fährt, zweigleisig sein müssen, daß die Eingleisigkeit der Strecke Kottbus — Görlitz ein Versehen, eine Fiskalität, ein Ver brechen der Verwaltung war, wie ich in den Zeitungen gelesen habe. Wir haben, seitdem wir unser Meldesystem haben, noch niemals einen solchen Unfall gehabt, auch früher nicht, und, um den bekannten Aus⸗ druck zu gebrauchen, die ältesten Leute im Eisenbahnministerium und die ältesten Akten können sich nicht erinnern, daß jemals ein solcher Unfall vorgekommen ist.
Nun sind viele Einzelbemerkungen an den Unfall geknüpft und von den Herren Vorrednern vorgebracht worden.
Was die bemängelte Beurlaubung des Stationsvorstebers in Spremberg in der Reisezeit anbetrifft, so ist zu bemerken, daß dieser Beamte krank war. Wenn unsere Beamten sich im Betriebe über⸗ arbeitet haben, dann können wir sie nicht im November oder Dezember auf Urlaub schicken — wohin sollen sie dann gehen? — dann müssen wir sie in der guten Jahreszeit beurlauben, oder wir haben kein Herz für unsere Leute.
Es ist gesagt worden, daß die Annahme von Telegrammen ver⸗ weigert worden wäre. Meine Herren, es ist möglich, daß das in der Aufregung geschehen ist. Ich kann Ihnen nur sagen, daß der tele⸗ graphische Nachrichtendienst überhaupt versagt hat; die erste Nachricht über das Unglück habe ich im Ministerium des Abends um 9 Uhr be⸗ kommen. Es kam dann später der Chef oder ein Vertreter des „Wolffschen Telegraphenbureaus“ zu mir und beschwerte sich, daß er die zweite ausführlichere Nachricht erst in der Nacht zwischen 1 und 2 Uhr bekommen habe. Ja, meine Herren, er war glücklicher daran als ich. Denn ich habe die folgende Nachricht erst Nachmittags um 5 Uhr bekommen, durch meinen Vertreter, Geheimrat Scholkmann, den ich an Ort und Stelle geschickt hatte. Weshalb? Weil der Betriebs inspektor, den ich sehr beklage, daß ihm das passiert ist, an der Vor⸗ schrift gesessen hat: an wen mußt du telegraphieren? An der Spitze steht der Minister der öffentlichen Arbeiten, und den hat er doch vergessen. (Heiterkeit. ) Meine Herren, solche Versehen werden immer vorkommen, wenn die Aufregung groß ist. Wenn 14 Tote auf der Station liegen, darf man sich nicht wundern, daß die Beamten aufgeregt werden. Ich bemerke übrigens, daß ich die Direktionen angewiesen habe, daß Telegramme von Reisenden, die ihren Angehörigen mitteilen wollen, daß sie nicht verletzt worden sind, soweit es die Diensttelegramme zulassen, angenommen werden. (Sehr gut! rechts.)
Ebenso ist es nicht wahr, daß für die Beförderung von Leichen die Kosten gefordert worden sind, sondern, im Gegenteil, die Eisen⸗ bahndirektion Halle hat mir auf Anfrage berichtet:
Die unentgeltliche Beförderung der Leichen ist, wie die Station Spremberg berichtet, in keinem einzigen Falle abgelehnt worden. Es ist im Gegenteil zu den Behauptungen der angezogenen wie der beigefügten Zeitungsartikel dem Begleiter einer Leiche gegenüber, der unaufgefordert, freiwillig Transportgebühren ent- richten wollte, die Annahme der letzteren verweigert worden. (Hört, hört!)
Meine Herren, ich habe ein dickes Aktenstück von Zeitungs ausschnitten, in denen nur Nachrichten über dieses Unglück sind, die zum großen Teil unrichtig oder ungenau sind.
Der Herr Abg. von Schenckendorff hat bemängelt, daß ich nicht genugsam Publikationen an die Presse erlassen hätte. Ich glaube, wenn er auf meinem Sessel gesessen hätte, würde er dies auch nicht getan haben. In einer solchen Zeit, wo die Presse sehr aufgeregt ist, ist jedes Wort, das amtlich veröffentlicht wird, nur ein neuer Anlaß zu einem neuen Angriff. (Sehr richtig! rechts) Ein derartiger Sturm muß verlaufen, wie ein Gewittersturm; dann wird schon wieder Ruhe eintreten. Und wenn ich nicht über das Unglück amtliche Publikationen darüber erlassen habe, wer die Schuld trägt, so habe ich das garnicht gedurft, weil der Richter das erst feststellen muß. Ich darf das garnicht tun.
Im übrigen, glaube ich, kann meinem Ressort nicht der Vorwurf gemacht werden, daß ich keine Fühlung mit der Presse hätte. Es sind viele von den Herren — sowohl hier im Hause wie auch außer- halb des Hauses — von der Presse oftmals bei mir gewesen, denen ich stets mit großer Bereitwilligkeit Auskunft gegeben habe; denn ich weiß, welche Bedeutung die Presse in der Oeffentlichkeit hat. Meine Herren, meine ganje Tätigkeit ist ja öffentliche Arbeit; also wäre es in hohem Maße unverständlich, wenn ich mit der Presse nicht Fühlung hielte.
Wenn dann über mangelhafte Hilfeleistung geklagt worden ist: meine Herren, ich glaube, Sie werden es mir erlassen, daß ich das alles widerlege. Es ist ja von den Eisenbahndirektionen Halle und Breslau widerlegt worden und von den drei braven Spremberger Aerzten: dem Sanitätsrat Dr. Schich old, Bahnarzt, sowie von dem Dr. Steffen und Dr. Zeese. Diese drei Herren, denen ich von dieser Tribüne hier meinen herzlichsten Dank aussprechen möchte für die opferwillige und sofortige Hilfe, die sie den Verwundeten geleistet haben, haben sich schon in sehr würdiger Weise dagegen gewehrt, daß nicht ausreichende Hilfe auf dem Bahnhof Spremberg so früh wie möglich vorhanden gewesen wäre. Auch danke ich der braven Sprem⸗