1908 / 289 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 08 Dec 1908 18:00:01 GMT) scan diff

Dentscher Reichstag. 1I7S8. Sitzung vom 7. Dezember 1908, Nachmittags 1 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Auf der Tagesordnung steht die Fortsetzung der ersten Be⸗ ratung des Entwurfs eines Gesetzes, betreffend die Festst ellung des Reichshaushaltsetats für das Rechnungsjahr 1969. in Verbindung mit der Fortsetzung der ersten Beratung der Gesetzentwürfe, betreffend die Feststellung des Haushalts⸗ etats für die Schutzgebiete für das Rechnungsjahr 1999 und eines fünften Nachtrags zum Reichshaus⸗— haltsetat für das e, , 1908 sowie des Ent⸗ wurfs eines Besoldungsgesetzes.

Ueber den Anfang der Sitzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Abg. Graf Kanitz (on.) fortfahrend: Der Marine⸗ etat enthält auch Forderungen für Unterseeboote; die Üntersee⸗ bogte werden in einem künftigen Seekriege große Bedeutung baben und vielleicht den Gefechtswert der großen Schlachtschiffe in Frage stellen. Aber was die Unterseeboote für die Marine bedeuten, das bedeuten die Luftschiffe im Landkriege. Die Kriegführung ju Lande wird vielleicht durch die Luftschiffe eine völlige Umgestaltung erfahren, indem es känftig möglich sein wird, sich über die Stellung des Feindes genau zu unterrichten. Solche Schlachten wie 1796 bei Montenotte, Lodi, Castiglione und Arcole, wie sie Bone parte dadurch gewann, daß er den Gegner über seine Stellung im unklaren ließ, werden dann niemals mehr vorkommen. Allerdings werden auch andere Länder Luftschiffe haben, und man wird gegenseitig bemüht sein, Rekognoszierungen zu verhindern, es werden vermutlich Gefechte zwischen Luftschiffen ausgeführt werden, und dann wird die Armee im Vorteil sein, die die besten Lufischiffe hat. Es müssen in unseren Militäretat auch Summen für Luftschiffe eingestellt werden. Man hätte aber die Konftruktion der Luftschiffe nicht in allen Zeitungen veröffentlichen sollen, derart, daß jeder ein solches Luftschiff konstruieren kann. Eine größere Gebeimhaltung wäre für die Zukunft angebracht. Die Zölle sind mit 54.5 Millionen niedriger im Etat angesetzt als im Vorjahr. Mit vollem Recht, denn allein in den ersten Monaten des laufenden Etatsjabres, vom 1. April bis 1. Oktober, hat sich eine Mindereinnabme von 66 574 000 ½ bei den Zöllen heraug—⸗ gestellt. Der Bun getkommission hat es im vorigen Jahre gefallen, weit über den Anschlag der Regierung hinaus zugeben. Auch bei den Beamten besoldungsvorlagen spielen die Getreidejölle und die Fleisch⸗ jölle wieder eine göwisse Rolle, indem man sie für die große Teuerung verantwortlich macht. Ein Vergleich des duutschen mit dem fran zösischen Zolltarif jeigt, daß in Frankreich die Tarife viel höher sind, nur Roggen ift in Frankreich mit 240 S gegenüber 5 S in Deutschland niedriger belastet, der Roggen spielt dort aber über— baupt keine Rolle, die Einfuhr betrug nur 1130 der Weizeneinfuhr. Ebenso stellt sich das Verbältnis für Gerfste. Der französische Zolltarif ist zu stande gekommen unter Mitwirkung aller politischen Parteien, auch der Sozialdemokraten; aber in Deutschland will man auf das wiüksamste Schlagwort, die Brotverteuerung, nicht verzichten, wenn auch in der Partei der äußersten Linken Herren sitzen, die anderer Ansicht sind; so hat Schippel 1904 in einer Berliner Volksversammlung ausgeführt, daß es nicht wahr sei, daß infolge der Zölle die Getreidepreise gestiegen seien, die erhöhten Zölle hätten eben nur die Landwirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahrt, aber niemand bereichert; eine weitere Ver⸗ schlechterung der Lage der Landwirtschaft würde höchstens eine weitere Abwanderung in die Städte und dort demgemäß einen Lohn— druck zur Folge baben. Nun, Sie (ju den Sozialdemokraten) haben ja Herrn Schippel von sich gewiesen, obgleich Sie innerlich wohl sich der Bedeutsamkeit seiner Argumentation nicht entziehen können, aber es gibt auch noch andere, so Herrn Calwer, der ebenfalls der Auffassung rückbaltlos Ausdruck gegeben hat, daß die deutsche Schutz⸗ zollpolitik berechtigt und notwendig ist. Was speziell die Brot⸗ verteuerung betrifft, so ist in Berlin der Brotpreis in der städtischen Bäckerei 1907 viel niedriger gewesen als in den privaten; die Ur⸗

sachen für die Brotverteuerung liegen also ganz anderswo, als die

Sozialdemokraten im allgemeinen behaupten. Der franzöͤsische Sozialist Jaurès verlangte für Weizen als Minimum einen Preis von 200 6. Dem würde ein Roggenpreis von 170 entsprechen. Bejüglich des Fleischkonsums enthält die uns zugegangene Denkschrift einen Irrtum, wenn sie diesen nur auf 40 kg jährlich für den Kopf bemißt; nach zuverlässigeren statistischen Notizen stellt er sich auf 53 kg. Die deutsche Landwirtschaft ist wohl in der Lage, den deutschen Fleischkonsum zu decken, und von einer Verteuerung des Fleisches durch die Zölle ist mit Recht nicht zu reden. Auch unsere Ausfuhr zeigt einen erbeblichen Rückgang im letzten Jahre, während der Import nicht unerheblich gestiegen ist, so daß sich unsere Industrie, namentlich die Hüttenindustrie, in einer üblen Lage befindet. Das zieht auch seine Konsequenzen in bezug auf die Zunabme der Arbeitslosigkelt. In diesem Zusammenhang ein Wort über die Syndikate. Wir haben erlebt, daß die Syndikate nach dem Autelande billiger verkaufen als nach dem Inlande. Es il vor— gekommen, daß die deutsche Kohle um die Hälfte des Preises nech dem Auslande verkauft worden ist, den die deutschen Konsumenten haben bezahlen müssen. Die Umlage, die das rbeinisch⸗westfälische Koblensyndikat von seinen Mitgliedern er⸗ hebt, wird wohl zum allergrößten Teile zu Entschädigungen für die—⸗ jenigen Zicken verwendet, welche diese billigen Kohlen nach dem Ausland liefern müssen. Demgegenüber wird der Inlandepꝛeis ungebührlich boch gebalten. Daju kommt noch als ein weiteres Mittel der Preistreiberei die Produktionsbeschränkung, die in der letzten Versammlung des Kohlensyndikats auf S0 o gesetzt wurde. Da ist es kein Wunder, wenn durch diese Manirulationen die In⸗ dustrie des Inlandes geschädigt, die des Auslandes aber gestärkt wird. Auch das Roheisensyndikat macht keine Ausnahme, das kommt in der erhöhten Einfuhr fremden Roheisens, besonders aus England, zum Ausdruck. Da kann man sich nicht wundern, wenn die Eisen⸗ preise weiter zurückgehen, und die Lage unserer Industrie sich immer bedrohlicher gestaltet. Nun bin ich kein prin— zipieller Gegner unserer Syndikate, aber gegen die Aus⸗ schreitungen der Syndikate, gegen die billigen Auslandverkäufe, gegen das Drücken der Preise muß ich mich doch auch bei dieser Gelegenheit ganz enischieden wenden. Ich kann nur an die verbündeten Regierungen die Bitte richten, daß sie recht bald geeignete Schritte gegen die Ausschreitungen der Syndi⸗ kate ergreifen mögen. Es ist uns wiederholt versichert worden, daß in dieser Syndikatswirtschaft deshalb keine Gefahr läge, weil der Staat, nämlich Preußen, als Besitzer der Eisenbahnen und Kanäle in der Lage sei, den Mißbräuchen des Syndikats entgegenzutreten. Leider macht er von diesem Machtmittel keinen Gebrauch. Ich kann nur dringend wünschen, daß endlich von der Regierung dasjenige ge⸗ schehen möge, was von ihr versprochen ist, daß die allergrößten Miß⸗ bräuche abgestellt werden. Es gibt aber auch ein Syndikat der Mühlenindustrie. Auch in den Großmüblen machen sich solche Be⸗ strebungzen geltend. Der leidende Teil sind die kleinen und mittleren Mühlen. Bereits im vorigen Jahre wurde im Reichs⸗ tage eine Resolution eingebracht, worin die verbündeten Re⸗ gierungen aufgefordert werden, eine Mühlenumsatzsteuer tinzuführen. Leider ist diese Resolution noch nicht zur Verhandlung und Abstimmung gebracht. Der Postetat schließt mit einer Einnahme von 673 Millionen ab, der eine Ausgabe von 635 Millionen gegenübersteht, und es verbleibt ein Nettoüberschuß von 38,5 Millionen. Diese große Ausgabe gegen⸗ über der Einnahme erscheint mir nicht gerechtfertigt; der Abg. v. Gamp bat gerade auf diesem Gebiete Vorschläge für eine höhere Einnahme und eine Beschränkung der Ausgaben gemacht. Die Aus⸗ gabe erfordert 943 6 der Ginnahme. Die englische Post hat dagegen einen Ueberschuß von 95,4 Mill. Mark. Dutschland bat erheblich mebr Einwohner als England, und es ist nicht einzuseben, weshalb die Post bei uns nur ein Drittel dessen einbringen soll, was

die englische Post bringt. Ich bitte den Abg. Gamp als Vorsitzenden der Budgetkommission, auch in diesem Etat die nötigen Abstriche zu machen. Schatz an e fungen sind für 60 Mill. Mark erforderlich; da drängt sich wieder mit Energie die Frage auf, warum die Reichs⸗ kasse sich nicht einen eigenen Betriebsfonds schafft. Aus der Sillberprägung könnte eine entsprechende Einnahme erzielt werden. Ich bite dringend, daß man durch Vermehrung der Silberprägung endlich für die Schaffung eines autzreichenden Betriebsfonds sorgt. Die Kopfquote an Silbermünjen ist von 15 auf 20 160 also um ho erhöht worden, was bei 50 Mill. Einwohnern 300 Mill. Mark ergibt. Der Ge⸗ winn an der Silberprägung wird sich heute noch böher stellen, als man damals annabm, denn der Silberpreis ist im Nhre 1908 wiederum gefallen, von 32 Sh. für die Standardunje auf 22 Sb. Der Gewinn aus der Silberprägung wird also höher sein, als im Etat mit 22 Mill ionen vorgesehen ist. Ich bitte, mit der Silberprägung in verstärktem Tempo vorzugeben. Vor kurzem ist ein Handels vrtrag mit Portugal abgeschlossen Wenn ich auch prinzipiell kein Freund von solchen Tarif⸗ verttägen bin, so freue ich mich darüber doch harptsächlich deshalb, weil sich nunmehr auch Spanien nicht länger ablehnend verbalten kann. Bedauern muß ich, daß wir über die Vertrageverhandlungen mit den Vereinigten Staaten absolut nichts bören. Wir haben den Amerikanern gegenüber den Fehler gemacht, daß wir ibnen ohne jede Gegenleistung in unserem ndelsvertrag alle Erleichterungen ein⸗ geräumt haben. Jetzt müssen wir uns alle Zollplackerelen in Amerika gefallen lassen. Es wäre im böchsten Grade erwünscht, daß diesem unnatürlichen Verhältnis zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten möglichst bald durch Abschluß eines Vertrages ein Ende be⸗ reitet wird. Was die Zustände auf dem Balkan betrifft so haben wir keine Ursache, die eingetretenen Neuerungen als eine Umwãlzung im großen Stile zu betrachten. Es ist in der Hauptsache nur der im Berliner Vertrage von 1878 geschaffene Status quo in einen dauernden Zustand verwandelt worden. Ich glaube auch nicht, daß uns durch das Jangtürkentum und die politischen Errungenschaften der Türkei irgend welche Gefahren droben; im Gegent il, die türkische Regierung erlangt freie Hand; das ist immerhin ein Fortschritt. Ob Bulgarien und Oftrumelien ihren finanziellen Verpflichtungen gegen die Türkei nachkommen, kann uns auch nicht so nahe berühren. Was England betrifft, so baben wir durchaus keine Veranlafsung, uns um die englische Politik und die englische Armeeverstärkung, falls sie justande kommen sollte, zu kümmern; wir baben keine Ver anlassung, die Engländer irgendwie darin zu beschränken. Bezüglich Marokkoß wird man das Ergebnis des angerufenen DSaager Schiedsgerichts abwarten müssen, und darüber wird noch einige Zeit vergehen; bis zum 1. April 1909 sollen die Erklärungen und Gegenerklärungen eingereicht sein, vielleicht im Juli oder August frühestens wird die Casablanca - Affäre zur. Ecledigung gelangt sein.

ch kann meine Ausführungen nicht schließen, obne die schärfste Mißbilligung auszusprechen über die Art und Weise, wie der Abg. Scheidemann vorgestern. unsere auswärtige Politik kritiftert bat. Er hat. allerdings der Maßlosigkeit seiner Angriffe von vornherein die Spitze abgebrochen, er bat sich aber speziell be- züglich Marokkos mit seinem Fraktionsgenossen Bebel in Widerspruch gesetzt, der noch im März dieses Jahres erklärte, er stehe auf dem

Standpunkt Bismarcks von 1880, der zu Hohenlohe gemeint habe: Lassen Sie die Franzosen nur nach Marokko gehen. Wir haben den

größten Vorteil, dabon. Frankreich bekommt dadurch ein zweites schlimmeres Algier. Danach richte ich an den Abg. Scheidem ann die Bitte, daß er sich zunor mit dem Abg. Bebel verständigt, ehe er dem Auswärtigen Amt seine Ratschläge erteilt. Wenn die politische Situation gegenwärtig keine erfreuliche ist, wenn wir alle wissen, daß

wir im Kriegsfalle auf unsere eigene Kraft angewiesen sind, sollten wir es vor allem dermeiden, durch inneren Zwist und Hader ein unerfreuliches Bild dem Auslande zu geben. Right or wrong, my country! Gegen⸗ über den Interessen des Vaterlandes muß der Parteihader zurücktreten.

Gott sei Dank stebt ja in der Frage der auswärtigen Politik das deutsche Volk in seiner ungeheuren Mehrheit geschlossen hinter unserer Regierung und unserem Reichskanzler, und dieses Vertrauen wollen . nicht schmälern lassen; in diesem Vertrauen liegt unsere ãrke. Abg. Dr. Wie mer (fr. Volksp.): Daß der Vorredner die agrarisch⸗schutzöllnerische Politik verteidigen würde, ließ sich bei der

ausgeprägten Stellung des Abg. Grafen Kanitz als Vorkämpfers dieser

Wirtschaftspolitik erwarten, aber seine Ausführungen beweisen nichts

gegen die Behauptung, doß die Folgen der Teuerungspolitik ungünstig auf den Etat eingewirkt haben. Der Abg. Graf Kanitz bat zur Stütze seiner agrarischen Argumente darauf verwiesen, daß die Zölle in Frank.

reich bei Fleisch, Vieb. Getreide und anderen Dingen höher seien als bei uns. Die Tatsache an sich ist richtig, aber seine Schluß⸗

folgerung trifft nicht zu. Die Verbältnisse in Frankreich liegen doch

anders als bei uns. Während in Frankreich ein Stillftand der Be— völkerung vor banden ist, haben wir mit einer rasch zunebmenden Be— völkerung zu rechnen. Frankreich ist ferner sehr viel weniger auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen als wir. Nicht auf die Höhe der Zölle kommt es an, die jwei schutzzöllnerische Staaten haben, sondern darauf, welche Wirkungen die Verteuerung der Lebensmittel auf das betreffende Land hat, und da kann nicht gut ein Zweifel sein, daß nabezu um den Betrag des Zolles der Preis kei uns köber ist als in solchen Staaten, die nicht diese Zölle baben. Deshalb sage ich, daß die Verteuerung von Brot, Fleisch und anderen Lebens—⸗ bedürfnissen in weiten Kreisen des Volkes bitter empfunden wird.

Bei der Beratung der Steuerrorlagen hat auch der Abg. Speck vom

Zentrum anerkannt, daß die Preissteigerung auf unseren Reichsetat ungünstig eingewirkt bat. Er bat nur bezweifelt, daß diese Preis steigerung so stark ist, daß sie gegenüber den anderen Ausgaben für die Weltpolitik erbeblich ins Gewicht falle. Wenn man sich aber den Etat assiebt, die Erhöhung der Löbne, die gesteigerten Ausgaben für Materialien usw., die Erhöhung der Beamten— gehälter in Betracht ziebt, so muß man zugeben, daß diese Teuerungspolitik um viele Millionen ungünstig auf den Etat eingewirkt bat. Der Abg. Speck meinte damals, daß doch unter der Herrschaft dieser Zölle ein Aufschwung der deutschen Industrie stattgefunden babe. Der Aufschwung wäre aber noch größer gewesen, wenn die Zölle nicht erhöbt worden wären. Die Zollerhöhung fiel außerdem in eine Zeit wirtschaftlicher Hochkonjunktur; je mehr wir in das Zeichen der wirtschaftlichen Depression eintreten, um so ungünstiger sind auch die Wi kungen dieser agrarischen Zollpolitik. Es ist gerade mißlich, daß zur Zeit der Depression den Steuerzahlern neue Forderungen gebracht werden, wodurch die Reichsfinanzreform erschwert wird, anderseits ist es um so schwerer, in diesen Zeiten für die Beamtenbesoldung Aufwendungen ju machen. Der Schatzsekretär hat Zuschriften aus dem Volke bekemmen, man möge in der Be⸗— soldung Maß balten, da es den Beamten noch besser gehe als anderen. Solche Empfindungen bestehen in weiten Volkskreisen, aber gerade die Beamten mit ihrem knappen Gehalt leiden unter der Verteuerung der Lebensfübrung mehr als andere, die durch Koalition, Ringbildung und Streik einen Ausgleich erzielen können. Für die Beamten müssen wir gerade, durch, Be⸗ soldungserhöhung e nen Ausgleich schaffen. Wäre die Regierung rechtjeitig an diese Aufgabe herangetreten, wäre sie kseichter zu lösen gewesen. In Versammlungen von Beamten haben mebrfach Abgeordnete verschiedener Parteien Ansprachen gehalten; gewiß sollen sich die Parteien über die Wünsche der Beamten informieren, aber s ist nicht richtig, wenn in solchen Versammlungen ein Wettlaufen um die Gunst der Beamten stattfindet. Ein Zentrums mitglied hob unter den Beamten hervor, daß das Zenttum alles gerade für die betreffende Beamtenkategorie getan habt, und rühmte es als besondere Leistung, daß ein Vertreter dieser Beamtenkategorie Zentrumsmitglied sei. Das geht über die Würde der Volke— vertretung hinaus. Dabei hat gerade diese Partei durch Unter⸗ stützung der Zollpolitik zur Verteuerung der Lebenshallung der Beamtensch ft. beigetragen. Das Zentrum hätte nur gleichzeitig mit dem Zolltarif für Besoldunggerhöhungen sorgen sollen. Ueber die Besoldungevorlage wird im einzelnen noch mein Freund Kovsch sprechen. Die Beamten sind vielfach mit den neuen Gehaltssätzen unzufrieden, namentlich die unteren und mittleren Postbeamfen.

ist a,

Die Verminderung der Gehaltsklafsen ist erwünscht, aber sie bringt für einzelne Kategorien Härten und Unzuträglichkeiten mit sich

Zu großen Bedenken gibt uns die Neuregelung deß Wohnungsgeld.

zuschusses Anlaß. Durch die neue Klassfsinterung sind 200 Srie in niedrigere Servigklassen gekommen. Man hat einen Ginbeits immer- e. den neuen Sätzen zu Grunde gelegt, wir Halten die treffende Statistik falsch, für . in ihrem Aufbau und in ihren Wickungen. Der Reichstag wird bier Remedur eintreten lassen müssen. Einen Unterschied jwischen verheirateten und unverheirateten Herren wollen auch wir nicht statuieren. Der Hagestolj ist ja auch unter den Beamten nur schwach vertreten. Aus der Differenzierung, müßten auch für Heer und Marine Kon— sequenzen gejogen werden, deren Wirkung wir gar nicht absehen können. Daß die neuen Gehaltssätze noch nicht in den Gtat hinein. gearbeitet sind, scheint uns jweckmäßig. Die Ueberwelsung dez ganzen Etats an die Budgetkommission empfehlen auch wir. Die Kommission wird damit allerdings vor eine sehr schwere Aufgabe gestellt, da sie auch in steter Fühlung wird bleiben müssen mit der Finanzlommi sion. Die Parole für die Badgetkommlfsion soll Sparsamkeit sein. Das Mort ist leichter aus esprochen als durch- geführt. Wie oft haben wir bei Abstrichanträgen erlebt, daß die Vertreter der einzelnen Ressorts mit Feuereifer nachwiesen, daß gerade an diesem Punkte nicht gespart werden dürfe. Der Veitreter des Reichsschatzamts wird ben den neuerlichen Sparsam keitabestrebungen hoffentlich in der Kommission energisch mitwirken. Dir neue Etat weist doch auch trotz aller Sparsg keit noch eine Mehiforderung von fast 99 Millionen gegen den Etat von 1508 auf. Der Schatz sekretär rühmte auch das Eatgegenkommen des Keiegsministers; aber das gilt doch hauptsächlich nur von den einmaligen Aus aben, und ob das Ersparnisse für die Dauer sind, bleibt dahingestellt. Es wäre viel besser, im Milttäretat die fortdauernden Ausgaben ju verringern, aber hier findet sich ein Plus von 5 Millionen. Gerade bei den fortdauernden Ausgaben des Militäretat⸗ sind noch erhebliche Abstriche möglich. Er umfaßt so viel Positionen und Nummern, daß man nur schwer in alle Einjel— beiten hineinblicken und sagen kann, wo eigentlich der Hebel zu Ersparnissen angesetzt werden muß. Zahlreiche Kommandanturen und Adjutanturen können aufgehoben, manche mit aktiven Offizieren be— setzte Posten mit inaktiven besetzt werden. Es wird fich empfehlen, . die Budgetkommisfion den Militärctat in diesem Jahre von dem Gesichtspunkt aus einmal gründlich unter die Lupe nimmt. Vor allen Dingen müssen Ersparnisse im Pensionswesen erzselt werden. Der immer noch aufrecht erhaltene Kontrast, daß die bei der Beförderung übergangenen Offiziere den Abschied nehmen müssen, be⸗ wirkt ein gewaltiges Anschwellen des Pensionsetats und trägt in die ganze Offizierslaufbahn ein Moment der Unsicherheit hinein. Auf dem Gebiete der Vergebung von öffentlichen Arbeiten und von Lieferungen ist eine Aenderung der jetzigen Praxis dringend erwünscht. Die bureaukratischen Antworten der Behörden an Industrielle, die sich an Submissionen beteiligen wollen, zeigen, daß die Firmen, die die Aufträge erhalten, schon im voraus bestimmt sind, und daß die öffentliche Ausschreibung nur als eine Formalität detrachtet wird. Der Abg. Payer hat schon früher verlangt, daß ein Beirat für Lieferungen eingesetzt werde. Neben der sparsamen Aufstellung des Gtats kommt es vor allem aber darauf an, daß die Ansätze später auch eingehalten nerden. Die Etatsüberschreitungen von 1907 erreichen insgesamt nahezu den Betrag von 13 Millionen. Beim Auswärtigen Amt be— ziffert sich bei den fortlaufenden Ausgaben die üeberschreitung auf 7663 oo, bei den einmaligen auf 36055 Was nutzen uns da die mühevollsten und sorgsamsten Etatsaufstellungen, wenn die Regierung sich so wenig daran kehrt! Dann ist die Arbeit des Reichstags ganz umsonst gewesen. Was die einzelnen Etats und zunächst den Militär- etat anbetrifft, so behalten wir uns vor, auf die zweijährige Dienstjeit bei der Kavallerie, die wir für möglich halten, bei der zweiten Lesung zurücklukommen. Wir verlangen eine Aenderung der Stellung des Militärkabinetts. Die Stelle des Chefs dieses Kabinetts, der über das Geschick von 25 000 Offizieren zu entscheiden hat, er— fordert ein starkes Verantwortlichkeitsgefübl, g⸗ngue Sachkunde und eine hohe Arbeitskraft. Hoffen wir, daß die Wahl des neuen Cheftz glücklich gewesen ist. Die Hauptsache ist, daß das Amt nicht ein bloßes Hofamt bleibt, sondern cingegliedert wird in den Orga⸗ nismus der Staatsbehörden. Das Kriegsministerium ist heute eine reine Verwaltungsbehörde, und in allen Verwaltungeangelegen⸗ heiten hat der Kriegsminister zu erwägen, ob er dem Reichstage gegenüber die Verantwortung übernehmen kann; daraus ergeben sich Mißhelligkeiten und Unzuträglichleiten aller Art Als ein Übergriff ist es zu bejeichnen, wenn Bezirksoffijiere auf Reserv-offiziere und Aspiranten einen Druck ausüben, damit sie in die Krieger— vereine eintreten. Ich habe nichts gegen, die Kriegerverelne, wenn sie sich von Politik fernhalten, aber ich halte es für un—⸗ zulässig, einen Zwang auf die Reserpeoffi iere auszuüben. Es sind auch unzulässige Vorschriften von den Bentksoffizieren gemacht worden, über deren Verkehr mit Privatpersonen, und wenn der Abg. Bassermann empfoblen bat, bei der Auswahl der Offiziere der Bezirks kommandos größere Vorsicht zu üben, so kann ich an meinem Teil diesen Wunsch nur kräftig unterstützen. Der Marineetat bringt uns keine U berraschung;

die erböbte Forderung bewegt sich im Rahmen des Flottengesetzes.

Der Abg. Speck hat die Frage aufgeworfen, ob es sich nicht empfiehlt, trotz des festgelegten Flottenprogramms mit dem Flotten⸗ bau eiwas langsamer vorzugehen. Nun haben wir aber erst kürzlich uns zu der Wahl des neuen Schiffstyps enischlossen, und wir haben bewilligt, daß man in Zukunft zu einem vergrößerten Deplacement übergehe. Aber ich möchte doch nicht den Gedanken einer Aende—⸗ rung des Flottengesetzes, wenn die Technik dazu nötigt, rundweg von der Hand weisen. Man darf auch nicht die Ausführungen, die der Admiral Galster gemacht hat, einfach als nicht der Beachtung wert bezeichnen. Der Hauptfehler der gesetzlichen Festlegung daß der fortschreitenden, technischen Entwicklung nicht genügend Rechnung getragen wird. Der Abg. Bassermann hat gesagt, wir müßten an den im Flottengesetz vorgesebenen Formen schon deshalb festhalten, weil jedes Schwanken im Auslande eine schädigende Wirkung ausübe, und daß der Anschein entstéhe, daß Deutschland seine Pläne zurücktreten lasse, wenn irgend ein Wink er— folge. Diefen Gesichtspunkt kann ich doch nicht als entscheidend an— sehen, wenn es sich darum handelt, ob das, was wir brauchen, tech⸗ nisch und militärisch richtig ist oder nicht. Wir haben schon gegen— über dem beschlossenen Flottengesetz wiederholt Schwankungen vor— nehmen müssen, weil wir erkannt haben, daß veränderten Anschauungen entsprechend auch die Technik verändert werden müsse. Meine Freunde sind auch nicht der Ansicht, daß eine Einschränkung der Rüstungen im Wege eines Vertrages glatt abzuweisen ist. Allerdings können wir uns das Maß dessen, was Deutschland an Rüstungen braucht, nicht vorschreiben lassen durch Majoritäts—⸗ beschluß einer Konferenz. Aber etwas anderes ist es doch, ob nicht Vereinbarungen mit einer bestimmten Macht betreffend den Ausbau der beiderseltigen Rüstungen getroffen werden können. Auch für uns wäre es von großem Interesse zu erfahren, ob die Nachricht zutrifft, daß von englischer Seite ein Voischlag in dieser Richtung gemacht worden ist, und die Gründe kennen zu lernen, die zur Zurückweisung dieses Vorschlages deutscherseits Veranlassung gegeben haben. Auch wir meinen, daß wir England nicht nach laufen sollen. Was die Volkevertretung tun konnte, um den Ge⸗

danken zu bekämpfen, daß die Mehrheit des deutschen Volkes England

feindlich sei, das ist geschehen. Mit seltener Einmütigk it haben die Vertreter aller Parteien hier im Reichstage eritlärt, daß sie Wert legen auf gute und fieundschaftliche Beziehungen zu England. Wenn als Antwort darauf der Oberkommandierende der englischen Armee, Lord Roberts, im Oberhause einen Antrag auf Verstärkung der Armee damit begründet bat, daß eine deutsche Invasion zu befürchten sei, und wenn das Oberhaus diesen Antrag angenommen hat, so wird damit zum Ausdruck gebracht, daß man nicht an Deutschlands Friedensliebe glauken will. Dag ist für uns nicht e n, aber mit der Tatsache müssen wir rechnen. Der Ge⸗ danke einer deutschen Invasion ist so absurd und wahnwitzig,

daß er kaum einer ernsthaften Widerlegung bedarf. Aber fũr die Stimmung jensits dez Kanals ist es im hohen Grade beieichnend. Ver Staatgsekretär deg englischen Kolonialamts hat die Annahme der Resolutlon von Lord . als einen ernsten Schritt bejeichnet und die Hoffnung aug esprochen daß sich daraus nicht ernste Mißverständnisse ergeben. Vie DJesahr solcher Miß verständnisse liegt allerdings nahe genug, und ich kann für meine politiscken Freunde nur dem Berauern Ausdruck geben, daß durch die Vorgänge der letzten Zeit, rie wir kärzlich besprochen haben, das redlich Bemühen, Mißverständnisse zwischen unt und En land zu beseitigen, beeinträchtigt und vereitelt worden ift. E freulich ist die Verminderung der Reichs uuschüffe für die Kolonieen. Wenn der Abg. Speck meint, es seien lediglich Verschiebungen im Etat gemacht, z. B. durch Uebernahme von Straßenbauten auf Anleihe, so kann man doch wohl auch die Straßenbauten als werbende Anlagen ansehen und auf Anleihe übernehmen. Befonders eifteulich ist die Verminderung des Reichszuschusses für Südwestaflika. Heber tie Zurückziehung der Truppen bis auf 2500 Mann herrscht nicht nur beim Ze trum, sondern auch bei uns Befriedigung, wie wir von Anfang an eine Verminderung der Truppen nach der fo tchreitenden Beruhi⸗ ung des Gebiets verlangt kaben. Wenn der Staate sckeetär, der ja n diesem Jahre Südwestafrika besucht hat, inter pocula sich optimistisch über die Diamantenfunde ausgesprochen hat, so wollen wir das abwarten, aber durch eine Mitteilung von englischer Seite aus Kapftadi wird seine Annahme bestaäͤrigt. Ich hoffe, daß seine bewährte Findigleit auch hier Eifolg bar. Mit großen Forderungen für die Kolonien hält sich der Staate sekretär mit Recht angesichts der Finanz lage zurück, er hat auch die im vorigen Jahre abgelche ke Forderung für Landungganlagen in Swakepmund fallen lassen und damit dem Reichstag recht gegeben, wenn er damals, trotz der gemütvollen Ver⸗ teidigung der Forterung, diese abgelehnt bat. Obwohl ich an dem Ernst der Kolonialverwaltung, Sparsamkeit zu üben, nicht zweifele, erscheint mir doch die Forderung für vier öffentliche Abortanlagen für die Eingeborenen in Kamerun ven 5000 M also von 1250 für jede Anlage, nicht angemessen. Es fragt sich, ob diese Aborte als werbende Anlagen anzuseben und auf Anseihe zu übernehmen sind. Aus den an sich erfreulichen Vereinbarungen mit den Dpambohäuptlingen, die die Oberhobeit des Deutschen Kaisers an— erkennen und mil der Anwerbung von Arbeitern einverstanden find, können doch vielleicht Unzuträglichkeiten entsteben; jedenfalls ist die größte Vorsicht gegenüber den kriegerischen Stämmen im Obamboland geboten. Weniger günstig schneidet firanziell der Postetat ab. Die Ausgaben der Postyerwaltung stehen tatsächlich nicht in dem richtigen Verhaltnis zu den Einnahmen; er schließt zwar mit demselben Ueberschuß wie im Vorjahre ab, aber es sind dabei 45 Millionen auf Anleihe über- nommen, die man von Rechts wegen ins Ordinarium setzen müßte. Einer Erhöhung der Fernsprechgebühren muß sch aber ent— schieden widersprechen. Die Post hat daz Monopol und darf bier nicht allein nach fiskalischen Rücksichten entscheiden. Gerade das flache Land hat den Hauptvorteil, während die Städte gerade die Kosten für die Anlegung aufbringen; gegen die Gleichstellung von Stadt und Land auf diesem Gebiete erbeben wir von vornherein entschiedenen Protest. Die Ermäßigung des Briefrortos nach den Ver—⸗ einigten Staaten begrüßen wir mit Freude; es kann sich hier die Ver⸗ tretung des Berliner Kaufmannsstandes ein erheblick es Verdienst bei— messen. Leiger ist das Abkommen mit allerlei Kautelen verkfaufuliert, die sich vielleicht als Hemmnisse erweisen werden; ein billiges Weltpost⸗ porto ist ein Erfordernis des Weltverkehrg. Ein Zuschuß des Deutschen Reiches wird verlangt für die Weltausstellung in Brüffel 1916; wir werden diesen Zuschuß trotz der vorkandenen allgemeinen Ausstellungs— müdigkeit bewilligen, weil der wichtige Warenverkehr Deutschlands mit Belgien jede Förderung verdient. In zweiter Lesung wird der Etat des Reichsamtes des Innern eine Rolle spielen, hauytsãchlich wegen der Aus ührung des Reichsvereinsgesetzes, die in Preußen und anderswo trotz der Erklärung des Staats ekretärs des Innern sebr viel zu wünschen übrig läßt. Der Abg. Gothein haf aller— dings nicht den Vorwurf gegen diesen erhoben, daß er den Reichstag bezüglich der polnischen Gewerkschaften geflissentlich ge— täuscht habe; im übrigen bat der Abg. Gotbein damals wegen Krankheit den Verhandlungen des Reichstags über den F] nicht beigewohnt. Die Tragweite der Erklärung des Staatssekretärs ist bei der Unruhe, in der sich damals diese Verhandlungen vollzogen, nicht ganz klar geworden. Der Mitgebrauch der polnischen Sprache ist in Arbeiter- versammlungen versagt worden, die sich lediglich mit sozialen over nur das Arbei sperhältnis berührenden Fragen besaßten. Erst die mißbräuchliche Anwendung einer solchen Erlaubnis könnte das Verbot rechtfertigen. Wir werden Gelegenheit nehmen, diese Frege ensweder bei Besprechung der Interpellation oder in der zweiten Lefung unter gleichletliger Vorbringung weiterer Fälle von unrichtiger Anwendung des Vereinsgesetzes eingehend zu verhandeln, und Leben uns der Hoffnung bin, in allen diesen Punkten zu einer völligen Verstãndigung mit dem Staatesekretär zu gelangen. Im Falle Schücking ist das gerichtliche Verfahren noch nicht zum Abschluß gekommen, wir wollen uns deshalb nin einmischen. Die freissnnige Volkspartei bat aber niemals einen Zweifel darüber gelassen, daß sie die Einleitung des Disjiplinarverfahrens gegen Schücking' lediglich wegen seiner schriftstellerischen Betätigung mit dem Zwecke der Dienstentlassung als einen schweren Eingriff in das derfaffungs— mäßig gewährleistete Recht der Meinungsfreiheit ansieht. Gegen die Behauptung des Ag. Scheidemann, daß die deuischen Richter abhängig seien, muß ich entschieren Einspruch erheben, es liegt darin eine maßlose Uebertreibung und Verdächtigung der Unparteilichkeit unserrr Richter. Es war eine ganz unzulãässige Verallgemeinerung. Was die auswärtige Politik anberrifft, so haben weder die Vertreter im Auslande noch die in Berlin auf der Höhe ihrer Aufgabe gestanden. Wenn man wegen des Casablanca— Zwischenfalls ohnehin ein Schiedsgericht anrufen wollte, warum verlangt man dann erst die vorherige Erfüllung von Entschuldigungs—

formal täten, warum hat man nicht schon früher mit Frankreich

einen allgemeinen Schiedsvertrag abgeschlossen? Dann hätte der ganze Zwischenfall überhaupt: nicht so viel Staub aufgewirbelt. Meine volit'schen Freunde wünschen, daß man auf der Bahn der schiedsgerichtlichen , , . kräftig vorwärts schreiten möge. Wie haben sich unseie Vertreter in Wien und Konstantinopel derart von den Greignissen überraschen lassen können! Man versteht schwer, warum Freiherr von Marschall, der mit geschickter Hand so lange die deutschen Intersssen in Konstantinopel vertreten hat, gerade in den kritischen Tagen sich von seinem Amt sitz ferngehalten bat. Wie man auch Über die Haltung der österreichisch · ungarischen Politik denken mag, für uns kann kein Zwelfel sein, unser Platz ist an der Seite der befreundeten Breibundsmacht in guten und erst recht in schweren Tagen. Die Aucsschreitungen in Prag sind in hohem Maße bedauerlich und eines Kulturstaates unwürdig. Gestern hat die Berliner Studentenschaft gegen die tschechischen Angriffe auf die deutschen Professoren und Studenten Protest erhoben. Hervorragende Hochschüllehrer haben Ansprachen gehalten und dem Empfinden weiter Volkskreise Ausdruck gegeben; anderselts hat mein Fraktionsfreund von Liszt ausgesprochen, daß diese Kundgebung keine Ginmischung in die inneren Verhältnisse Oester⸗ reichs bedeutet, wie wir unserseits uns eine solche ebenfalls entschi⸗ den verbitten würden. Eine Abordnung der deutschen Kolonie in Prag hat Klage geführt über mangelbafte Vertretung der deutschen Inter' essen durch den dortigen dentschen Konsul, auch darüber, daß er zu wenig ihn mit den Deutschen halte. Das allgemeine Bild der polnischen Lage ist nicht glänzend, nicht erfreulich; Miß— erfolge, Enttä aschungLen, Gefahren im Auswärtigen, Fehler, Ver⸗ stimmungen, finanzielle Sorgen im Innern. Ich spreche nicht von einer kommenden Katastrophe, aber es wird aller Kraft, Besonnenhelt, Opferfreudigkeit und Einmütigkeit bedürfen, um aus den Schwierig⸗ keiten herauszukommen. Der beste Weg ist eine volkstümliche Politik.

Reichskanzler Fürst von Bülow:

Meine Herren! Von allen Rednern aus dem Hause sind schwer—⸗ wiegende Fragen der auswärtigen Politik besprochen worden. Ich will darüber das Nachstehende sagen. Die politische Lage in Guropa

herrscht.

wurde in den letzten Monaten von dem Umschwung in der Türkei be⸗ Ueber den Charakter dieses Umschwungs und seine Vor— geschichte sind in der ausländischen Presse und auch in diesem hohen Hause Ansichten geäußert worden, welche der Wirklichkeit nicht ent- sprachen. Der Herr Abg. Scheidemann ist so weit gegangen zu be— haupten, die Bewegung in der Türkki wäre angeführt worden von Verschwörern und Schnorrern, die früher in Deutschland von meiner Seite eine unfreundliche Behandlung erfahren hätten. Die Führer der Bewegung waren keine Schnorrer, sondern meist Offiziere, tüchtige Offiziere, die ihre Ausbildung in Deutschland erhielten, in unserem Heere, wo sie eine angesehene Stellung einnahmen, und die an unser Heer und an unser Land eine aufrichtige Anhänglichkeit bewahrt haben. (Hört, hört! rechte) Der Umschwung in der Türkei hat sich ohne Blutvergießen und unter Schonung widerstrebender Elemente volljogen, die Bewegung hatte Würde und bat der ganzen zivilisierten Welt Achtung und Sympatkie eingeflößt. Vom ersten Tage an hat sich die deutsche Politik dieser Anerkennung des Idealismus der Bewegung und der Integrität ihrer Führer angeschlossen. Ich habe selbst einige dieser Herren bei mir gesehen, die mir große Achtung eingeflößt haben. Die sind keine Utopisten und sie haben Patriotismus. Auch bei dieser Gelegenheit sind im Ausland wieder allerlei Unwahrheiten über unsere Politik verbreitet worden. Man hat gesagt, wir wären Gegner dieser Bewegung, weil wir freundlich und gut mit dem ancien réögims in der Türkei ge⸗ standen hatten. Darin liegt eine vollkommene Unkenntnis der diplomatischen Gewohnheiten und des ABC aller Politik. Es kann nicht die Aufgabe einer vernünftigen Politik sein, Anderen Vorschriften über verfassungsͥ mäßige Zustände zu geben, sich in die inneren An— gelegenhelten fremder Länder einzumischen und den Schulmeister zu spielen. Wir mußten uns selbstverständlich an die bestehende Ordnung halten. Um ihren Rat gefragt, haben unsere Vertreter in Kon— stantinopel, Herr von Marschall wie Herr von Kiderlen, bei jeder Gelegenheit Reformen befürwortet. (Hört, hört) Wir baben auch jetzt keinen anderen Wunsch, als den Uebergang in die neue Ordnung der Dinge erleichtert und die Türkei politisch und wirtschaftlich ge⸗ kräftigt zu sehen. Wie sollte dem auch anders sein? Wir haben ja niemals ein Stück osmanischen Bodens an uns gerissen oder beansprucht. Gewiß: wir haben das nicht aus Moral und Genüg⸗ samkeit getan, sondern ˖ weil schon unsere geographische Lage keinen Anreiz daju bot. (Heiterkeit) Um so aufrichtiger ist aber auch unser Wunsch, daß die Türkei innerlich gesund und stark sei.

Wenn auch, wie Graf Kanitz soeben zutreffend dargelegt hat, die Türkei durch die Annexion Bogniens und der Herzegowina tatsächlich nichts verloren, durch die Räumung des Sandschak Novibazar sogar etwas gewonnen hat, wenn auch ferner die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens wenigstens keinen wirklichen Gebietsverlust für die Türkei bedeutet, so haben diese Er— eignisse doch eine lebhafte Unruhe am Balkan hervorgerufen und wegen der damit verbundenen Aenderungen des Berliner Vertrages die europätsche Diplomatie vor eine schwierige Aufgabe gestellt. (Sehr richtig) Bei Wahrung der deutschen Interessen war ich mir von vornherein über jwei Punkte klar: erstens, daß die deutsche Politik bei dem diplomatischen Spiel anderen Mächten die Vorhand lassen mußte. Ich bestreite nicht, daß wir anders als in der Zeit des Fürsten Bismarck heute erhebliche wirtschaftliche Interessen auf der Balkanhalbinsel besitzen. Aber auch beute haben wir ebensowenig wie bei der letzten akuten orientalischen Krisis vor einem Menschen⸗ alter Veranlassung, uns bei Regelung der politischen Neubildungen vor andere näher interessierte Mächte in eine führende Stellung drängen zu lassen. (Sehr richtig! rechts)

Der jweite Punkt, über den ich mir nicht einen Augenblick zweifelhaft war, war die Treue zu dem uns verbündeten Oesterreich— Ungarn. (Lebhafter Beifall) Meine Herren, wir sind von der Ab— sicht der österreichisch, ungarischen Regierung, die Okkupation Bosniens und der Herjegowina in eine Annexion zu verwandeln, ungefähr gleichzeitig mit Italien und Rußland unterrichtet worden. Der Zeitpunkt und die Form der Annexion waren uns allerdings vorher nicht bekannt. (Hört, hört! links.) Ich denke nicht daran, das dem Wiener Kabinett übel zu nehmen. Offen gestanden: ich bin ihm sogar dankbar dafür. (Sehr richtig! rechts. Heiterkeit) Gewiß, meine Herren, ich bin ihm dankbar dafür. Die österreichisch⸗ ungarische Monarchie kann und muß selbständig beurteilen, welche Fragen für sie Lebensfragen sind, und wie sie solche Lebensfragen be— handeln will. Selbstverständlich hatten wir das Recht und die Pflicht, uns zu fragen, inwieweit wir für das spezielle Interesse unseres Verbündeten eintreten sollten. Wir haben keinen Augenblick gezögert, nicht nur nichts zu tun, was den österreichisch-ungarischen Interessen hinderlich wäre, sondern auch diese Interessen nach Möglich- keit zu unterstützen.

Daß wir nicht gezögert haben, diese Haltung einzunehmen, betone ich besonders gegenüber dem Herrn Abg. Speck. Zu meinem Er— staunen und ju meinem Bedauern hat Herr Speck vor— gestern behauptet, wir hätten erst sehr spät‘ und erst nach längerem Zögern“ unseren Platz an der Seite von Oesterreich“ Ungarn eingenommen. Wenn ich dem Herrn Abg. Speck einen Blick in die Akten, in meine Instruktionen und Erlasse gäbe, so würde er sich dabon überzeugen, daß dieser Vorwurf unbegründet und ungerecht ist.

Es war eine natürliche Folge der loyalen Haltung, die wir gegenüber Desterreich⸗ Ungarn befolgt haben, daß ich dem russischen Minister des Aeußern Herrn Iswolski in unserer Unterredung keinen Zweifel darüber lassen dur te, daß wir uns in der Konferenzfrage nicht von Oesterreich⸗ Ungarn trennen können. Im übrigen begegneten wir uns in der Ueberzeugung, daß die russische Politik keine Spitze gegen Deutschland haben solle und umgekehrt, vielmehr die alten freundschaftlichen Beziehungen bestehen blelben müßten. (Bravo! rechts.) Der russische Minister hat mir auch aufs neue versichert, daß keine, weder offene noch geheime, russisch-englischen Abmachungen bestünden,

die sich gegen deutsche Interessen richten könnten. (Hört, hört h

Meine Herren, die italienische Politik wird ebenso wie die deutsche von ihrem eigenen Interesse ju einer vermittelnden Haltung gefährt. Das hat in seiner neulichen Rede der verdiente italienische Minister des Aeußern Herr Tittoni eingehend dargelegt. Ich habe die Zu— versicht, daß es möglich sein wird, den Gegensatz, der in jüngster Zeit zwischen Oesterreich⸗Ungarn und Italien hervorgetreten war, ebenso wieder auszugleichen, wie dies früher in vielen Fällen geschehen ist. Ich sehe nicht ein, warum es nicht gelingen sollte, die Interessen der beiden Staaten in Einklang zu bringen! Ich bin überzeugt, daß

es im Interesse Italiens liegt, nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit Oesterreich, Ungarn verbündet zu sein. Einer der schärfst⸗ blickenden Diplomaten, dem ichs in meinem Leben begegnet bin, Graf Nigta er war in der Schule des genialen, des großen Cavour aufgewachsen, er hatte bei Novara gefochten, er hatte in den 50er Jahren das jurge Königreich Italien mit Er folg in Paris vertreten, er war ein glühender italienischer Patriot sagte mir nicht lange vor seinem Tode es muß 1902 gewesen sein —: Italien könne mit Oesterreich Ungarn nur verbündet oder verfeindet sein! Ich glaube nicht, daß es die Leute gut mit Italien meinen, die zu Abenteuern raten, welche die große Zukunft und die erfreuliche Entwicklung des Landes in Frage stellen könnten. (Leb⸗ hafter Beifall rechts und links.) Auf diese erfreuliche Entwicklung hat mit Recht vor wenigen Tagen mein verehrter Freund der italienische Ministerpräsident Giolitti hingewiesen, der an dieser Ent⸗ wicklung und An diesem Aufschwung der Habinsel selbst Anteil und Verdienst bat. Und mit Recht hat Herr Göolitti bei diesem Anlaß auch die segensvollen Wirkungen des Drelbundes hervorgehoben, der den drei durch ihn verbündeten Reichen und ich füge hinzu: ganz Europa eine lange Periode des Friedens und des steigenden wirt- schaftlichen Wohlstandes gesichert hat. (Lebhafte Zustimmung rechts und links.)

Meine Herren, was unser Verhältnis zu Frankreich betrifft, so birgt zwar das marokkanische Problem noch immer mancherlei Schwierigkeiten in sich. Ich hoffe aber, daß es bei dem guten Willen aller Beteiligten gelingen wird, wie in der An— erkennungsfrage, so auch in anderen etwa noch auftauchenden Punkten zu einer Verständigung. zu gelangen.

Den Zwischenfall von Casablanca wird ein Schiedsgericht zu regeln haben. Der Herr Abg. Scheidemann hat bei der Besprechung dieses Zwischenfalles unsere Konsularbehörden angegriffen wegen des Schutzes, den sie Deserteuren der Fremdenlegion haben zuteil werden lassen. Er hat sich genau auf den Standpunkt gestellt, den in Frank⸗ reich gerade die nationalistischen und militaristischen Organe ein— genommen haben. (Hört, hört! und Heiterkeit bei den National⸗ liberalen Wenn es sich um deutsche Verhältnisse handelt, ist der Herr Abgeordnete nicht gerade militärfromm; sobald es sich aber darum handelt, der eigenen Regierung und der Politik unseres Landes Schwierigkeiten zu bereiten, so überkommt ihn ein militärischer Geist, von dem ich nur wünschen kann, daß er ihm auch bei der Beratung unseres Militäretats treu bleiben möge. (Sehr gut! und Heiterkeit rechts und bei den Nationalliberalen.)

Ueber den Zwischenfall selbst will ich das Nachstehende sagen. Solange wir annehmen mußten das möchte ich gegenüber den Ausführungen des Herrn Abg. Wiemer hervor— heben —, daß ein unzweifelhafter Eingriff der französischen Organe in unsere Konsulargewalt vorlag, mußten wir an der Forderung, daß die französische Regierung ihr Bedauern für diesen Eingriff ihrer Organe ausspreche, zur Wahrung unserer Konsulargewalt festhalten und darauf bestehen bleiben, daß eine solche Erklärung der Ueberweisung an ein Schiedsgericht vorausgehe. Als aber ein fran— zösischer, mit cingehendem Material versehener Bericht ergab, daß auch die für solchen Eingriff in Betracht kommenden Tatfragen streitig waren, konnte für uns billigerweise kein Grund mehr bleiben, jene franjösische Erklärung vor Festsetzung des Taibestandes durch ein Schiedsgericht zu verlangen. Worauf es nunmehr ankam, das war, den diplomatischen Streit formell in einer der Würde beider Teile entsprechenden Weise zu erledigen. Das ist durch die von uns gewünschte und vereinbarte Formel geschehen, in der beide Regierungen vorweg ihr Bedauern aussprechen und die Feststellung des Tatbestandes und der weiteren Rechtsfolgen einem Schiedsgericht überlassen. Man hat bei dieser Gelegenheit in einem Teil unserer Presse wieder einmal von einer Niederlage der deutschen Politik gesprochen. Ich glaube, daß diese Regelung die besonnenen und friedliebenden Elemente in beiden Ländern befriedigen kann (Sehr richtig! rechts und bei den National liberalen, und sehe in der gefundenen Lösung einen Sieg der Ver nunft. (Sehr richtig! rechts und links.)

Meine Herren, es macht sich vielfach bei uns wie auch anderswo bei der Beurteilung solcher Zwischenfälle eine Ueber schätzung der sogenannten Prestigepolitik geltend. Ebenso wie es Frauen gibt, die keine Schminke nötig haben, so gibt es Staaten, die stark genug sind, um ju ihrem eigenen Vorteil auf eine kleinliche und unfruchtbare Prestigepolitit verzichten zu können. (Bravo! und Sehr richtig) Suchen wir unseren Vorteil wie unsere Ehre in der Erhaltung der Fundamente unserer Machtstellung und in der Sicherung der Zukunft des deutschen Volkes, nicht in Eitelkeit und Flitter! (Bravo! und Sehr gut! rechts und links.) e

Als erfreulich betrachte ich es mit dem Herrn Abg. Bassermann, daß für die Politik beider Staaten, für die deutsche wie für die französische Politik, die orientalische Frage keine Divergenz, vielmehr manche Berührungspunkte geliefert hat. In den Vorbesprechungen wie bei mehreren diplomatischen Démarchen haben die deuische und die französische Regierung Verständnis für diesen günstigen Umstand gezeigt.

Ueber das Ablommen, meine Herren, das die Vereinigten Staaten und Japan über ihre pazifischen Interessen abgeschlossen haben, will ich das Nachstehende sagen. Der Inhalt dieses Abkommens ist uns von den Vertretern der belden beteiligten Mächte amtlich mitgeteilt worden. Wir haben aus diesen Mitteilungen er⸗ sehen, daß die neue Vereinbarung durchaus im Einklang ist mit den Prinzipien, die der deutschen Politik im fernen Orient zu Grunde liegen: das sind die Prinzipien des open door auf wirtschaftlichem Gebiet, des Status quo in den territorialen Verhältnissen und der Integrität und Unabhängigkeit des chinesischen Reicheg. Wir haben keinen Anlaß, ein Abkommen anders als mit Sympathie zu be⸗ trachten, das eine neue Stütze dieser Prinzipien und damit eine weitere Garantie der friedlichen Entwicklung des fernen Ostens bildet.

Gegenüber der Ansicht, als wäre Deutschland durch das japanisch⸗ amerikanische Abkommen unangenehm berührt oder gar ausgeschaltet worden, will ich daran erinnern, daß wir selbst seit lange ein ganz ähnliches Abkommen mit Japan besitzen. Denn Japan ist dem deutsch⸗englischen Ablommen von 1900, in dem die Grundsätze der Achtung der beiderseltigen Vertragsrechte, des territorialen Status quo und der Politik der offenen Tür in China ausgesprochen sind, ausdrücklich durch Notenaustausch beigetreten. Von unserer Aug⸗