Großhandelspreise von Getreide an deutschen und fremden ö Bõrseup lãtzen für die Woche vom 7. bis 2. März 1910 nebst entsprechenden Angaben für die Vorwoche. 1000 kg in Mark.
3
Da⸗
egen or⸗ woche
159,00
222, 25 225, 83 156i. I7 I64, 7
Berlin.
Roggen, guter, gesunder, mindestens 712 g das 1. Weizen. . ö 755 g das 1.
Hafer, ö ‚. J 450 g das 1.
Mannheim. Roggen, ö russischer, mittel..
171,50 240,62 173,975 173, 12 131,87
Pfälzer, russischer, amerik,, rumän., mittel. Hafer, bad k Gerste badische, Pfälzer, mittel! .....
russische Futter, mittel....
2
Weizen ü
Wien. Roggen, Mester Boden. Welzen, Theiß⸗ .... 7 J rte; ; ,, .. Mais, ungarischer. Budapest. . a . Welzen, ö J . . fer,
erste, Futter⸗ ; 3. J Ode ssa.
Roggen, 71 bis 72 kg das hl ... 121.34 Welzen, Ulka, 75 bis 76 kg das hl. 166,41 Rig a. /
Roggen, 71 bis 72 kg das hl 134, 88 135,44 en, 78 bis 79 kg das hl 162,01 165,30 Paris.
5 lieferbare Ware des laufenden Monats /
161,97 247,91 134,14 142,63 114,62
167,18 2563, 18 135,94 142,73 117,24
102,42 236. 65 1357 5 114 57 105.44
13469 13500 155, 16 261. 15
Antwerpen.
Donau, mittel 179,98 181,587
ö. . 171,25 175. 81
Kansas Nr. 2. — ——
La Plata.
Kurrachee ..
l
R Am sterdam.
1
St. .
d
amerikanischer Winter⸗ 168,32
amerikanischer bunt . .
K
London. Weizen s engl. weiß (Mark Lane) 161,01 161,01
. 158,22 158,78 Weizen
182, 92 178,23
136,26 135,16 164 5
englisches Getreide, 1592,63 153,02 fer Mittelpreis aus 196 Marktorten 130,05 1306,65 erste (Gazette avsrages) 135,72 138, 07
Liverpool. 1 roter Winter Nr. 2 Manitoba Nr. 2.
La Plata. Kurrachee . Australier ; Hafer, englischer 5 . .. t Schwarze Meer⸗. 3,62 Gerste, zutter. J 11,92 1 125,39, Mais amerikan,, bunt. w La Plata, gelber.
C h ic a go. Mai.
Weizen, Lieferungsware Juli. ö 163,38 September 168858 167 163 Mais ö
185,28 186,0 184,10
189.26
179. 46
19 86
15671
Weizen
Mai. 1064,52 106,53
Neu JYJork. , — — Nai 187,66 188,16 176,09
169 57 167 59 126, 5 123 07
Welzen
s Lieferungsware J
September
Mals . Mai. Buenos Aires.
6 Durchschnittsware
i) Angaben liegen nicht vor.
161,25 161,25
111,36 111,36.
Bemerkungen.
1 Imperial Quarter ist für die Weizennotiz an der Londoner roduktenbörse — h04 Pfund engl. gerechnet; für die aus den Um— ätzen an 196 Marktorten des Königreichs ermittelten Durchschnitts. reise für einheimisches Getreide (Gazette averages) ist 1 Imperial
. Weizen — 489, Hafer — 312, Gerste — 406 Pfund engl. angesetzt; 1 Bushel Weizen — 60, 1 Bushel Mais — 56 Pfund . 1 Pfund englisch — 453,5 g; 1 Last Roggen — 20d, Weizen — 2490, Mais — 2000 Eg.
Bei der Umrechnung der Preise in Reichswährung sind die aus den einzelnen Tagesangaben im „Reichsanzeiger“ ermittelten wöchent⸗ lichen Dur ae e rh an der Berliner Börse zugrunde gelegt, und zwar für Wien und Budapest die Kurse auf Wien, für London und Liverpool die Kurse auf London, für Chicago und Neu Jork die Kurse guf Neu Jork, für Odessa und Riga die Kurse auf St. Peters⸗ burg, für Paris, Antwerpen und Amsterdam die Kurse auf diese Plätze. . in Buenos Aires unter Berücksichtigung der Goldprämie. Berlin, den 16. März 1910.
Kaiserliches Statistisches Amt. van der Borght.
Dentscher Reichstag. 58. Sitzung vom 15. März 1910, Nachmittags 1 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphlschem Bureau.)
Nach Erledigung des ersten Punktes der Tagesordnung, worüber in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden ist, setzt das Haus die Spezialberatung des Etats für den Reichskanzler und die Reichskanzlei fort.
Abg. Prinz zu Schoenaich-Carolath (nul) befürwortet folgende von Mitgliedern verschiedener Parteien unterstützte Resolution: „Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, nach dem Beispiele zahlreicher anderer Staaten zur Unterstützung der Bestrebungen für die internationale Schiedsgerichts bewegung (Union interparlementaire pour Larbi- trage internätional) eine Beihilfe in den nächstjährigen Etat einzusetzen. Die interparlamentarische Union umfaßt Mitglieder aller Parlamente. Sie will das Prinzip zur Anerkennung bringen, daß Streitigkeiten zwischen den Nationen tunlichst ihre Lösung auf schiedsgerichtlichem Wege finden. Sie will der Entfremdung zwischen den Völkern die Stimme der Versöhnung entgegenhalten und nach Kräften an der Erhaltung des Friedens zwischen den einzelnen Na— tionen arbeiten. Die inkerparlamentarische Union ist nicht zu ver— wechseln mit den Friedensgesellschaften, aber sie will auch ihrerseits unter Berücksichtigung der Eigenart der Nationen auf die Erhaltung des Friedens hinwirken und den Streitigkeiten, soweit es möglich ist, ihre Schärfe nehmen. Sie verfolgt die gleichen Zwecke wie die Fürsten⸗ zusammenkünfte und Ministerkonferenzen, sie will einen Gedanken— austausch zwischen den Vertretern der betreffenden Nationen vermitteln. Diese Bestrebungen verdienen auch von seiten des Deutschen Reiches die materielle Beihilfe, die ihm von anderen Staaten, auch von England, zu teil geworden ist. Ich bitte Sie, unsere Resolution möglichst einstimmig anzunehmen.
Abg. Eickhoff (fortschr. Volksp.): Ich empfehle dem Hause die Resolution, die auch wir mit unterstützt haben, dringend zur Annahme. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die für den Völkerfrieden so wichtige internationale Bewegung der Union parlementaire zu verdanken ist, deren Berliner Konferenz im September 1908 eine sehr fruchtbare dreitägige Arbeit geleistet hat. Der französische Minister des Auswärtigen Pichon hat für Frankreich eine solche stagtliche Unterstützung schon zugesagt. Die Union bedarf für ihre Arbeiten neben dem ständigen interparlamentarischen Bureau auch eines Archivs und anderer Einrichtungen. 18 Staaten haben bereits eine parlamentarische Gruppe dieser Union. Jetzt handelt es sich um die Vorbereitung für die nächste Konferenz in Brüssel, die ebenfalls wichtige Fragen des Völkerrechts behandeln wird. England hat sich schon vor mehreren Jahren bereit erklärt, eine solche Sub— vention zu geben; das gleiche ist von Italien und mehreren kleineren Staaten zu melden. Durchweg handelt es sich um nur geringfügige Summen; da wird auch Deutschland hinter den anderen Staaten nicht zurückbleiben wollen. Der deutsch-englische Schiedsgerichts⸗ vertrag ist neuerdings auf 5 Jahre erneuert worden; leider ist uns offiziell darüber nichts bekannt geworden. Formell ist ja die Regierung zur Vorlegung des Vertrages nicht verpflichtet; aber derartige Verträge . uns schon in Rücksicht auf das An— sehen des Reichstages zur Kenntnis gebracht werden. Wie steht es mit dem Schiedsgerichtsvertrag mit Amerika? Sind di Schwierigkeiten beseitigt, die sich seit 1904 seinem s entgegengestellt haben? Jedenfalls liegt die Schuld dafür, das noch nicht geschehen ist, nicht an Deutschland. Daß auch der Abschluß eines solchen Vertrages mit Frankreich segens—
reich sein würde, steht fest. Die Schiedsklausel des österreichischen Handelsvertrages sollte auch endlich in Kraft gesetzt werden. Die Verhandlungen der Haager Konferenz von 1907 liegen jetzt sämtlich im Wortlaut vor; das Ergebnis ist, absolut genommen, recht mager. Immerhin konstatiere ich mit Genugtuung, daß die Haltung der deutschen Vertreter sich seit der ersten Konferenz ganz erheblich ge— ändert hat; die Erklärungen, die der Freiherr von Marschall abgab, ließen erkennen, daß die deutsche Regierung jetzt dem Gedanken des obligatorischen Schiedsgerichts günstig gestimmt ist.
Staatssekretär des Auswärtigen Amts Freiherr von Schoen:
Meine Herren! Der Herr Reichskanzler teilt die Sympathien, die sein Amtsvorgänger den Bestrebungen der Interparlamentarischen Union entgegengebracht hat, und welche ihren besondern Ausdruck ge— funden haben, als im September 1908 die Union hier in diesem hohen Hause getagt hat. Die Anregung, zur Unterstützung dieser Bestrebungen eine Beihilfe in den nächstjährigen Etat einzustellen, wird der Herr Reichskanzler mit gebührender Rücksicht in Erwägung nehmen. (Bravo! links) Ein Wort wird dabei allerdings der Herr Staatssekretär des Reichsschatzamts als Hüter der Reichsfinanzen mitzusprechen haben. (Heiterkeit.)
Hinsichtlich der übrigen Fragen, welche der Herr Abg. Eickhoff an geführt hat, kann ich ihm sagen, daß, was zunächst die Mitteilung der Verlängerung unseres Schiedsvertrages mit England be trifft, wir im allgemeinen die Gewohnheit haben, diejenigen Verträge, welche nicht sofort in Kraft treten, dem hohen Hause zur Kenntnis zu bringen. Das ist namentlich der Fall gewesen bei denjenigen Ver— trägen von höherer Bedeutung, welche auf internationalen Konferenzen zustande gekommen sind, so beispielsweise bei den auf der Friedens konferenz im Haag abgeschlossenen Verträgen, sowie bei den auf der Londoner Seekriegskonferenz vereinbarten Bestimmungen. Was die jenigen Verträge betrifft, die alsbald in Kraft treten, so werden wir nicht immer in der Lage sein, sie dem hohen Hause vorher vorzulegen; wir sind aber gern bereit, sie in solchen Fällen im „Reichsgesetzblatt“ zu veröffentlichen.
Der Herr Abg. Eickhoff hat ferner mit Freuden begrüßt, daß Aussicht besteht, den Prisengerichtshof in Wirksamkeit treten zu lassen, welcher in der Tat unserer Initiative auf der Haager Kon— ferenz entsprungen ist. Dieses freudige Gefühl teilen wir voll— kommen.
Was die Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika über den Abschluß eines Schiedsvertrages betrifft, so sind sie noch nicht abgeschlossen. Unsere Vorschläge bezüglich eines solchen Vertrages liegen der Bundesregierung in Washington vor. Eine Antwort derselben auf unsere letzten Vorschläge ist bis jetzt nicht erfolgt.
Direktor im Auswärtigen Amt Dr. von Koerner: Ich möchte noch auf eine Frage antworten, die der Herr Abg. Eickhoff gestellt hat nämlich auf die Frage, ob die Ausführungsbestimmungen zu der Schiedsklausel, die in unserem Handelsvertrag mit Oesterreich Ungarn enthalten ist, inzwischen zum Abschluß gelangt seien. Ich kann diese Frage bejahen. Es sind mit der österreichischungarischen Regierung eingehende Bestimmungen über das Verfahren vereinbart worden, insbesondere ist auch ganz speziell bestimmt worden, in welcher Weise der Obmann gewählt werden soll. Ich darf vielleicht diese Be— stimmung mitteilen: „Der Obmann wird zunächst für eine Versuchszeit von drei Jahren aus den jeweiligen Prä— sidenten der höchsten Gerichtshöfe Belgiens, Dänemarks, der Niederlande, Norwegens, Schwedens und der Schweiz gewählt. In jedem einzelnen Falle wird durch das Los dasjenige der genannten Länder bestimmt werden, welches in dieser Weise den Obmann zu stellen hätte. Sollte die Regierung des betreffenden Landes oder der dort in Frage kommende Funktionär die Wahl ablehnen, so hat eine
neue Auslosung unter den übrigen Ländern zu erfolgen. Um jedoch in den einzelnen konkreten Fällen die Notwendigkeit einer Nen—
auslosung zu vermeiden, wird der Präsident des obersten Gerichts— hofs des Landes, auf welches das Los gefallen ist, ermächtigt werden, sich im Verhinderungsfalle durch seinen jeweiligen amtlichen Stell- vertreter vertreten zu lassen. Es ist also die schwierige Frage der Bestimmung des Obmannes im Verhältnis zu DOesterreich-Ungarn in einer, wie ich glaube, für alle Fälle ausreichenden Weise a f Es
ist also mit Oesterreich⸗Ungarn die Sachlage jetzt so, daß, fobald eine
Frage, die nach dem Vertrage der schiedsgerichtlichen Entscheidung unterliegt, zwischen Oesterreich⸗-Ungarn und Deutschland auftreten sollte, jederzeit die Möglichkeit gegeben ist, das Schiedsgericht zusammentreten zu lassen. Der Herr Abg. Eickhoff hat ferner noch auf die Konferenz
Bezug genommen, die zur in g. einer Anzahl von streitigen
Fragen im Herbst vorigen Jahres zwischen uns und Oesterreich-Ungarn abgehalten worden ist. Ich möchte dazu noch bemerken, daß auf dieser Konferenz außer einer Reihe anderer nicht unerheblicher Fragen gegen 80 Zollstreitfragen behandelt worden sind, und es hat sich bei diesen Verhandlungen, gezeigt, daß es sehr zweckmäßig ist, diesen Weg der mündlichen Verständigung zu wählen. Es ist sehr viel leichter möglich, im Wege der mündlichen Verständi— gung zu einer Einigung zu gelangen als im Korrespondenzweg. Es ist deshalb auch auf der Wiener Konferenz in Aussicht genommen worden, von Zeit zu Zeit diese Konferenzen zu wiederholen, um so einerseits den immerhin etwas schwerfälligen und kostspieligen Apparat des Schiedsgerichts möglichst zu vermeiden, anderseits aber auch die etwa wieder auftauchenden Zollstreitfragen möglichst schnell und vollständig zu beseitigen. Es darf vielleicht auch erwähnt werden, daß auf diesem Wege nach und nach zwischen Oesterreich⸗-Ungarn und uns eine möglichste Gleichmäßigkeit in der Anwendung der Vertragstarife auf beiden Seiten erreicht wird. Das wäre sicher ein großer Vorteil für die Interessenten.
Abg. Ledebour (Soz): Wir können nur wünschen, daß den Schieds gerichten möglichst alle Differenzpvunkte überwiesen werden. Beide Vertreter der Regierung haben eine im allgemeinen wohlwollende Antwort gegeben, aber immerhin haben sie nicht das große Interesse für die Sache, wie die beiden Antragsteller und, wie ich annehme, die Mehrheit des Hausetz. Daß der Reichsschatzsekretär ein gewichtiges Wort zu sprechen haben soll, wenn es sich um ein Sbjekt bon vielleicht 4000 M handelt, ist doch bei einem Budget von 2 Milligrden ein höchst merkwürdiges Argument. Ich hoffe, der Schatzsekretär wird nicht diesen Wink mit dem Zaunpfahl befolgen, sondern nach dem Grundsatz handeln: Minima non curat, praetor. Die Veröffentlichung im Reichs— gesetzblatt wäre eine Publikation unter Ausschluß der Oeffentlichkeit; selbst Abgeordnete pflegen dies Blatt in ihren Muße stunden nicht zu lesen. Es kann nur gewünscht werden, daß auch die kleinen Ausgaben nicht gescheut werden mögen, die durch den Abdruck solcher Verträge unter den Reichstagsdrucksachen erwächst. Die Friedensfreunde sollten vor allem überall in den eigenen Ländern zur Verminderung der Rüstungen wirken. Wir haben unserseits eine
Resolution eingebracht, wonach ein Gesetz gefordert wird, das die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers festlegt, auch für alle Hand— lungen und Unterlassungen des Kaisers, und zugleich dafür die Ein— setzung eines Staatsgerichtshofes verlangt. Im November 1908 waren ja schon bezügliche Verhandlungen in der Geschäftsordnungs kommission eingeleitet, sie sind aber leider nicht zur Erledigung gekommen und nachher völlig unter den Tisch gefallen. Deswegen muß jede Gelegenheit ergriffen werden, nicht nur den Reichstag vorwärts zu treiben, sondern auch die Oeffentlichkeit auf die große Wichtigkeit einer derartigen staatsrechtlichen Weiter entwicklung aufmerksam zu machen. Der Antrag, daß der Reichskanzler dem Reichstag verantwortlich sein soll, würde seine volle Wirksamkeit erst erhalten durch unseren Antrag, daß der Reichskanzler zu entlassen ist, wenn der Reichstag es verlangt. Die selbstherrliche Entscheidung ist dem Monarchen aus den Händen zu nehmen. Darüber ist wohl kein Zweifel, daß keine Persönlichkeit, wenn sie auch auf allen möglichen Gebieten noch so viele Talente besitzt, imstande wäre, auch nur die Oberleitung der wichtigsten. Angelegenheiten innerhalb seiner höfischen Umgebung wirklich selbst zu führen. Wir haben in Wirklichkeit ein bureaukratisches Regierungssystem mit parlamentarischem Aufputz, mit parlamentarischer Redebegleitung. Dadurch unterscheiden sich die deutschen Zustände sehr wesentlich von „denen anderer vor geschrittener Kulturstaaten. Es ist notwendig, daß nicht bloß im Reich, sondern auch in den Einzelstaaten die Entscheidung aller wichtigen Fragen in die Parlamente verlegt wird, und auf Grund dieser Entscheidungen die Ministerien, die selbstverständlich nur aus— führende Organe der Parlamentsmehrheit sein müssen und aus ihr hervorgehen, die Geschäfte des Landes leiten. Eine Parteiregierung gibt es bei uns ebensowohl, wie in den parlamentarisch regierten Staaten. Der Unterschied ist nur der, daß diese Parteiregierung bei uns auf der selbstherrlichen Bureaukratie beruht, und daß diese die Interessen einer kleinen Minderheit wahrnimmt. Alle, die dieses buregukratische Regierungssystem kritisieren, werden in rücksichtsloser Weise gemaßregelt. Solchen Personen wird der Zutritt nicht nur zu den Regierungsämtern, sondern auch zu den Wahlämtern der Selbst— verwaltung verschlossen. Die Bureaukratie hat als solche keine politische Ueberzeugung, sie zeichnet sich nur durch ihren Korpsgeist aus. Auch auf die Bureaukratie selber übt das bureaukratische Regierungs— system eine vernichtende Wirkung aus, es wirkt verheerend auf den Charakter der Bureaukratie. Dafür ist ein Beispiel der frühere Oberbürgermeister von Brandenburg und preußische Abgeordnete Ziegler, der sagte, daß
das bureaukratische System mit seiner Dressur alle moralischen Rippen
breche. Die jetzige Regierungsmethode verhindert auch die Bildung einer festen Mehrheit. Die Regierung hält sich wochen, und monate— lang vom Reichstage fern, sie drückt sich nicht nur dann, wenn Vorlagen aus dem Hause zur Entscheidung kommen, sondern auch, wenn ihre eigenen Vorlagen zur Debatte stehen. So verkroch sie sich in sich selber bei der Finanzreform, so machte sie es bei der Wahlreform, als der Reichskanzler als Minister— präsident im preußischen Abgeordnetenhause erklärte: Die Regierung vinkuliert sich nicht. Er dachte dabei wohl der Erfahrungen, die sein Vorgänger im vorigen Jahre gemacht hatte, als er sich in der Erb— schaftssteuerfrage gegen die Liberalen vinkulierte. Der Reichskanzler begibt sich in die gottgewollte Abhängigkeit von den Konservativen. Als Fürst Bülow zwischen den beiden Stühlen zu Boden fiel, setzte sich der Staatssekretär von Bethmann ganz unbefangen auf den Stuhl des Reichs— kanzlers, obwohl er sich vorher mit Bülow identifiziert hatte. Er vinkuliert sich jetzt nicht, um nicht seinen Sitz zu verlieren, nach dem vielleicht jetzt schon ein schön bescheitelter Kopf schielt. Wir haben heute eine Parteiregierung der schlimmsten Art, eine bureaukratische Regierung, die alles gufbietet, um im Interesse einer kleinen Minderheit andere Parteien terroristisch, wenn nötig, durch militärische Gewalt niederzuhalten. Es ist eine Pflicht der Selbsterhaltung auch der bürgerlichen Parteien, das bureau kratische System zu beseitigen. Bisher haben wir aber leider nicht gesehen, daß uns auch nur eine der bürgerlichen Parteien in diesen unseren Bestcebungen unterstützt. Sie (nach links) haben immer noch sehnsüchtige Blicke geworfen nach der verflossenen Bülow-⸗Aera, also nach einem bureaukratischen Regierungssystem im Interesse der konservativen Partei. Der Unterschied ist nur der, daß an die Stelle der Konservativen das Zentrum getreten ist. Fürst Bülow, der agrarische Kanzler, kann unmöglich zum liberalen Minister geschminkt werden. Wenn Sie (nach links) jene Tradition nicht verlassen und auf unsere Seite treten, so werden Sie nicht weiter kommen. Von der Initiative der bureaukratischen Regierung können Sie keine Beseitigung der bureaukratischen Regierung erwarten. Von der Mehrheit des Reichstags, von der Ausübung des Budget— rechts, das die Regierung auf die Kniee zwingt, ist allein eine Besserung zu erwarten. Dies ist eine Schicksalsstunde für das deutsche Jol
(Schluß in der Zweiten Beilage.)
zum Deutschen Neichsan
M G4.
(Schluß aus der Ersten Beilage.)
Wir werden alles aufbieten, um den Kampf gegen den Bureaukratis— mus und, die Junkerpartei siegreich zu Ende zu führen. Dies wird um so eher gelingen, wenn unser Appell an die liberalen Parteien Erfolg hat. Versagen sie hier, so werden sie mit der Rechten noch eine Zeitlang die Mehrheit bilden, aber lange nicht mehr. Bei den Wahlen wird das Zentrum sehen, daß es einen Fehler begangen hat, der Rechten den Steigbügel zu halten, daß es unrecht getan hat, als es bei der preußischen Wahlreform eine Mißgeburt zu Weg zu bringen half. Damit setzen Sie (-zum Zentrum) die Säge an den Ast. Bei den Neuwahlen in 15 Jahren werden alle diejenigen Parteien, die in großen Lebensfragen sich nicht auf den Boden des parlamentarischen Regiments stellen, es zu büßen haben. Das werden auch die National⸗ liberalen erleben, die eine so klägliche Haltung in großen Fragen der Nation einnehmen. Nur diejenigen werden die Mehrheit be— kommen, die mutig und entschlossen sich ungebunden zum parla⸗ mentarischen System und zum allgemeinen, gleichen Wahlrecht in allen Einzelstaaten bekennen. An die Stelle des bureaukratischen Systems muß das Selbstverwaltungssystem treten.
Abg. Liebermann von Sonnenberg (wirtsch. Vgg.): Ich werde weder über Wahlrecht, noch über Junkerherrschaft, noch über Pfaffen, noch über Juden reden, sondern mich nur mit den Refolutionen be? schäftigen. Die Resolutionen Albrecht und Grägoire über die elsässische Frage halten wir nach den gestrigen Erklärungen des Reichs- kanzlers für überflüssig; wir werden dagegen stimmen. Dem Abg. Naumann bemerke ich, daß Baden unter preußischer Herrschaft zum mindesten nicht schlecht gefahren wäre. Die Refolution Schoenaich⸗ Carolath nehmen wir an. Ich persönlich lege der Sache allerdings keine übermäßige Bedeutung bei. Es ist ganz hübsch, wenn man schöne Reden zu den Versammlungen der Unkon macht, aber es bleibt heute noch der Satz bestehen: si vis pacem, para bellum. Die Resolution wegen der Vornahme der Ersatzwahlen binnen 60 Tagen lehnen wir ab, nicht prinzipiell, sondern weil wir nicht wissen, ob die 609 Tage genügen. Die Resolution Albrecht wegen Vorlegung eines Verantwortlichkeitsgesetzes lehnen wir ab, wollen aber damit keines— wegs auf die Kanzlerverantwortlichkeit verzichten.
Abg. Prinz zu Carolath (ul.): Die Veröffentlichung der Schieds gerichtsperträge im „Reichsgesetzblatt“ oder im „Reichsanzeiger? genügt nicht; sie muͤssen dem Reichstag vorgelegt werden. Die Bemerkung des Staatssekretärs über die Mitwirkung des Schatzsekretärs bei der Bemessung der Subvention für die Union hat der Abg. Ledebour wohl mißverstanden; mich hat die von dem Staatssekretär zu meiner Resolution abgegebene Erklärung vollständig befriedigt.
Damit schließt die Diskussion.
Die Resolution Albrecht wegen Vorlegung eines Ver antwortlichkeitsgesetzes wird in knapper Mehrheit angenommen; dafür stimmen die gesamte Linke, die Polen und ein Teil des Zentrums. Die Resolution Prinz zu Carolath gelangt ein— stimmig zur Annahme. Von den auf Elsaß⸗Lothringen bezüg⸗ lichen Resolutionen wird die von dem elsässischen Abg. Preiß mit Unterstützung des Zentrums eingebrachte:
„Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem Reichstag als⸗ bald einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach das Reichsland Elsaß— Lothringen zum selbständigen Bundesstaat erhoben und ihm im Reiche völlige verfassungsmäßige Gleichstellung mit den übrigen Bundesstagten gewährt wird“
gegen die Stimmen der Rechten angenommen, desgleichen mit knapper Mehrheit die Resolution Grégoire, die außerdem noch fordert, daß die auf Grund dieser neuen Verfassung ein— , , Volksvertretung aus dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht unter Anwendung des Proportionalwahlverfahrens hervorgehen soll. Die Resolution Albrecht, die dem Sinne nach, abgesehen von der Forderung des Proportionalwahlverfahrens, durchweg der Resolution Gréögoire entspricht, war vorher gegen die Stimmen der ge samten Linken, der Nationalen und der Polen abgelehnt worden.
Beim Titel 2, Unterstaatssekretär 20 000 S6“ begründet der
Abg. Kunert (Soz.) die Resolution Albrecht: „Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, noch in dieser Session einen Gesetzentwurf dem Reichstage zugehen zu lassen, wonach der § 8 des Wahlgesetzes von 1869 dahin ergänzt wird, daß die einzelnen Neuwahlen, die während einer Legislaturperiode notwendig werden, innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen nach Erledigung des Mandats vorgenommen werden müssen.“ Der Redner bezieht sich auf mehrere Fälle außergewöhn licher Verschleppung des Termins der Ersatzwahl. Es scheint eine besonders preußische Eigentümlichkeit zu sein, aus rein partei⸗ politischen Rücksichten die Neuwahlen bis zu 6 Monaten zu verschleppen, um sie zu einem der Wahlbeteiligung der breiten Massen möglichst ungünstigen Termine vornehmen zu lassen. In Halle habe sich bei der letzten Ersatzwahl der unerhörte Fall ereignet, daß der Nektor der Universität, indem er die Studenten zum Eingreifen in den Wahl⸗ kampf aufrief, mit seinem akademischen Amte einen skandalösen Miß brauch getrieben habe. Auch solchen zynischen Verstößen gegen Gesetz und Recht müsse vorgebeugt werden. Das Gesetz schreibt vor, daß die Neuwahl „sofort“ vorzunehmen sei; bekanntlich habe, von Puttkamer gemeint, auch mit einer Neuwahl nach 9 Monaten sei noch zie Bedingung des „sofort“ erfüllt. In letzter Linie sei der Reichs— kanzler für derartige Bummeleien und Verschleppungen verantwortlich. Das Gesetz wie das Reglement müßten dem Antrage entsprechend geändert werden. Die 60 Tage hätten die Antragsteller gewählt, weil die Verfassung auch für den Fall einer Auflösung die Vornahme der Neuwahl spätestens 60 Tage nach derselben anordne; tatsächlich hätten nach der Auflösung die Neuwahlen schon nach 49 und 43 Tagen stattgefunden. Auch die Ersatzwahl für Oletzko⸗-Lyck⸗Johannisburg sei schon auf den 14. April, also 53 Tage nach zem Tode des Grafen Stolberg, anberaumt worden. Der Reichstag sei es seiner Würde schuldig, von der ungenierten Willkür, mit der die subalterne Beamtenschaft zumal in Preußen wirtschafte, sich zu befreien.
Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern Delbrück:
Meine Herren! Nach 5§ Z34 des Wahlreglements hat, falls ein Mandat im Laufe der Legislaturperiode erledigt wird, sofort eine Neuwahl stattzufinden, d. h. also, die Neuwahl ist innerhalb eines Zeitraums zu bewirken, der die Möglichkeit gibt, alle erforderlichen, teils in der Natur der Dinge liegenden, teils sich aus den gesetzlichen und reglementarischen Bestimmungen ergebenden Vorbereitungen zu bewirken.
Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es nicht dem Sinn dieser gesetzlichen Bestimmungen entspricht, wenn eine Ersatzwahl ins Unbestimmte verschoben wird, ohne jede Rücksicht darauf, in welcher Zeit die Wahlvorbereitungen hätten beendet werden können. Zweifel⸗ haft ist mir aber, ob die Frist von 60 Tagen, die in der Resolution vorgesehen ist, für ausreichend zu erachten ist.
Zweite Beilage
Berlin, Mittwoch, den 16. März
Meine Herren, Sie können die Fälle, in denen eine Ersatzwahl stattfindet, nicht in Parallele stellen mit denjenigen Fällen, in welchen eine Neuwahl stattfindet infolge einer Auflösung des Hauses. Findet eine Auflösung des Reichstags statt, so erfahren die mit der Vor— bereitung der Wahl beauftragten Behörden das sofort telegraphisch. Es wird also, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann, in solchen Fällen mit den Vorbereitungen für die Wahl schon begonnen in dem Augenblick, wo die Auflösung des Hauses ausgesprochen worden ist. Das bedeutet einen Zeitgewinn für die Durchführung der Vorbereitungen nach meinen Erfahrungen von 8 bis 10 Tagen.
Es ist also unter normalen Verhältnissen nicht möglich, eine Ersatzwahl unter allen Umständen in 60 Tagen zu bewirken, es sei denn, daß es sich um eine Ersatzwahl handelt, die innerhalb des ersten Jahres nach einer Neuwahl stattfindet, weil in diesem Fall die Wahlvorbereitungen erheblich einfacher sind, namentlich neue Wähler— listen nicht aufgestellt werden müssen. Nach meiner Auffassung und nach einem Ueberschlag, den ich nach meiner Erfahrung gemacht habe, wird es allerdings unter normalen Verhältnissen möglich sein, binnen längstens 90 Tagen auch eine Ersatzwahl zu erledigen. Ich bin aber der Meinung, daß es nicht notwendig sein wird, lediglich aus diesem Grunde das Reglement zu ändern, sondern der Herr Reichskanzler wird es sich angelegen sein lassen, im Verwaltungswege darauf hin— zuwirken, daß nach dem eben von mir erörterten Grundsätzen ver⸗ fahren wird.
Abg. Bebel (Soz.): Ich bin durchaus der Meinung, daß 0. Tage genügen müssen. Wenn in einem einzelnen Falle die An— weisung an die Behörden wirklich 3 Tage in Anspruch nehmen sollte, so blieben immer noch 57 Tage. Wie liegen aber die Verhältnisse in Wirklichkeit? Der Abg. Schmidt⸗Halle ist im Juni verstorben, und erst im November, einen Tag vor Zusammentritt des Reichs— tages, fand die Nachwahl statt. Es können zudem jedes Jahr Fälle eintreten, die eine sofortige Zusammenberufung des Reichstags er
forderlich machen. Wenn die Sache korrekt gehandhabt wird, muß jeder Wahlkreis stets seinen Vertreter im Reichstag haben. Dafür, daß die Zeit, wo dies nicht der Fall ist, möglichst beschränkt wird, muß der Reichstag sorgen, wenn die Regierung es nicht tut.
Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern Delbrück:
Ich habe gründsätzlich anerkannt, daß die Ersatzwahlen, so schnell als es nach Lage der Verhältnisse möglich ist, erfolgen müssen; aber der Herr Abg. Bebel irrt, wenn er annimmt, daß tatsächlich bei Ersatzwahlen innerhalb 60 Tagen das Ziel unter allen Umständen zu erreichen ist. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß mir aus der eigenen Praxis erinnerlich ist, daß mir durch den Präsidenten des Reichstags die Mitteilung von der Erledigung eines Mandats erst sechs Tage später zugängig geworden ist. Wenn Sie nun berück— sichtigen, daß das Schreiben an die zuständige Bundesregierung er— gehen muß, daß die Bundesregierung genötigt ist, einen Wahlkom missar zu ernennen, so werden Sie zugeben, daß selbst bei raschem Geschäftsgange unter 8 bis 10 Tagen und in dem Falle, wie ich ihn eben angeführt habe, unter 12 Tagen die Sache nicht zu erledigen ist, und wenn Sie dann die übrigen Stadien des Wahl— verfahrens, wie sie Ihnen ja allen bekannt sind, nachrechnen, werden Sie zu dem Ergebnis kommen, daß, wenn alles glatt geht, 65 bis 70 Tage mindestens erforderlich sind, um die Vorbereitungen zur Wahl zu treffen. Wenn aber festgesetzt würde, daß grundsãtzlich normalerweise in längstens 90 Tagen die Wahl zu erfolgen hat, so ist das eine Befristung, die angemessen ist, und die unter allen Um ständen eingehalten werden kann. Wenn ich ferner erklärt habe, daß der Herr Reichskanzler bereit ist, die Bundesregierungen um Vorsorge dahin zu ersuchen, daß die Bestimmungen des Reglements in Zukunft vorschriftsmäßig gehandhabt werden, so wird der Herr Abg. Bebel nicht behaupten können, daß der Herr Reichskanzler die Beschwerden, die hier vorgetragen sind und die ich im einzelnen nicht nachprüfen kann, auf die leichte Achsel genommen hätte.
Abg. Dr. Arendt (Rp.): Zweifellos sind alle Parteien daran interessiert, daß keine Lücke in unseren Reihen besteht. Des halb ist es nötig, für eine möglichst schleunige Vornahme aller Ersatz wahlen zu sorgen. Die Erklärungen des Staatssekretärs sind aber auch durchaus befriedigend, und wir können zu ihnen volles Vertrauen haben. Ein Mittel, eine ganz erhebliche Beschleunigung der Ersatz⸗ wahlen herbeizuführen, bestaͤnde darin, daß wir die Listen, die der Wahl zu Grunde liegen, nicht nur auf ein Jahr anfertigen ließen, sondern daß wir nach dem praktischen Beispiele der Engländer ständige Wählerlisten führen. Dadurch würde außerordentlich viel Arbeit und Zeit gespart, und die Listen wären viel korrekter als heute, wo sie so rasch angefertigt werden müssen. Selbst verständlich müßten sie dann immer unter Kontrolle stehen. Darin sehe ich aber kein Hindernis, die Neuwahlen könnten dann in der denkbar kürzesten Zeit erfolgen. . .
Abg. Kunert (Soz.): Wenn wir uns mit den Erklärungen des Staatssekretärs begnügten, so würde die alte Regierungswillkür be stehen bleiben. ĩ . Abg. Dr. Paasche (nl. : Ich gebe zu, daß es zweckmäßig ist, einen Termin einzusetzen, damit mit möglichster Beschleunigung ver⸗ fahren wird. Verschiedene Beispiele, so die schon für den 14. April angesetzte Nachwahl für den Grafen Stolberg, zeigen, daß eine Be schleunigung möglich ist. 60 Tage sind aber etwas kurz bemessen. Wir würden mik 75 Tagen einverstanden sein.
Vizepräsident Dr. Spahn teilt mit, daß ein Antrag Ablaß und Genossen (fortsch. Volksp.) eingegangen ist, anstatt 60 Tage zu setzen 70. (Zuruf: 759)
Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern Delbrück:
Meine Herren! Sie können versichert sein, daß der Herr Reichs kanzler kein Interesse daran hat, die Frist besonders lang zu setzen. Ich möchte Sie aber auf das eine aufmerksam machen. Sie alle haben ein großes Interesse daran, daß die Fristen nicht zu kurz be— messen werden; denn je schneller gearbeitet werden muß, um so schlechter werden die Wählerlisten aufgestellt. Das ist eine alte Er— fahrung, und es muß nach meiner Meinung unter allen Umständen eine Frist verbleiben, die die Möglichkeit gibt, die Wählerlisten ordnungsmäßig und korrekt aufzustellen. Ich kann Sie aus meinen Erfahrungen versichern, daß je rascher gewählt wird, um so schlechter
zeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.
1910.
. .
jedesmal die Listen sind, und deswegen würde ich warnen, die Frist so knapp zu bemessen, wie es in dem Antrag eben vorgeschlagen wird.
Die Resolution Albrecht wird mit der Aenderung von 60 in 70. Tage angenommen und der Rest des Etats für die Reichskanzlei bewilligt.
Das Haus geht über zur Beratung des Etats für das
Auswärtige Amt. „„ Bexichterstatter Abg. Freiherr von Hertling (entr.) weist in seinem Referat darauf hin, daß in der Kommission immer mehr der Gedanke durchgedrungen sei, in der Mannesmann-A1Angelegenheit könne es durchaus nicht im Inkeresse der Interessenten liegen, das Anfehen des Auswärtigen Amts herabzusetzen. Er beschränke sich darauf, die beiden Erklärungen hervorzuheben, die der Staatssekretär des Auswärtigen und der Vor— sitzende Freiherr von Gamp abgegeben haben. Die erftere lautet: „Das Auswärtige Amt hält an der Rechtsauffassung fest, die seiner Be— handlung der deutschen Bergwerksinteressen in? Marokko zu Grunde lag. Diesen Interessen wird innerhalb des durch die internationalen Verträge und Abmachungen gegebenen Rahmens um so nachdrücklicher Schutz und Förderung gewährt werden können, je mehr die deutschen Interessenten mit der Reichsregierung bei weiteren Bemühungen Hand in Hand gehen.“ Die zweite lautet: „Ich stelle aus dem Gang der Verhandlungen und den Erklärungen der Parteien fest, daß die Kommission einstimmig der Erwartung Ausdruck gibt, daß das Aus— wärtige, Amt die großen in Frage stehenden wirtschaftlichen Interessen des Reiches nachdrücklich wahren wird.“
Abg. Graf Kanitz (dkons.) : Der Reichskanzler ist im Begriff, eine Romfahrt anzutreten. Ich möchte ihm die besten Glück“ wünsche auf den Weg mitgeben. Die engen politischen Beziehungen zwischen dem Den schen Reich und Italien bestehen seit 30 Jahren. In dieser langen 3 haben die Völker in Europa eine rüstige Kulturarbeit leisten können, der Wohlstand ist allerorten gestiegen. In der Tat hat der Dreibund Ersprießliches geleistet. Einer Be— festigung bedarf er nicht. Er hat alle Anfechtungen und Quer— treibereien siegreich überstanden. Aber der Reichskanzler wird in Rom die Versicherung abgeben können, daß auch er von der hohen Bedeutung des Dreibundes überzeugt ist und dort die gleichsinnige Versicherung entgegennehmen können. In diesem Sinne wünsche ich ihm glückliche Reise und gefunde Wiederkehr. Dem zielbewußten Handeln des Fürsten Bülow ist es zu verdanken, daß er Europa vor einem Riesenbrande bewahrt hat. Noch im vorigen Jahre standen wir unter dem Eindruck drohender Kriegsgefahr. Leider sind die Balkanwirren noch nicht beseitigt. Es ist eine un— begründete Anmaßung, wenn hier und dort die Anschauung ver— breitet wird, daß Rußland Aspirationen auf Gebietserweiterungen in den Balkanstaaten unterstütze. Das ist nicht der Fall. Aber die Unruhen namentlich an der bulgarisch- mazedonischen Grenze dauern ununterbrochen fort, und da wird es auch in Zukunft die wichtigste Aufgabe unserer auswärtigen Politik sein, dafür zu sorgen, daß für uns daraus keine Gefahren entstehen. Auf die Mannesmann-⸗Angelegenheit gehe ich nicht ein, doch wird es viel⸗ fach bedauert, daß Marokko durch seine Finanzoperationen von neuem in eine abhängige Lage von Frankreich geraten ist. Da dies aber drei Anteile an der marokkanischen Stäatsbank hat, Deutschland und die übrigen Signatarmächte nur je einen, so ist es begreiflich, daß Frankreich von dieser bevorzugten Stellung einen Vorteik gehabt hat. Ich erinnere auch an die Erklärung des Staatssekretärs des Auswärtigen, daß die marokkanische Regierung Überall mit ihren Anleiheabsichten eine ablehnende Antwort bekommen hat. Unter diesen Umständen kann man unserer Regierung keinen Vorwurf daraus machen, daß sie diesen Finanzoperationen ruhig zugesehen hat. Hinsichtlich der englischen Politik bedauere ich, daß die Auseinander setzungen über die beiderseitigen Flottenpläne noch fortdauern, trotzdem der jetzige Reichskanzler erst neulich wieder versichert hat, daß‘ uns alle aggressiven Absichten fern liegen. Diese Erklärung ist auch in England freundlich aufgenommen worden, aber am letzten Mittwoch hat der erste Lord der Admiralität im Unterhause erklärt, daß England sich in seinen Flottenbauten nicht von der freundlichen oder“ un— freundlichen Gesinnung der anderen Staaten abhängig mache. Er habe auch nicht gehört, daß Deutschland von dem gesetz⸗ lich festgelegten Flottenplan ablassen wolle. Wir stehen also auf dem alten Fleck. Die Friedensversicherungen von unserer Seite haben keinen rechten Zweck und können unterbleiben. Wir müssen es der Zukunft überlassen, daß in England mit der Zeit eine bessere Einsicht zur Geltung gelangt. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß England zum Schutzzoll übergeht. Es kann gar nicht mehr auf die Dauer das einzige Freihandelsland bleiben. Bei künftigen Neuwahlen ist damit zu rechnen, daß die unionistische Partei eine weitere Verstärkung erlangt. Für uns ist das leider nicht ganz gleichgültig, denn jede Aenderung in der Richtung der Schutzzollpolitik muß für unsere Exportindustrie nachteilig sein. Was Amerika betrifft, so haben wir als einzige Fraktion gegen das Abkommen mit diesem Lande gestimmt. Unsere Bllanz mit Umerika zeigt ein sehr unerfreuliches Bild, wir haben eine Unterbilanz von 775 Mill. Mark gegenüber Amerika. ̃
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Wir bedauern, daß wir uns dem Payne-Tarif von Amerika unterworfen haben. Nach meiner Ueberzeugung ist die Voraussetzung der Meistbegünstigung, daß beide Länder ungefähr dieselben Zollsätze haben. Diese Reziprozität ist leider in Amerika nicht vorhanden, und deshalb ist unsere Situation gegenüber Amerika eine höchst ungünstige, und deshalb haben wir geglaubt, dem Abkommen mit Amerika nicht zustimmen zu dürfen. Der Abg. Gothein hat im Börsen⸗-Courier einen Artikel ver— öffentlicht, worin es heißt, nach Lage der Gesetzgebung konnte unt Amerika nicht mehr gewähren, als es uns gewährt habe. Das ist eine eigentümliche Logik. Erst stellen die Amerikaner hohe Zollsätze auf, und dann sagen sie: Das ist Gesetz und daran können wir nichts ändern. Vielleicht könnten wir ebenso verfahren wie Amerika, ebenso hohe Zölle einsetzen und dann sagen: Das ist unser Gesetz. Ich gebe zu, daß unsere Regierung sich in einer schwierigen Lage befand. Irgend ein Abkommen mit Amerika mußte getroffen werden; unsere ganze deutsche Industrie hat sich fast einmütig dafür erklärt, daß man sich dem Payne ⸗-Tarif fügen müsse. Nur die, Handels kammer von Düsseldorf hat dagegen energisch protestiert. Wir unser— seits können uns der Besorgnis nicht erwehren, daß unsere Export⸗ industrie unter dem Payne⸗-Tarife schwer zu leiden haben wird. Andere Länder haben sich durch die Zollpolitik Amerikas nicht einschüchtern lassen, so Frankreich. Seitdem wird zwischen Frankreich und Amerika über ein Dandelsabkommen verhandelt; ich glaube nicht, daß die Kon— zessionen Frankreichs so weit gehen werden wie unsere Zugeständnisse. Auch Canada hat sich nicht unterworfen. Nach meiner Meinung hätten wir die Vollmacht für die Regierung nicht für ungewisse Zeit geben sollen, sondern vielleicht nur bis zum 31. Dezember d. J., dann hätte die Regierung Zeit gehabt, weitere Erfahrungen zu fammeln und weiter zu verhandeln. Ein Generaltarif ist noch lange kein Zoll⸗ krieg, er wird es erst, wenn Zollzuschläge erhoben werden, und daran war nicht zu denken. Die neuesten Zollerhöhungen in Frankreich haben für uns fast dieselbe Bedeutung wie die Zollerhöhungen in Amerika. Die neuen Zollerhöhungen betragen 150 5,0, und sie geben zu den schwersten Besorgnissen in unseren Industriekreisen Anlaß. Den wichtigsten Exportartikel Frankreichs, Wein, können wir nicht weiter mit Zöllen treffen, denn wir haben ung durch den Vertrag mit Italien gebunden und sind auf Grund des Frankfurter Friedens