1910 / 291 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 12 Dec 1910 18:00:01 GMT) scan diff

Ich komme ju einem weiteren Punkt. Die Reform unseres materiellen Strafrechts ist, wie bekannt, so weit gediehen, daß der Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch von einer Sacher ständigenkommission ausgearbeitet und veröffentlicht worden ist. Die Kommission ist der Ansicht gewesen, daß das geltende Recht in dem Kampfe gegen die aufhetzende und aufreizende Tätigkeit fanatischer Agitatoren keine genügende Hilfe bietet, und hat deshalb neue Be⸗ stimmungen gegen Aufwiegelung und gegen die Verherrlichung be⸗ gangener Verbrechen vorgesehen. Bei den weiteren Arbeiten wird geprüft werden, ob und inwieweit es notwendig und möglich ist, das Strafgesetzbuch zu ergänzen, auch in der Richtung, daß die persönliche Freiheit und das persöͤnliche Selbstbestimmungs. recht nachhaltiger geschützt wird als bisher. (Aha! links, Bravo! rechts und bei den Nationalliberalen.)

Meine Herren, diese Erwägungen reichen in die Zeit zurück, wo sich die verbündeten Regierungen mit der Reform unseres Straf⸗ rechts zu beschäftigen begonnen haben. Man soll sich überhaupt nicht der Vorstellung hingeben, als handle es sich bei allen diesen Dingen um Erscheinungen neuesten Datums. Mit Recht ist in der Presse in letzter Zeit daran erinnert worden, daß schon im Jahre 1895 Bennigsen hier im Reichstage erklärt hat, daß gegen die unterwühlende Arbeit der Sozialdemokratie Front gemacht werden müsse. (Hört, hört! bei der Reichspartei) Er hat daran die Bemerkung gelnüpft, daß, so wichtig auch alle anderen Gegensätze der bürgerlichen politischen Parteien seien, und so berechtigte Wünsche und Beschwerden sie auch gegenüber den Regierungen hätten, das alles doch von ver⸗ schwindender oder untergeordneter Bedeutung sei gegenüber dem großen Kampf, den sie gemeinschaftlich zu führen bätten, die Parteien mit der Regierung verbunden gegen die revolutionären Agitationen ?. (Sehr richtig! bei der Reichs partei) Meine Herren, das war vor fünfjehn Jahren. Sind die Verhãltnisse in der gZwischenzeit bessere geworden? (Nein, nein! rechts Ich sage nicht, daß die Sozialdemokratie in der Zwischenzeit revolutionärer geworden sei; revolutionär ist sie immer gewesen (sehr richtig), aber ihr revolutionärer Ausdruck tritt mit brutalerer Deutlichkeit hervor. (Sehr richtig! rechts. Oh! bei den Sozialdemokraten. Meine Herren, der Herr Abg. Bassermann gab neulich der Sozialdemokratie den Rat, wenn sie sich an bürgerliche Parteien annähern wolle, dann solle sie sich offen und ehrlich zur Monarchie bekennen. Ich fürchte, die Sozialdemokraten werden diesen Rat ablehnen. (Sehr richtig! bei den Soʒialdemokraten) . Sie sehen, ich habe recht! (Große Heiterkeit; Die Sozialdemokratie würde mit einem solchen Bekenntnis ihren Charakter, der von Grund aus antimonarchisch ist, verleugnen. (Sehr richtig! bei den Sozial⸗ demokraten) Sie geben das wieder zu, wie Ihnen denn überhaupt niemand, ich jedenfalls nicht, den Vorwurf machen wird, daß Sie aus Ihrem Herzen eine Mördergrube machen.

Meine Herren, es ist doch wirklich recht bezeichnend, daß gerade in dem Augenblick, wo die am weitesten links stehende bürgerliche Partei die Kooperation mit der Sozialdemokratie nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch erwägt (hört, hört! rechts), daß gerade in diesem Augenblick die Herren Sozialdemokraten sich vor die derren von der Fottschrittlichen Volkspartei hinstellen und es ihnen ins Gesicht sagen: von euerer Monarchie wollen wir nichts wissen, wir verlangen die Republik. (Sehr richtig! in der Mitte.)

Dem Herrn Abg. Noske, der in Magdeburg es urbi et orbi ver. kündigt hat, daß die Sozialdemokraten unter der Parole der Republik in den nächsten Wahlkampf marschieren würden, hat der preußische Abg. Liebknecht auf seiner Rundreise in Amerika sekundiert, indem er bemerkte, jedermann bei uns in Deutschland wisse es, daß die Entwicklung es sehr bald dahin bringen würde, daß vielleicht ebenso über Nacht wie in Portugal auch die deutsche Krone weggeblasen werden würde. (Hört, hört! rechts und in der Mitte. Lachen bei den Sozialdemokraten. Nachträglich, wenn die neuesten Zeitungs⸗ nachrichten richtig sind (Zurufe von den So ialdemo⸗ kraten), ist ja allerdings der Herr Liebknecht von seinen Illusionen über Amerika etwas zurückgekommen und hat sogar Heimweh empfunden nach Deutschland. (Heiterkeit rechts) Aber, meine Herren, ich fürchte, wenn Herr Liebknecht zurück⸗ gekehrt sein wird, wird er sehr bald die magdeburgische Sprache wiederfinden.

Meine Herren, es ist notwendig, daß unser Volk über die An⸗ sichten und über die Absichten der Sozialdemokratie klipp und klar Bescheid wisse. (Zurufe von den Sozialdemokraten: Dafür sorgen wir selber Darin werden mir auch diejenigen zustimmen, welche der Ansicht sind, daß man den Kampf gegen die Sozialdemokratie nur auf geistigem Boden führen dürfe; denn gerade den Verfechtern dieser Ansicht muß daran gelegen sein, daß diejenigen Volksklassen, die sie vor der Sozialdemokratie bewahren wollen, nicht im unklaren darüber bleiben, wohinaus die Sozialdemokratie eigentlich will, und was sie lieber heute als morgen verwirklichen würde, wenn sie nur die Macht daiu hätte. (Sehr wahr! rechts.) Meine Herren, in Magdeburg hat die Sozialdemokratie das Selbstbestimmungsrecht der Massen da draußen an die Spitze ihrer Taktik und ihrer Politik gestellt. Diese Massen werden von Jugend auf darüber belehrt, in allen Einrichtungen unseres Staates und unserer Gesellschaft nur Veranstaltungen ju erblicken zur Ent⸗ rechtung und jzur Knechtung des Arbeiters. Wundert man sich da, daß die Köpfe dieser Massen da draußen, deren Instinkte Ihnen souveränes Prinzip sind, heiß werden, wenn Sie sie so bearbeiten? Die Taten des Menschen sind eine Folge der in ihm lebenden Ideen. Wer den Massen predigt, daß es ihnen erst dann gut gehen könne, wenn das Bestehende zerstört und zertrümmert sei, der trägt mit an der Schuld, wenn die Massen die Konsequenzen aus dieser Lehre ziehen. (Lebhafte Zustimmung rechts und in der Mitte. Lebhafte Zurufe von den Sozialdemokraten.) Deshalb bin ich auch der An⸗ sicht, daß die Sozialdemokratie moralisch mitverantwortlich ist an den Exjessen von Moabit. (Lebhafter Beifall rechts und in der Mitte. . Lebhafte Zurufe von den Sozialdemokraten: Polizeierjesse) Meine Herren, wenn Ihnen dat unangenehm ist, dann hätten Sie nicht selber die Angelegenheit berühren müssen. (Wiederholte Zu⸗ rufe von den Sozialdemokraten: Herr Dr. Delbrück! Glocke des Präsidenten) Ich hätte es nicht getan; der Herr Abg. Scheidemann ist es gewesen, der gestern die Sprache auf Moabit gebracht bat, und zwar in einer Weise, welche mich nötigt, darauf eine Erwiderung zu er eilen. (Lebhafte Zustimmung rechts und in der Mitte. Zurufe

auf das Konto von Polizeispitzeln und Arbeitswilligen zu setzen seien. (ebhafte Rufe: Sehr richtig! bei den Soꝛialdemokraten. Mein⸗ Herren, die Moabiter Vorgänge haben sich ebenso wie nachher die Unruhen in Bremen und an anderen Orten aus Reibereien zwischen Streikenden und Arbeitswilligen entwickelt. Gegen den polizeilichen Schutz für die Arbeitzwilligen haben sich in Moabit grohe Menschenmassen gesammelt, die mit Schreien und Toben, mit Steinwürfen und Revolvern, mit Zertrümmerung von Laternen und Läden (Lebhafte Rufe: Hu, hu! bei den Soꝛialdemokraten; lebhafte Zustimmung rechts und in der Mitte) gegen die Beamten und gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung angingen. Zuerst hieß es in der sozialdemokratischen Presse, daß es lediglich niederer Pöbel, lichtscheues Gesindel gewesen sei, das zusammengelaufen wäre und Roheitsakte verübt habe. Aber unter den Verhafteten befanden sich einige vierzig Personen, die politisch oder gewerkschaftlich organisiert waren. (Rufe von den Sozialdemokraten: Ja, unter den Verhaftetenh Und selbst wenn die große Masse der Tumultuanten in Moabit als Janhagel, als Pöbel gelten könnte, dann würde damit doch bloß bewiesen werden, daß die Sozialdemokratie nicht, wie sie sich so häufig rühmt, diese Gesellschaftsklassen, sobald sie will, im Zaum halten kann. (Lebhafte Zurufe von den Sozialdemokraten. Glocke des Prã⸗· sidenten) Es ist doch auch nur natürlich, daß, wer Wind säet, Sturm erntet. (Lebhafte Zustimmung rechts und in der Mitte. Zurufe von den Sozialdemokraten) Der Kultus der Sozial⸗ demokratie gilt der Macht der brutalen Zahl, und alle ibre Ver⸗ anstaltungen so der Magdeburger Parteitag, wie ich schon eben sagte sind von diesem Kultus erfüllt. Damit wird in den großen Massen ein Dünkel großgezogen, der sich bei ihren schlechteren und schlechtesten Elementen in eine allgemeine Auflehnung gegen die Staatsordnung umsetzt. (Lebhafte Zustimmung rechts und in der Mitte. Widerspruch bei den Sozialdemokraten.) Mit der Janhagel⸗Theorie ist es also nichts. Der „Vorwärts hat deshalb diese Theorie auch bald verlassen und hat an ihre Stelle die Provokationsthese gesetzt. Genau so hat es gestern der Herr Abg. Scheidemann getan. Danach sollen die Moabiter Un⸗ ruhen künstlich von der Polizei, womöglich nach einem allgemeinen Plan und auf höhere Weisung, angelegt worden sein. Das ist eine willkürliche, eine unbewiesene, eine unbeweisbare, eine un⸗ sinnige Behauptung. (Lebhafte Zustimmung rechts und in der Mitte. Stürmische Rufe: Obo! bei den Sozial⸗ demokraten. Rufe: Prozeßbeeinflussung! Glocke des Präsidenten.) Prozeßbeeinflussung? Ich wiederhole, ich hätte nicht von Moabit ge= sprochen; ich tue es nur, weil es Herr Abg. Scheidemann getan hat. (Zurufe bei den Sozialdemokraten: Und Delbrück?! Glocke des Präsidenten.)

Meine Herren, glauben Sie denn wirklich, daß die Polizei Freude an derartigen Tumulten hat? (Zuruf bei den Sozialdemo— fraten: Scheint so) Scheint so? Doch? Ein Anschein, den Sie (zu den Sozialdemokraten) haben, der aber sehr unwahrscheinlich ist, der unsinnig ist. (Lebhafte Zustimmung rechts und in der Mitte. Leb⸗ hafte Zurufe bei den Sozialdemokraten) Glauben Sie, daß die Polizei Freude an derartigen Tumulten hat Wiederholte Zu⸗ rufe bei den! Sozialdemokraten Glocke des Präsidenten), die an den Dienst und an die Geduld der Beamten die allergrößten Anforderungen stellen? Solchen Behauptungen setze ich das öffent⸗ liche Anerkenntnis entgegen, daß die Polizei in Moabit ihre Pflicht getan hat. (Lebbaftes Bravo! rechts. Stürmische wiederholte Zu⸗ rufe links. Rufe rechts: Ruhe! Zuruf bei den Sozialdemokraten: Skandalose Beeinflussung) Meine Herren, ich beeinflusse weder irgend jemand, noch beeinflusse ich ihn in standalbser Weise. Ich weise diesen Ausdruck zurück. (Bravo! rechts und in der Mitte.

Meine Herren, hinter der Provokationsthese wollen Sie (zu den Sozialdemokraten) ja bloß Ihre moralische Mitschuld verbergen. (Lebhaftes Sehr richtig! rechts. Widerspruch bei den Soial⸗ demokraten) Meine Herren, das wird Ihnen nicht ge⸗ lingen; Sie werden diese Mitschuld nicht abwaschen. Der Versuch dazu wird in seiner Wirkung nur eine Ermunterung iu neuen Straßenkämpfen sein, ein Teil der Kraft, welche die Massen in immer größere Erbitterung gegen die staatliche Ordnung hinein hetzen will. (Sehr richtig! rechts und in der Mitte.) Diese nachträgliche Haltung zu den Moabiter Exzessen stimmt ja auch vollkommen überein mit den taktischen Lehren, welche die Führer der Soꝛialdemokratie seit Jahren in das Land hinausgehen lassen, die dahin zielen, eine immer größere Erbitterung und Schrecken bei den Besitzenden hervor⸗ zurufen, die Konflikte mit der bürgerlichen Gesellschaft immer mehr zuzuspitzen und so den Entscheidungs kampf, den großen Entscheidungs⸗ kampf um die politische Macht vorzubereiten.

Meine Herren, die Stimmung, die in Moabit losgebrochen ist, die haben Sie gewollt, auf die arbeiten Sie planmäßig bin. (Leb⸗ haftes Sehr richtig! rechts und in der Mitte.) Daß Ihnen der Anlaß, daß Ihnen der Zeitpunkt, daß Ihnen auch die Verwüstungen des Moabiter Zauberlebrlings nicht passen, das ändert am Kern der Sache gar nichts. (Sehr gut! rechts und in der Mitte. Zurufe bei den Sozialdemokraten.) .

Meine Herren, sollen wir damit komme ich auf meine früheren Ausführungen zurück um deswillen nun unsere Zuflucht zu Aus⸗ nahmemaß regeln nehmen? Liegt die Sache wirklich so, daß wir ein⸗ gestehen müßten, idie staatliche Macht könne sich mit Hilfe des gemeinen Rechts, des gemeinen Gesetzes der in ihrem Ziele gesetzwidrigen Machtpolitik der Sozialdemokratie nicht mehr erwehren? Fürst Bülow hat mehrfach in diesem hohen Dause erklärt, daß Reich und Staat, daß Monarchie und Gesellschaft bei surcht· loser Anwendung der gesetzlichen Mittel in der Lage seien, jeden Versuch des Umsturzes niederzuhalten. Derselben Ansicht bin auch

ich, Vorschläge zu Augnahmegesetzen mache ich Ihnen nicht. (Bravo! bei den Nationalliberalen und links.) (

Der Herr Abg. Bebel hat in Magdeburg seinen sũddeutschen Genossen sehr mitk Recht auseinandergesetzt, daß es mit dem preußischen Staat so eine eigene Sache sei. (Sehr richtig! rechts) Dieser preußische Staat läßt sich weder durch Demonstrationen noch durch Zeitungsartikel noch durch sonst etwas erobern. Was die Sozial⸗ demokratie mit ihrer revolutionären Politik böchstens erreichen kann, ist daz, daß viele Menschen aus den von ihr byzantinisch um⸗ schmeichelten und angereizten Massen ins Unglück gebracht werden. (Sehr richtig! rechts und in der Mitte.) Dag deutsche Volt ist in seinem Kerne gesundi, es kann von der Sozialdemokratie wobl

ibre wirtschaftlichen Utopien lehnt das deutsche Volk in seinem Herjen ab. (Bravo! rechts, in der Mitte und bei den National⸗

liberalen.) . Unbekümmert um alle Agitationen und fast stets im Gegensatz

zur Sozialdemokratie haben die Regierungen mit dem Reichstage eine soziale Gesetzgebung geschaffen, die sehr viel weiter geht, als die irgendeines anderen Landes der Welt. Wir werden uns darin auch in Zukunft nicht irre machen lassen. Aber soziale Fürsorge zum Schutz und Wohl der wirtschaftlich Schwächeren hat mit der Stellung des Staates zur Sozialdemokratie nicht das geringste zu schaffen⸗ Ebenso, meine Herren, wie der Staat es als seine Pflicht erkannt hat, diese Fürsorge zu treiben, ebenso ist es seine Pflicht, alle gesetz⸗ widrigen und gewaltsamen Angriffe auf seine Ordnung unter An⸗ wendung aller zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mittel mit nach- drücklicher Energie niederzuschlagen (sehr richtig! rechts), und diese Energie wird wachsen mit der Heftigkeit der Angriffe. (Bravo! rechts / Meine Herren, ich habe in meinen Ausführungen auf die Arbeit hingewiesen, die uns für die Gegenwart und die nähere Zukunft bevorsteht. Diese Arbeiten, die doch schließlich dem Leben der Nation seine Richtung geben, tragen nichts in sich, was sich als Tendenz zu rück⸗ schrittlicher Bewegung charakterisieren ließe. Wenn Sie diese Auf⸗ gaben nach dem Schema: rückschrittlich oder freiheitlich registrieren wollen, so wird jedenfalls das erstere nicht zutreffen. Die Einheit unseres Rechts, die Stärke unseres Heereg, die Schaffung einer deut⸗ schen Flotte, unsere soziale Gesetzgebung, unsere Wirtschaftspolitik, Konservative, Zentrum, Liberalismus, ihrer aller Arbeit steckt darin, ihrer aller Verdienste sind mit diesen großen Errungenschaften verbunden. Nur durch gemeinsame Arbeit aber kann gesund und stark erhalten werden, was durch gemeinsame Arbeit geschaffen worden ist. Schalten Sie dauernd einen Bestandteil aus: zum Wohle des Vaterlandes wird das nicht ausschlagen. Und nur diesem Wohle zu dienen, haben wir ein Recht, aber, meine Herren, auch die Pflicht. (Stürmischer Beifall. Zischen bei den Sozialdemokraten. Wiederholter lebhafter Beifall.)

Abg. Bassermann (ul.): Der Reichskanzler hat dem Werke der Reichsfinanzreform seine Anerkennung ausgesprochen und ihre Er⸗ folge gerühmt. Es muß bei einer Betrachtung der Reichsfinanz⸗ reform doch festgehalten werden, daß es nicht nur darauf ankommt, daß, sondern auch wie die Reichsfinanzen aufgebessert werden sind. Mit Recht wurde die n, erhoben, daß die Reform auch einen sozialen Charakter tragen sollte, und daß man im Lande die Empfindung hat, daß ihr der soziale Gedanke fehlt, ist der Grund der tiefen und andauernden Erregung im deutschen Volke. Diese Erregung wird auch die Neuwahlen beherrschen; das öffentliche Leben vergißt es nicht von einem Mond zum andern, wenn ung tiefe Wunden geschlagen werden. Wenn Fuͤrst Bülow in der Ueber⸗ jeugung, diese Relchsfinanzreform würde angenommen werden, nach der Abkehnung der Erbschaftssteuer nicht zur Auflösung des Reichstags schritt, so habe ich diesen Entschluß des Fürsten Bülow für einen Fehler gehalten, und der Aufmarsch und die jetzige Aufwärt e bewegung wären nicht erfolgt, wenn man zur Auflösung geschritten wäre. Wenn man nach der Meinung des Kanzlers in der Unruhe der beutigen Zeit von den großen sachlichen Aufgaben, die im Parlament der Erledigung harren, fo wenig spricht, * beweist das doch auch nur, wie sehr die Erregung über die Reichsfinanzreform noch in allen Kreisen nach- zittert. Ueber alle diese großen Aufgaben werden wir uns shliesllich einigen, sie werden zustande kommen, und sie bieten ein großes Maß des Fortschrittzs. Ebenso hoffe ich, daß das Hestt wegen der Versicherung der Privatbeamten, das von allen Parteien gefordert wird, baldigst vorgelegt, und verabschiedet werden wird. In bezu auf die Bringlickkeit der Lösung, der elsaß⸗ sothringischen Frage sind wir mit dem Reichskanzler einig; wir wünschen eine Umgestaltung der Verfassung und des Wahlrecht für die Reichslande und wünschen, daß eg gelingen möge, auf diesem Wege die verwerfliche Notabelnwirtschaft zu brechen und zur estigung des Deutschtums durch liberale Refornten zu, gelangen. gönn der Reichskanzler über die Wirtschaftspolitik des Reichs sagte, fann meine Partei nur in allen Teilen unterschreiben; auch wir meinen, daß das Wirtschaftsprinzip, auf dem sich der Zolltarif und die Handels verträge aufbauen, sich durchaus bewährt bat, daß die Kräftigung des inneren Marktes eine unserer Hauptaufgaben ist. Ich begriß⸗ die Erklärung des Kanzlers, daß er nicht der Vollstrecker der Macht⸗ gelüste einer Partei sein. will, daß er über den Parteien steben, kein Parteikanzler sein will; das ist bei dem n nach Ausnahmegesetzen und Umsturzvorlagen ein hedeutsames Ve kenntnis. In seinen letzten Aussührungen wies der Reichs lanzler darauf hin, daß die Frage, ob die Machtmittel des Reiches ausreichten, auch unter dem Fürsten Bülow wiederholt erwogen ist und zu dem Ergebnis geführt hat, daß neue Ausnabmegesetze nicht nötig eien und er erklärt beute, auf demselhen Standrun t zu stehen. Wenn er hinjufüigte, daß die bestehenden Gesetze allerdings mit voller Energie und mit dem ganzen Ernst zur Anwendung gebracht werden sollen so findet er auch darin unseren vollen Befall. Die weiteren Aus⸗ führungen über das Verhältnis zur Sozialdemokratie, die Erklärung, daß die Regierung sich nicht i g, lasse, sondern pflichtgemäß selbst die Erwägung anstelle, ob die Staatsautoritãt 3 gestelt werden müsse als bisher, führt ohne weiteres auf manche Erörterung der letzten Wochen, wo vor allem auch Lie konservative Presse immer stuͤrmischer das Verlangen nach neuen Ausnahmegesetzen vertreten 6 Man hat hingewiesen auf die republikanische Propaganda der Schin = demokratie. Ich finde nicht, daß die jüngsten Darlegungen des Abg. zehebour in Labidu,Wehlau werbende Kraft bewiesen Hätten; dort hat seine Partei gegen früher einen Rückgang erfahren. Wir haben . selbe Erscheinung früher in Leipzig verzeichnen können. Auch der bg. von Heydebrand hat erklärt, er molle keine Ausnahmegeseßze⸗ Die fe erwindung dieser Gegensätze müsse von innen heraus erfolgin. Es ist im großen ganzen auch unser Standpunkt, daß man diese * schauungen nicht durch polizeiliche Mittel, auch nicht durch eine rück. schrittliche oder klerikale Politik, sondern nach den Rezepten be fn fen muß, die der Kanzler am Schlusse seiner beutigen Rede gegeben hat, daß einerseits die Staatsautoritãt energisch aufrecht enhalten, aber , seilz eine von Cchtem fozlalen Gefühl und Geist getragene Sigl. politik auf den Bahnen der Botschaft des hochseligen Kaiserz wei er getrieben wird. In den letzten Tagen und Wochen ist das . nach einer Umsturzvorlage in der konservativen Presse und in . ‚Konservativen Korrespondenz'“ dringlicher geworden. Ich . bor r, Jahren die. Verhandlungen über die Umsturzvorlaß mitgemacht. Wenn der Reichskanzler erinnerte, so möchte ich eine andere Erinnerung aufft damals die Kommissionsbergtung stattfand, hat die Meinung mit wachfendem Mißbehagen beobachtet, mission zusammengebraut. wurde,

an Bennigsen

if schen. Als öffentliche was in der Kom⸗ und als die 4 e , urückkam, war es ein Mitglied der Rechten, der Abg. von Kar orff, . erklärte, es hätten Bestimmungen Aufnahme gefunden, die,

umal in politisch erregten Zeiten, nicht nur vie freie Meinung . 6 auch die e e der Wissenschaft. der Lehre n Forschung antafteten und gefährdeten. Und so sel Zweig um gien von diesem Baum; als die Hauptbestimmung abgelehnt war, Ü. w. der damalige preu ische Minister des Innern, von gol e hn neuerdings erklaͤrt hat, Nationalliberale seien nicht zu w . ein berühmtes: ; k der Versenkung. Die Wünsche, daß z. B. in der a . versicherung noch besser vorgesorgt werde, daß die org = ,, nicht zu Organen der ola lden okr ti chen 6. tion werden können, sehen wir als durchaus berechtig .

von den Sojlaldemoktaten Der Herr Abg. Scheidemann hat gestern gesagt, daß gewissermaßen die Moabiter Vorgänge ju neun Zehnteln

verführt und erregt lwerden, aber ihre politischen Endiiele umd

(Schluß in der Zweiten Beilage.

Na denn nicht! und damit verschwand die Vorlage

Zweite Beilage

zum Deutschen RNeichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

M 291.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Die Darlegung des Reichskanzlers, daß neue Gesetze zum besseren Schutz der persönlichen Freiheit und der Autorität nicht vorgelegt werden sollen, sondern daß diese Fragen bei der Revision des Straf⸗ gesetzbuches geprüft werden können, können wir in keiner Weise be— anstanden. Uebrigens möchte ich gegenüber manchen Uebertreibungen in der Presse hexvorheben, daß die neueste Kriminalstatistik für das Jahr 1909 keine Zunahme der Verbrechen des Widerstandes gegen die Staatsgewalt, des Aufruhr, des Landfriedensbruchs, der Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Verbrechen und der Nötigung ergibt. Diese statistischen Zahlen zerstören den Ein— druck, als ob in Deutschland alles drüber und drunter ginge., Die Moabiter Vorgänge sind nicht zu unterschätzen, und zu diesen Exzessen, diesem Uebermaß von Ausschreitungen trägt die systemgtische Verhetzung der sozialdemokratischen Presse bei. Diese, täglichen Artikel im „Vorwärts“ bringen die Massen in Siedehitze und reizen zu . Gewalttätigkeiten an. Diese Verhetzung gegen die Arbeitgeber muß um so mehr solche Resultate zeitigen, wenn der Janhagel auch seinerseits Oel in das Feuer gießt. Daß die Polizei provozlert hat, davon kann keine Rede sein, nach der ganzen Genesis der Vorgänge kann man eher zu dem gegenteiligen Schluß kommen, daß die Polizei vielleicht lang⸗ samer vorgegangen ist, als zur Wiederherstellung der Ordnung nötig gewesen wäre. Es wäre erwünscht gewesen, daß diese Straftaten möglichst bald ihre Sühne gefunden 1. daß aber die Gerichts⸗ verhandlung in Moabit diese Ausdehnung findet und schließlich den Eindruck eines steuerlosen Schiffes macht, ist nicht Schuld unseres deutschen Verfahrens, sondern Schuld der Staatsgnwaltschaft. Wozu denn alle diese Fälle kombinieren? Wären sie einzeln vor das Schöffengericht gebracht, so wäre längst eine ganze Menge von Urteilen erfolgt. Das wäre besser gewesen als den geistreichen Juristen zu solcher Betätigung Gelegenheit zu geben. Es ist auch der Eindruck erweckt worden, als ob die Sachen vor eine besonders scharfe Strafkammer gebracht worden sind, anstatt sie nach dem Alphabet zu verteilen. Gerade wenn man auf dem Standpunkt steht, daß die bestehenden Gesetze ausreichen, so muß man sie auch ohne Verzug mit Energie anwenden. Von der Polizei scheint nicht sofort die nötige Energie eingesetzt zu sein. Der frühere Lriegsminister Bronsart von Schellendorff lehnte es ab, für sosche Fälle Militär zu verwenden, und meinte, die Feuerspritze tue es auch. Dann wurde aber gesagt, das ginge nicht, denn die Feuerspritze gehöre nicht der Polizei, sondern der Stadt Berlin. Das ist doch wirklich nicht auf der Höhe. Dem neuen Schatzsekretär können wir das Zeugnis ausstellen, daß er mit äußerster Sparsamkeit und Energie gegenüber den Ressorts den Etat aufgestellt und mit den vorhandenen Mitteln balanciert hat. Er hat sich durch diese Energie, obwohl er nicht preußischer Staatsminister ist, ein Ver— dienst erworben. Wäre dieselbe Energie schon früher geübt worden, so wäre vielleicht manches in unseren Finanzen nicht so verelendet. Ich be— dauere, daß der Staatssekretär Wermuth nicht schon bei der Finanzreform dieses Amt verwaltet hat, wir wären vielleicht zu besseren Resultaten gekommen. Wir können seine Grundsätze für die Etatsaufstellung billigen. Die Balancierung des Etats erfolgt aber auf einem Wege, den man nicht gerade als ideal bezeichnen kann, indem eine noch nicht bewilligte Steuer zur Deckung der Kosten des ersten Quinquennatsjahres und für die Veteranenbeihilfen herangezogen wird, die Wertzuwachssteuer. Dadurch steckt in dem ganzen Etat bereits ein Stück neuer Reichs⸗ finanzreform. Wir haben den Umsatzstempel in Höhe von F bso bewilligt unter der Voraussetzung, daß die Herabsetzung erfolgt, sobald die Wertzuwachssteuer einen entsprechenden Betrag einbringt. Heute ist man bereits genötigt, die zwei Drittel des Umsatzstempels beizubehalten, und ob er überhaupt wieder einmal herab⸗ gesetzt wird, ist trotz der feierlichen Versicherungen zweifelhaft. Die Zuwachssteuer soll 40 —-45 Millionen abwerfen, davon die Hälfte für das Reich. Wir dürfen nicht verkennen, daß darin wieder eine starke Belastung des Mittelstandes liegt. Ferner ist ein Betrag von 22 Millionen, der zur Verstärkung der Betriebs⸗ mittel des Reiches dienen sollte, in das Extraordinarium eingestellt. Auch die Erträgnisse aus der Post⸗ und Telegraphenverwaltung sind reichlich hoch eingeschätzt. Nach den Darlegungen des Reichsschatz⸗ sekretärs erscheint es einigermaßen zweifelhaft, ob im Beharrungs⸗ zustande 415 Millionen aus den neuen Steuern erzielt werden. Denn als der Schatzsekretär auf die Beurteilung der einzelnen Steuern einging, wurde doch der Ton wesentlich gedämpfter; da sprach er von Warnungspfählen, die da aufgerichtet würden, sodaß doch mancher Zweifel auftauchte, ob die Aufwärtsentwicklung der Steuern sich wirklich in der erwarteten Weise vollziehen wird. Wenn man die Konsumsteuer so erhöht, muß man eben mit einem Konsumrückgang rechnen. Deshalb wird man und das ist der Grundsatz, den wir bei der ganzen Finanzreform in den Vordergrund gestellt haben um direkte Reichssteuern nicht herumkommen. Wenn für die Veteranen etwas geschehen soll, dann ist's die allerhöchste Zeit, denn sonst werden wir noch den letzten um den wohlverdienten Lohn bringen. Daß die Veteranenfürsorge mit der Zuwachssteuer verknüpft wird, müssen wir bedauern. Die Mittel hätten so aufgebracht werden müssen, daß ohne Verweisung auf ein neues Gesetz den berechtigten Anforderungen hätte Rechnung getragen werden können. Wir können nach wie vor nur bedauern, daß man den Gedanken der Wehrsteuer, der in einer Reihe anderer Staaten seine Verwirklichung gefunden hat, nicht bei uns durch⸗ fübrt. Bei der Reichsfinanzreferm haben wir uns zunächst auf den Boden der Vermögenssteuer gestellt. Dr. Paasche war in seinen Darlegungen ganz einig mit früheren Ausführungen des Abg. Gröber. Dadurch hätten wir leicht 100 bis 150 Millionen im Reiche aufbringen können, und es blieben nur noch etwa 350 Millionen in⸗ direkter Steuern. Als die verbündeten Regierungen, die Rechte und das Zentrum die Vermögenssteuer nicht aeceptieren wollten, kam Frei⸗ herr von Gamp mit seinem Besitzsteuerkompromiß, für das wir einge⸗ treten sind. Dies ist vollständig unter den Tisch gefallen. Niemand weiß recht warum. Wahrscheinlich war es den Bundet— staaten unbeguem. Als nun auch dieser Weg nicht mehr möglich war, sind wir auf den Boden der Deszendentensteuer getreten mit dem gleichzeitigen Anerbieten, daß, was auf diese Weise nicht aufkam, durch das Erbrecht des Reiches oder durch eine andere vernünftige Steuer aufgebracht werden sollte. Wenn Sie auf der Rechten und im Zentrum das beliebte Wort von der Steuerhetze der Liberalen, auch der Natignal⸗ liberalen, anwenden glauben Sie denn, daß die Kritik geschwiegen hätte, wenn wir, die wir im Parlament mitgearbeitet haben, den Mund gehalten hätten? Die Kritik ist aus dem Volke gekommen, nicht durch die Reichstagsabgeordneten veranlaßt. Gehen Sie doch durch das Land. Wir mußten unsererseits auf die Sache eingehen. Männer aller Parteirichtungen be eugen einmütig die unrichtige Ausgestaltung der Finanzreform; sie hen en, daß der soziale Gedanke fehlt. Eine ö als sie der Geheimrat Strutz art hat, können Sie auch den Nationalliberalen nicht andichten. Ich könnte auch auf die scharfen Erklärungen der Konfervaliven in Elbing berweisen. Der Syndykus der Handelskammer in Saarbrücken, Dr. Tille, hat schon vor Jahren sstgestellt daß er der nationalliberalen Partei nicht angehört. Der Ausfall der gestrigen Wahl hat gezeigt, daß die Konservativen unter dem Eindruck der Reichsfinanzreform abgenommen haben, daß hier

Berlin, Montag, den 12. Dezember

Die Vergiftung des Volkes erfolgt durch das beleidigte Emp— finden des. Volkes selbst, wegen der Schonung der besitzenden Klassen bei den neuen Steuern. Gewiß ist unsere Industrie im Aufschwung begriffen; das beruht auf der Jollgesetz⸗ gebung und der Tüchtigkeit unserer Industriellen und Arbeiter. Aber daß der Absatz sich mehrt, hängt doch vor allem damit zu— sammen, daß Deutschland im Jahr um 900 000 Einwohner zunimmt, und damit naturgemäß der Konsum steigt. Das ändert aber doch nichts an der Tatsache, daß unter den neuen Steuern einzelne Industrie⸗ zweige sehr schwer gelitten haben. Was bei den Verhandlungen über die Unterstützung brotloß gewordener Tabakarbeiter hier gesprochen worden ist, geht nicht spurlos am Volke vorüber. Es bleibt nicht eindrucksloß, wenn Tausende von Arbeitern durch die Reichsgesetz⸗ gebung auf die Straße gesetzt werden. Auch in der Zündholzindustrie sind Schäden entstanden; der Produktjonsrückgang beträgt annähernd 5009. Große Gesellschaften überwinden jede Steuer kraft ihres Kapitals und ihres Kredits. Aber die kleinen und mittleren Unter⸗ nehmer leiden und man fördert den Konzentrationsprozeß in der Industrie. Der Vorwurf gegen die Regierung, daß sie die Finanzreform nicht genügend verteidigt habe, ist unberechtigt; nachdem das ursprüngliche Steuerprogramm, an dem der jetzige Reichskanzler wesentlich mitgearbeitet hat, so zerfetzt ist, kann man bon der Regierung nicht eine warmherzige Verteidigung verlangen. Der Militäretat steht im Zeichen der neuen Quinquennatsvorläge. Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob es nicht richtiger sei, sich nicht auf Jahre hinaus festzulegen. Ich möchte dem widerraten. Es ist besser, für eine Reihe von Jahren zu wissen, welche Neufor— mationen vorgenommen und mit welchen Kosten diese verbunden sein sollen. Die neue Vorlage hat aber in militärischen Kreisen stark enttäuscht. Es steht manches nicht in dieser Vorlage, was eigentlich erwartet worden ist. Dies gilt allerdings nicht von den Verkehrs⸗ truppen. Man vermißt aber die dritten Bataillone für die kleinen Regimenter. Bedenklicher ist noch, daß die Artillerie in dieser Vor⸗ lage schlecht wegkommt. Die Franzosen haben in dieser Beziehung einen großen Vorsprung vor uns. Auch der Train und die Pioniere kommen zum Schmerze mancher Militärkreise in dieser Vorlage zu kurz. In der Kommission werden wir ja wohl eine Aufklärung darüber erhalten, weshalb diese Quinquennatsvorlage nicht etwas reichlicher ausgefallen ist. Was den Verkauf des Tempelhofer Feldes betrifft, so kann ich mich mit den staatsrechtlichen Ausführungen des Abg. Speck im großen und ganzen einverstanden erklären. Es freut mich, daß wir aus der Vorlage der verbündeten Negierungen und den Ausführungen des Kriegsministers entnehmen können, daß auch das Kriegsministerium wohl auf dem Standpunkt steht, daß solche Verträge der Genehmigung des Reichstages bedürfen. Es spielt bei dieser Frage nicht nur die staatsrechtliche und finanzielle, sondern auch die soziale Seite eine große Rolle, die Notwendig⸗ keit, daß die großen Städte für die heranwachsende deutsche Jugend entsprechend große Plätze erhalten, daß dem Gesichts⸗ punkte moderner Wohnungshygiene Rechnung getragen wird. Dem Kriegsminister möchte ich wiederholt die Bitte ans Herz legen, die Offiziere in den zum Teil doch recht elenden Grenzgarnisonen nicht zu lange sitzen zu lassen, und zwar nicht nur im Interesse der betreffenden Offiziere, sondern auch der Armee. Wenn ein Offizier in einer solchen Garnison ein Dutzend Jahre lebt, so müssen not— wendig seine Spannkraft und seine geistigen Interessen sich ver⸗ mindern. Dann bitte ich um eine tunlichst gleichmäßige Einberufung der Offiziere in die Kriegsakademie. Die Herren in den schlechten Garnisonen dürfen nicht vergessen und hintangestellt werden. Große Klage wird nach wie vor geführt über die Erklusivität gewisser Regimenter; diese Exklusiwitat wird bitter empfunden in der Armee und im deutschen Bürgertum. Vielleicht versieht der Kriegsminister die Regimentskommandeure mit der Weisung, daß die bürgerlichen Offiziere nicht zurückgesetzt werden. Bei der Marine steigen die Kosten mit dem Wachsen der Deplacements und dem stärkeren Bedarf an Offizieren und Mannschaften. Die großen Schiffe verursachen bei weitem höhere Kosten als es früher der Fall war, wo die Technik noch nicht so vorgeschritten war. Leider sind nach wie vor unsere Auslandsstationen nicht genügend besetzt, und ich wünsche im Interesse der deutschen Handelsinteressen, daß mehr Kreuzer in unsere überseeischen Plätze geschickt werden. Im übrigen schreitet die Organi⸗ sation unserer Flotte vorwärts. Wir können nach wie vor nur unserem Gefühl des Dankes für den Staatssekretär des Reichsmarineamts Ausdruck geben, der in zielbewußter Weise unsere Flotte auf diesen Stand gebracht hat, auf den wir mit Stolz sehen können. Wir können mit Genugtuung feststellen, daß in England das Gespenst der deutschen Invasion immer mehr verschwindet. In den Kolonien könnte durch eine Vereinfachung des Verwaltungs⸗ betriebes und durch einen weiteren Ausbau der Selbstverwaltung ge⸗ spart werden. Nicht beitreten kann ich dem Tadel des Abg. Speck, daß die Reisen süd⸗ und westdeutscher Abgeordneten nach Posen aus Reichskosten bestritten werden. Die polnssche Frage ist zwar staats⸗ rechtlich eine preußische Frage, sie hat aber doch eine hohe nationale Bedeutung für das ganze deutsche Vaterland. Was den Etat des auswärtigen Amtes betrifft, so ist der neue Herr ebenso freundlich begrüßt worden, wie sein Vorgänger. In der Balkanpolitik will sich Deutschland nach wie vor an die Seite Oesterreichs stellen. Das ist auch in den ößsterreichlschen Delegationen anerkannt worden, allerdings nicht von allen Seiten. Von seiten der slawischen Abgeordneten sind starke An⸗ griffe gegen den Deutschen Kaiser gerichtefet worden. Diese Angriffe waren gänzlich unbegründet. Der Deutsche Kaiser hat sich im Laufe der Jahre, seitdem er zur Regierung gekommen ist, als ein Friedensfürst erwiesen. Die „Germania“ hat diese Bundestreue einigermaßen angezweifelt. Ihre Haltung steht aber im Gegensatz zu der Rede, die der Zentrumsführer Freiherr von Hertling am 29. November 1909 hier gehalten hat, worin er anerkannte, daß die deutsche Politik von Anfang an die Bundestreue gewahrt habe. Die Dreibundsbeziehungen haben sich gebessert, auch in Italien ist der Eindruck festen Zusammenwirkens zwischen beiden großen Kaiser⸗ reichen nicht spurlos an Regierung und Volk vorübergegangen. Der reale Wert des Dreibundes ist auch den Italienern vor Augen gerückt worden, und wir sehen einen Beweis hiervon auch in den Zusammen— künften der italienischen und österreichischen Staatsmänner. Eine gleiche Besserung können wir auch feststellen in unseren Beziehungen zu Rußland, obgleich die deutsche Sozialdemokratie hieran nicht glaubt. Der neue russische Minister des Auswärtigen hat sich sehr befriedigt ausgesprochen über seine Entrevue in Potsdam. Hierbet möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß unsere Beziehungen zu Rußland durch das Ver⸗ halten der deutschen Sozialdemokratie nicht verbessert werden. Der russische Zar ist bei seiner Reise nach Deutschland in unerhörter Weise verunglimpft worden. Die Artikel der sozialdemokratischen Presse überboten sich in unfreundlichen und unanständigen Schmähungen. In dem republikanischen Frankreich und in dem freien England legt man . auch Wert auf gute russische Beziehungen, nicht etwa der blauen Augen der Russen wegen, sondern wegen der Erhaltung des Weltfriedens und wegen der großen wirtschaftlichen Vor—⸗ teile. Wenn die sozialdemokratische Presse den Souverän eines großen Volkes in solcher Weise anpöbelt, z ist es kein Wunder, wenn dies einen. Widerhall in der rufsischen Presse sindet und womöglich der deutschen Nation zur Last gelegt wird.

der Stimmverlust nicht der Gelben alla zugute gekommen ist, sondern bereits ein Rückfluten nach der liberalen Selte stattfindet.

In der Türkei hat die Organisation der Armee dank der Tätigkeit des Generalobersten von der . Fortschritte gemacht, und unserm Bot⸗ schafter von Marschall haben wir es zu verdanken, daß er auch zu dem

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neuen türkischen Regime gute Beziehungen erhalten hat, sodaß die türkische Anleihe nicht den französischen, sondern den dentschen Banken zufiel. Unsere Marokkopolitik ist nicht glänzend gewesen, die französische Presse spricht sogar von ihrem Fiasko; jedenfallz ist der Zweck von Algeciras nicht erreicht, die Souveränität in Marokko ist nicht festgehalten worden; es sind weitere Vorstöße der Franzosen in Mittelmarokko er⸗ folgt, gegen die von der deutschen Regierung nicht einmal Einsprüche erfolgt sein sollen. Dagegen müssen wir die Energie anerkennen, mit der die Gebrüder Mannesmann ihre Rechte festgehalten haben; das dient unserer gesamten Industrie. Ich möchte den Reichskanzler, nachdem das neue Berggesetz veröffentlicht ist, auch über den Stand dieser Angelegenheit befragen. Im Etat des Auswärtigen Amtes wird die Erhöhung des Dispositionsfonds um 300 900 S6 bewilligt werden müssen, damit die auswärtige Presse mit Nachrichten über die wirk— lichen Meinungen Deutschlands versorgt werden kann. Der Abg. Speck, hat gestern einen Appell zur Sammlung an die bürgerlichen Parteien gerichtet, aber die jetzige Zeit der Antimodernistenbewegung ist dazu nicht geeignet. Für die Verstöße des Oberpräsidenten von Maltzahn sind Entschuldigungen, aber keine Heilung erfolgt. Unsere Buregukratie ist nicht der großen Entwickelung gefolgt, die Deutschland genommen hat. Unsere Bureaukratie leistet nicht mehr dasselbe wie früher, und daher kommt der Ruf nach Verwaltungs⸗ reformen. Es herrscht große Mißstimmung im Volk darüber, daß die, Landräte konservative Wahlmänner sind. Ein sehr geschätztes Mitglied der freikonservativen Partei, der Abg. von Zedlitz, hat geschrieben, daß dies historisch zu erklären sei, daß die Zugehörig⸗ keit zur konservativen Partei schicklich sei und daß höchstens einmal die Zugehörigkeit zur freikonservativen Partei geduldet werde. Der Reichskanzler wurde sich ein großes Verdienst erwerben, wenn er dahin wirken würde, daß die politischen Beamten ihre Hände aus den Wahlen lassen. In Deutschland wird die Lage jetzt sehr schwarz geschildert, als seien wir schon mitten in der Revolution. Wenn die Wahlen wirklich die rote Flut bringen sollten, die prophezeit wird, die auch die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ mit Ziffern über das voraussichtliche Anwachsen der Sozialdemokratie berechnet ich bestreite diese Berechnung —, dann werden wir eine Periode der inneren Reformen bekommen. Wir leben in einer Zeit, wo die Gegensätze scharf aufeinander prallen, wo kraftvolle Schichten des Volkes vorwärts drängen wie stark diese Entwicklung ist, zeigt das Anwachsen der Städte in der neuesten Volkszählung da wird der Staat am besten tun, wenn er diese Entwicklung im Sinne und Geiste weitherziger liberaler Lebensanschauung auffäßt. Wir haben ein tüchtiges, vorwärts strebendes Volk, das mit Recht eine Erweiterung seiner Rechte er⸗ strebt. Zu diesem Volke sollte man Vertrauen haben. Wir wollen vorwärts zu neuen Aufgaben, zu Reformen, dann wird auch der Miß⸗ mut des Volkes schwinden. Bei dem Festakt der Berliner Universität schloß der Rektor seine Rede: Es lebe die Freiheit! Es lebe der Kaiser! Das ist es, was auch wir wollen: eine starke Monarchie und eine volks⸗ tümliche Politik. Dann wird das Ziel erreicht werden, das uns vor⸗ schwebt, daß Thron und Volk treu zusammenstehen!

Reichskanzler Dr. von Bethmann Hollweg:

Meine Herren! Der Herr Abg. Bassermann hat soeben seine Rede mit einem optimistischen Ausblick in die Zukunft geschlossen. Auch mir schwebt ein solch optimistischer Ausblick vor; ich will es aber im gegenwärtigen Augenblick unterlassen, dem Herrn Abg. Bassermann auf seine Ausführungen zur inneren Politik zu antworten. Vielleicht gibt sich im Laufe der nächsten Tage noch Gelegenheit, darauf zurück⸗ zukommen. Nachdem aber der Herr Abg. Bassermann in dem zweiten Teil seiner Rede ausführlich über Fragen der auswärtigen Politik ge⸗ sprochen hat, möchte ich nicht zögern, meine Darlegungen über die innere Politik auch meinerseits durch einige Ausführungen über die auswärtige Politik zu ergänzen.

Ich verzichte dabei darauf, meine Herren, Ihnen ein voll⸗ ständiges Exposé über unsere auswärtigen Beziehungen zu geben. Ich werde mich auf Fragen beschränken, welche aus der Mitte dieses hohen Hauses angeregt worden sind. Ich will aber nicht unterlassen, D

meiner Antwort auf diese Fragen meinen Dank an die leitenden Staatsmänner der beiden uns verbündeten Mächte voraus⸗ zuschicken für die warmen Worte, die sie vor ihren Parlamenten unseren Beziehungen gewidmet haben (Lebhafter Beifall), denen ich mich voll anschließe, und in denen ich bestätigt finde, was mir die beiden Herren bei unseren freundschaftlichen Begegnungen in diesem Jahre hier und in Florenz gesagt haben.

Der Herr Abg. Bassermann hat soeben auch marokkanische Fragen behandelt. Ich will darauf im gegenwärtigen Augenblick nicht eingehen, weil das Vorgehen eines französischen Schiffes in Agadir bisher noch keine amtliche Aufklärung gefunden hat. Sie werden nicht daran zweifeln, daß wir unsere Rechte und die Interessen der deutschen Untertanen mit Nachdruck schützen werden. (Lebhafter Beifall,. Im übrigen möchte ich bezüglich der marokkanischen Fragen die weiteren Ausführungen dem Herrn Staatssekretär des Auswärtigen Amts, sei es heute, sei es an einem der folgenden Tage, vorbehalten.

Ich habe die Antwort auf eine Frage nachzuholen, die der Abg. Freiherr von Richthofen gestern an mich bezüglich der türkischen Anleihe gestellt hat. Meine Herren, die Türkei hatte sich, wie bekannt, zur Deckung ihrer finanziellen Bedürfnisse zunächst nach Paris gewandt. Nachdem die von uns mit wohlwollender Neutralität be⸗ gleiteten Verhandlungen im letzten Augenblick wegen Schwierigkeiten gescheitert waren, die zum Teil wohl auf politischem Gebiete lagen, wegen Bedingungen, die die Pforte nicht für annehmbar hielt, hat sich die Türkei nach Wien und nach Berlin gewandt. Es hat sich als⸗ bald aus deutschen, aus österreichischen, aus ungarischen Groß- banken ein Finanzkonsortium gebildet, mit dem die Türkei binnen kurzer Frist ein Vorschußgeschäft über 5 Millionen Pfund und ein Anleihegeschäft über 11 Millionen Pfund abgeschlossen hat.

Ich glaube, ich kann darauf verzichten, auf die Einzelheiten dieser Finanzoperation, die den Herren aus der Presse bekannt geworden sind, hier einzugehen; betonen möchte ich nur, daß die Kaiserliche Regierung diese Finanzverhandlungen mit ihrer Sympathie begleitet hat. Sie hat das aus der politischen Erwägung getan, daß Deutsch⸗ land durch ein Entgegenkommen gegenüber dringlichen finanziellen Bedürfnissen der Türkei gleichzeitig seiner bewährten, auf die Auf rechterhaltung des Friedens und des Status quo im Orient ge⸗ richteten Politik einen wesentlichen Dienst leistet. Zur Pflege dieser Politik gehört in erster Linie eine kräftige Regierung in der Türkei, stark genug, um die Ordnung im Innern zu gewährleisten

und nach außen Achtung einzuflößen. Die türkische Regierung hat

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