1909 / 291 p. 7 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 10 Dec 1909 18:00:01 GMT) scan diff

überhaupt nur möglich erschienen. Meine Herren, dem gegen— über erlaube ich mir festzastelken, daß die Anforderungen der Ver— waltungen an den Etat für 1910 sich durchaus im Rahmen der Be⸗ darfsberechnung gehalten hatten, welche dem Finanzgesetze beigegeben ist. Wenn der Etat für 1910 gleichwohl allein im ordentlichen Etat 125 Millionen Mark unterhalb dieser Bedarfsberechnung bleibt, so kann ich mich dafür einfach auf die Denkschrift zum Finanzgesetz be⸗ rufen. Die Bedarfsberechnung, welche die Denkschrift zum Finanz⸗ gesetz aufstellt, diente lediglich dem Zwecke, nachzuweisen, daß bei wie immer gestalteten Einnahmen und namentlich bei den Einnahmen, die man durch die neuen Gesetze erstrebte, es doch nicht möglich sein würde, die Balance zu halten, wenn nicht gleichzeitig ganz wesentliche Ausgabebeschränkungen eintreten. (Sehr richtig! in der Mitte.) Die Denkschrift sagt ausdrücklich: Die Herstellung des finanziellen Gleichgewichtes erfordert sowohl eine CEinschränkung der Ausgaben wie eine Erhöhung der Ein— nahmen. In allen Verwaltungszweigen ohne Ausnahme sind in dieser Richtung Einschränkungen zu verlangen. Es ist auf die Vermeidung aller Luxusausgaben und auf Einfachheit bei der gesamten Geschäftsführung hinzuarbeiten. (Bravo! in der Mitte.) Die Denkschrift kommt auf diese Frage später noch einmal zurück, erläutert an einer Reihe von Beispielen, ie die Ersparnisse einzuführen seien, stellt zahlenmäßig fest, wie viel Ausfall noch verbleibe, auch wenn die gesamten neuen Einnahmen bewilligt werden, und sagt dann: Es ist also nötig, die noch fehlende Deckung im Wege strengster Sparsamkeit zu beschaffen. Das durchzuführen, wird Aufgabe der Etatsberatung sein.

Meine Herren, bei der ersten Etatberatung, die den Reichsfinanz— gesetzen folgte, war es unsere absolute Pflicht, mit strengster Gewissen— haftigkeit dieses Programm durchzuführen. (Bravo! rechts und in der Mitte.) Wir haben das getan, werden an diesem Bestreben fest⸗— halten und bitten dazu um Ihre uneingeschränkte Zustimmung und Unterstützung. (Bravo! rechts und in der Mitte.) Es handelt sich nicht darum, den Ausgaben ein bestimmtes Maß von Abstrichen an— gedeihen zu lassen, um notdürftig das Gleichgewicht für 1910 her— zustellen, sondern die Aufgabe ist die, daß wir in einer Reihe von Jahren die Ausgaben fest am Zügel halten (sehr richtig!, daß wir in die neuen Einnahmen hineinwachsen, und daß wir gleichzeitig die Reste tilgen, die uns verblieben sind. (Sehr richtig! rechts und in der Mitte.)

Die verbündeten Regierungen haben angestrebt, das schon im Jahre 1910 zu tun. Daß das Sparen sich nicht in vollem Umfang mit einem Ruck einführen läßt, meine Herren, das bedarf wohl keines Beweises. (Zustimmung rechts Immerhin werden Sie hoffentlich ersehen, daß in dem neuen Etat die Ausgaben etwas an Schwung— kraft eingebüßt haben. (Heiterkeit und Zustimmung.) Allerdings bitte ich, den Etat auch nicht zu günstig beurteilen zu wollen. (Heiterkeit und Zuruf) Nach der äußerlichen Gestaltung seiner Ko— lumnen läge diese Gefahr in der Tat vor. Insbesondere ist die Vergleichung mit 1909 wesentlich dadurch beeinträchtigt, daß das Jahr 1909 in den einmaligen Ausgaben die gesamten Nachzahlungen an Gehältern für 1906 mit enthält, die ökonomisch natürlich dem Jahre 1909 nicht zur Last ge schrieben werden können. So sieht dann die Spannung zwischen 1909 und 1910 zu Gunsten dieses Jahres nicht unerheblich stärker aus, als sie wirklich ist. Rechne ich aber dieses und einige andere rein rechnerische Momente ab, so ergibt sich für den Etat von 1910 folgendes Bild.

Bei den fortdauernden Ausgaben des ordentlichen Etats ist ein Mehr zu verzeichnen von 14 Millionen Mark für das Heer und von 11 Millionen Mark für die Marine, beides beruhend auf den be treffenden Gesetzen: auf dem Flottengesetz und den Gesetzen über die Friedenspräsenzstärke. Die übrigen Verwaltungen haben nur sehr geringfügige Mehrausgaben zu verzeichnen, welche zum Teil, wie die Ausgaben für Dampfersubvention, für die Arbeiterversicherung und für die Unterstützung von Reservpistenfamilien alles beim Reichsamt des Innern ebenfalls auf Gesetzen beruhen. Den Hauptbestandteil er fortdauernden Ausgaben des ordentlichen Etats bildet a Mehr an Schulden tilgung lund Schuldenverzinsung mit 19 Millionen Mark. So ge langen wir bei den fortdauernden Ausgaben des ordentlichen Etats zu einer Mehrausgabe von lsachlich gerechnet) 56 Millionen Mark.

Dagegen zeigen die einmaligen Ausgaben des ordentlichen Etats einen völligen Stillstand, ja sogar einen mäßigen Rückgang. Hier steht dem Mehr bei der Marine, das gleichfalls auf den Gesetzen beruht, ein Minder gegenüber bei mehreren anderen Verwaltungs— zweigen, so bei der Post, der Heeresverwaltung und bei der Kolonial verwaltung, und dieses Weniger gleicht jenes Mehr reichlich aus ja läßt noch ein gewisses Minus übrig.

Fasse ich an der Hand dieser Mitteilungen das Bild zusammen, das sich für den ganzen Etat ergibt, so ist es folgendes.

Von den 307 Millionen Mark, welche, wie ich sagte, für 1910 an Einnahmen mehr zu erwarten sind, verwenden wir für die Aus— füllung der Lücke, die durch die ungedeckten Matrikularbeiträge sich kennzeichnen, und zur Schuldentilgung etwa acht Neuntel und für ver— mehrte Ausgaben etwa ein Neuntel.

Wenn man das Minus an Anleihe von 50 Millionen und das Minus bei den einmaligen Ausgaben des ordentlichen Etats hinzurechnet, so gelangt man fast dahin, feststellen zu dürfen, daß der Etat für 1910 einen Stillstand in den Ausgaben zeigt.

In den letzten acht bis neun Jahren hat eine Vermehrung, wenn ich so sagen darf, der Nettoausgaben des Reiches ich rechne dahin den Bedarf unserer sieben größten Verwaltungen im ordent— lichen und außerordentlichen Etat, ohne alle die rechnerischen Posten mitzurechnen, die das Bild verwirren von 1400 auf 2350 Millionen stattgefunden. (Hört! hört! in der Mitte.) Dem gegen— über ist es wenigstens günstig, daß der Etat für 1910 zunächst einmal einen Haltepunkt zeigt. (Sehr richtig! in der Mitte.)

Als Motto hatte die Denkschrift zum Finanzgesetz den Ausgaben der zukünftigen Etats mitgegeben: neue Aufgaben dürfen vom Reiche, solange seine Finanzen nicht völlig geordnet sind, überhaupt nicht oder doch nur in den Fällen allerdringendster Not— wendigkeit in Anwendung kommen. Meine Herren, dieses Motto möchte ich doch etwas umgestalten; ich möchte sagen: die neuen Aufgaben dürfen sich nicht gemeinsam mit den alten auf die Reichskasse werfen, sondern beide müssen miteinander in Wettbewerb treten, so zwar, daß die neuen Aufgaben dann, aber auch nur dann, die alten verdrängen, wenn jene stärker sind, und beide

jusammen müssen mit dem zufrieden sein, was der Reichssäckel ent⸗ hält. (Sehr richtig! in der Mitte.)

Der neue Etat entzieht sich den neuen Aufgaben keineswegs ganz. Ich möchte mir erlauben, Ihnen darüber eine Uebersicht zu bieten. Schon der Nachtragsetat für 1909 übernimmt die Kosten für Putzzeug und Reinigungsmaterial beim Heere und der Marine auf Reichsmittel. Der Etat für 1910 bringt auf militärischem Gebiete die Bildung eines Veterinäroffizierkorps sowie die neue und ver— einfachte Regelung der Tischgelder und der Bureaugelder der Kom— mandobehörden, ferner die neue Regelung der Rationen und der Pferdegelder für Offiziere. In der Marine soll die Beschaffung von Unterseebooten in verstärktem Maße fortgesetzt und die Ausstattung der großen Schiffe mit Torpedoschutznetzen neu in Angriff genommen werden. Beim Auswärtigen Amt werden eine Verstärkung der Mittel für deutsche Schul⸗ und Unterrichtszwecke im Auslande, ferner die Bildung wirtschaftlich wichtiger neuer Konsulate und die Umwandlung des Generalkonsulats in Sofia in eine Gesandtschaft vorgeschlagen. Bei den Reichseisenbahnen haben die für Wohlfahrtszwecke zu Gunsten der Beamten und Arbeiter der Verwaltung vorgesehenen Mittel eine Erhöhung erfahren; für eine neue vollspurige Bahn⸗ verbindung ist die erste Rate eingesetzt. Im Postetat finden Sie neben vier Folgeraten auch vierzehn erste Raten zum Grunderwerb

oder zum Bau neuer Dienstgebäude. Eine beträchtliche Anzahl von

größeren und kleineren wirtschaftlichen und gemeinnützigen Unter⸗ nehmungen wird im Etat des Reichsamts des Innern durch einmalige Aufwendungen neu gefordert. Für die Ihnen bereits bekannten neuen Unternehmungen in den Schutzgebieten wird durch den zweiten Nachtragsetat für 1909 und durch den Etat für 1910 Ihre Zu— stimmung erbeten.

Aber, meine Herren, der Etat für 1910 steht allerdings streng auf dem Standpunkt: keine Ausgabe ohne Deckung! Er sucht der Meinung Raum zus verschaffen, daß zwar der deutschen nationalen Betätigung noch eine Fülle reichhaltiger Aufgaben bevorsteht, daß aber das Wann, häufig auch das Ob der Erfüllung dieser Aufgaben nicht aus sich selbst heraus, sondern zugleich auch unter Berücksichtigung der allgemeinen Finanzlage beurteilt werden muß. Ein anderes Antlitz zeigt eine Forderung, wenn man nur die für sie selbst geltend zu machenden, häufig zwingenden und packenden Gründe berücksichtigt, ein anderes, wenn sie sich spiegelt in der allgemeinen Finanzlage des Reichs. (Sehr richtig Nicht ohne Widerstreben, mit schwerem Herzen häufig, haben wir doch im Bewußtsein einer unabweislichen Pflicht zahlreiche Ausgaben zurücktreten lassen oder auf sie verzichten müssen. Außerdem sucht der Entwurf organisatorische Aenderungen wenigstens anzubahnen. Einem Anschwellen des Beamtenapparats will er nach Kräften vorbeugen. (Bravo! Soweit angängig, ist schon vorab Rücksicht genommen auf die im Flusse befindliche Neu— regelung der Tagegelder, Fuhrkosten und Umzugskosten der Reichs— beamten, eine Regelung, die darauf abzielt, den bei Dienstreisen entstehenden wirklichen Aufwand und nur diesen zu vergüten. (Bravo!) Bei Neubauten sucht der Entwurf soviel Hemmung wie möglich zu geben, und soweit Unternehmungen ihren Zweck ganz oder teilweise erfüllt haben, ist man bestrebt gewesen, die dafür eingesetzten Mittel entweder zu kürzen oder fortzulassen.

Meine Herren, inwieweit diese Absichten des Entwurfs in ihm selbst zur Erfüllung gelangt sind, werden nunmehr Sie zu beurteilen haben. Der Entwurf kann den Anspruch nicht erheben, etwas Voll⸗ ständiges zu sein, schon deswegen nicht, weil er das erste Glied einer Kette ist. Nicht über das Etatsjahr 1910 allein treffen wir gegen— wärtig Verfügung, sondern wir disponieren gleichzeitig zum mindesten auch über die drei folgenden Jahre 1911 bis 1913. Das werde ich mir gestatten, Ihnen zum Schluß an einem kurzen Exempel dar— zulegen.

Meine Herren, wir verwenden für das Jahr 1910 die zu erwartenden neuen Einnahmen bis auf den Betrag von 120 Millionen, welche wir zwar für den Beharrungszustand, aber nicht für das erste Jahr erwarten. Setzen Sie nun den überaus günstigen, ja kaum wahrscheinlichen Fall, daß diese 120 Millionen Mark bereits 1911 voll eingehen, daß dann der Beharrungszustand erreicht sein wird, so ergibt sich für jedes der drei Jahre 1911 bis 1913 ein Mehr von 120 Millionen über den Etat von 1910 hinaus. Hiervon gehen je 80 Millionen Mark ab, weil in jedem der Jahre 1911 bis 1913 ein Drittel des Fehlbetrages von 1909 mit 240 Millionen Mark getilgt werden soll. Es tritt den 80 Millionen hinzu ein Mehr an Schuldentilgung von etwa 25 Millionen Mark, und ist ferner zu berücksichtigen der Umstand, daß der Reichsinvalidenfonds bereits im Jahre 1911 definitiv einzuschwinden beginnt. Sie sehen, daß die Lage für 1911 bis 1913 die ernsteste Berücksichtigung schon im Jahre 1910 erheischt. Denn jede Erweiterung des Etats von 1910 würde den sehr geringen Spielraum noch kleiner machen oder gemacht haben, der uns für 1911 bis 1913 noch übrig bleibt. Also mit dem Etat von 1910 ist es nicht allein getan, die Jahre von 1911 bis 1913 er⸗ fordern eine noch größere Sorgsamkeit und Beschränkung. (Sehr richtig!)

Und mit diesem Ausblick in die Zukunft gestatte ich mir zu schließen. Unzweifelhaft werden Sie mit mir der Meinung sein, daß unsere Finanzwirtschaft sich an einem Scheidewege befindet. Ich bitte Sie, mit den verbündeten Regierungen den Weg wählen zu wollen, der zwar nicht ohne Dornen und Entbehrungen ist, uns aber doch wohl wieder auf festen und auch auf fruchtbaren Boden führen wird. (ELebhafter Beifall.)

Abg. Freiherr von Hertling (Zentr.): Ich habe die Aufgabe, ge— legentlich der Etatsberatung eine Reihe von Fragen namens meiner Partei⸗ freunde zu erörtern. Im großen ganzen macht der Etat auf uns einen günstigen Eindruck, der schon dadurch hervorgerufen wird, daß es gelungen ist, den Anleihebedarf im außerordentlichen Etat um 50 Millionen herabzusetzen. Bedenklich ist allerdings das starke An— wachsen der Ausgaben für die Marine, 11 Millionen mehr an fort— laufenden und 14 an einmaligen Ausgaben. Gewiß beruht diese Steigerung auf gesetzlicher Grundlage, aber sie bedeutet eine neuerliche starke Belastung, der allerdings in anderen Ressorts sehr erfreuliche Minderausgaben gegenüberstehen, wovon ich nur die eine noch hervor— hebe, daß die einmaligen Ausgaben des Militäretats um 42 Millionen vermindert sind. Bezüglich der Ansetzung des Ertrages der neuen Zölle und Steuern haf der Staatssekretär nach unserer Mei— nung sehr wohl daran getan, so vorsichtig zu verfahren; da der Veranlagung die ursprüngliche. Schätzung zu Grunde gelegt ist, dürfen wir erwarten, daß diese Einnahmen demnächst reichlicher fließen werden. Es war eine unglaubliche Verkennung der Sache, wenn kurz nach dem Bekanntwerden des Etats in einigen Zeitungen zu lesen war, der Etat bekunde bereits das völlige Fiasko der Steuerreform. War diese Aeußerung mehr aus Ignoranz oder aus Parteiverblendung erwachsen? Das war 3g über allen Zweifel erhaben, daß nicht von Anfang an der Be—

trag aufkommen werde, den man im Beharrungszustande er⸗ wartet. Der Etat, wie er vorliegt, ist also für uns ganz im Gegenteil ein Beweis dafür, daß die mit so viel Mühe rg ute Finanz⸗ reform als eine befriedigende und erfolgreiche angesehen werden darf.

Den Erfolg sehen wir auch darin, daß außer der regelmäßigen

Schuldentilgung noch 27 Millionen aus dem Jahre 1968 getilgt werden können. Wir sind mit den Grundsätzen des Sia ats se lt eka über die Matrikularbeiträge einverstanden. Wir würden deshalb etwaige Abstriche verwenden, um die Ansätze des außerordentlichen Etats zu vermindern oder in den ordentlichen Etat überzuführen, denn es dürfen eigentlich nur solche Ausgaben auf den außer⸗ ordentlichen Etat übernommen werden, die eine werbende Be—⸗ deutung haben. Es ist ein richtiger Grundsatz, daß Ausgaben nicht bewilligt werden sollen, wenn nicht Sicherheit für die Deckung vor⸗ handen ist. Ich bitte den Staatssekretär, bei seinen Grundsätzen fest auszuharren und die Entschiedenheit gegenüber den Ressorts auch in Zukunft anzuwenden, und ich bitte den Reichskanzler, ihn in dieser Be⸗ ziehung mächtig zu unterstützen. Denn darüber ist kein Zweifel, neue Steuern und Lasten dürfen auf absehbare Zeit dem deutschen Volke nicht auferlegt werden. In der auswärtigen Politik haben wir alle mit Be⸗

friedigung die Worte der Thronrede über das Marokko⸗Abkommen

mit der französischen Regierung vom 9. Tebruar 8. J. gehört, wir haben das Gefühl, daß wir von einem drückenden Alp befreit worden sind. Zweifellos wollen wir alle den Schutz unserer wirt⸗ schaftlichen Interessen auch in Marokko wahren, aber wir wünschten niemals, daß der berechtigte Schutz unserer wirtschaft— lichen Interessen uns in politische Verwicklungen zöge, die mit diesen Interessen nicht im richtigen Verhältnis ständen. Wir haben die Stimmungen in Frankreich gegenüber der Marokko⸗— Frage in den verschiedenen Stadien gesehen, und wir begrüßen es, daß durch dieses Abkommen jeder Anlaß zur Verstimmung zwischen den beiden großen Nationen beseitigt ist. Wir freuen uns, daß die Thronrede uns mitteilt, daß mit demselben Geiste das Abkommen durchgeführt werden wird, wie es abgeschlossen ist. Wenn uns nun jedes allzu energische Eingreifen in der Marokko-Frage gefährlich schien, so darf doch in keinem Stadium in Afrika der Anschein erweckt werden, als ob das Deutsche Reich die Schutzmacht des Islam sei. Das würde nicht nur in kultureller Beziehung durchaus zurückzuweisen sein, sondern eine Berührung mit der panislamischen Bewegung in Afrika würde für uns eine große Gefahr einschließen. Wir hoffen aber, daß die Regelung der finanziellen Konsequenzen aus der Marokko— Frage möglichst rasch geschehen möge, daß die Ersatzansprüche aus dem Vorgehen in Casablanca möglichst bald befriedigt werden. Es ist wohl zu erwarten, daß das freundliche Verhältnis zu Frankreich diese Abwicklung erleichtern wird. Demnächst würde es zu begrüßen sein, wenn sich gemeinsame finanzielle oder wirtschaftliche Operationen er gin könnten. Eine solche Interessengemeinschaft der beiden großen Nationen würde zweifellos zur Verstärkung der freund schaftlichen Beziehungen zwischen ihnen beitragen. Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen und die Er— innerungen daran nicht auslöschen, aber wir erwarten zuversichtlich, daß eine konseguente Friedenspolitik im Laufe der Jahre das freund schaftliche Verhältnis der beiden großen Nachbarnationen mehr und mehr verstärken und dem Geiste der Versöhnung dienen wird. Allerdings dürfen nicht störende Zwischenfälle vorkommen, wie vor einiger Zeit die Ausbeutung einer durchaus einwandsfreien Erinnerungs⸗ feier in Weißenburg durch einen Teil der französischen Presse. Aeußerungen des Chauvinismus müssen zurückgehalten werden, da sie erkältend auf die Annäherung wirken. Wie die Worte der Thronrede über das Marokko⸗Abkommen die Zustimmung des deutschen Volkes gefunden haben, ebenso sicher auch die Erwähnung des Umstandes, daß der Dreibund seit einem Menschenalter sich als wirksamer Hort des europäischen Friedens erwiesen hat. Vom Dreibund gilt das Wort des Fürften Bismarck: „Die Dauer und Haltbarkeit der Ver— träge beruht, abgesehen von der gegenseitigen Vertragstreue, besonders darauf, daß solche Verträge die einzelnen Vertragschließenden nicht in größere Abhängigkeit bringen, als es mit ihren eigenen Interessen verträglich ist. Wie wirksam sich das freundschaftliche Verhältnis zum öͤsterreichisch⸗ungarischen Kaiserstaat für den Frieden erwiesen hat, ist in aller lebhafter Erinnerung aus der Jeit vor einigen Monaten, wo der Friede ernstlich gefährdet schien, als das auf dem Balkan geschürte Feuer in mächtigen Flammen ausbrechen konnte. Als aber klar wurde, daß hinter der österreichischungarischen Monarchie das Deutsche Reich stand, war die Gefahr geschwunden. Dabei wurde das Erfreuliche offenbar, daß der uns befreundete Staat in jahrelanger schwerer Arbeit sich in seiner Armee eine Waffe allerersten Ranges zum Schutz und Trutz geschaffen hat. Gegenüber solcher vereinten Macht wird sich auch eine vielköpfige Koalition fremder Mächte nicht leicht zu unbesonnenen Schritten hinreißen lassen. In Italien ist das Ministerium Sonnino noch nicht vollständig zustande gekommen, wir dürfen aber wohl erwarten, daß auch dieses Ministerium in seiner Stellung zum Dreibund den Traditionen seiner Vorgänger folgen wird. In dieser durchaus freundschaftlichen Gesinnung und in der festen Zuversicht auf Erhaltung des Friedens kann uns auch nicht der vielbesprochene Besuch in Racconigi beunruhigen. Ich habe hier wiederholt gesagt, daß man den Wert von Monarchenzusammenkünften nicht überschätzen soll; Sympathien und Antipathien gekrönter Haupter werden zu Machtfaktoren nur dann, wenn die Interessen der Völker sie stützen. Ich wüßte nicht, was die Zusammenkunft in Racconigi Bedrohliches enthalten sollte. In den Zeitungen ist gesagt worden, es sei dort von dem Balkan die Rede gewesen. Wenn die Verhandlungen dahin gegangen wären, den Status quo auf dem Balkan aufrecht zu er— halten, so würde das dem Standpunkte Oesterreich⸗Ungarns und indirekt dem Standpunkte Deutschlands entsprechen. Ich kann nicht glauben, daß ein vitales Interesse der Mittelmeermächte, das dem mit Italien von jeher in freundschaftlichen Beziehungen stehenden England und nun auch Rußland gemeinsam wäre, eine feindliche Spitze gegen das Deutsche Reich richten kann. Unser Verhältnis zu England ist in diesem Hause so oft und so viel be— sprochen worden, unsere friedliebenden, freundlichen Gesinnungen gegen das Britische Reich sind hier so oft zum Ausdruck gekommen, daß ich dem kein Wort hinzuzufügen brauche. Ein Teil der englischen Presse ist ja bis in die jüngste Zeit der unfreundlichen Stimmung treu geblieben, die wir zu unserem Bedauern früher ewahren mußten. Ich möchte auch hier an ein Wort des Fürsten Bismarck erinnern, daß man gegen Papier und Druckerschwärze keine Kriege führt. Wir haben nicht die Macht und auch nicht das Bedürfnis, dort Liebe zu erzielen, wo man sie nicht für uns hegt. Die unfreundlichen Aeußerungen einer fremden Presse haben also auch nicht die Macht, uns aus unserer friedliebenden Gesinnung herauszutreiben. Wünschenswert wäre es freilich, wenn an Stelle eines bloßen korrekten in Zukunft ein freundschaftliches Verhältnis treten könnte, wenn z. B. zwischen England und Deutschland auf dem Gebiete gemeinsamer Interessen gemeinsam operiert würde. Wenn ich dabei an die Congofrage denke, so möchte ich freilich nicht, daß unsere deutsche Politik sich in das Schlepptau einer gewissen englischen Presse nehmen läßt, die unausgesetzt den Kampf gegen die belgische Regierung führt, um unter dem Vorwande der Humanität zweifellos ganz andere Tendenzen zu verbergen. Für die Miß— stände, die auch jetzt noch im Congogebiet vorkommen, kann die gegenwärtige belgische Regierung nicht verantwortlich gemacht werden. Diese hat im Gegenteil ein Reformprogramm aufgestellt, das sie guszuführen entschlossen ist; es wird abzuwarten sein, wie diese Ausführung geschieht. Ihre Gesinnung ist durchaus loyal. Die Congoangelegenheit ist keine Veranlassung, uns mit England zu entzweien. Es wäre sehr leicht möglich, uns auch über andere Fragen zu einigen. Es handelt sich da im Congo um Grenz— regulierungsfragen. Kürzlich hat das Reutersche Bureau eine Depesche versandt, wongch im Mai d. J. ein Abkommen zwischen der deutschen und der englischen Regierung zu dem Zwecke getroffen worden sei, zwischen den drei beteiligten Staaten eine Grenzregulierung herbeizuführen. Ich kann diese Nachricht nicht kontrollieren.

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

Zweite Beilage

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

M 29J.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Wenn aber das Reutersche Bureau geflissentlich hinzufügt, dieses Abkommen habe aber gar keine politische Bedeutung, es handle 1 lediglich um die Izfling einer geographischen Frage, so meine ich, auh diese kleine Operation das freundschaftliche Verhältnis beider Mächte befestigen kann. Das Britische Reich macht, ja gerade egenwärtig eine gewaltige Krisis durch. Für. uns ist es von esonderem Interesse, zu sehen, daß diese tiefgehende Krisis durch eine Steuörfrage hervorgerufen ist. Was die weiteren Folgen sein werden, läßt sich nicht vorhersehen, ebensowenig wie die Neuwahlen sich ge⸗ stalten werden. Es ist aber sehr glaublich, daß die englische Verfassungsgeschichte sich in diesem Augenblick in einem kritischen Durchgangshunkt befindet, daß bedeutungsvolle Aenderungen im ee ,, Verfassungsleben bevorstehen. Dieses würde eine ganz andere Gestalt gewinnenn, wenn Vertreter der selbständigen Arbeiter⸗ artei in größerer Zahl in das englische Parlament einzögen. Von 1 Interesse wäre es, wenn England, das immer der Typus des Freihandels gewesen ist, sic nunmehr dem Schutzzollsystem zuwendet. Damit komme ich zu unserer inneren Politik. Seit dem Sommer haben wir in Zeitungen und Versammlungen und Flugblättern eine Steuerhetze erlebt, wie sie häßlicher gar nicht gedacht werden kann. Wir haben ein solches Maß von Unwahrheiten und absichtlichen Irre— führungen gesehen, wie es kaum möglich schien. So wurde behauptet, eine Erbschaftssteuer habe es bei uns noch gar nicht gegeben, und das trotz der neuen Erbschaftssteuer von 19066! Ferner ist behauptet worden, wenn die Erbschaftssteuer bewilligt worden wäre, so wären keine indirekten Steuern notwendig gewesen. Um das Maß der Tor— heit voll zu machen, behauptete ein Fachblatt, das Zentrum habe die Erbschaftssteuer abgelehnt, weil diese den Erbschleichern des katholischen Klerus einen Riegel vorgeschoben hätte. Bekanntlich sind die Zuwendungen an die Kirchen durch das Erbschaftssteuergesetz von 1906 schon längst geregelt. Der Reichskanzler hat sich vorher gegen den Vorwurf verwahrt, als ob die Regierung vollständig passib ge— blieben wäre. Das will ich nicht bestreiten. Auch haben meine

Freunde niemals das Bedürfnis gehabt, in diesem Kampf den Schutz der Regierung anzurufen, aber ich weiß doch nicht, ob gegenuber diesen Verdrehungen und Irreführungen des Blocks nicht eine noch nachdrücklichere und wirkungsvollere Aufklärung auch von seiten der Regierung wünschenswert gewesen wäre. Aufgabe der Regierung ist es, die Interessen der einzelnen Inter— essengruppen gegeneinander abzuwägen und auszugleichen. Solchen Bestrebungen werden meine Freunde stets ihren Beistand leihen, da wir selbst durch unsere Zusammensetzung einen solchen Ausgleich der verschiedenen Interessen suchen und die mittlere Linie einhalten müssen. Wir sind keine agrarische Partei, wir haben immer Handel und Gewerbe als gleichwertig angesehen und werden auch in Zukunft Landwirtschaft, Industrie, Handel und Gewerbe in ihren berechtigten Forderungen unterstützen. Zu diesen wirtschaftlichen Gegensaͤtzen kommt noch als unerfreulicher der Gegensatz zwischen den Nationalitäten hinzu. Es ist doch ein starkes Stück, wenn ein deutscher Staatsbürger für die Ausübung seines Rechtes, für einen bestimmten Kandidaten bei der Stadtverordnetenwahl zu stimmen, emaßregelt wird, nur weil der betreffende Kandidat polnischer . ist. Wohin soll diese Erbitterung führen? Ich vermisse in dieser Politik das Programm eines vorausschauenden Staatsmannes. 20 Millionen Staatsbürger katholischer Konfession erheben den Anspruch, innerhalb der Staatsgesetze nach den Grund⸗ sätzen ihres religiösen Bekenntnisses zu leben und als vollständig staatsbürgerlich gleichberechtigt angesehen zu werden. Dies ist nicht erreicht, solange an irgend einer maßgebenden Stelle noch die Maxime herrscht, daß Katholiken zu bedeutenden Stagtsämtern gar nicht zu⸗ gelassen werden. Zu diesen Gegensätzen kommt noch eine Zu⸗ spitzung der konfessionellen Gegensatze hinzu. Gerade in den letzten Monaten wurde wiederum eine solche Menge von Kränkungen und Verdächtigungen gegen den katholischen Volksteil ausgesprochen. Seit Monaten hakt man den deutschen Staatsbürger damit graulich zu machen gesucht, als ob die konservative Partei durch das Zusammen⸗ gehen mit dem einseitig konfessionellem Zentrum eine tadelnswerte Rolle gespielt habe. Solange das deutsche Volk an solche Märchen glaubt, hat man ein Recht, von einer Unreife des deutschen Volkes zu sprechen. Denen, die diese Verhetzung als Mittel zum Zweck gebrauchen, sage ich: wir sind da und bleiben da. Ich muß davon sprechen, weil man uns immer theoretisch die Existenzberechtigung be— streitet und uns als eine konfessionelle Partei hinstellt, die aus dem Rahmen des Verfassungsstaats herausfällt. Wenn ich auch Ihren Widerspruch finde, aber sagen muß ich es: wir sind keine konfessionelle Partei. Wir haben zu keiner Zeit Rechte und Freiheiten für die An⸗ hänger unserer Konfession in Anspruch genommen, die wir nicht ganz ebenso den Vertretern anderer christlicher Bekenntnisse zuerkannt hätten. Die Behauptung, daß wir politische Fragen unter dem ein⸗ seitigen Gesichtswinkel der Konfession behandelt hätten, fällt durch ihre groteske Lächerlichkeit in sich selbst zusammen. Ich will Ihnen sagen, woher der Schein der Konfessionalität kommt. Für die unverkümmerten Rechte anderer Konfessionen hatten wir niemals Anlaß einzutreten, wohl aber hatten und haben wir noch heute Anlaß, für die bedrohten Rechte der katholischen Mitbürger einzutreten. Diesen Schein können Sie ja beseitigen. Den Stein des Anstoßes, den Sie darin sehen, können Sie wegräumen. Helfen Sie, daß alle die Beschwerden grundlos werden, die wir erhoben haben. Wir haben den alten Toleranzantrag in seiner früheren Form nicht wieder eingebracht, weil es uns damit nicht gelungen war, die Mißverständnisse zu beseitigen, die in bezug auf unsere Gesinnung und Absicht bestanden. Wir legen Ihnen jetzt einen Antrag vor, der weiter nichts verlangt, als daß der Reichskanzler auf dem Wege der Verhandlungen mit den einzelnen Bundesstaaten dahin wirken möge, daß Beschränkungen der Religions⸗ freiheit, so weit sie bestehen, auf gesetzlichem Wege beseitigt werden. Wir haben allerdings nicht die Hoffnung, daß der Frieden, den ich auf diesem Gebiet mehr als auf einem anderen wünsche, so bald ein⸗ tritt, ich fürchte nach allem, was wir in letzter Zeit erlebt haben, daß die Erbitterung einstweilen noch zu groß ist, um eine dauernde Versöhnung herbeizuführen, wie sie doch in anderen Staaten längst besteht. Aber wir können ja einen Waffenstillstand schließen. Wir können einstweilen diese und andere dringende Differenzen ausschalten. (Abgeordneter Dr. Everling ruft: Das Zentrum auflösen! Das beweist, daß Sie meinen vorherigen Ausführungen nicht gefolgt sind. In meiner letzten Rede erwähnte ich den Ruck nach links. Dieser hat sich in überraschendem Tempo weiter entwickelt. Wenn die Entwicklung nach links so weiter gehen sollte, müßte sie auf eine Konsolidation nach rechts wirken. Mir sind die

Hindernisse sehr wohl bekannt aber daß der Ausgestaltung einer wirklichen

einheitlichen großen liberalen Partei eine Konsolidierung der konservativen Parteien gegenüberstehen würde, ist mir nicht zweifelhaft. Das hätte man von , wissen müssen, daß es unmöglich ist, eine Partei, wie die unsrige, beiseite zu schieben. Wir werden auch jetzt bereit sein, in allen vorliegenden Fragen ruhig und sachlich mitzuarbeiten. Wir glauben, daß eine solche Arbeit ihren Wert in sich selbst hat, und sind mit dem Reichskanzler darin einverstanden, daß die Absolvierung dieser Aufgaben durchaus kein Kennzeichen der Stagnation sein würde. Abg. Freiherr von Richthofen⸗Dam dorf (dkons.) : Der Reichskanzler hat alle bürgerlichen Parteien aufgefordert, den Kampf der Vergangenheit nicht fortzuspinnen. Darin kann ich ihm die Zu⸗

Berlin, Freitag, den 10. Dezemher

stimmung meiner Partei aussprechen. Auch wir wollen keine Partei— regierung. Unsere Bereitwilligkeit, mit dem Reichskanzler zu arbeiten, geht so weit, als es uns nur irgend möglich ist. Hin⸗— sichtlich der neuen Steuern ist der Beharrungszustand noch nicht eingetreten; wir hoffen, daß das bald der Fall sein wird. Jeden⸗ falls werden sie 1910 noch weniger abwerfen als in Zukunft. Viel schwieriger als der Hauptetat stellt sich für uns der Nãchtrags⸗ etat dar, der die Konsequenzen aus den sommerlichen Beschlüssen zur Reichsfinanzreferm zieht. Die im zweiten Nachtrags⸗ etat angestrebte Erweiterung des kolonialen Eisenbahnnetzes hat im großen und ganzen auf unsere Sympathie zu rechnen. Die viel⸗ fachen Entstellungen über die Beziehungen der Parteien, die in den letzten Monaten durch eine gewisse Presse gegangen sind, namentlich über die Besitzsteuern, können die konservative Partei nicht treffen. Sie hat ihre Stellung genommen in richtiger Würdigung des Be⸗ griffes Besitzsteuer. Die Beruhigung, die in bezug auf einige aus— wärtige Fragen eingetreten ist, ist leider noch nicht zu . bezüglich der wirtschaftlichen Reformen, speziell der indirekten Steuern. Die neuen Steuern müssen sich erst einleben, dann wird auch hier Ruhe eintreten. In den Kampf der Parteien sollen die verbündeten Regierungen allerdings nicht eingreifen, aber da sie mit denjenigen Parteien, die die Finanzreform zu stande gebracht haben, schließlich übereinstimmten, ist es bedauerlich, daß sie nicht in der Abwehr unberechtigter Angriffe wegen dieser gesetzgeberischen Aktion das geleistet haben, was sie hätten leisten können. Ich hoffe, daß auch die widerstrebenden Parteien die gemeinsamen Aufgaben des Reichs in Zukunft ins Auge fassen, uns sich wieder ann in gemeinsamer Arbeit. In der auswärtigen Politik kann man die Lage mit Ruhe betrachten. Allerdings glauben große Kreise, daß ihre wirtschaftlichen Interessen in Marokko nicht genügend ver⸗ treten wären. Auch in der Kongofrage erwarten wir eine Entwicklung, auf die wir mit Ruhe blicken können. In der inneren Politik hoffen wir, daß die bisher beim Zolltarif und den Handelsverträgen ein⸗ gehaltenen Richtlinien weiter verfolgt werden. Unsere Partei steht selbständig da. Sie verfolgt ihre eigenen Interessen zum Wohle des Vaterlandes. Die Polenfrage betrifft die Einzel⸗ staaten. Aber ich kann erklären: wir werden nach wie vor die Polen unparteiisch behandeln. Wir haben in dieser Beziehung voll— kommen freie Hand und werden uns diese erhalten. Alle Parteien sollten mitwirken, um die großen Aufgaben zum Wohle des Vater— landes zu lösen. Wir unserseits werden das jedenfalls tun.

Abg. Bassermann (nl): Die Thronrede nach den Wahlen von 1907 sprach von der nationalen K des Volkes, die sich bei den Wahlen gezeigt hat, heute aber ist an die Stelle der Begeisterung zum Teil Enttäuschung, zum Teil starke Ver⸗ stimmung getreten. Die jetzige Thronrede registriert daher nüchtern nur die Aufgaben, die dem Reichstage gestellt sind. Verursacht ist dieser Wandel durch die Finanzreform. Der Reichskanzler hat Vorwürfe gegen unsere Partei erhoben, ohne sie zu nennen. Wir haben in dem Kampfe im Sommer das Necht für uns in Anspruch genommen, uns zu wehren und aufzuklären. Man hat uns eine antinationale Handlung vorgeworfen, als wir die Finanzreform ab⸗ lehnten. Was würden die englischen Lords oder die Minorität des englischen Unterhauses sagen, die nicht die Finanzreform des Ministers Lloyd⸗-George mitmachen. Wenn man ihnen vorwürfe, daß sie zwar den Finanzbedarf anerkennten, aber trotzdem nicht den Weg der Mehrheit gehen wollten, so würde das als ein lächerlicher Vorwurf angesehen werden. Wir hatten keine Veranlassung, nachdem die Regierung feierlich versichert hatte, daß ohne Erbschaftssteuer die Finanzreform nicht zustande kommen würde, der geänderten Finanz⸗ reform zuzustimmen. Wenn die Herren von der Rechten uns vorwerfen, wir hätten bei der Ablehnung der Finanzreform nicht die Interessen des Vaterlandes im Auge gehabt, so liegt eine Verwechslung vor. Wir haben uns in der Finanzreform aus dem Gedanken entschieden, daß auch in einer Steuerreform die soziale Gerechtigkeit zum Ausdruck kommen muß, und daß das Vaterland Schaden leidet, wenn es anders wird. Der Reichskanzler meinte, daß wir unsere Traditionen aufgegeben hätten. Davon kann keine Rede sein. Wir hatten keine Veranlassung, auf den Boden zu treten, den Konservative und Zentrum in der Finanzreform gefunden haben, weil wir meinten, daß diese Reform der inneren Entwicklung des Vaterlandes nur schaden würde. Sonderbar sind solche Vorwürfe gegen uns, die wir den Standpunkt der Regierung festgehalten . den sie in feier⸗ lichen Erklärungen niedergelegt hatte. Gerade der Liberalismus hatte sich zu der Erkenntnis durchgerungen, daß die Finanzreform nicht ohne starke Heranziehung der Konsumabgaben gemacht werden konnte. Für die Erweiterung der Erbschaftssteuer auf die Deszendenten und Ehegatten habe ich mich schon bei der vorigen Finanzreform am 19. Dezember 1905 und hat sich mein Freund Büsing am 9. Januar 1906 im Namen der Fraktion ausgesprochen. Bei dem Besitzsteuer⸗ kompromiß machte der damalige Schatzsekretär den Fehler, daß er dem Kompromiß zustimmte, ohne die Zustimmung der einzel— staatlichen Finanzminister zu haben. Der Abg. von Hertling hat gesagt, das Zentrum sei in der Finanzreform ausgeschaltet worden, und die Ausschaltung einer sehr großen Partei wäre nicht möglich. Darin liegt ein Kern von Wahrheit. Aber so war es auch gar nicht gemeint. Vom Standpunkt des Zentrums war es ja allerdings durchaus logisch, nach den Neuwahlen den Block zu zertrümmern und den Reichskanzler zum Rücktritt zu bringen. Das Mittel hierzu war auf der einen Seite die Bewilligung der Branntweinliebesgabe in ihrer vollen Höhe und zweitens die Be— seitigung der Deszendentensteuer. Es ist zwar von konservativer Seite bestritten worden, daß das Zentrum seine Mitwirkung an dem Zu⸗ standekommen der Reichsfinanzreform von der Ablehnung der Erb schaftssteuer abhängig gemacht habe, aber dies ändert nichts an der Tatsache. Wir haben nun einen neuen Reichskanzler, der einst als Nachfolger des Grafen Posadowsky, der in die Blockpolitik nicht mehr zu passen schien, mit uns das Vereinsgesetz gegen Zentrum, Polen und Sozialdemokraten gemacht hat. Ich kann ihm . daß es ihm wohl schwer sein mag, in dieser verworrenen Zeit ein politisches Programm zu bringen, ich meine aber doch mit meiner Partei, daß etwas mehr hätte gesagt werden können. Das Präsidium des Jahres 1907 war ein ausgesprochen politisches Präsidium. Durch das Zusammenwirken der Konservativen und Liberalen ist bekanntlich das Zentrum aus dem Präsidium ausgeschieden worden. Es lehnte ab, die zweite Präsidentenstelle einzunehmen. Nachdem nun der Block zusammengebrochen ist, einigten sich Zentrum und Konservative über das Präsidium. In dieser Zeit der schärfsten Kämpfe sind wir nach reiflicher Ueberlegung und nicht etwa vom evangelischen Bunde fortgerissen, zu der Meinung gekommen, daß es Mißverständnissen im weitesten Umfange Tür und Tor öffnen würde, wenn wir dem Präsidium der Mehrheit beigetreten wären. Wir haben dies nicht ap irato getan, sondern in der Erkenntnis der neuen politischen Situation, die die Signatur für das Land abgab. Nun sind wir ja in unseren Herzen tief bewegt, wenn uns von rechts und vom Zentrum gesagt wird, daß wir durch unsere Ausschaltung unsere eigenen Interessen preisgeben. Der Reichs⸗ kanzler hat die Befürchtung geäußert, daß unter den Reden über Radikalismus und Reaktion die positive Arbeit leiden würde. Dies ist ein Irrtum. Gelegenheit zu positiver gemeinsamer Arbeit ist auch fernerhin vorhanden auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung, der juristischen Gesetzgebung usw. Der Vorwurf des Kanzlers, daß unsere Partei abstinent in der gesetzgeberischen Mit⸗ arbeit sein wolle, war ein Lufthieb. Die nationalliberale Partei wird

19 ꝙ.

auch fernerhin ihren Einfluß in die Wagschale werfen, um die in der Thronrede angekündigten Gesetze durchzuführen. Wir gedenken hier⸗ bei der großen Verdienste, die sich der eben aus dem Amte ge⸗ schiedene Staatssekretär Nieberding um unsere Justizpflege erworben hat. Ihm ist es gelungen, die Riesenaufgabe des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu lösen; an den neuen Aufgaben auf dem Gebiete der Strafrechtspflege usw. werden wir uns gern beteiligen. Weiter ist zwar in der Thronrede nicht angekündigt, aber dennoch bald zu erwarten ein Entwurf, betreffend die weitere Entlastung des Reichsgerichts. Wir würden es beklagen, wenn die Rechtseinheit durch die Vorschläge dieses Entwurfs in Frage gestellt werden sollte. Die Soziglgesetzgehung soll ja auch weiter ausgebaut werden; die Thron⸗ rede hat die Reichsbersicherungsordnung angekündigt. Wir sind nicht willens, die Selbstverwaltung auf diesem Gebiete antasten zu lassen. Der Entwurf der Reichsversicherungsordnung hat ja auch bisher eine überwiegend ungünstige Kritik erfahren. Wie es mit anderen Materien steht, so betreffs der Versicherung der Privat⸗ beamten, darüber werden ja die nächsten Tage Klarheit bringen; jedenfalls würde es eine schwere Enttäuschung für die beteiligten Kreise bedeuten, wenn die bezügliche Gesetzesvorlage noch weiter hinausgeschoben wird. Fraglich ist, ob der Mittelstand in dieser Session ganz leer ausgehen soll. Dem Etat, wie er vor⸗ gelegt ist, können auch wir das Zeugnis der sparsamen Aufstellung nicht versagen; hoffentlich wird es auch in der Folge gelingen, mit glücklicher Hand alle dagegen wirksamen Widerstände zu beseitigen. Bezüglich der neuen Steuern zeigt der Etat große Mindereinnahmen gegenüber den früheren Schätzungen des Staatssekretärs; im ganzen beträgt das Minus 199 Millionen oder 44 9. Gewiß werden sich die Einnahmen im Standpunkt der Beharrung aufbessern; aber ein so großer Ausfall kann auch nach der Aufzehrung der Voreinfuhr usw. nicht eingeholt werden; die Hoffnung darauf verrät einen allzugroßen Optimismus der Vorredner. Die Summen für die Entschädigung brotlos gewordener Tabakarbeiter haben sich schon jetzt als un⸗ zureichend herausgestellt. Die Hoffnung des Herrn von Hertling, daß in absehbarer Zeit keine neue Steuerbewilligung nötig sein wird, wird sich sehr bald als eitel erweisen. Die Aeuße⸗ rung der Thronrede über unsere auswärtigen Beziehungen können wir nur billigen; wir begrüßen es, daß unsere Beziehungen zu England sich weiter gebessert haben. Die Friedenspolitik, an der England so gut wie Deutschland ein mächtiges Interesse hat, wird immer mehr au Boden gewinnen angesichts der auftauchenden inneren Schwierigkeiten in den einzelnen Ländern und angesichts der großen Friedensaufgabe, welche die Völker nur in friedlichem Zu⸗ sammenleben lösen können. Ueberall, wo deutsche Interessen in Frage stehen, muß unsere Diplomatie diese energisch wahren. Der Abg. von Hertling erwähnte, daß die belgische Regierung willens ist, die Zustände im Congostaat, die zu Klagen und Beschwerden Anlaß geboten haben, zu ändern. Die Berliner Congoakte von 1886 ist allerdings großenteils auf dem Papier stehen ge⸗ blieben; von der dort stipulierten Handelsfreiheit ist tat⸗ sächlich keine Rede. Die östliche Grenzregelung darf auch nicht stattfinden unter Preisgebung deutscher Rechte. In beiden un et wünschen wir eine offizielle Aufklärung. Das Auswärtige Amt stellt in dem Etat eine Neuforderung auf, die mit der Reorganisation des Amtes zusammenhängt; es wird nämlich ein neuer vortragender Rat für die politische if eilten verlangt. Heißt das nicht Sparsamkeit am unrechten Orte? Die Beziehungen zu Frankreich anlangend, be⸗ grüßen wir den Passus der Thronxede hinsichtlich Marokkos mit Genugtuung. In der französischen Deputiertenkammer hat man sich ausführlich über Marokko unterhalten, und Jaurès hat von einem Geheimvertrag gesprochen. Das deutsche Volk hat den dringenden Wunsch, daß wir nicht über Marokko in eine dauernde Veruneinigung mit Frankreich geraten; aber das schließt nicht aus, daß wir eine Politik nicht fördern, die darauf ausgeht, die Selbständigkeit des Sultans anzutasten, wie es auch fraglich ist, ob wir nicht besser getan hätten, eine französische Anleihepolitik gegenüber Marokko, die die Unabhängigkeit Marokkos gefährden würde, nicht zu unterstützen. Nachdem wir Frankreich Konzessionen gemacht haben, müssen aber auch die deutschen Interessen energisch vertreten werden, namentlich die Mannesmannschen Ansprüche. Das Schiedsgericht soll diesen An⸗ sprüchen nicht günstig gestimmt sein, aber juristische Autoritäten auch auf französischer Seite erkennen sie als berechtigt an. Die Vorgänge bei Feierlichkeiten in Elsaß⸗-Lothringen dürfen nicht zu einer Stärkung des französischen Elementes in Elsaß⸗Lothringen selbst Veranlassung geben. Man möge vorschreiben, in welchen Grenzen solche Feiern zu halten sind, wie es auch auf französischer Seite geschieht. In bezug auf den Dreibund kann ich mich dem Freiherrn von Hertling anschließen. Aber ich teile nicht ganz seine Meinung über die Zusammenkunft in Racconigi. Diese Zusammenkunft und noch mehr die Art ihrer In⸗ szenierung hat in Oesterreich und auch bei uns starke Verstimmung hervor⸗ gerufen, da sie doch einen provokatorischen Charakter trug. Viel leicht kann uns die Regierung über das Ergebnis der Unterredung dort Mitteilung machen. Im großen ganzen haben Monarchen⸗ zusammenkünfte keine entscheidende Bedeutung für die politischen Ver⸗ hältnisse der Länder. Dabei sind stärkere Faktoren entscheidend, und es liegt im eigenen Interesse Italiens, am Dreibund festzuhalten. Die Errichtung einer Gesandtschaft in Sofig ist von Bedeutung für unsere Orientpolitik. Unser Botschafter in Amerika, Graf Bernstorff, hat aufklärend über die friedlichen Ziele der deutschen Politik gewirkt, aber wir bedauern, daß er die Alldeutschen angegriffen hat, die zwar nicht nach jedermanns Geschmack sind, die aber doch, wenn sie auch viel⸗ leicht einmal mit Ueberschwang ihre Politik vertreten, gute deutsche Patrioten sind. Vorbehaltlich der Billigung seiner aufklärenden Arbeit wünsche ich doch, daß dem Botschafter derartige Entgleisungen nicht mehr passieren. Der Marineetat hält sich im Rahmen des Flottengesetzes. Auch ist die Erklärung des Staatssekretärs des Reichsmarineamts er⸗ freulich, daß es keinen Seeoffizier gibt, der nicht mit ihm auf dem Boden des Flottengesetzes stände. In der Thronrede nimmt die Kolonialpolitik einen breiten Raum ein. Es ist anzuerkennen, daß der Staatssekretär des Kolonialamts die Kolonien wesentlich ent⸗ wickelt hat; es ist ihm auch gelungen, dem Reiche große Einnahmen zu sichern, und wir begrüßen es auch dankbar, daß er für die Förderung des Baumwollanbaues durch seine Reise nach Amerika gewirkt hat. In dem konfessionellen Streite wünschten wir auch, daß eine Periode der Ruhe eintrete, aber wenn Freiherr von Hertling über die mangelnde Parität in der Besetzung der Staatsämter klagt, so möge er sich darüber mit dem Reichskanzler auseinandersetzen. Nach den Vorgängen am Rhein wird man trotz aller Anstrengungen der Abgg. Roeren und Dr. Bitter doch sagen müssen, daß das Zentrum eine konfessionelle Partei ist. Wenn wir uns die neue Lage ansehen so ist es naturgemäß, daß die polnische Fraktion, die an der neuen Finanzreform teilgenommen hat, die Hoffnung hegt, daß mit der preußischen Polenpolitik gebrochen wird. Man hofft vielleicht auf die Rückkehr der Zeit des Herrn von Koscielski. Für die weitere Entwicklung der inneren Politik ist das Vor⸗ gehen des Zentrums nicht ohne Bedenken. Auf in erte der am 2d. November getagt hat, hat das Zentrum beschlossen, in allen west⸗ preußischen Wahlkreisen ein Zusammengehen mit den Polen in Aussicht zu nehmen. Es werden dadurch zweifellos die deutschen Wahlen benachteiligt. Wir sehen jetzt überall einen starken Vor⸗ marsch der Sozialdemokratie, nicht nur bei den Reichstagswahlen, sondern auch bei den Wahlen für die einzelstaatlichen Parlamente und bei den Kommunalwahlen. Die Erbitterung über die Folgen der neuen Steuern tritt auch in Kreisen hervor, die der liberalen Presse fernstehen. Auch der brave ultramontane Urwähler, der nur seine eigene

——

///