1908 / 43 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 19 Feb 1908 18:00:01 GMT) scan diff

neu erbaut werden muß. Wir haben dem schon durch die Bean tragung eines Bauplatzes Ausdruck gegeben. Für dieses Jahr hat sich der Bau noch nicht vorsehen lassen. Wir sind infolgedessen genötigt gewesen, mit dem Vermieter des jetzigen Posthauses einen Ver⸗ längerungsvertrag abzuschlie ßen. Soviel ich höre, ist jäbrliche Kündi⸗ gung vorgesehen. Ich hoffe, daß wir bei der nächsten Beratung daju kommen werden, die Baukosten für das Hirschberger Posthaus im Etat zu beantragen. (Bravo! links.)

Das Extraordinarium des ordentlichen Etats wird darauf bewilligt, ebenso ohne Debatte der außerordent—⸗ liche Etat (60 Millionen Mark) und die Einnahmen.

Ueber die zum Postetat eingegangenen Petitionen be⸗ richtet der Abg. Kopsch.

Die Petitionen von Briefträgern und Postschaffnern um An⸗ rechnung der vor dem Eintritt in den Postdienst abgeleisteten Militär dienstjieit auf das Besoldungsdienstalter bei jenen Postunterbeamten, die nach dem 1. April 1895 angestellt worden sind, beantragt die Budgetkommissien den verbündeten Regierungen als Materigl zu überweisen. Dasselbe soll geschehen betreffs der Petition des Brief trägers Althaus in Marburg um Anrechnung der Telegraphenarbeiter⸗ dienstzeit auf das Besoldungsdienstalter, des Oberpostschaffners Kausche und Genossen in ö um Anrechnung der vor dem Eintritt in den Postdienst abgeleisteten Militärdienstzelt auf das Be⸗ soldungsdienstalter bei den nach dem 1. April 18965 etatsmäßig an estellten Postunterbeamten, des ersten Vo sitzenden der Oberpost- k Berlin namens der Obeipostschaffnervereinigungen Deutschlands um Verbesserungen der dienstlichen und wirtschaftlichen Lage der gehobenen Unterbeamten.

Zur Erwägung überwiesen werden sollen die Petition des Oberpostassistenten Schumacher in Saalfeld und Eenossen um Ge⸗ währung einer dauernden Vergütung für die erhöhten Steuerabgaben in Scalfeld, sowie diejenige des Verbandes Deutscher Post, und Telegraphenarbeiter und Handwerker in Bochum um Reform der Besoldungs⸗ und Anstellungsverhältnisse der Telegraphenarbeiter.

Der Postagentenverein im Oberpostdirektionsbezirk Braunschweig in Göttingen petitioniert um a. Erhöhung der Vergütung für die Postagenten, b. Erhöhung der Vergütung für die Diensträume, 8 Entschädigung für Kassenausfälle, d. Einrichtung einer Pensions« kasse und 6. Gewährung von Erholungturlaub. Die Kommission beantragt, die Petition zu den Punkten a, b, d den verbündeten Regierungen zur Erwägung zu überweisen, dagegen über die Punkte c und e zur Tagesordnung überzugehen.

Ohne Debatte beschließt das Haus durchweg nach den Kommissionsanträgen. Damit ist die Beratung des Postetats erledigt.

Zum Etat der Reichsdruckerei befürwortet der

Abg. Kop sch (fr. Volksp.) eine Erhöhung der bei diesem Institut angestellten Werkmeister und Künstler. Die Monatslöhner wünschen etatsmäßige Anstellung nach einer Reihe von Jahren, eventuell Er⸗ höhung des Höchstgehalts.

Der Etat wird bewilligt.

Es folgt der Etat der Reichsjustizvemrwaltung.

Die Diskussion wird zunächst eröffnet über das Ordina⸗ rium des Reichsjustizamts, erster Titel „Staatssekretär 44 000 M6“. Dazu liegen nicht weniger als 11 Resolu⸗ tionen vor:

I) Brunstermann⸗Varenhorst (Rp.) wegen baldiger Vorlegung einer Novelle zur Gebührenordnung behufs Erhöhung der Gebühren and Reisekostenentschädigung für Zeugen-Sach—⸗ verstãndige; .

2) Graf Hompesch u. Gen. (Zentr.) wegen Vorlegung eines Gesetzes, wodurch den Untersucungsgefangenen und denjenigen ju Ge⸗ fängnis Verurteilten, die nicht aus ehrloser Gesinnung gehandelt haben, Selbstbeköstigung und Selbstbeschäftigung gestattet wird;

3) Bassermann (nl,) auf Vorlegung eines Gesetzentwurfs, betreffend Strafrecht, Strafverfahren und Strafvollzug gegen jugendliche Personen;

4 Heinze (nl. wegen Vorlegung eines Gesetzentwurfs jur einheitlichen Regelung des Strafvoltlzuges;

5s) von Liebert (Rp.) wegen Ergänzung des Strafgesetzbuches durch Bestimmungen über überseeischen Strafvollzug;

6) Albrecht u. Gen. (Sos.) wegen Einiichtung von Schiedsgerichten für Streitigkeiten jwischen Bureau gehilfen und deren Arbeitgebern, zwischen ländlichen Arbeitern und ihren Arbeitgebern, sowie für Streitigkeiten aus dem Gesindever hältnis. ö

7 Albrecht u. Gen, betreffend die Aufhebung des Zeugnis 6 für die bei der Herstellung von Zeitungen beschäftigten Per—⸗ onen;

8) Albrecht u. Gen. wegen Sicherstellung des Rechtes der Reichstagsabgeordneten, Landtagsabgeordneten und Mitglieder kom⸗ munaler Körperschaften auf Zeugnisverweigerung;

9) Albrecht u. Gen. wegen Gewährung von Reisekosten und Tagegeldern an Schöffen und Geschworene; .

j0) Juncklnl) wegen Vorlegung gesetzlicher Bestimmungen zur Sicherung des Rechtes der Arbeitstarifverträge;

11) Ab laßu. Gen. (linke liberale Fraktionsgemeinschaft) wegen Sicherstellung der gleichmäßigen Zuziehung aller Stände zum Geschworenen, und Schöffendienst durch Zahlung von Tagegeldern.

Abg. Dr. Wagner (d kons.): Unsere vorjährigen Resolutionen werden wohl erst bei der allgemeinen Reform berücksichtigt werden können. Was nun die vorliegenden Resolutionen betrifft, so werden wir gegen die Resolution des Zentrums stimmen, die sich auf die Untersuchungshaft bezieht. Dagegen werden wir für die Resolution Heinze stimmen, die eine einbeütliche Regelung des Strafvollzugs fordert, ebenso für die Resolution Bassermann, betreffend Regelung des Strafverfahrens und des Strafvollzugs der von jugendlichen Per⸗ sonen begangenen Straftaten. Die Zunahme der jugendlichen Ver⸗ brechen zeigt ein erschreckendes Bild. Die Ursachen dieser Zunahme liegen in jener Richtung, die Haß und Erbitterung in die jugendlichen Herzen sät, und in der Entfremdung der Jugend vom Elternhause. Es muß verhütet werden, daß die wirt⸗ schaftliche Entwicklung die Wurzeln unseres Familienlebens immer weiter untergräbt. er jugendliche Arbeiter muß davor geschützt werden, daß er in der freien Zeit verroht; er muß vor Depravation durch die Jugendvereine geschützt werden. Auf diesem Gebiete der sittlichen Pflege muß noch viel mehr geschehen, denn auf der sittlichen Hebung der Jugend beruht die Zukunft unserer Nation. Die Anregungen, die der Abg. Cuno neulich hirsichtlich der Schaffung von Turn“, und Jugendübungeplätzen vorgebracht hat, verdienen alle Beachtung. Der Verbrecher ist einer sittlichen ö , am zugänglichsten, wenn er noch jung ist. Das Prinzip der Vergeltung muß im Strasverfahren verlassen werden. Gegen eine Herab⸗ setzung der Straffähigkeitsgrenze an sich aben wir Be⸗ denken. Die Bestimmungen des Strafprozeßrechts sind gerade in bezug auf dle jugendlichen Personen reformbedürftig. Die erste Resolution Albrecht, betreffend die Schiedsgerichte für länd⸗ liche Arbeiter usw, werden wir ablehnen, ebenso den Antrag wegen des Zeugnifzwangs. Eine sachgemäße vernünftige Einschränkung des Zeugnisjwanges für die Redakteure halten wir für billig, aber eine unbedingte Aufhebung des Zeugnisjzwanges würde dahin führen, daß die Peesse sich der schwersten Verleumdungen ungestraft schuldig machen kann, ohne daß das Publikum dagegen achützt werden kann. Jedes der staatsfeindlichen Organe kegeht solche Verleumdungen; auch gegen die Schmutzpresse müssen wir uns schützen. Eine gute Presse wird sich ihrer Verantwortlichkeit stets bewußt sein. Was die Gewährung von Diäten an Geschworene und Schoͤffen

betrifft, so werden wir der Resolution Ablaß zustimmen, die Re— solution Albrecht ablehnen.

Die Materie, welche die Resolution

von Liebert behandelt, ist wohl noch nicht geklärt. Es müßte sich auch die Kolonialverwaltung darüber aussprechen. Die Tragweite des Antrages Junck läßt sich ebenfalls noch nicht übersehen. Die Ent⸗ wicklung dieser Angelegenheit ist noch so sehr im Fluß, daß es bedenflich wäre, schon jetzt den Weg der Gesetzgebung zu betreten. Der Resolutlon Brunstermann werden wir zustimmen. Nun noch einige allgemeine Bemerkungen: In bezug auf, den Prozeß Harden hat * weder die Justizverwaltung noch der Reichstag die Aufgabe, der Rechtsprechung Weisungen zu erteilen. In der Frage des Aus⸗ schlusses der Oeffentlichkeit stimme ich duichaus dem zu, was der Reichskanzler Fürst Bülow darüber gesagt hat. Gegenüber dem Unheil, das eine gewisse Skandalpresse durch Ausschlachtung der Prozeß⸗ verhandlungen solcher . anrichtet, ist eine Aenderung der k oweit es sich um den Ausschluß der Oeffentlichkeit bei privaten Beleidigungsklagen handelt, am if Schon im Abgeordnetenhause ist bei der Besprechung des Proiesses Moltke⸗ Harden auf den ungenügenden Schutz des Privaotlebens bei Beleidigungsklagen hingewiesen worden. Der Abg. von Campe sagte treffend? ihm sei die Schamröte ins Gesicht gestiegen, als er die Aeußerung des Grafen Moltke gelesen habe, als Soldat hätte er sich nicht so beschimpfen lassen duͤrfen, und hätte deshalb die Uniform ausziehen müssen, ehe er klagte. Der Reichskanzler hat ja auch gesagt, um das Privatleben müsse eine Mauer gezogen werden. Ein Berliner Gymnasialdirektor hatte sich an den Polizeipräsidenten gewandt um größeren Schutz gegen die Verbreitung unzüchtiger Bilder und Schriften. Der Polizei⸗ präsident antwortete ihm jedoch, daß die jetzigen Strafbestimmungen ihm keine Handhabe böten, um gegen die gerügten Roheiten vorzugehen. Nach unserer Ansicht reichen aber die bestebenden Bestimmungen aus, wenn sie nur richtig angewandt werden. Warum zieht man bei der Begutachtung von solchen Bildern nur Künstler als Sachverständige hinzu, die vom rein künstlerischen Standpunkt urteilen, und nicht Eltern und Er⸗ zieher? Die Zivilprozeßreform steht ja für die nächste Zeit bevor. Vielleicht nimmt der Staatssekretär Gelegenheit, dem Gerücht ent⸗ gegenzutreten, daß sie zurückgestellt sei. Die meisten Parteien werden damit einverstanden sein, daß das künftige Strafrecht für Roheits⸗ verbrechen härtere Strafen vorsehen muß. Ich denke dabei an die militärischen Arreststrafen mit ihren Verschärfungen. Ferner muß schkon aus dem Tenor des Urteils in Beleidigungsklagen hervorgehen, daß die Beschuldigung gegen den Beleidigten unwahr ist in solchen Fallen, wo der Beleidiger aus formellen Gründen freigesprochen wurde. Das Strafrecht soll auf Humanität gegründet sein. Die wahre, echte Humanität hat aber nichts gemein mit jener Neigung, jeden Verbrecher als pathologisch, womöglich als einen Uebermenschen, zu betrachten. Dieser falschen . müssen und werden wir entgegentreten, wo wir sie finden. Wir hoffen, daß dem Staatssekretär, der noch größere Aufgaben zu lösen hat, die große Reform des Strafrechts recht bald gelingen möge.

Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberding:

Meine Herren! Ich benutze die Ausführungen des Herrn Vor— redners zunächst nur, um zwei tatsächliche Feststellungen hier zu machen, deren baldige Verlautbarung, wie ich glaube, auch hier in dem Hause Interesse finden wird.

Der Herr Vorredner hat das durch die Zeitungen gegangene Ge⸗ rücht erwähnt, daß die Reichsverwaltung die Absicht habe, die in Aue—⸗ sicht stehende Nobelle zur Reform des Zivilprozesses zurückzuziehen. Meine Herren, ich kann erklären, daß aller Vorausicht nach diese Novelle im Laufe der nächsten Woche dem Reichstage zugehen wird. (Bravo!) Von der Ablsicht, diese Novelle zurückzuziehen, ist in den Kreisen der Regierung absolut nichts bekannt. Der Bundes rat ist zur Zeit mit der Beratung der einzelnen Bestimmungen befaßt, und die Sache liegt so, daß wir erwarten dürfen, in der nächsten Woche werde der Bundesrat seine abschließende Meinung zu dem Entwurf abgeben. Damit ist der Augenblick gekommen, um die Vorlage an den Reichstag ju bringen.

Zweitens, meine Heiren, hat der Herr Abgeordnete die Frage behandelt, wie es mit der Vorbereitung eines Gesetzentwurfs stehe, der die Haftung des Reichz für die Handlungen der Reichsbeamten regeln soll. Es liegen in dieser Beziehung ja mehrere Anträge aus der Mitte des Hauses vor, und die Frage ist auch in früheren Jahren wiederholt hier diskutiert worden. Ich kann erklären, daß ein Gesetz⸗ entwurf, welcher die Haftung des Reiches für die Handlungen der Reichs beamten festlegt, jur Zeit fertiggestellt ist, und daß die Aussicht besteht, in kurzer Frist den Entwurf an den Bundesrat zu bringen. (Bravo!)

Abg. Dr. Heinze (ul.): Wir hoffen, daß die neue Strafprozeß⸗ ordnung im Laufe des nächsten Winters dem Reichstag vorgelegt wird, und wären dem Staatssekretär dankbar, wenn er uns dag be⸗ stätigte. Wir sind uns bewußt, daß eine Aenderung des Strafgesetz⸗ buches eine der ernstesten Aufgaben der Gesetzgebung ist. Nur möchte ich wünschen, daß dieses neue Gesetzbuch nicht, wie vor kurzem im Abgeordnetenhause angeregt, die . in Deutschland wieder , Wir möchten auch nicht, daß ein Strafsenat des Ober landesgerichts über die Quantität und Qualität der zu applizierenden Hiebe seine Entscheidung abzugeben bat. Es ist behauptet, die Zahl der Meineide nehme zu. Diese . steht in Widerspruch mit den Tatsachen. Ich kann mein Bedauern nicht unter drücken, daß es nicht gelungen ist, eine einheitliche und groß⸗ zügige Aenderung der Zwilprozeßordnung ju stande zu bringen. So wird an der Prozeßordnung unten, oben und in der Mitte ge—⸗ ändert, und das führt zu Unstimmigkeiten in unserer Gesetzgebung. Es ist anzuerkennen, daß die lex Hagemann eine wesentliche Besserung in der Kriminalrechtsprechung berbeigeführt hat. Wir sind aber jetzt beim Reichsgericht wieder bei Zuständen, die absolut unhaltbar sind. Diese Tatsache wird durch die Bemerkung meines Parteifreundes Junck beleuchtet, der in einer Zivilsache im Juni 1907 Termin für November 1908 vom Reichsgericht bekommen hat. Das bedeutet in wanchen Fällen einfach eine Verweigerung des Rechts. Auf die Revisionsbestimmungen will ich nicht eingeben, aber das eine mit aller Bestimmtheit betonen, wir sind unter keinen Umständen für Bestimmungen zu haben, die die Rechtseinbeit Deutschlands in irgend einer Weise gefährden könnten. Bei unserer Resolution, betreffend die Einheitlichkeit des Strafvollzuges wünschen wir auch, . bei Regelung dieses Strafvollzuges auch Rücksicht genommen wird auf die wirtschaftlich Bedeutung der Strafgefangenarbeit, daß dDiese Arbeit nicht in die des Handwerks eingreifen soll. Die Resolution von Liebert wegen der Deportation hat ja etwas Bestechendes an sich; namhafte Gelehrte sind diesem Vorschlage bei. getreten. Wir glauben aber doch, daß die Frage noch nicht spruchreif ist. Wir können dazu erst Stellung nehmen, wenn sie seitens der Reicht justizverwaltung geklärt ist, und wir würden dieser dankbar sein, wenn sie uns über diese politisch⸗kolönial und kriminell wichtige Frage eine Denkschrift vorlegte. Dem Antrag Hompesch können wir justimmen, wenngleich wir mit allen Einjelheiten uns nicht durchaus einverstanden erklären. Auch der Resolution Brunstermann können wir zustimmen. Die Bestimmungen über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen sind durchaus veraltet, und die Rechtsprechung hat vielfach nicht das Richtige getroffen. In einem Falle hat man einem Zeugen, der eigenes Fuhrwerk hatte, nur eine Entschädigung für die Abnutzung des Fuhrwerks zugebilligt. Der Resolution Albrecht wegen des Zeugniszwanges der Presse und den Resolutionen Albrecht und Ablaß wegen der Geschworenen und Schöffen stimmen wir zu. Waz die Resolution Albrecht hinsichtlich der Immunität anlangt, so können wir ihr so weit zustimmen, als sie sich nicht auf die kommunalen Körperschaften beneht. Den Resolutionen Bassermann und Junck bezüglich der jugendlichen Personen und bezüglich der Tarifverträge treten wir bei. Was die großen reformatorischen Arbeiten auf dem

Gebiete der Rechtspflege betrifft, so hoffen wir, daß unsere deutsche Justiz daraus Segen und Vorteile Jiehen wird. Wir dürfen aber dabei nicht übersehen, daß die vielseitigen Klagen über unsere Justiz zum großen Teil auf Grunden beruhen, die mit dieser Reform nichts zu tun haben. Die Klagen beruhen im wesentlichen darauf, daß unsere deutsche

Rechtsprechung ein viel zu formales Verfahren einschlägt. Man sagt unserer Rechtsprechung bureaukratische Schwerfälligkeit nach, man wirft ihr vor, sie stehe dem praktischen Leben zu fern, man macht ihr den Vor⸗ wurf der Umständlichkeit und der Verlangsamung der Prozeßführung. Auch über Klassenjustiz wird geklaat. Diese Klagen haben nun zu Vorschlägen geführt, die sich zum Teil zu den geistreichen Vorschlägen des Oberbürgermeisters Adickes verdichtet haben. Auf der anderen Seite herrscht in weiteren Kreisen der Bevölkerung die Tendenz, für ihre eigenen Angelegenheiten Sondergerichte zu bilden. Wir müssen anerkennen, daß die Beschwerden zum großen Teil berechtigt sind, wir müssen aber bei genauer objektiver Beurteilung der ganzen Sachlage diese Beschwerden auch auf das rechte Maß zurückführen. Die Reichs justizberwaltung, wie die Landesjustizverwaltung und sämtliche an der BGesetzgebung beteiligten Faktoren haben den festen Willen, die Zu— stände, soweit sie verbesserungsbedürftig sind, auch zu verbessern. Mit Recht beklagt man sich über die Dauer der Prozesse. Ich spreche als Richter aus eigener Erfahrung; man begreift es, daß die Leute sich darüber beklagen, wenn sie sehen, wie schwer sie zu ihrem Rechte kommen. Es ist oft fast unmöglich, in der Prozeßführung frivole Einwände abzuschneiden. Es ist Leuten, deren wirtschaftliche Existenz auf dem Spiele steht, wirklich nicht zu verdenken, wenn sie eine Beschleunigung der Rechtsprechung wünschen. Auch über die Art des Strafmaßes wird mitunter mit Recht geklagt. Ein mittel deutsches Gericht hielt einen Arbeiter wegen einer Unterschlagung von 10 3 im Straßenbahnwagen 14 Tage in Untersuchungshaft und verurteilte ihn dann zu 10 Tagen Gefängnis. Auf jeden Fall mußte der Richter ein Mittel finden, eine derartige Ausdehnung der Unter— suchungshaft zu verhüten. Die Klagen Über Klafsenjustiz, die die sozialdemokratische Presse und Partei erheben, sind bei genauer objektiver Prüfung nicht durchweg für unberechtigt zu erklären. Wenn man diesen Tatsachen gegenübersteht, so muß man auch den Ursachen nach⸗ forschen und auf Besserung bedacht sein; da findet man dann, daß es heutjutage dem Juristen bei der außerordentlichen. Fülle des Gesetz age hungsstoffes gegenüber der aufsteigenden Arbeiterbewegung sebr schwer ist, si zurechtzufinden. Welchen neuen Auf ßaben steht sich der Richter nicht jetzt gegenüber, wenn man um. Beispiel an die Arbeitsniederlegung, Steiks, Verrufs— erklärungen, Koalitionsrecht der Arbeitgeber und Arbeitnehmer usw. denkt. Schließlich muß ohne weiteres anerkannt werden, daß die deutsche Juristenwelt sich aus gewissen sozialen Sch'chten zusammen—⸗ setzt, denen es schwer fällt, sich ohne weiteres in die Denkungs und Anschauungswelse anderer sozialer Schichten zu versetzen und den einzelnen Fall richtig zu beurteilen. Eigentümlich ist in dieser Be— ziehung die Entscheidung eines Gerichts, das einen Verein als einen politischen bezeichnet hat, weil er wirtschaftliche und soziale Ziele auf gesetzlichem Wege verfolgen will. Es hat sich an das Wort gesetzlich? geklammert und deshalb den Verein als einen politischen bezeichnet. Die Recht prechung bezüglich der Koalition verteilt nicht immer Licht und Schatten in gleicher Weise, sie behandelt nicht immer die Unternehmerverbände wie die Arbeiterverbände. In bezug auf den groben Unfugparagraphen ist mir vor einigen Tagen eine Entscheidung in die Hände gefallen, die ich geradezu als ein Monstrum bezeichnen muß. Das Gericht hat anerkannt, daß die Streikbrecher in keiner Weise belästigt und beschimpft wurden, hat aber den Streik an sich als groben Unfug bezeichnet; die an den Nebentischen sitzenden Leute wären gejzwungen gewesen, die Streikunterhaltung anzuhören. Auch ist nicht zu verkennen, daß in politischen Prozessen außerordentlich harte Urteile gefällt, während in Beleidigungsprozessen sehr milde Urteile ausgesprochen werden. Kürzlich ging die Notiz durch die Blätter, daß ein Kaufmann, also ein Angehöriger eines gebildeten Berufs, in der Umgebung von Berlin eine anständige Dame in der un— verschämtesten, rüdesten Weise belästigt hatte und nur mit 100 M Geldstrafe belegt wurde. So etwas widerstrebt durchaus jedem natürlichen Rechtsempfinden. Man versteht auch nicht die milden Urteile gegen Unternehmungen bei Verletzungen von Ar— beiterschutzgesetzen. Erkennt man so ohne weiteres die Mißstände in unserer Rechtsprechung an, so muß man anderseits die Agitation gegen unsere deutsche Justiz auf das berechtigte Maß zurückführen. Man muß bei der überaus großen Zahl der Zibil⸗ und Strasprozesse in Deutschland bedenken, daß die Zahl solcher monströsen Prozesse, wie ich sie erwähnt habe, doch eine verhältnismäßig geringe ist. Man verlargt auch eine möglichst individuelle Behandlung des einzelnen Prozesses, und wie man damit eine möglichste Beschleunigung verbinden soll, kommt beinahe auf die Quadratur des Zirkels hinaus. Auch die Wahlprüfungskommission des Reichstags ist doch gejwungen, über recht verwickelte Fälle recht lange zu sitzen, ehe sie zur Aburteilung kommt. In manchen Fällen werden die Prozesse in verhältnismäßig sehr kurjer Zeit er⸗ ledigt. Nun wird die ganze Stimmung Über unsere Rechtspflege wesentlich durch die Art, wie die sozialdemokratische Presse die Rechtspflege behandelt, verbittert. Sieht man sich den Agitations⸗ kalender des ‚Vorwärts“, der mit dem Artikel Deutsche Rechtspflege beginnt, an, so findet man für die Monate November und Dezemher anze zehn Fälle. Vier von diesen beziehen sich auf den Prozeß Liebknecht. n den anderen sechs Fällen handelt es sich um groben Unfug, der durch Arbeiter begangen ist. Die aufreizende Notiz enthält aber gar nichts über die Art des Unfugs, der ganz erheblicher Natur war. Die Entschädigungsprojesse gehen zum großen Teil gegen die be— sitzende Klasse; das Armenrecht ist immer weiter ausgedehnt worden, ja es wird von den Richtern schon erteilt, wenn das Gesuch substantiiert ist; während das Gesetz auch noch verlangt, daß der Prozeß einige Aussicht auf Erfolg habe. Eine Grubenverwaltung sst wegen zu weit gehender Verrufserklärungen von Arbeitern ver⸗ urteilt worden; der Vertreter des Verbandes der Deutschen Industriellen Bueck wurde mit seiner Klage wegen Beleidi⸗ gung gegen einen Arbeiter vom Landgericht Potsdam abgewiesen, weil der Arbeiter berechtigte Interessen vertreten habe. Das alles kann doch nicht als Klassenjustiz gekennzeichnet werden. Die Zivil justiz ift jedenfalls weiterhin bemüht, den modernen Begriffen in unserem Rechtsleben gerecht zu werden; allmählich wird man auch dahin gelangen, für eine fortgeschrittene soziale Recht sprechung feste Grundlagen zu schaffen. Schließlich ist doch auch durch unsere sogenannte Klassenjustiz das deuische Gewerkschaftsleben zu großer Blüte gekommen. Daß auch unsere Gesetzgebung die sozialen Gesichts⸗ punkte hochgehalten hat, bezeugt auch die in Aussicht stehende Novelle zur Zivilprozeßordnung. Dennoch bedürfen die von mir vorhin rück⸗ haltlos besprochenen Schäden der Abhilfe, die Rechtsprechung muß ron den ihr noch anhaftenden Schlacken befreit werden. Gegen den Antrag Albrecht wegen der Erweiterung des Kreises der Sondergerichte sind wir gerade mit aus diesen Erwägungen. Es muß unser Bemühen sein, das Niveau der Richter und der Anwälte immer mehr zu heben. Nur ein hochgebildeter Richter, der sich auf allen Wissensgebieten umgetan hat, wird ein wirklich zutreffendes Urteil fällen. Der Prozeß ist, das muß sich der Richter immer gegenwärtig halten, nicht allein eine logische Gedankenabstraktion, sondern entwickelt sich aus wirtschaft⸗ lichen Rücksichten; auch der Kern des Strafprozesses ist wirtschaftlicher Natur. Der Richter muß deshalb sich nicht auf seine amtliche Tätig⸗ keit beschränken, sondern er muß auch außerhalb seines Amtes sich stets um Erweiterung seines Gesichtékreises bemühen, er muß den Vereinen für Jugendfürsorge usw. beitreten; nur wenn er das ganze Milieu kennt, um das es sich im einzelnen Falle handelt, wird er richtig urteilen.

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

zum Deutschen Reichsanze

M 43.

3weite Beilage

Berlin, Mittwoch, den 19. Februar

iger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

1908.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Solche Ein- und Ueberblicke lassen sich nicht gewinnen durch Ver längerung der Ausbildungszeit, auch nicht durch das Studium der Nationalökonomie, sondern lediglich durch praktische Erweiterung des Gesichtskreises. Unter diesem Gesichtepunkt wäre auch eine gewisse Fieljügigkeit der Referendare zu empfehlen. Es könnte einem sächsischen Referendar nicht schaden, wenn er einen Teil des Referendariats in Hamburg verbrächte, wenn ein. preußischer Referendar nach Bayern käme; es könnte auch nichts schaden, wenn ein bayerischer Referendar nach Berlin käme. Auch sollten die Richter Blätter wie die Sosiale Praxis zum regelmäßigen Studium benutzen. Die größte Sorgfalt muß die Justizperwaltung auf die Auswahl der Richter verwenden; zu Landgerichtspräsidenten dürfen nur die ausgesuchtesten Leute genommen werden; dem Ver— sangen nach Sondergerichten könnte durch größere Individualisierung und Spenialisierung bei der Auswahl der Richter die Spitze ab gebrochen werden. Die Gründung von Richtervereinen ist schon ein guter Schritt in dieser Richtung. Außerordentlich würde es ur Hebung bes ganzen Niveaus beitragen, wenn jeder Richter und Staatsanwalt nur verhandeln wollte, was unbedingt zum Falle gehört, aber alles verbannen, was nach Sensatlon riecht. Ein Beispiel, wie es nicht gemacht werden darf, ist die Rede des Oberstaate⸗ anwalts im Moltke⸗Harden⸗Prozeß. Er hat sich nicht auf eine nüchterne und sachliche Darstellung beschränkt, sondern eine Rede ge— hallen unter Aufrollung dramatischer Bilder, er hat nach allen Seiten Noten ausgeteilt, er nennt die Tätigkeit des Vorsitzenden vorsichtig und tatkräftig, die Verteidigung maßvoll, sich selbst einen fehr gemäßigten Staatsanwalt, bezeichnet den Vertreter des Grafen Moltke als einen vortrefflichen Vertreter und flicht schließlich den Satz ein: ‚Fürst Eulenburg gehört zu den Glücklichen und berlückenden Persönlichkeiten, die man liebt, weil man sie lieben muß, ohne erotische Betonung“ und er schließt mit der Erwähnung, daß er Drohbriefe bekommen hat. Ein solches Plaidoyer ist nur geeignet, Sensation hervorzurufen oder zu bergrößern. Das . wegbleiben. Bezüglich der Schmutz literatur und der soge Innten künstlerischen Erzeugnisse schließe ich mich dem Abg. Wagner an. Unsere Justiz würde gewinnen, wenn sie hiergegen alles aufböte, was ihr nach den Gesetzen bereits lange ,. Bejüglich der Erhebung der Anklage sollte ein öffentliches Interesse immer als vorhanden anerkannt werden, wenn es sich um öffentlich Aemter und Abgeordnetenmandate handelt, gleichviel welche Parteien in Frage kommen. Ebenso wie der Richterstand hat der Anwaltsstand an der Hebung des Niveaus mit⸗ juarbeiten. Er muß einigermaßen auskömmlich existieren können. Tatsächlich ist seine Lage immer schlechter geworden, Gesetzgebung und Entwicklung haben sich gewissermaßen vereinigt, ihm Abbruch zu tun. Die Unfallversicherung, die Schiedsgerichte, gewisse Bestimmungen des Gerichtskostengesetzes, auch die schwebende Vereinfachung des Ver⸗ fahrens im Wechsesprotest, endlich die ganze soziale Bewegung haben ihm ein Betätigungsgebiet nach dem anderen entzogen. Daju kommt die unentgeltliche Rechtsbelehrung, ein sehr begrüßungswerter Fortschritt, der aber den Anwaltsstand schwer geschädigt hat. Auf der anderen Seite ist den Anwalten in der letzten Zeit eine wachsende Erhöhung ihrer Ausgaben beschieden gewesen. De durchaus berechtigte Bewegung der Bureaubeamten der Rechts anwälte leidet natürlich Schiffbruch, wenn man den Anwälten immer mehr von ihren Einnahmen nimmt. Vom Januar 1880 bat sich die Zahl der Anwälte annähernd verdoppelt, und es ist dem einzelnen ohnehin schwerer, ein angemessens Einkommen zu erzielen. Es ist daher wünschenswert, daß die Gebührenordnung einer Revision unter— zogen wird, vor allem könnten die Gebühren in der Berufungzinstanz, por den Oberlandesgerichten erhöht werden. Auch das Notariat könnte von Reichs wegen so ausgestaltet werden, daß der Anwalts—« stand gehobea würde. Bei den künftigen Gesetzen müssen wir darauf sehen, wie sie auf den Anwaltsstand einwirken. Wenn man sorgfältig prüft, wie bei derartigen Reformen dem Anwaltsstande entgegen⸗ gekommen werden kann, wird man manche Verbitterung hindern können. Ich habe nach bestem Wissen eine objektive Kritik an den heutigen Zuständen geübt. Man wird immer am besten fahren, wenn man objektiv vorgeht. So wird das Vertrauen zur Richterschaft und zur Anwaltschaft, das immer noch in den weitesten Kreisen unseres Volkes vorhanden ist, sich nicht nur erhalten, sondern noch vermehren.

Abg. Dr. Brunstermann (Rp.): Die Ihnen rorliegende Resolution, eine angemessene Erhöhung der Gebübrensätze und der Reiseentschädigungen für Zeugen und Sachverständige im Wege der Gesetzesänderung herbeizufähren, vermeidet es, an den Grundsätzen, nach denen die Entschädigung zu erfolgen bat, zu rütteln, sie strebt nur eine jahlenmäßige, 6 die fortschreitende Entwicklung unserer gesamten Lebens und Erwerbsverhältnisse bedingte Erhöhung an. Nach den in Betracht kommenden Bestimmungen der Reichsgebühren⸗ ordnung für Zeugen und Sachverständige ist der uulãssige Höchstsatz der Enischädigung eines Zeugen für Zeitversäumnis für den Tag 10 „, der eng für Vergütung eines Sachverständigen, abgeseben von schwierigen Untersuchungen und Sachprüfungen, für den Tag 20 A, und der Höchstsatz der Aufwandsentschädigung eines Zeugen oder Sachverständigen für den Tag 5s und füL ein Nachtquartier 3 Es ist einsthaft nicht ju leugnen, daß diese Sätze den heuti en Zeit⸗ verhältnissen nicht mehr entsprechen. Dies beweisen die Durchschnitts. erfahrungen, die fast täglich von allen Gerichten mit dem Gebühren- tarif gemacht werden. Das tritt vor allem in Orten mit Handel und Industrie hervor. Es gilt aber nicht weniger für den Land— mann, namentlich den kleineren Besitzer, dem bei der großen Aibeiter⸗ und Gesindenot durch Reisen nach dem Gerichtssitz besonders in der eiligen Erntezeit oft sehr große Vermögensnachteile erwachsen. Rechnet man das Jahr zu 360 Arbeitetagen, so ergibt sich bei dem Höchstsatz von 10 Æ für Zeugen ein Einkommen von 3090 6, das deute von einer großen Anzabl Handwerksmeistern, Buchhaltern und in ähnlichen Stellungen befindlichen Personen erreicht wird. Diesen muß demnach schon jetzt der Höchstsatz gejahlt werden. Wo bleiben dann aber diejenigen Berufsklassen, die einen höberen Voendienst haben, also auch eine höhere Eiwerbeinbuße erleiden, . B. Architelten, selbständige Kaufleute, Professoren, Gesangslehrer, Aerjte u. g. m.“ Bel dem Höchstsatz von 20 60 für Sachverstãndige ist zu beachten, daß der Sachberständige nicht daneben etwa noch eine Entschäͤdigung für Zeitversgumnis erhält. Der Satz von 20 460 deckt aber nur die Zeitveisäumnis, fo daß der Sachverständige für seine Mübewaltung nichts erhält. Bedenkt man weiter, daß Sachverstän—⸗ dige dann schon ur Abgabe von Gutachten gesetzlich verpflichtet sind, wenn sie die fragliche Kunst, die Wissenschaft oder das Gewerbe zum Erwerbe ausüben, und daß namentlich Sachverständige in großen Städten und von besonderem Ruf sehr oft und in einer ihre Berufs⸗ tätigkeit erheblich schädigenden Weise herangejogen werden, so erscheinen sowobl deren Klagen, als auch die Klagen der Gerichte über die. Schwierigkeiten, geeignete und bereit · willige Sachverständige ju finden, erklärlich und begründet. Der Aufwandssatz von 5 Æ mag an kleineren Plätzen vielleicht noch enügen, aber in größeren Städten kann jemand, der in besseren otels wohnen und speisen muß, auch wenn er sich der größtmög⸗

ĩ ; chern Sparfzmkeit befleißgt, mit 8 s nicht zustompsen h legung widersprach dem natürlichen Empfinden, der Ordnung der

verhält es sich mit dem Höchstsatz von 3 für ein Nachtguartier. Was . Entschãdigung 53 5 3 für 1 Kilometer Landweg

anlangt, so bedarf es wohl keiner weiteren Ausführung, wie rückstaͤndig daß im Hinblick auf die heutigen Verkehrs. und Preisverhältnifse erscheint, wenn jemand für einen Landweg don 10 Kilometer hin und zurück eine einzige Mark erhält. Das Erscheinen vor Gericht als Zeuge oder Sachherständiger ist eine allgemeine Staatsbürgerpflicht, aber es ist doch ein Gebot der Billigkeit, den entstehenden Vermögensverlust so weit als möglich herabjumindern, denn es handelt sich nicht um eine so allgemeine Pflicht wie die Militärpflicht, auch nicht um eine auf alle Staatsbürger gleichmäßig verteilte wie bei Ehren- ämtern. Der Vermögentverlust kommt in den meisten Fällen auch nicht der Allgemeinheit, sondern zahlungsfähigen Parteien zu gute. Eine volle Abgeltung der Vermögensverluste würde allerdings in der Praxis übergroße Mißhelligkeiten haben. Uxsberwiegende Gründe nötigen zum Beibehalten der Maximalsätze. Mit einer Erhöhung der Höchstsätze auf das Doppelte wäre das Richtige getroffen. Durch die vorgeschlagene Gesetzeßänderurg wird ein Gebot der Ge— rechtigkeit erfüllt, eine größere Zufriedenheit namentlich auch hei den Minderbemittelten hervorgerufen, finanzpolitischen Bedenken Rechnung getragen und vor allem in der Entwicklungs⸗ geschichte und der praktischen Anwendung des Gebübrengesetzes die Konstanz göwahrt. Ich bitte daher das Haus, der Resolutlon zu— zustimmen.

Hierauf wird gegen 6i /a Uhr die Fortsetzung der Beratung auf Mittwoch 1 Uhr vertagt.

Preusßischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 33. Sitzung vom 18. Februar 1908, Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Das Haus setzt die Beratung des Etats des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten im Kapitel „Elementar⸗ unterrichtswesen“ fort. 24

Hierzu beantragen die Abgg. Dr. Gottschalk— Solingen (nl.), Kopsch (fr. Volksp.) und Ernst (fr. Vgg.):

die Königliche Staatsregierung um die Vorlegung eines Gesetz⸗ entwurss zu ersuchen, durch den für den Umfang der Monarchie

a. die Dauer der Schulpflicht nach einheitlichen Gesichte⸗ punkten, jedoch unter Berücksichtigung berechtiger Sonderverhältnisse der einzelnen Landesteile geregelt,

b. einheitliche Bestimmungen über die Folgen der ungerecht⸗ fertigten Schul versäumnis, die Voraussetzungen ihrer Straf⸗ barkeit, den Kreiz der verantwortlichen Personen, die Art und Höhe der Strafen und das Strafverfahren getroffen werden.“

Die Abgg. Engelbrecht lfreikons und Genossen be— antragen:

die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, in dem Gebiet des schleswig - holsteinischen Kirchenrechts unter Aufhebung bezw. Abänderung der entgegenstehenden Vorschristen die Be⸗ stimmungen des Gesetzegz vom 23. September 1739 und des § 65 der allgemeinen Schulordnung vom 24. August 1814 in 36 Umfange wie vor dem Jahre 1871 wieder in Anwendung zu bringen.“

Abg. Dr. Gottschalk (nl. ): Der allgemeine Schuljwang hat den Zweck, zu ermöglichen, daß alle Kinder der sittlichen und geistigen Erziehung teilhaftig werden. Ueber die Bedeutung der all gemeinen Schulpflicht noch Worte zu verlieren, ist nicht nötig; es muß alles geschehen, wag notwendig ist, um diese allgemeine Schulpflicht auch durchzuführen. Es herrscht aber auf diesem Gebiete eine Buntscheckigkeit, die nicht nur ein Schönheitafehler ist, sondern auch vielfach Bedenken erregen muß. Auf diese Buntscheckigkeit und die Mittel zu ihrer Abhilfe ist in diesem Hause schon wiederholt hin— gewiesen worden. Es ist wiederholt auch eine gesetzliche Regelung der Schulpflicht und der Schulversäumnisse versucht worden. So hat z. B. schon der Minister von Goßler ein solches Gesetz vor⸗ gelegt, später der Kultusminister von Zedlitz. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer solchen Regelung ist allgemein anerkannt. Ich will darauf verzichten, eine erschöpfende Darstellung dieser Mißstände zu geben; sie würde auch sehr schwierig sein. (Fortgesetzte große Unruhe. Präsident von Kröcher: Die Unterhallung wird doch zu laut geführt; es wird dem Redner fast unmöglich, selbst mir sich verständlich zu machen.) Der Redner schildert dann eingehend zur Begründung des jweiten Teils seines Antrages die großen Verschiedenheiten, die in den Schul⸗ ordnungen der einjelnen Provinzen in bezug auf die Bestrafung der Schul versäumnis bestehen.

Minister der geistlichen, Unterrichts⸗ angelegenheiten Dr. Holle:

Meine Herren! Die allmähliche Entwicklung des preußischen Staates hat dahin geführt, daß sein Schulrecht, das noch nicht durchweg neuerdings geordnet ist, noch auf verschiedenen Verordnungen und Gesetzen beruht. Die Volksschullehrerbesoldung und die Schul—⸗ unterhaltung mit den damit unmittelbar in Verbindung stehenden Angelegenheiten sind einheitlich geordnet; für die Schulpflicht und für die Maßregeln zur Durchführung der Schulpflicht bestehen in den einzelnen Landesteilen im wesentlichen noch die alten Bestimmungen. Wenn hiernach auch eine Mehrheit von Gesetzen und Verordnungen auf diesem Gebiete in Geltung ist, so ergibt sich doch daraus nicht not⸗ wendig eine Verschiedenheit in den tatsächlichen Zuständen; sondern man kann im Gegenteil feststellen, daß diese verschiedenen Gesetze in ihren Grund⸗ gedanken übereinstimmen. Ueberall ist die Schulpflicht gesetzlich gesichert; die Pflicht zum Schulbesuch dauert, von einigen provinziellen Besonderheiten abgesehen, vom 6. bis zum 14. Jahre. Die Auf⸗ nahme und Entlassungstermine sind nach den örtlichen Verhältnissen, nach den Bedürfnissen der Schule im großen und ganzen zweckmäßig geregelt. Wo nur eine Schule ist, erfolgt die Aufnahme der Schüler auch nur einmal. Bei der Entlassung wird, soweit angängig, die kirchliche Sitte der Konfirmation von der Verwaltung möglichst beachtet.

Da der geehrte Herr Vorredner auf die Details dieser Gesetz⸗ gebung eingegangen ist, muß ich ihm in einzelnen Bestimmungen folgen.

Es ist richtig, daß in der letzten Zeit bei dem Ent- lassunggttermin durch die Rechtsprechung des Kammergericht manche Schwierigkeiten entstanden sind. Wo gesetzlich die Schulpflicht mit dem 14. Lebensjahr enden sollte, interpretierte das Kammergericht diese Bestimmung dahin, daß das Kind an dem Geburtstage aus der Schule entlassen werden müßte: Diese Aug⸗

und Medizinal⸗

Schule und der seit Menschengedenken in der Schule geübten Praxis

der Verwaltungsbehörde. (Sehr richtig) Ernstliche Schwierigkeiten sind aber daraus nicht entstanden. Denn in den Provinzen Ost und Westpreußen, wo eine derartige Vorschrift in Geltung war, konnte auf Grund einer anderen Gesetzesbestimmung geholfen werden, die der Verwaltungsbehörde die Befugnis zu einer Zurückhaltung des Kindes auch über das schulpflichtige Alter hinaus gab. Im Müasterland, wo früher das Kammergericht diese selbe Bestimmung in der Münsterischen Schulordnung von 1801 als vorhanden angenommen hatte, hat es sich später auf den Standpunkt gestellt, daß die Sch ordnung von 1801 injwischen ihre Geltung verloren hatte; auf die Weise sind die Schwierigkeiten hier erledigt worden. In Hannover ist durch ein Spezialgesetz von 1905 sowie durch Verwaltungsanordnungen in einigen damit zusammenhängenden Fragen Abhilfe geschaffen. In Schleswig⸗Holstein sind die aus dem Zusammenhang der Konfirmation mit der Schulentlassung hervorgegangenen Schwierigkeiten durch ein Uebereinkommen zwischen dem Konsistorium und der Schulverwaltung

geordnet worden. Im übrigen möchte ich auf die schleswig⸗ holsteinischen Verhältnisse nicht näher eingehen; sie werden ja bei dem nächsten Antrage zur Darstellung kommen. Im Kurfürstentum

Hessen vermißt das Kammergericht ein Schulpflichtgesetz für die Städte. Es bestehen aber ältere desfalsige Verordnungen, die anscheinend bei der letzten Entscheidung des Kammergerichts übersehen sind, und auf Grund deren eine nochmalige Vorlegung an die Gerichte erfolgen wird.

Meine Herren, wenn nun hiernach auch das Kammergericht sich in manchen Fragen auf einen von den Anschauungen der Verwaltung abweichenden Standpunkt gestellt hat, so kann ich doch feststellen, daß die Einwirkung dieser Entscheidungen sich eigentlich nur auf Einzel fälle oder wenige Fälle beschränkt hat. Im übrigen hat die Durch- führung der Verwaltunzsanordnungen, die die Schulpflicht überall gleichmäßig vom 6. bis 14. Jahre als geordnet ansehen, keine wesent⸗ liche Beanstandung gefunden. Schwer war nur die Schulpflicht bedroht, als das Kammergericht vor einigen Jahren entschied, Eltern könnten, ihre Kinder durch Unterbringung im Auslande der Schulpflicht entziehen. Das Kammergericht hat aber später selbst diesen Stand⸗ punkt aufgegeben.

Auf dem Gebiet der Schulversäumnis haben die Anschauungen der Gerichte ebenfalls mehrfach gewechselt. Nach den jetzt herrschenden Anschauungen erlassen die Regierungen die Strafordnungen, auf Grund deren die Strafen von den Gerichten erkannt werden. Wenigstens gilt das durchweg in den alten Provinzen. Auch in Schleswig⸗Holstein und Hannover ist das Strafrecht durch die Gesetze gegeben. In dem ehemaligen Herzogtum Nassau vermißt das Kammergericht neuerdings den Nachweigz, daß die Bezirksregierung die Nachfolgerin der alten Landesregierung sei und deren Kompetenzen bei Bestimmung der Schulstrafen habe; aber die Verwaltung ist der Meinung, daß dieser Nachweis geführt werden kann und in dem nächsten Streitverfahren vor den Gerichten auch mit Erfolg geführt werden wird.

Jedenfalls ist also die tatsächliche Durchführung der Schul⸗ pflicht von diesen Entscheidungen des Kammergerichts wenig berührt worden; die Schulpflicht ist allgemein durchgeführt worden.

Meine Herren, daraus ergibt sich, daß die Verwaltung an sich kein dringendes Interesse an einer baldigen einheitlichen gesetzl ichen Regelung hat, wenn sie diese auch als erwünscht bezeichnen muß. Ich bin gern bereit, den Antrag entgegenkommend ju prüfen; aber ich möchte mir erlauben, darauf hinzuweisen, ob jetzt der geeignete Zeit⸗ punkt ist, den Weg der Gesetzgebung zu beschreiten. Das Schul⸗ unter haltungsgesetz kommt am 1. April d. J. zur Ausführung. Der Herr Vorredner hat bereits angeregt, daß das Strafverfahren des neuen Gesetzes in ein Ordnungsstrafrecht der Schulvorstände umgesetzt werden möchte. Wenn das in Aussicht genommen werden sollte, so erscheint es mir bedenklich, das schon in allernächster Zeit zu tun, weil diese neuen Behörden sich notwendig erst in ihre neuen Aufgaben werden einleben müssen (Sehr richtig! rechts) und es demgemäß vielleicht jetzt noch etwas zu früh wäre, ihnen solche neuen Aufgaben zu übertragen.

Weiter ergeben sich gewisse Bedenken aus dem Zusammenhang der Fragen, die voraussichtlich bei der gesetzlichen Reglung der Schul⸗ pflicht noch gestreift werden können oder werden. Ich darf bemerken: die Regelung des Privatschulwesens, die ja so außerordentlichen Schwierigkeiten begegnet, die Erziehung der Kinder aus Mischehen, die Verpflichtung der Dissidenten zur Teilnahme am Religions- unterricht usw. Wenn man in der Lage sein wird, und wenn es den Wünschen des hohen Hauses entsprechen wird, diese Fragen lieber zunächst auszuscheiden und das Gesetz lediglich zu beschränken auf die Ordnung der Schulpflicht im gegenwärtigen Rahmen und die Ordnung der Maßnahmen, die zur Durchführung der Schulpflicht erforderlich sind, so würde ich gern bereit sein, an der Ausarbeitung eines solchen Gesetzes heranzutreten, möchte aber mit Rücksicht auf die Bedenken, denen ich eben Ausdruck gegeben habe, auch zur Erwägung stellen, ob es nicht jweckmäßiger sein würde, mit der Vorlegung dieses Gesetzes mit Rücksicht darauf, daß die neue Schulorganisation erst jetzt in Wirksamkeit treten soll, vielleicht noch einige Zeit zu warten.

Abg. Engelbrecht (frkons.) begründet seinen Antrag mit den be⸗ sonderen Verhältnissen, die in Schleswig⸗Holstein beständen. Dort elte die Schulpflicht bis zum 16. Jahre, und das müsse aufrecht er alten werden. Die Schule solle vor allen Dingen erziehen, und auch die Kinder zwischen 14 und 16 Jahren bedürften noch der Erziehung. Man könne nicht einwenden, daß in dieser Ausdehnung der Schul- pflicht eine Beschränkung der Freizügigkeit liege, denn im Alter bis zu 16 Jahren selen es eben noch Kinder, und es sei nicht wünschens—⸗ wert, daß diese Jugend schon in die größeren Städte zusammenströme. Der Zweck der Erzlehung werde besser in der Volksschule als in der Fortbildungsschule erreicht. Die Fortbildungsschule werde niemals so Hervorragendes leisten können wie die Volksschule. Man müsse diese ganze Frage von grundsätzlichen Gesichtspunkten aus ansehen, denn es ständen außerordentlich wichtige Interessen der Bevölkerung auf dem Spiel.

Abg. Bachmann (ul.): Dem Antrage Engelbrecht kann ich nicht zustimmen. Wenn der Abg., Engelbrecht sich darauf beschränkt hätte, die Regierung zu bitten, die jetzige Ordnung der Schulpflicht