1909 / 27 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 01 Feb 1909 18:00:01 GMT) scan diff

Reichgz verwaltung jede Absicht, dem Budgetrechte des Reichstags irgendwie zu nahe zu treten, durchaug fern lag.

Zum Beweise deffen darf ich mich darauf berufen, daß der Herr Reichskanjler, sobald er von den Bedenken Kenntnis erhalten hatte, die in der Kommission gegen die verfassungsrechtliche Zu⸗ lässigkeit fraglicher Ausgaben ohne vorherige Genehmigung des Reichstags erhoben wurden, mit dem Ersuchen um Indemnität keinen Augenblick zögerte.

Wenn hiernach der Herr Reichskanzler die erhobenen ver⸗ fassungsrechtlichen Bedenken ohne weiteres als begründet anerkannt hat, so glaubte er andererseits doch umsomehr vertrauen iu dürfen, daß von der Kommission des weiteren nur noch geprüft werden würde, ob die betreffenden Ausgaben sachlich gerechtfertigt und not⸗ wendig waren.

Meine Herren, das ist der Standpunkt, auf den wir uns, denke ich, alle stellen müssen. Die Verwaltung war guten Glaubens und der An⸗ sicht, eg müsse diese Bahn gebaut werden. Daß sie bi jetzt nicht gebaut ist, ist auch kein Beweis dafür, daß man damals nicht diese Ansicht gehabt hätte; und daß die Bahn jetzt nicht unmittelbar gebaut werden soll, ist auch kein Bewelg dafür, daß sie, und damit die Vorarbeiten, nicht einmal sehr nützlich werden kann.

Was ist denn geschehen? hat der Herr Abg. Eriberger gefragt. Folgendes ist geschehen. Wir haben auf die Mittellandbahn Wind⸗ huk = Retmanghop verzichtet, weil wir von diesem hohen Hause die Südbahn bewilligt bekommen haben. Was war der Zweck? Der Zweck war eine Verbindung des Nordens mit dem Süden, vor allen Dingen eine Verbindung im Land. Diese Verbindung ist jetzt über See und durch die Bahn Lüderitzbucht —Ketmanshop geschaffen, und es ist deshalb nicht mehr im militärischen Interesse so notwendig, eine solche Mittellandbahn zu haben.

Meine Herren, es ist hier gesagt worden: ja, ihr habt ja noch keine Bahn, wenn ihr den Plan habt, und bis wann die Bahn fertig ist, weiß man gar nicht. Die Rechnungen, die ich diesem hohen Hause habe aufmachen müssen, weil wir lässig gewesen waren, die Verbin⸗ dung Lüderitzbucht - Ketmanshop ju schaffen, die vielen Millionen, die da umsonst ausgegeben worden sind und die wir heute sparen, sind meines Erachtens weiter nichts als ein Beweis, wie richtig die Empfin⸗ dung der Verwaltung damals war, daß ein Krieg nicht geführt werden kann ohne Verbindungswege. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) Daz ist auch heute noch der Zustand. Wenn man inzwischen davon abgekommen ist und gesagt hat: die richtige Verbindung ist nicht von Windhuk nach Ketmanshop und hat lieber gesagt: es ist besser, wir verbinden den Süden direkt mit dem Meere, weil nicht nur die Truppen vom Norden, sondern auch die Furage und der Nachschub schneller hinkommen können, so ist das weiter nichts als ein Be⸗ weig, wie ich eben gesagt habe, dafür, daß die Anschauung der Verwaltung damals eine richtige gewesen ist. (Sehr wahr! rechts) Wenn nun aber die Ausgaben dem Grunde nach als gerecht fertigt angesehen werden müssen, und wenn der Herr Reichskanzler in

guten Glauben bezweifelt hat, erklärt sich aus der damaligen erregten

keinem Moment gezögert hat, das Versehen der Verwaltung zu be⸗ kennen und die nachträgliche Genehmigung der verfassungsmäßig dazu

berufenen Körperschaft einzuholen, so sehe ich ebensowenig wie der

Herr Abg. Görcke, ohne auf die Sache weiter einzugehen, einen Grund, ein Crempel zu statuieren. Wa können Sie tatsaͤchlich mehr ver⸗

langen? Sie können verlangen, daß in Zukunft so etwas nicht wieder

ausgegeben wird. Das gebe ich Ihnen zu. Aber mehr als außerdem geleistet worden ist, können Sie nicht verlangen. Unmittelbar nach⸗ dem Sie ein Monitum erhoben haben, hat man gesagt: ja, wir be⸗ kennen, dag hätte nicht sein sollen. Das ist der deutsche Ausdruck für daß, was man lateinisch Indemnität nennt. (Heiterkeit.) Dieses Ersuchen ist nicht einmal an Sie ergeht jweimal. Es liegt jetzt jum weiten Male in einer besonderen Vorlage, mit einer besonderen Begründung ; vor, und bei der ersten Gelegenheit, die überhaupt dafür da ist, nämlich bei der Vorlage und der Beratung der Haushalttübersicht für 1904. Gtatmäßlg kann es nicht eingeholt werden, weil die Ausgabe schon geleistet ist. In der Rechnungsübersicht ist der richtige Platz, und in dem Antrag, den der Herr Reichgkanzler gestellt hat, steht ganz aus=

drücklich das Petitum: Hinsichtlich der unter Kap. 1 Tit 15, einmalige Ausgaben des

Südwestafrikanischen Schutzgebietes nachgewiesenen, in der zugehorigen außeretatmäßigen Ausgabe von

enkschrift näher begründeten ö zu Vorarbeiten für eine Eisenbahn von Windhul nach Reoboth die bereits früher nachgesuchte Indemnität zu erteilen. Ich meine, abgesehen davon, daß man die Ausgabe viel⸗ leicht im Anfange nicht hätte leisten sollen, daß man damalg glaubte, nicht in der Lage zu sein, den Reichstag rufen in können und hinreichende Unterlagen für etwaige notwendigen Aufwendungen zu haben, hat kein Mensch damalt ge⸗ wußt, daß wir insgesamt 400 Millionen Mark nach Südwestafrila schicken müßten. Kein Mensch konnte die Kosten annähernd voraus berechnen. Damals hat man geglaubt, man muß die Ausgabe machen im Interesse der Erhaltung des südwestafrikanischen Schutzgebietes, und meines Erachtenz hat man damals recht gehandelt.

Nachdem aber diese Ausgabe einmal gemacht worden war, hat man kelnen Moment gezögert, alles dasjenige zu tun, was irgend ver⸗ langt werden kann. Es ist deshalb nicht der mindeste Grund vor— handen, diese vom Reichskanzler ordnungs mäßig nachgesuchte Indemnität etwa ju verweigern. Gine Rückverweisung an die Kommission er⸗ scheint mir absolut übrig zu sein. (Sehr richtig! rechts) Es ist kaum eine Sache, die in diesem hohen Hause mit einer solchen Ausführlich⸗ keit verhandelt worden ist wie diese, und die Linien der Kontroverse sind so scharf gejogen, daß eine neue Beratung etwas neues überhaupt nicht bringen wird. (Bravol rechts.)

Ulrich (Soz.): Ich habe mich auf dle Ziffern bejogen, die der . selber dem Hause zur Verfügung gestellt hat. Wag die Art der Berichterstattung betrifft, so hat die Kommission einen schriftlichen Bericht gegen meinen Wunsch nicht für nötig erklärt. Ich s mich bemüht, sowohl die Anschauungen det Mehrheit wie der Minderheit sachlich zu vertreten. Wäre ein schriftlicher Bericht beschsoffen worden, fo hätte ich das auch in diesem getan. Den Vor wurf, baß ich mich mit der Ablehnung des Referaitz von der Arbeit habe drucken wollen, weise ich zurück; es war mir als Gegner der Indemnitätgerteilung nicht angenehm, den Kommissionsbeschluß zu ver⸗ treten.

Abg. Görcke el): Ich habe dem Vorredner nicht vorgeworfen, da er st 663 der . habe drücken wollen, sondern gemeint, 89 er sich in einer unbebaglichen Situation befunden habe. 4 aber jeder Berichterstatter . t. Der Kernpunkt der ganzen Frage ist der, ob die Reglerung in gutem Glauben

namentliche Abstimmung über die Erteilung der Indemnität

der Antrag Erzberger (Zentr) auf Zurückverweisung der

ergangen, es

gehandelt hat oder nicht. Daß damals die Kommission den oppositionellen Stellung. 1906 aber hat die Kommission die In⸗ 5 nicht . sondern gesagt: möge erst die Regierung mit der Indemnitäk kommen, und dann wollen wir sehen. Heute sind wir vier Jahre weiter und haben über die Sache eine ganz andere Uebersicht; es liegt kein Grund mehr vor, die Indemnität ab⸗ zulehnen. Gine Zurückverweisung der Sache an die Kommissien halte auch ich für Überflüssig. Die Sache ist wirklich so eingehend in allen Instanzen behandelt worden, daß sie wirklich ö ist. Abg. Freiherr von Gamp (Rp.): Klüger werden wir durch eine gon m , nicht werden, auch die namentliche Abstimmung soll ja auch erst am Freitag stattfinden; die Herren können sich also diz Sache noch überlegen. Der Abg. Erzberger vermengt die Stellung der Budget,; kommifsion gegenüber den 200 000 ½ und die Forderung auf Indemnität. Bie Ablehnung der Vorlage war nicht gleichhereutend mit der Ablehnung der Indemnität. Ich darf in dieser Beziehung auf die früheren Verhandlungen und das Protokoll der gommission verweisen. Der Abg. Bachem sagte damals, daß, wenn der Bundesrat oder der Reichtkanzler eine Vorlage bringen und die Indemnitäͤt ver⸗ langen, er, der Abg. Bachem, sie auch bewilllgen würde. Sollte nunmehr die Mehrheit für die Ablehnung der Indemnität sein, so müßten allerdings die erforderlichen Konsequenzen daraus gezogen werden. Daß der Abg. Erzberger die Loyalität der Firma Koppel hochschatzt hat mich gewundert; die Firma hat sich der parlamentarischen Rechte keineswegs angenommen. . w Erzberger (Zentr.): Eine nochmalige Beratung in = uiss bt . eee des Abg. von Gamp erst recht geboten; denn er hat alles durcheinandergeworfen. Die Forderung auf Indemnität war keineswegs in der Vorlage vorhanden. Die Indemnität wurde ge⸗ fordert für die ganze groß. Milllonenfarderung, und damit war der Abg. Bachem einverstanden. Die Spenialbewilligung der 200 909 hatte die Kommisston einmütig aus der Indemnität aus geschaltet. Wag hat sich seitdem geändert? Gar nichls, die staatsrechtliche, budget⸗ rechtliche Frage ist heute ganz dieselbe wie 1995. Die Regierung hatte die Forderung von 200 0900 M als aussichtslos zurückgezogen. Der Staakssekretär hat uns auf die Zukunft vertröstet, wo solche Dinge nicht mehr vorkommen würden. Damit können wir uns aber nicht zufrieden geben. Die Firma Koppel hat für das Budgetrecht des Reichstags einen größeren Respekt bewiesen als die Regierung, denn diefe setzte sich darüber kurzerhand hinweg. Treten Sie für die Zurückverweisung an die Kommission mit uns ein mit der augdrücklichen Forderung eines schriftlichen Berichts!

Damit schließt die Diskussion. Von dem Abg. Ulrich (Soz) ist folgender Antrag ein⸗

, Reichstag wolle beschließen: o e ! hr gi ö den einmallgen Ausgaben für das südwest⸗

lkanische Schutzgebiet als außeretatsmäßig angeforderten 200 000 n, , . für den Bau einer Eisenbahn von

Windhuk nach Rehoboth abzulehnen; . k die . dem Herrn Reichskanzler nachgesuchte Indemnitãt für die ohne Zustimmung . , n, im Jahre 1904 ver⸗ ausgabten 200 000 S zu versagen un

a3 den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, gegen den Beamten, der für den mit der Firma Arthur Koppel am 4. August 1904 über die Zahlung der 200 g00 M abgeschlossenen Vertrag ver⸗ antwortlich ist, eine Untersuchung einzuleiten, die festzustellen hat, ob und inwieweit derselbe persönlich für den Betrag haftet, und dem Reichstag das Resultat dieser Untersuchung zur weiteren Be⸗

f itzuteilen. , , ier der Antrag Bassermann (nl) auf

„welcher Antrag nach der Mitteilung des Präsidenten Grafe . Stolberg am Freitag erledigt werden soll, und

nzen Angelegenheit an die Rechnungskoömmission. 25 i m n h n e, che bringt zunächst den Antrag Erz— Abstimmung. berger n m nn, (nl. ): Die Wichtigkeit des Gegenstandes erfordert nach meiner Ansicht ein vollbesetztes Haus. Ich bezweifle

ähigkeit des Hauses. ö Alg lg rr ger . Ich bitte, um die Geschäfte des Hauses nicht ju unterbrechen, auch meinen Antrag erst am Freitag zur

ingen.

bft gn r nr geen che: Nachdem die Beschlußfähigkeit bezweifelt worden ist, kann ich nur auszäblen oder durch das Bureau konstatieren lassen, ob das Haus beschlußfähig ist oder nicht. (Widerspruch und Zurufe) Ngch der Geschäftsordnung kann ich nicht anders handeln. Nach Befragung des Buregus erklärt der Vizepräsident Paasche das Haus für nicht beschlußfähig und setzt die nächste Sitzung auf Donnerstag 1 Uhr an mit der Tagesordnung: Zweite Beratung des Etats, Reichsamt des Innern. Auf die zahlreichen Zurufe und Wortmeldungen von der Linken erwidert er, daß bei einem beschlußunfähigen Hause die Verhandlungen abgebrochen seien. Schluß nach 1, Uhr. . Nächste Sitzung Donnerstag, 4. Februar, Nachmittags

1 Uhr. (Etat des Reichsamts des Innern.)

Prensßzischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 21. Sitzung vom 30. Januar 1909, Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Ueber den Beginn der Sitzung ist in der vorgestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden. ur Beratung steht der Antrag der Abgg. Borgmann (Soz.) und Genossen, die Königliche Staatsregierung zu uchen, die Vollstreckung der rn den Abg. Dr. Liebknecht erkannten f tungshaft für die Dauer der gegenwärtigen Session auszusetzen. Die Geschäftsordnungskommission, Berichterstatter Abg. Dr. Viereck, bean tragt die Ablehnung des Antrages, schon deshalb, weil der Oberreichsanwalt in Leipzig die zuständige Adresse für das Ersuchen sei. Die Abgg. Borgmann (Soz) und Genossen beantragen erner folgende Resolution: f * 23. Staatsregierung zu ersuchen, möglichst noch in dieser Session zur Ergänzung bezw. Abänderung der Verfassung (Artikel 84 einen Gesetzentwurf dahin vorzulegen, daß kein Mit- glied der Kammer ohne deren Genehmigung während der Sitzungg⸗= eriode zum Zwecke der Strafvollstreckung verhaftet werden darf, ö daß auch jede Strafhaft eines Mitgliedes für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben werden muß, wenn die betreffende Kammer es verlangt.

Die Abgg, Traeger (fr. Volksp.) und Genossen bean⸗ tragen ke be Resolution, nur mit dem Unterschiede, daß statt möglichst . in dieser Session“ gesagt werden soll: „mit tunlichster Beschleunigung“.

. nee eng, Wir stimmen dem Kommissionsantrage zu, den Antrag Borgmann abzulehnen. So, wie der Antrag gestellt ist, ist er vollständig unannehmbar; denn es entspricht nicht der Stellung des Parlaments gegenüber der Staatgzregterung, an diese zu Gunsten

arlament diesem Gesuch nicht den nötigen Nachdruck geben und . Staatsregierung dieses Gesuch ganz nach Belieben ablehnen kann. Dem neuen Antrage Borgmann und dem Antrage Traeger können wir dagegen zustimmen. Der Grund liegt darin, daß wir hier nicht einem einzelnen Abgeordneten einen Gefallen tun sollen, sondern daß hier das Recht der Wähler betont ist, im Hause durch den von ihnen gewählten Abgeordneten vertreten jzu sein. Etz kann sich nur darum handeln, ob besondere Gründe dafür vorliegen, einen Unterschied zu machen zwischen Untersuchungshaft und Strafhaft. Die Unterbrechung der Strasvollstreckung könnte als ein Eingriff in die Justiz . werden; aber derselbe Eingriff wird ja auch bei der Unterbrechung der Untersuchungshaft gemacht. Ja, diese Unterbrechung ist noch be⸗ denklicher, weil da ja der Abgeordnete den Fall verdunkeln könnte. Auch bei der Untersuchungshaft kann es sich um schwere Ver⸗ brechen handeln, und dennoch muß die Haft auf Verlangen des Hauses unterbrochen werden. Das Haus wird dies jwar nur verlangen, wenn der ganze Fall danach liegt. Gerade der Umstand, daß dann ipso jure die Enthaftung zu erfolgen hat, bestimmt uns, diesen Antrag anzunehmen. Wie ich höre, werden die Nationalliberalen beantragen, die beiden neuen Anträge Borgmann und Traeger der Justizkommission zu überweisen; meine Partei würde damit einverstanden sein.

bg. Boisly (nl): Dem schriftlichen Bericht der Kommlssion ist . . . die Ablehnung des ursprünglichen An⸗ trages Borgmann ist damit aus formellen Rechtsgründen gegeben. Anders ist es mit den neuen Anträgen wegen der Abänderung der Verfassung. Wenn ein Kandidat gewählt wird, obwohl er schon verurteilt ist, so wissen die Wähler von vornherein, daß sie nicht im Hause vertreten sein können. Anders liegt die Sache, wenn die Verurteilung erst nach der Wahl erfolge Vielleicht sollte dann eine Neuwahl stattfinden, damit die Wähler selber darüber urteilen können. Kann das Haus wirklich verlangen, daß es darüber entscheiden soll, ob eine Strafvollstreckung zu unterbrechen ist? Es ist z. B. sehr wohl möglich, daß bei einer Verurteilung zu Zuchthaus wegen Totschlages das Gericht die bürgerlichen Ghren⸗ rechte nicht aberkennt; soll dann das Haus entscheiden, ob es sich um ein ehrloses Verbrechen handelt oder nicht? Meine Freunde wünschen, daß die ganze Frage nochmals gründlich geprüft werde, und beantragen deshalb die ÜUeberweisung der beiden Resolutionen an die ustizkommission. .

3 . in eth (kons): Ist es Bescheidenheit, daß sich der Abg. Hirsch an die letzte Stelle der Rednerliste hat setzen lassen, oder etwa Mißtrguen in die zwingende Gewalt seiner Gründe, daß er sich unter die Fittiche des Abg. Traeger geflüchtet hat? Die bürger⸗ lichen Partelen haben nie eine solche Anregung gegeben; daraus können wir die Tendenz des Antrages eikennen, daß wir entscheiden sollen, was als ehrlos angesehen werden soll. Der Streit darüber zwischen der Sozialdemokratie und den bürgerlichen Parteien würde nie ent- schieden werden, denn es dient ja geradezu zur Verherrlichung der Sozialdemokratie, wenn einer im Interesse, der Partei eine Straftat begangen hat; im sozialdemokratischen Kalender werden ja Fürstenmorde usw. als große Taten verherrlicht. Wir werden uns über diesen Standpunkt niemals einigen können. Es hat also keinen Zweck, dem Antrage ju folgen. Wenn man meint, daß die Wähler ein Recht hätten, hier vertreten zu sein, oder daß daz Abgeordnetenhaus irgend ein ganz herbor— ragendes Mitglied nicht entbehren könne, so sind diese Gründe doch recht fadenscheinig; wir würden uns auch ohne die hervorragendsten Mitglieder des Hauses eine Zeitlang behelfen können, ohne daß die Geschäfte des Hauses leiden. Der Art. 84 der Verfassung hat nur den Zweck, die Abgeordneten vor tendenziöser Verfolgung durch die Regierung zu schützen, und dazu reicht die Unterbrechung der Unter⸗ suchungshaft vollkommen aus. Wenn man auch die Strafbollstreckung ausschließt, so heißt das nichts anderes als in das Begnadigungsrecht der Krone eingreifen. Das hat kein geringerer als Gneist gesagt; er hat seine warnende Stimme erhoben, daß man das Privilegium der Abgeordneten nicht auch auf die Strafoollstreckung ausdehnen möge, sonst hätte es ja die Sozialdemokratie vollkommen in der Macht, jemanden ju wählen, um dessen Strafe zu unterbrechen. Damit würden wir einen Teil des Begnadigungsrechts auf die Sozialdemokratie übertragen. Ich habe namens meiner Freunde zu erklären, daß wir gegen die Anträge stimmen werden.

Abg. Lippmann fr. Vgg.): Solche Fragen können un⸗ möglich mit Rücksicht auf den Parteistandpunkt entschieden werden. Auch die Parteien, die sich heute gegen die Anträge aussprechen, können nicht wissen, ob sie nicht einmal in eine ähnliche Lage wie die Partei der ntragsteller kommen. Ich kann meinem ver⸗ ehrten Freunde Traeger in einem Punkte nicht beistimmen. Plato amicus meus, magis amica veritas. Plato ist mein Freund. Aber ich bin doch der Ansicht, daß der Antrag auf Straf⸗ entlassung des Abg. Liebknecht abzulehnen sei. Denn wenn jede Strafvollstreckung durch den Willen des Parlaments hätte unter · brochen werden sollen, so wäre in der Verfassung nicht ausdrücklich nur die Zivilhaft und die Untersuchungshaft genannt. Um so mehr stimme ich der Resolution zu, die eine Erweiterung der Befug ; nisse des Parlaments verlangt, denn das entspricht der Würde des Hauses und dem Sinne ber Verfassung. Es ist nicht zu befürchten, daß etwa dadurch auch Zuchthäusler ihre Freiheit zeitweise wiedererlangen, denn wer die bürgerlichen Ghrenrechte verliert, verliert ja auch das Recht, dem Hause anzugehören. Daß die einzelnen Bundesstaaten darüber zu bestimmen haben, geht aus dem §z 6 des Einführungsgesetzes zur Strafprozeßordnung bervor, worin die Regelung der Strafverfolgung parlamentarischer Mitglieder ausdrücklich den landesgesetzlichen Bestimmungen vor- behalten ist. Ich bitte daher um Annahme der Resolution Traeger.

Abg. Hir sch⸗Berlin (Soz) erklärt, nur das wiederholen zu können, wa bereits früher von sozialdemokratischer Seite auggeführt sei. Bezüglich des Art. 84 sei doch ganz klar, daß unter Straf⸗ verfahren das ganze Verfahren der Bestrafung verstanden sei. Der Strafprozeß sei nur die Vorbereitung für den Strafvollzug, das Ganze das Strafverfahren. Das Interesse an der Anwesenhest eines jeden Abgeordneten sei unbestreitbar. Ganz entschleden müsse er der Ansicht des Abg. Roeren widersprechen, daß mit dem Antrage . mann nur eine Bitte D, sei; die Wähler des Abg. Li knecht hätten ein wohlbegründetes Recht, sich im Landtage von ihrem Abgeordneten vertreten u sehen Er hoffe, daß der Antrag auf Ueberweisung an die Justizkommission angenommen werde.

Damit schließt die Debatte.

Der kg nr auf , , mn, , Abg. Liebknecht wird gegen die Stimmen der Freisinnigen Volkspartei und der Sozial⸗ demokraten entsprechend dem Kommissionsantrage abgelehnt.

Die beiden Resolutionen Borgmann und , . werden gegen die Stimmen der Rechten an die Justizkommission üͤberwiesen. .

Darauf beginnt das Haus die zweite Beratung des Staatshaushaltsetats für 1909 mit der Besprechung des Spezialetats der Justizver waltung.

Berichterstatter hr Budgetkommission ist der Abg. von dem Hagen (Zentr.).

6k 363 Elben en , Glo 520 t, 112020 6 mehr als im Vorjahr) wei

hen , . a Vgg.) darauf hin, daß die Prüfungg⸗

gebühren für die Referendare erhöht worden seien, sodaß ein erheb⸗ licher Ueberschuß eintreten werde. Die Reorganisation der Jufsthi⸗ prüfungskommission habe leider bezüglich der Besoldung leine klareren Verhältnisse als früber geschaffen; die Bejüge von 26000 Æ für die nebenamtlich beschäftigten Justijprüfungskommissare sollten auf ihre Berechtigung hin einmal untersucht werden.

(Schluß in der Zwelten Beilage.)

eines einzelnen Abgeordneten ein Ersuchen ju richten, wenn dag

Zweite Beilage zum Deutschen Reichsanzei

Berlin, Montag den 1. Februar

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Abg. Dr. Bell (Zentr): Seit 1897 hat eine Zunahme der Kandidaten in der Justäpflege stattgefunden, und auch für 1968 ist eine erhebliche Stelgerung wieder zu erwarten. Wir wollen deshalb einer Vermehrung der Mitgliederzahl der Justizprüfungskommisston nicht widersprechen, aber vor allem muß dem Bedenken Rechnung ge⸗ tragen weden, daß die Mitglieder im Hauptamt die rechte Fühlung mit der Praxis nicht verlieren. Leider ist auch das Ergebnis der letzten Prüfung nicht befriedigend, es waren 1967 219 Duichgefallene bei 1629 Kandidaten. Der Projentsatz von 21,3 oso. Durch⸗ i e außerordentlich hoch, er betrug in den 70er Jahren nur

0.

Abg. Klau sener (Zentr. stellt zur Erwägung, ob es nicht angebracht sei, mit den . der mittleren Juftijbeamten (Gerichts- schreiber, Gehilfen ufw.) aufzuräumen, weil bel keiner anderen Ver⸗ waltung Preußens und im Reiche folche Gebühren von den mittleren Beamten erhoben würden.

Abg. Cassel (fr. Volksp.): Es ist sehr wünschengwert, daß in der Justizprüfungskommission Herren sitzen, die aus der Praxis gekommen sind, aber es ist nicht gut, wenn fie dauernd in der Prüfungs⸗ kemmission bleiben. Bei den Prüfungen müssen einheitliche Grundsätze befolgt werden, deshalb darf die Zahl der , . der Kommission nicht zu groß sein, und eg müssen hauptamtliche Mit- glieder berufen werden.

Abg. dicke (freikons. : Ich bin auch der Ansicht, daß haupt⸗ amtliche Mitglieder in die Kommission berufen werden müssen. So⸗ lange der jetzige Andrang von Prüfungs kandidaten anhält, kann die Regierung gar keinen anderen Weg gehen, als die Kommission durch neue hauptamtliche Mitglieder zu berstärken.

Geheimer Oberjustizrat Fritze: Wenn der Abg. Peltasohn be⸗ mängelt, daß die Reorganisation der Prüfungskommission die neue Be—= soldungsordnung durchbreche, so ist das richtig, aber die Besoldungs⸗ ordnung ist nach dem Stande des Etats von 1908 aufgestellt, da der jetzige Etatsentwurf noch nicht vorlag; die Besoldungsordnung sieht aber gerade die Möglichkeit von Aenderungen durch den Etat vor, und das ist besonders mit Rücksicht auf die Neuorganisation geschehen. Wenn 2000 M für die nebenamtliche Tätigkeit' in der Prüfungs⸗ kommission zu hoch erscheinen, so ist das kein sester Satz, sondern die Herren werden natürlich weniger erhalten, wenn ihre Tätigkeit weniger in Anspruch genommen wird. Die nebenamtliche Tätigkeit in dem Umfange, wie sie mit Rücksicht auf die große Zahl der Referendare gefordert werden müßte, ist auf die Dauer nicht möglich; es ist nicht mehr möglich, Herren in ausreichender Zahl dafür zu ewinnen, da sie dadurch ihrem Hauptamte entjogen werden. Deshalb st es nötig, mehr Kommissionsmitglieder im Hauptamt zu berufen. Ich kann die Herren darüber beruhigen, daß dadurch der Zusammen⸗ hang mit der Praxis und der Gewinn der Prüfungen für die praktischen Erfahrungen nicht verloren gehen wird; in die hauptamtlichen Stellen werden ja Herren berufen werden, die Erfahrungen aug der Praxis mitbringen. Die Art der Ctatisierung ermöglicht es, nach einigen Jahren wieder die Stellung zu wechseln. Bei jedem Examen soll auch ein nebenamtliches Mitglied mitwirken.

Bei den Einnahmen aus der Beschäftigung der Ge— fangenen bemerkt

Abg. Dr. Wag ner⸗Breslau ffreikons. ): Diese Einnahmen der Ge⸗ fangenenarbeit lassen einen Rückschluß auf den Umfang der Gefangenen⸗ arbeit leider nicht zu. Ein genaueres Bild würde man sich machen können, wenn man die Einnahmen folgendermaßen spezialisierte: 1) Einnahmen aus der Beschäftigung der Gefangenen für Unter⸗ nehmerbetriebe, 2 Einnahmen, die der Fiskus aus der Gefangenenarbeit hat, 3) Ginnahmen aus der Beschäftigung der Gefangenen in der Landwirtschaft. Vor längerer Zeit hat die Handwerkskammer eine Petition eingereicht, die Gefangenenarbeit, die dem Handwerke Konkurrenz macht, möglichst zu beschränken. Es wurde damals seitens der Re⸗ gierung mitgeteilt, daß diesem Wunsche werde entsprochen werden, und daß die Einnahmen, welche die Justizverwaltung durch die Arbeitskräfte, die für landwirtschaftliche Zwecke hergegeben werden, erzielt, sich etwas gesteigert hätten. Eg wäre nun intereffant zu erfahren, ob diese Steigerung eine fortschreitende sei. Man kann seider der Ber⸗ waltung den Vorwurf nicht ersparen, daß noch immer zu viel Ge⸗ fangene in Unternehmerbetrieben beschäftigt werden. Namentlich in Breslau werden die Buchbinder dadurch ungemein geschädigt.

Geheimer Oberjustlzrat Pl aschke: Aus der Statiffik über die Aus— führung von Landeskulturarbelten von 1967 ist zu ersehen, daß die Ein⸗ nahmen aus der Beschäftigung von Gefangenen in landwirtschaftlichen Be⸗ trieben um rund 100 006 S6 gestiegen sind. In gleicher Weise ist die Beschäftigung der Gefangenen mit siskalischen Arbeiten ausgedehnt Die Hauptsteigerung der Cinnahmen aus landwirtschaftlichen Arbeiten haben wir durch die Uebernahme von Arbeiten in eigene Regie erzielt. Wie sehr sich die Zahl der Regiearbeiten vermehrt hat, kann der Vorredner daraus ersehen, daß wir an Rohmaterialien 1,3 Mill. Mark mehr auswerfen mußten. Hieraus folgt schon, daß der Unter⸗ nehmergewinn ganz außerordentlich eingeschränkt ist, und anderselts wird die Justijverwaltung, wo der Unternehmergewinn noch hesteht, höhere Saͤtze verlangen, damit die Klagen des Handwerks über die Konkurrenz der Gefangenenanstalten aufhören.

Abg. Beyer. Neustadt entr.): Die Erklärung bom Regierungs— tische begrüße ich mit großer Freude, glaube aber, daß das Bestreben der Justtzberwaltung, die Löhne für die Gefangenen auf gleiche Höhe zu bringen mit den Löhnen der freien Arbeiter, nicht durchführbar ist, weil die Gefangenen meist minderwertiges Arbeitermaterial sind, und ihnen deshalb auch nur minderwertige Arbeiten übertragen werden können. Ich würde also bitten, hier nicht zu scharf vorzugehen.

Abg. Rosenow (fr. Volkep.): Die Klagen der Handwerker über die Konkurrenz der Gefangenenanstalten sind in dieser schweren Zeit nur zu berechtigt. Wir verkennen keineswegs, daß die Gefangenen beschäftigt werden müssen, aber wir meinen, daß es sich bei einigem guten Willen bestimmt einrichten lassen wird, die Schädigung des Hand⸗ werk auf ein Minimum zu reduzieren. Wir können heute nur den Wunsch aussprechen, daß die Justizverwaltung bei Vergebung ihrer Aufträge möglichst auf den Handwerkerstand Rücksicht nehmen möge.

Die Einnahmen werden bewilligt.

Bei den dauernden Ausgaben, und zwar beim Titel des Ministergehalts bemerkt

Abg. Böhmer (kons.); In den letzten drei Jabren haben wir 400 neue Richterstellen geschaffen; es mag dabei wohl etwas weit bern verfahren sein, aber die Justizverwaltung hat die Notwendigkeit der Vermehrung nachgewlesen, und wir haben das Vertrauen zu dem Minister, daß der Nachweis begründet war. Wir werden auch diesmal die geforderten 124 neuen Richterstellen bewilligen; aber meine Freunde meinen, daß das so nicht weitergehen könne. Wenn man etwas be⸗ Hire muß man auch Vorschläge zur Abhilfe machen. Zunächst liegt die Sache etwas verwickelt, weil die Novellen zur. Zivilprozeßordnung und zur Strafprozeßordnung noch nicht erledigt sind. Der Minister hofft, dadurch Richter ersparen ju können; aber auf diese Zukunft können wir uns nicht recht verlaffen, es gibt andere Mittel, zunäͤchst in der Organisation. Zwesfellos ist eine Menge kleiner Amtsgerichte nicht voll beschäfligt. Zwar sind wir weit entfernt dapvon, dem Lande Amtsgerichte entzicben zu wollen, aber bei einer Veränderung

Ferichte, die zwei oder drei Richter hahen, mit einem oder zwei Richtern autkommen. Dag hauptsächlichste Mittel, Richter zu er⸗ sparen, liegt in der Vereinfachung der Geschäfte. Mit Genugtuung sehe ich in der neuen Zivllprozeßordnung, daß das Kostenfestsetzungsverfahren nicht mehr vom Richter, sondern vom Gerichtsschreiber erledigt werden soll. Das erspart viel Schreiberei. Ferner fönnte bei der Abfassung der Urteilsgründe gespart werden. Wäre eg nicht sogar möglich, daß bel kleinen Strafurteilen die schriftliche Begründung weg fällt, oder daß bei Zivilfachen den Partelen das Recht gegeben würde, auf Gründe ju verzichten? Ferner könnte der Minister die Staats⸗ anwaltschaft anweisen, die allzu kleinen Sachen nicht durch alle Instanzen zu bringen. In einem Falle, wo vie Sonntagtruhe um eine Viertelstunde überschritten war, wurden wegen dieser Lappalie drei gerichtsinstanzen bis zum Kammergericht fünfmal ke h f hr Der Minister hat zwar dankengwerte Einrichtungen zur Verminderung der Schreibarbeit getroffen, aber eg kommt mir doch manchmal so bor, als ob die Urteile nach der Glle gemeffen werden, wodurch das Publikum nur berastigt wird. Bei einem Oberlandesgericht wird verlangt, daß die Referendare in ihren Referaten alle Zeugen aussagen aufführen. Auch die juristischen Arbeiten haben einen Umfang angenommen, der den Examinatoren nur unangenehm sein kann. Ein Kandidat hat für seine mit der Schreibmaschine geschriebene erste wissenschaftliche Arbeit an den Abschrelber 60 , bezahlt. In den Gerichtsschreibereien wird das Schreibwerk unnütz vermehrt. Es wäre gut, wenn die modernen Hilfsmittel, und vor allem das Telephon, bei allen Gerichten verwendet würden; alle Gerichte sollten möglichst damit ausgestattet werden. Auch Formulgre könnten mehr benutzt werden. Von meinen Freunden sind mir mehrere Fälle mitgeteilt, wo von den Amtsgerichten ganz gleich⸗ gültige Bescheide nicht durch Formular, sondern geschrleben ge⸗ geben werden; auch von Postkarken könnte mehr Gebrauch gemacht werden. Nebenbei bemerkt könnte dann die alte Anfangtformel: Es gereicht Ihnen hiermit zum Bescheide beseitigt werden. In der Kommissign wurde zur Verminderung der Richterstellen gesagt, die Richter bekämen jetzt mehr Gehalt und könnten mehr arbeiten; ich möchte mir daß nicht aneignen. Wir wollen aber mit der Vermehrung der Richterstellen auch einhalten, weil wir wegen des richtigen Ersatzes Bedenken haben, daß wir nicht mehr so viel Intelligenz aufbringen können, wie die Justiz verbraucht. Sie müssen bedenken, welche Aderlaäͤsse jährlich der juristische Nach- wuchs erleidet durch dag, was zur Verwaltung und namentlich zur Kommunalverwaltung übergeht. Bei der ie n er n der formalen juristischen Bildung will ja jedes Dorf juristische Bildung benutzen. Und dazu suchen sich die Kommunalverwaltungen gerade die Juristen aus, die ein gutes Examen gemacht haben. Damit komme ich auf eine etwas heikle Frage. Es kann nur mit wenig Freude begrüßt werden, daß in den letzten Jahrzehnten eine fortdauernde, sich vergrößernde Ab⸗ wendung der höheren Stände von der Richterlaufbahn . ist. Das ist verwunderlich, denn die richterliche Stellung ist die selb= ständigste Stellung von der Welt und die idealste, die richterliche Gewalt ist ein Ausfluß der königlichen Gewalt; wir haben in unferer Justiz eine Institution, die sich Überall des besten Rufeg erfreut, und an die alle sozialdemokratischen Verdächtigungen nicht heranreichen. Ich meine nicht, daß die Juftij nur aug den höheren Ständen sich zu= sammensetzen foll, im Gegenteis, ich möchte einen wegen seiner Her kunft von den höchsten Staatsflellen gusfchließen, aber ich fürchte, daß in der Justiʒ die Zuführung neuen Blutes etwa ju schnell gegangen

Ansätze zu einer Wandlung sind vorhanden gewesen, aber wieder verschwunden. In den letzten zwei, drei Jahren jst jwar eine Besserung zu verspüren gewesen, aber bei meinen Freunden besteht doch der Wunsch nach Durchführung des Assessorenparagraphen. Der Wert des formalen Wissens darf nicht überschätzt werden, vieles wird erst nach dem Examen gelernt. Der Richter braucht außer den juristischen Kenntnissen auch Welterfahrenheit und Weltgewandtheit, und diese kann nicht durch das Examen erkannt werden, sondern wird angeboren und anerzogen. Ein üÜberformal gebildeter Jurist kann unter Umständen gar nicht am Platze sein. Ein Vormundschafts⸗ richter, der war ein sehr wohlwollender Mann war, quälte, wenn die Leute wegen Vormundschaftssachen zu ihm kamen, diese mit seiner Juristerei in einer Welse, daß die Leute regelmäßig tränenüberstromt das Gericht verließen. Es scheint ferner, als ob die sentimentale Schönrederei, die namentlich in letzter Zeit von einigen Verteidigern geübt wird, ansteckend wirkt. In dem jweiten Harden Prozeß vor der Strafkammer wurde vom Staatsanwalt eine Rede jur Verteldigung eines Zeugen gehalten, die nicht in den Rahmen der Verhandlung gehörte. Im SEulenburg. Prozeß wurde der Antrag auf Ausschluß der Deffentlichkeit vom Staatgzanwalt mit etwas zu piel Gefühl begründet, mit ein paar kurzen Worten hätte das auch geschehen können. Ich will auch auf den Umstand hinweisen, daß kürzlich ein Ober⸗ stagtsanwalt einem Pressevertreter ein Interview gewährt hat, es war doch bisher nicht Mode, daß die Sensationspresse von daher Nach= richten erhielt Eine neue Jersplitterung der Justiipflege ist durch die Jugendgerichtshöfe eingetreten. Man weiß sa noch nicht, wie sie sich bewähren werden, aber es ist doch wirklich ganz verkehrt, wenn davon ein solches Aufheben in der Presse gemacht wird, und wenn

Beamten auf ihre Wichtigkeit aufmerksam gemacht werden. Wunsch geht auf Beschleunigung und Vereinfachung der Justizgesetze;

die jugendlichen Verbrecher durch das Erscheinen hoher richterlicher Unser

mit allen Kräften wollen wir bestrebt fein, auch bier wieder zur alten Preußischen Einfachheit und Sparsamkeit zurückzukehren. Abg. Dr. Bell entr.: Die Frage der Ausbildung der Studenten in der Rechtswissenschaft liegt uns vor allem am Herzen. Eine wichtige Neuerung hierin ist die Einführung der Klausurarbeiten bei der Prüfung zum Referendar. Es stellt sich nun heraus, daß die ge⸗ wählten Themata zu schwierig für die Pfüflinge sind. Es kann keine Rede davon sein, daß unsere jungen Jurlsten weniger fleißig als früber seien; sie sind eher fleißiger geworden, aber die Fülle des Stoffes ist außerordentlich gewachsen. Wir haben ja den eigentümlichen Rechtsgrundsatz: error juris nocet; aber wie soll nun so ein unglückseliger Kandidat wissen, was das Wichtigste aus dem Gesetzesstoff ist, wenn selbst gewiegte Juristen nicht mehr in der Lage sind, alles zu beherrschen. Selbst fleißige Studenten müssen jetzt Repetitorien benutzen, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Zu prüfen ist auch, ob die jetzt zugelassene Vorbildung für die Zulaffung zum Studium auch die gewünschte Grundlage bildet. Unsere jungen Juristen dürfen auch nicht zu einseitig werden, noch mehr als bisher sollten sie das Studlum der Nationalökonomie, der Soesialwissenschaften und der Geschichte pflegen. Gg kommt nicht auf den Gedächtniskram an, sondern mehr auf den Geist der Gesetze. Bei der im juristischen Studium eingetretenen Ueberfüllung möchte ich von dieser Stelle aug eine dringende Warnung davor an die Oeffentlichkeit richten. Anderseits bin sch nicht dafür, daß man blele Kandidaten durchfallen läßt, nur um von diesem Studium ab⸗ zuschrecken. Die Referendare werden auch zu viel mit Protokollieren beschäftigt; für diese praktischen Arbeiten bilden die vraktischen Se⸗ minarien, wie z. B. das in Essen, einen vorzüglichen Ersatz. Ebenso wäre eg notwendig, daß unsere jungen Juristen sich mit dem prak⸗ tischen Leben in Industrie, Technik und im Bankfach vertraut machten. Von einer Seite ist mir auch gesagt worden, daß an unsere Referendare zu große gesellschaftliche Anforderungen gestellt werden.

die Schreibmaschine

ger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

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Minister bitten, darauf zu achten, daß die sogenannten Prädikats⸗ assessoren nicht eine zu weit gehende Be ünstigung erfahren. Meine Freunde haben sich stets gegen den ssessorenparagraphen gewandt, und wir müssen dag jetzt auch mit aller Entschiedenheit tun wenn er wieder aus der Versenkung auftauchen follte. Mir ift berichtet worden, daß ein Oberlandesgerichtsprästdent die Land⸗ gerichtspräsidenten augewiesen hat, bei ihren Berichten Über die Assefsoren mitzuteilen, wie weit deren Kenntnisse zur Aus⸗ übung des Richteramts augreichen. Meine Freunde müssen das als einen Eingriff ansehen, denn der Kandidat hat durch sein Examen vor der , , mn, ,, die Bescheinigun erhalten, daß er die Befählgung zum Richteramt besitz Wir müssen auch dagegen protestleren, daß die Staalganwälte gegen⸗ über den Richtern bei der Beförderung in allzu großem Maße be⸗ er ft werden. Es wäre von großem Interesse, wenn wir eine tatistische Aufstellung darüber bekommen könnten, wieviel Landgerichts⸗ prästsenten und sonstige höhere Beamte aus dem Richterstande und wieviel aus den Staatsanwälten hervorgegangen sind. Ich glaube, es würde sich ein überraschender ,, zu Gunsten der Richter herausstellen. Es sind heute Staatsanwälte zu Landgerichtsdirektoren und zwar zu Vorsitzenden der Zwwilkammern ernannt worden, obgleich sie sich noch niemals mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch eingehender beschäftigt hatten. Das balte ich für sehr bedenklich. Was die Richter anlangt, so ergibt sich aus der Statistik, daß die Staatg⸗ anwälte erheblich früher zur Anstellun gelangen und befördert werden als die Richter. Weniger Richter anzustellen, wie vor⸗ geschlagen worden ist, wäre eine ganz falsche Sparsam keitspolitik. Vielfach führen die Richter Klage darüber, daß ihre T tigkeit durch mittlere Beamte kontrolltert wird. Mit aller Entschieden⸗ heit muß ich mich . die gehobenen Richterstellen erklären. Nichts ist geeigneter, die Stellung der Richter zu heben, als eine Festigung und Stärkung ihrer Unabhängigkeit. Unsere jungen Juristen müssen noch mehr als bigher von Joftalem Empfinden geleitet sein. Zweck⸗ mäßig wird es sein, unsere jungen Assefforen zunächst als Amtsrichter zu beschäftigen. Eine idealere Beschäftigung kann ich mir kaum denken, und sie können an einem kleinen Srte e e e, segeng⸗ reich wirken. Ueber den Grundsatz: Sie bekommen jetzt mehr Geld, nun müssen sie auch mehr arbeiten überhaupt nur ein Wort, zu verlieren, lehne ich ab. Eine Ueberbũrdung, wie sie vielfach an großen Gerichten vorliegt, vermindert die Arbeltsfreudigkeit. Es herrscht in unserem erichtsbetriebe doch ju viel ein hureaukratischer Geist, man macht sich die Errungen⸗ schaften der Neuzeit nicht genügend zu nutze. Man vertrödelt un⸗ endlich viel Zeit mit dem Protokollieren. Man pflegt ja jetzt häufig die Frauenfrage zu ventilieren. Da könnte man doch hier Stenographen und Tipfräuleins anstellen, die Ausbildung unserer Referendare würde wohl nicht darunter leiden Der Justizminister würde sich ein großes Verdienst erwerben, wenn er mit eisernem Besen diesen Bureagukratismus wegfegen würde. Mancherlei Arbeiten, die heute von den Richtern ausgeführt werden, könnten den mittleren Beamten übertragen werden, so 2 die Versäumnigurtelle und die Grundbuchsachen, die von den Grundbuch- führern sehr gut bearbeitet werden könnten. Sehr bedauere ich, daß es nicht möglich gewesen ist, die Gerichtssekretäre den Re gierungtzsekretären gleichzustellen. Ich möchte dringend bitten, zu der von mir angeregten Enquete, betreffend das Gerichtsvoll iekerwesen diesmal auch die Anwaltschaft hinzuzuziehen, weil sie am besten darüber urteilen kann. Unsere Erfahrungen mit dem Gerichte. volliieherwesen müssen wir als sehr unguͤnstig bezeichnen, die Zu⸗ stellung und die Zwangsvollstreckung haf sich nach unserer Auf⸗ fassung außerordentlich verschlechtert. Unter dem Anwalts stande berrscht eine große Gärung, weil die Interessen der Anwaltschaft nicht genügend wahrgenommen würden. Ich bitte den Herrn Justiz⸗ minister, bei den Vorlagen, die noch kommen werden, auch die Intere ffen der Anwaltschaft nicht aus den Augen lassen zu wollen. Das angekündigte Gesetz über die Jugendgerichtshöfe wird hoffentlich fo segensresch wirken, wie wir es wünschen. Die Interviems sind heutzutage eine grassierende Krankheit, alle Organe der Justiz, auch die höchsten, sollten sich davon fernhalten. Die Vorsstzenden der Schwurgericht haben bei den Verhandlungen häufig Ausführungen gemacht, die sich auf eine Kritik der Schwurgerichte im allgemeinen bezogen. Das halte ich für durchaus unzulässig. Was den Fall Eulenburg ⸗Harden anbetrifft, so muß auch der Schein vermieden werden, als ob man den übrigen Angeklagten, und sei es auch der ein fachste Arbeiter, nicht dasselbe Recht zu teil werden ließe, wie dem Angekfagten Eulenburg. Wenn diese Auffassung Platz greifen würde, so würde allerdings dat Vertrauen in unsere Rechtspflege bedenklich erschüttert werden. 2 lasse mich in diesem Vertrauen nicht erschüttern, gebe mi aber der Hoffnung hin, daß man auch in Zukunft die übrigen An⸗ geklagten genau so behandeln möge wie den Fürsten Eulenburg. In weiten Kreisen unserer Bevölkerung hat es auffällig berührt, daß das Kammergericht den Fürsten Eulenburg gegen eine Kaution von 150 000 S aus der Haft entlassen hat. Das ist auffãllig erschienen, weil die Stellung einer Kaution Überhaupt nicht berlangt werden durfte, wenn, wie ich annehmen muß, der Fürst tal. sächlich so krank ist, daß er am Erschelnen verhindert ist. Wenn er aber nicht so krank ist, vielmehr fluchtverdächtig, dann slehen 150 900 ½ς in gar keinem Verhältnis zu den Kautions beträgen, die bei anderen derartigen Gelegenheiten verlangt werden. Dies e Prozesse hatten noch eine andere unangenehme Begleiterscheinung: die Frage des Ausschlusses der Oeffentlichkeit. Ich bin natürlich für die möglichste Oeffentlichkeit, aber in manchen Fällen ist die Oeffentlichkeit nicht ausgeschlossen worden, wo es tat- sächlich angebracht war, und wo es Pflicht der Staatsanwaltschaft ge⸗ wesen wäre, dies zu beantragen. Es scheint doch, als ob man elne gewisse Rücksichtnahme auf die Sensation zu erkennen gegeben hat. Es ist bedauerlich, daß in einem kleinen Teil der Preffe in slandalöser Weise über Prozesse berichtet wird. Man muß da an den Anstand der Prssse appellieren. Es wird mit Vorliebe über schmutzige Dinge referiert als ob das etwas ganz Selbstverständliches sei. Ich habe meine Kritik geübt nicht um der Kritlk willen, sondern im Interesse der Justizpflege und der Bevölkerung. Die Rechtepflege wird durch eine sachliche Kritik nicht geschädigt, sondern gefördert. Trotz aller Miß⸗ stände können wir sagen, daß unfere Rechtspflege und Justizverwaltun von keinem Lande der Welt übertroffen werden. Ich wünsche, da unsere Justiz ein Grundpfeiler des Staatsgebildes der preußischen Monarchie bleiben möge, daß sie unpartetischen, modernen Ansichten Rechnung tragen möge, und daß eine volkstümliche Rechtsprechung zur Aufrechterhaltung unserer Gesellschaftgordnung und zur Versöhnung der Gegensätze beitragen möge.

Justizminister Dr. Beseler:

Meine Herren! Die Bemerkungen der Herren Vorredner könnten mir ja Anlaß geben, auf alle die Punkte einzugehen, über die ich eine bestimmte Erklarung alsbald abiugeben in der Lage bin. Ich glaube aber nicht, daß ich mich so ausführlich über das ganze Wesen der Justiwwerwaltung zu verbreiten habe, wie es der letzte der Herren Redner getan hat (sehr richtig h, denn das würde ju weit führen und auch viele Dinge berühren, die vielleicht nicht gerade beim Etat jur Ent⸗

Wenn dem so ist, so wird eine kurze Anregung des Justiz⸗

der Grenzen der amtsgerichtlichen Bezirke könnten manche Amts

ministers genügen, um Remedur zu schaffen. Ebenso würde ich den

scheidung kommen können. (Sehr richtig! rechts.) Ich möchte junächst auf das eingehen, was der Herr Abg. Boehmer