mindern. Die Schätzung des Erträgnisses ist eine recht unsichere. Wie unsicher ift schon die Ziffer der Einnahmen an Zöllen! Die Höhe der Zölle hängt von Zufällen, z. B von der Ernte, ab. Für die Zuwachssteuer haben wir ebensowenig einen sicheren Anhalt. Je höher die Steuer, desto weniger Grundstücksperkäufe und um so geringer die Einnahme. Die Folge wird sein, daß die Grundstücks⸗ spekukanten, um Steuer zu ersparen, auf ihrem Grund und. Boden selbst bauen. Viele Bauunternehmer, die nicht kapitalkräftig sind, werden dann vom Bau ausgeschlossen werden, und das Baugeschäft wird sich in den Händen des Großkapitals und der Großbanken konzentrieren. Diefe aber find in der Lage, abzuwarten und die Steuer auf den Käufer abzuwälzen; die Mieten werden eine steigende Tendenz haben. Der Schatzfekretär versprach, daß die Ausführung des Gesetzes eine febr wohlwollende fein werde. Ich zweifle nicht an dem guten Willen der Reichsbehörde. In den Gemeinden fand in 70 Fällen eine Verständigung mit den Interessenten in Zweifels fällen ftatt. Die Reichsbehörden müssen sich aber an den Wortlaut des Gesetzes halten, und da ist eine große Menge von Prozessen unvermeidlich. Am bedenklichsten aber ist mir der 5 11 mit der rückwirkenden Kraft bis auf 1885. Dieser Paragraph macht mir das Gesetz unannehmbar. Ich wünsche dringend, daß der jetzige Wert zugrunde gelegt wird. Dagegen bin ich“ bereit, den Umsatzstempel bis 1914 aufrecht zu erhalten. Allerdings bezweifele ich mit dem Abg. Seyda, ob die Zusicherung des Staatssekretärs, wenn auch bona sidè gegeben, wird eingehalten werden können, denn die Wertzuwachs⸗ steuer wird nicht genug einbringen. Das Wort unverdient“ vor dem Worte „Wertzuwachs“ einzufügen, halte ich für ein Gebot der Logik. Fehlt dies Wort, so würden die Richter noch strenger ver⸗ fahren. S 20 über die Steuersätze ist verbesserungsfähig. ES ist noch lange nicht gesagt, daß hohe Steuersätze die Erträge der. Steuer im ganzen vermehren. Ich bitte die verbündeten Regierungen dringend, unter Schonung der Selbstverwaltung im sozialen Interesse meine Abschwächungsanträge anzunehmen. Wenn § 11 umgearbeitet ird, dann' wird auch der Widerspruch gegen dieses Gesetz schwinden. Je länger die Debatte dauert, um so großer wird die Verwirrung. Die überwiegende Mehrheit der Reichspartei wird für das Gesetz siimmen.
Staatssekretär des Reichsschatzamts Wermuth:
Meine Herren! Ich bin dankbar für die Mitteilung, daß die Partei des Herrn Vorredners in ihrer überwiegenden Mehrheit ent— schlossen ist, für das Gesetz zu stimmen; das enthebt mich der Ver— pflichtung, gegen die Ausführungen des Herrn Abg. Dr. Arendt so eingehend zu polemisieren, wie ich es natürlich tun müßte, wenn seine Partei hinter ihm stände. Ich beschränke mich auch mit Rücksicht auf die Zeit, deren der Herr Abg. Dr. Arendt eben in so beweglichen Worten gedacht hat (Heiterkeit); aber ganz kann ich mich von einer Antwort doch nicht dispensieren. Denn diese Argumente, die wir in drei Lesungen der Kommission unausgesetzt gehört haben, wie die Mitglieder der Kommission mir bezeugen werden, machen doch, wie ich deutlich sehe, immer noch erheblichen Eindruck, und deshalb kann ich nicht umhin, ihnen wenigstens einige Worte zu widmen.
Der Herr Abg. Dr. Arendt wolle es mir nicht verübeln, aber es ist mir rätselhaft, wie er nach seiner ganzen Stellungnahme gegenüber dem Zuwachssteuergesetz sich an den parlamentarischen Vorgängen im Sommer 1909 hat beteiligen können. Es ist ja richtig, daß in der Zustimmung zu einer Resolution an sich durchaus noch nicht die Zu⸗ stimmung zu einem ausgearbeiteten Gesetze liegt, und der Herr Abg. Dr. Arendt ist ja das glänzendste Beispiel dafür, wie jeder Versuch, ein Gesetz auszuarbeiten, unfehlbar auf irgend eine Weise totgeredet werden kann. (Große Heiterkeit. Aber das verstehe ich doch nicht, wie es möglich war, daß der Herr Abg. Dr. Arendt an dem spezialisierten Entwurf einer Zuwachssteuer mitgewirkt hat, der im Sommer 1909 hier von der Mehrheit des Hauses auf Grund der Kommissionsbeschlüsse an⸗
Aus den stenographischen Berichten geht es mehrere Herren, die damals anwesend ge⸗ wesen sind, versichern, daß der Herr Abg. Dr. Arendt für diesen spezialisierten Entwurf selbst mitgestimmt hat. (Hört! hört! in der Mitte und bei der Wirtschaftlichen Vereinigung.) Jedenfalls steht fest, daß der Wortführer seiner Partei damals erklärt hat: wir werden in dieser Lesung für die Vorlage stimmen (Hört! hört! bei der Wirtschaftlichen Vereinigung), und kein Wort des Herrn Abg. Dr. Arendt ist erfolgt, das dem wider— spräche. Nun muß ich doch sagen: wenn ein so staats— gefährlicher, ein so alles in Grund und Boden ruinierender Entwurf vorkam, wie es der frühere Entwurf nach Ansicht des Dr. Arendt doch auch gewesen sein muß — denn er war ja um ein Vielfaches schärfer als der jetzt vorliegende —ů dann wäre es doch die Pflicht des Herrn Abgeordneten Dr. Arendt gewesen, hier das Wort zu nehmen und zu erklären, daß er diese Bedenken hätte, daß er das Volk vor dieser entsetzlichen Belastung, unseren Grundbesitz vor der Zerrüttung, unseren Handel und Wandel vor einer so enormen Verkehrserschwerung bewahren wolle. Das ist nicht geschehen. Ich habe Ihnen vorhin die Unterschiede zwischen der jetzigen Vorlage und dem Entwurf von 1909 dargelegt. Es sind ausschließlich Milderungen, und zwar Milde⸗ rungen ganz erheblicher Art auf jedem Gebiete. Ich will mich nicht wiederholen und nur an eines erinnern. Das Zurückgehen auf das Jahr 1885 wird hier jetzt als die allerschlimmste Bestimmung be⸗ kämpft und der Gesetzentwurf von dem Herrn Abg. Dr. Arendt für unannehmbar erklärt, wenn diese Bestimmung nicht geändert werde. Was stand aber in dem Entwurf von 19697 Rückgriff bis 1884.
Da ich einmal bei diesem Punkte bin, möchte ich erwähnen, daß eine große Anzahl von Gemeinden noch erheblich weiter zurückgeht als bis 1885: so Zehlendorf bis 1875, Stargard bis 1872, Hildesheim bis 1876, Wilhelmshaven bis 1889, Dortmund bis 1860, Marburg bis 1880, Essen bis 1871, und es ist schon erwähnt worden, daß Hamburg vollständig unbegrenzt in die Vergangenheit zurückgreift; dasselbe ist auch bei einzelnen kleinen Orten Preußens der Fall.
Die Bedenken, die aus jener Zurückdatierung herzuleiten wären, sind damals nicht vorgebracht worden. Jetzt aber werden sie, und zwar, wie mir scheint, in einer den Gesetzentwurf gefährdenden Form hervorgehoben. Dem gegenüber muß ich darauf aufmerksam machen, daß es sich hier um einen für das Erträgnis des Gesetzes ãußerst wichtigen Punkt handelt. Ich werde auf die Ertragsberechnung zurückkommen, möchte aber schon jetzt erklären, daß ich den Ausfüh⸗ rungen des Herrn Redners der konservativen Partei völlig zustimme, in denen er hervorhob, daß es sich hier um ein Steuergesetz von un— mittelbarer finanzieller Wirkung handelt; wir müssen darauf sehen, daß es diese Wirkung behält.
Nun, glaube ich, sucht der Herr Dr. Arendt zu viel zu beweisen. Er deduziert beispielsweise: die Terrainspekulanten würden von dem Gesetze gänzlich verschont, weil sie durch die Maschen des Gesetzes hindurchzuschlüpfen wüßten. Daraus würde ich die Bitte ableiten, uicht den 3 55 des Gesetzes so lebhaft amufechten; denn der soll dem
genommen worden ist. nicht hervor, aber
Bundesrat ein bescheldenes Mittel geben, um diesem Versuche, durch die Maschen zu schlüpfen, entgegenzutreten. Aber gerade diesen §z 55 hat Herr Abg. Dr. Arendt aufs äußerste angegriffen. Weiter sagt Herr Dr. Arendt: die Kleinen blieben dem Gesetze untertan, und die Großen schlüpften hindurch. Ja, nun stellt aber Herr Abg. Dr. Arendt den Antrag, die Kleinen auch herauszulassen! (Heiterkeit) Da möchte ich mir die Frage erlauben: was bleibt denn von dem ganzen Gesetz noch übrig?
Ich komme dabei noch einmal auf meine vorherigen Aeußerungen über die Anträge auf Erweiterung der Befreiungsgrenze zurück. So ist es nun auch nicht, daß jemand, der ein kleines Ein— kommen hat, ohne weiteres als einer angesehen werden kann, der sich von der Terrainspekulation vollständlg fern hält. Vielmehr sehen wir häufig Personen mit geringem Ein⸗ kommen eben gerade deswegen ganz ungeheure Risiken bei dem Terrain⸗ handel übernehmen, weil sie infolge Vermögenslosigkeit persönlich nichts riskieren. Hier einzugreifen, gehört zu den Hauptaufgaben des Gesetzes, und deshalb würde es einen erheblichen Nachteil bieten, wenn die steuerfreie Grenze von 2000 ½ auf 3000 „M erhöht würde. Ich benutze daher die Gelegenheit, Sie nochmals dringend zu bitten, diesen Anträgen nicht stattgeben zu wollen.
Wenn Herr Abg. Dr. Arendt erklärt hat, das Gesetz sei so schlecht ausgearbeitet, wie er noch nie eins gesehen habe, so verfüge ich über eine genügende parlamentarische Erfahrung, um zu erwidern: es ist selten ein Gesetz und eine Gesetzesbegründung hier zur Beratung ge⸗ kommen, bei denen nicht von der einen oder anderen Seite gesagt wurde, so etwas Schlechtes sei überhaupt noch nie gemacht worden.
(Heiterkeit. ) Will der Abg. Dr. Arendt seine Angriffe hauptsächlich richten, so teile ich diese
auf die Kommissionsbeschlüsse
Anschauung zwar in keiner Weise, fühle mich aber nicht berufen, hier als Verteidiger des Reichstags aufzutreten. Ich bin überzeugt, daß aus seiner Mitte heraus das erforder⸗ liche erwidert werden wird. Auf die Handhabung des Gesetzes werden etwaige Schwierigkeiten der Ausdrucksweise, die bei einer derartigen komplizierten Gesetzgebung wohl unvermeidlich sind, keinen Einfluß ausüben. Ich habe gestern mit allem Nach⸗ druck betont, daß wir uns angelegen sein lassen werden, durch die Aus⸗ führungsbestimmungen und durch persönliche Belehrung den Inter⸗ essierten die Handhabung des Gesetzes zu erleichtern. Wir werden bestrebt sein, etwaigen Anfragen gegenüber, jedem einzelnen den Gesetzestert in sein geliebtes Deutsch zu übertragen. Wir werden eine populäre Darstellung des Gesetzes veröffentlichen, eine Anleitung und Regeln aufstellen, aus denen der einzelne sich dann leicht aus—⸗ kennen kann. Also in dieser Beziehung brauchen Sie keine Besorg— nisse zu haben.
Die Schwierigkeit der Handhabung ist uns während dreier Kommissionslesungen und heute wieder in den schwärzesten Farben vor⸗ gemalt worden. Ich bestreite nochmals, daß zu solchen Besorgnissen hinreichender Anlaß vorliegt. Ich habe besonderen Wert darauf gelegt, daß wir auch schon vor der Einführung des Gesetzes und während seiner Abfassung uns an Ort und Stelle über die Verhältnisse informierten. Mein Referent hat sich zu diesem Zwecke teils in großen Stadt— gemeinden, teils in Kreisen mit industriellen Interessen, teils in Kreisen mit ländlicher Bevölkerung über die Erfahrungen mit der Zuwachssteuer unterrichtet. Dabei hat sich herausgestellt, daß die Schwierigkeiten in der Handhabung sehr übertrieben geschildert worden sind. !
Darf ich nochmals, nachdem ich gestern die Durchschnitts⸗ zahlen schon angegeben habe, vortragen, daß in Hamburg, wo eine Untersuchung an Ort und Stelle stattgefunden hat, bis zum Juli 1910 nur eine Rechtsfrage im Prozeß befangen war, während das Gesetz schon seit naheju 2 Jahren Geltung hatte; das ganze Veranlagungsgeschäft wurde von 9 bis
l0 Beamten, worunter 4 mittlere Beamten, bearbeitet. Mit diesem verhältnismäßig geringen Apparat wurde eine
Steuer von 23 Millionen Mark erzielt. In dem vorwiegend in⸗ dustriellen Kreise Blumenthal ist nur ein mittlerer Beamter tätig gewesen: der Kostenaufwand belief sich auf 20600 ; von 351 Veranlagungen sind 365 angefochten worden, also etwa 10 0. Im Kreise Burgsdorf, einem Kreise mit ganz landwirtschaftlichem Charakter, ist ein Beamter im Nebenamt mit der Veranlagung be⸗ schäftigt und eine Anfechtung im Rechtswege erfolgt. Es ist wirklich nicht anzunehmen, daß die Schwierigkeiten der Veranlagung im Reich so erheblich viel größere sein würden, und ich bestreite aufs nachdrück⸗ lichste die dem Herrn Vorredner zugegangene Nachricht, daß die Zahl der Senate des Oberverwaltungsgerichts zu diesem Zwecke verdoppelt werden müßte.
Die Erfahrungen der Gemeinden habe ich mir schon erlaubt im einzelnen vorzutragen. Der Herr Abg. Dr. Arendt meint zwar, in vielen Gemeinden existiere eben die Erhebung noch nicht lange Zeit. Meine Herren, wir dienen Ihnen mit dem besten Material, das wir zur Verfügung haben, und ich muß sagen: so viel wie die Theorien, die ein einzelner Redner hier vorträgt, so viel wiegen die mehrjährigen Erfahrungen der Gemeinden schließlich auch. Ich habe ferner darauf hingewiesen, daß der Uebergang zum Eigenbau seitens der Terraingesellschaften in keiner Weise durch die Erhebung nachgewiesen sei. In annähernd 99 9½ der Gemeinden sind derartige Erscheinungen nicht hervorgetreten.
Nun muß ich aber einen Punkt noch besonders hervorheben, an dem mir sehr viel liegt. Von mehreren Seiten, auch vom Herrn Abg. Dr. Südekum ist gesagt: wenn die Gemeinden die Erhebung handhaben, dann macht sich die Sache sehr leicht, dann sitzt der Steuerbeamte am selben Orte, konferiert mit den Beteiligten und läßt Billigkeit walten; wenn aber erst der starre Mechanismus des Staates und des Reiches kommt, dann ist von alledem nicht mehr die Rede. Meine Herren, auch darüber sollten meine Erklärungen von gestern Sie eigentlich bereits beruhigt haben. Ich bin im Gegensatz zu dem Herrn Abg. Dr. Südekum der Meinung, daß es auch für den Reichsfiskus durchaus angängig ist, über derartige Fragen Vergleiche abzuschließen. Ich habe es in der Kommission schon erklärt und erkläre es hier noch— mals: wenn der Rechtsweg bei derartigen Angelegenheiten zulässig ist, so ist auch unzweifelhaft, daß man den Rechtsstreit durch einen Ver gleich wird aus dem Wege räumen können. Ich selbst, meine Herren, bin in eitter wichtigen Steuerfrage in der Lage gewesen, von der Be—
Uebrigens kommen in der Steuerhandhabung des Staates tagtäglich Fälle vor, wo die Steuer im Wege der Billigkeit festgesetzt wird, wo man eine Tatsache, die man durch Dokumente oder Zeugen nicht für absolut erwiesen erachten kann, so beurteilt, wie sie ein ver⸗ nänftiger Mann beurteilen muß und der Richter sie beurteilen würde.
Sollten Zweifel bei Ihnen obwalten, so bitte ich nochmals meine Erklärung entgegenzunehmen, daß wir grade bei dieser Steuer eifrig bestrebt sein werden, solchen Grundsätzen besondere Geltung zu verschaffen.
Was endlich die finanziellen Ausführungen des Herrn Abg. Dr. Arendt betrifft, so wolle er es mir nicht übelnehmen, wenn ich das Lob, das etwa dem gegenwärtigen Leiter des Reichsschatzamts um deswillen gespendet wird, weil er bestimmte Etatsgrundsätze zu ver⸗ treten bestrebt ist, nicht annehme; es hilft mir nicht, wenn man diesen Grundsätzen die Anerkennung ausspricht, sie aber nicht zum Wohle des Reichs wirklich handhabt. So lange mit der theoretischen nicht auch die praktische Anerkennung jener Grundsätze sich verbindet, muß mich — verzeihen Sie mir diese Bemerkung — jenes Lob ziemlich kalt lassen. Ich bitte Sie, daß Sie die Lage hinsichtlich der Veteranen etwas eingehender würdigen wollen. Herr Dr. Arendt sagt, es sei ein alter parlamentarischer Brauch, daß man vom Reichstage aus keine Anträge auf neue Steuergesetze stellt. Wie ist es aber bei der Behandlung der Veteranen gewesen? Sie haben nicht nur einen aus⸗ gearbeiteten Antrag auf Unterstützung der Veteranen vorgelegt, sondern gleichzeitig auch verlangt, daß dieserhalb die Wehrsteuer ein⸗ geführt werden solle. Wir haben darauf erklärt, und zwar aus voller Ueberzeugung, daß eine Wehrsteuer nicht ausführ⸗ bar sei; die Herren haben das bezweifelt, und ich habe daraus die Veranlassung genommen, sie zu mir zu bitten, und wir haben eingehend zusammen überlegt, ob eine Wehrsteuer möglich sei. Die Herren werden mir zugeben müssen: beim Schlusse der Er— örterungen war die allgemeine Ueberzeugung, daß das nicht der Fall sel. Nun sagt Herr Dr. Arendt, es sei Sache des Schatzsekretärt, andere Steuern vorzuschlagen. Das tue ich ja gerade. Ich schlage hier vor, daß die Zuwachssteuer zu diesem Zwecke verwendet werden soll. Insofern muß ich auch den Einwendungen des Herrn Abg. Dr. Südekum durchaus entgegentreten. Wie soll ich es denn machen? Sie beanstanden, daß ich eine Ausgabe begründe auf eine Einnahme, die erst bewilligt werden soll. Wie soll ich es denn anders machen, wenn ich den Grundgedanken: keine Aus⸗ gabe ohne Deckung innehalten will? Dann muß ich doch sagen: es steht eine Ausgabe bevor; ich bitte, sie zu genehmigen, gleichzeitig aber, damit die Deckung vorhanden ist, auch entsprechende Einnahmen zu bewilligen. Das tat ich, indem ich rekurrierte auf eine Sache, welche dem Reichstage schon vorlag. Es wäre doch geradezu unsinnig ge⸗ wesen, wenn ich nun, wo die verbündeten Regierungen gemäß dem Wunsch des Reichstags dieses Gesetz eingebracht hatten, nach einem anderen gegriffen und Ihnen das auch noch vor⸗ gelegt hätte. Wenn der Herr Abg. Dr. Arendt mir jetzt wiederum die Rolle des Antragstellers zuweist und erklärt: kommen Sie mit neuen Vorschlägen, dann werden wir Ihnen schon etwas bewilligen, so erwidere ich: Wer wird es bewilligen? Frage ich auf der Rechten, so werde ich jedenfalls eine wesentlich andere Antwort bekommen als auf der Linken und in der Mitte. Sie können mir mit einer Fülle von Steuervorlagen an die Hand gehen, aber als praktischer Geschäftsmann muß ich darauf sehen, welche Steuer ich durchbekomme. Es kann nicht mein Ehrgetz sein, Ihnen eine große Zahl von Steuervorlagen vorzulegen mit der angenehmen Aussicht, die Hälfte von der Rechten und die andere von der Linken abgelehnt zu sehen. (Heiterkeit) Jetzt, Herr Dr. Arendt, muß es einmal heißen: hie Rhodus, hic salta!
Es ist bemängelt worden, daß ich auf die Bestätigung unserer Zoll- und Steuerschätzungen hier hingewiesen habe, und Herr Dr. Arendt hat das so aufgefaßt, als wollte ich damit den Beweis liefern, daß unsere Schätzung über den Ertrag der Zuwachssteuer richtig wäre. Nichts hat mir ferner gelegen. Ich habe nur deduzteren wollen — und möchte noch einmal so klar als möglich dies als den einzigen Standpunkt hervorheben, den ich vertreten kann und den ich absolut bis zum Ende vertreten werde —, daß die Schatzverwaltung die Verpflichtung hat, ihrerseits die Einnahmen so sorgfältig und so genau auf tatsächlicher Grundlage zu schätzen, wie sie es irgend kann. Sie wird dabei unter hundert Malen mindestens achtzigmal irren, wenn sie aber mit der Sorgfalt, die ich als nötig bezeichnet habe, die Schätzung vornimmt, so wird sie nach meiner Meinung immer in der Lage sein, eine solide Gebarung herbeizuführen und das Gesamtresultat wird ihr meistens recht geben. So habe ich, ohne uns damit im mindesten besonderen Scharfsinn oder Weitsichtigkeit zuschreiben zu wollen, nur hervorheben wollen: wir sind bestrebt gewesen, die Ein— nahmen so genau und so vorsichtig zu schätzen wie irgend möglich. Wir haben dabei gefunden, daß es noch einer Deckung des Bedarfs für die Heeresverstärkung und für die Veteranen bedarf, an Tatsache kommt man auf keine Weise vorbei; ich warne vor jedem Versuch in dieser Richtung. Deshalb bitte ich Sie dringend, sowohl bei dem § 11 als auch später bei den Beratungen über das gleichzeitige kurzfristige Nebeneinanderbestehen von Zuwachssteuer und Umsatzstempel dieser Tatsache eingedenk sein zu wollen und so, wie Sie wiederholt versprochen haben, auch hierbei mitzuwirken, daß unsere Finanzen in Ordnung kommen und wieder (Bravo! rechts.)
Abg. Graf von Westarp (dkons.): Wir bleiben auch nach der his⸗ herigen zweitägigen Diskussion bei den Kommissionsheschlüssen. Die Erhöhung der Befreiungsgrenze für unbebaute Grundstücke auf 10 000 S würde doch große Gefahren heraufbeschwören, indem ein größerer Besitzer durch Zerschlagung seines Besitzes in kleine Parzellen Und durch Verwendung von Strohmännern leicht die Steuer würde umgehen können. Von der Notwendigkeit, die Senate des Oberverwaltungsgerichts aus Anlaß dieses Gesetzes zu ver doppeln, ist mir als Mitglied dieses Gerichtes nichts bekannt. Der Abg. Dr. Weber kam gestern auf die Vermögenssteuer zurück und melnte, einige Regierungen hätten sich jetzt bereits für ihre Zu lässigkeit erklärt; ich weiß aus der Kommission nur, daß sie
(Schluß in der Zweiten Beilage.)
fugnis des Vergleichs in umfassendster Weise Gebrauch zu machen ⸗
dieser .
gesunden.
ihr nach wie vor den schaäͤrfsten Widerstand entgegengesetzt haben. .
zum Deutschen Reit e, .
(Schluß aus der Ersten Beilage.)
Der Abg. Göhre hielt die n . für günstig, die Agrarier an⸗ zugreifen und von ihrer Gepflogenheit, bei den Einschätzungen sich selbst Vorteile zuzuwenden, zu reden. Er sollte doch wissen, daß alle in dieser Beziehung öffentlich erhobenen Anschuldigungen untersucht und in nichts zerfallen sind. Er hat dann das Wort Bergagrarisch“ geprägt und auch damit dem Haß der Sozialdemokraten gegen die Landwirtschaft ungeschminkten Ausdruck gegeben, einem Haß, der durch eine gründliche Abneigung. der e ir er. gegen die Sozialdemo⸗ kraten erwidert wird. Mit diesem Worte hat er durchaus daneben ge⸗ hauen, denn die unbeweglichen Kuren können eben nicht unter das Gesetz fallen. An den Landwirt, der seinen Grund und Boden als Arbejtsinstrument benutzt, der ihn als seine Sparkasse ansieht, haben wir bei der Gestaltung des Gesetzes selbstverständlich auch gedacht. Ein in dieser Weise vom Vater auf den Sohn übergehendes Grund⸗ stůck kommt. überhaupt für die Steuer nicht in Frage; muß aber an den Verkauf gedacht werden, dann wollen wir nicht, daß der durch eigene Arbeit erworbene Erfolg des Besitzers durch eine Zuwachs⸗ steuer ihm genommen wird. Nennen Sie (links) das agrarisch, dann sind wir agrarisch bis auf die Knochen. Dasselbe gilt sinngemäß auch vom Baugewerbetreibenden und vom Hausbesitzer. Im Gegensatz zu dem 269 rendt halte ich dafür, daß es uns gelungen ist, den Zweck des Gesetzes zu erreichen, den Konjunktur- und Spekulations⸗ gewinn zu bestenern, aber den auf redlicher Arbeit beruhenden Wert— zuwachs zu schonen. Der Abg. Dr. Arendt hat sich sehr warm für die Unterstützung. der Veteranen ausgesprochen; ich habe aber doch die Empfindung, daß seine Tätigkeit in ihrem Erfolge entgegen seiner Absicht darauf hinauslaufen könnte, die Unterstützung der Here nner. undurchführbar zu machen. Wir stimmen dem Gesetze zu, und zwar nicht nur platonisch, sondern in dem Sinne, daß die Kommissions⸗ beschlüsse auch zur praktischen Durchführung gelangen werden.
Abg. Dr. von Savigny (entr.) tritt für seinen Antrag ein, die Befreiungsgrenze auf die Grundstückswerte von 390 900 bezw. 10 990 heraufzusetzen, und bittet, für diesen Antrag lediglich die sachlichen Momente wohlwollend zu würdigen, denn er habe den Antrag als Freund des Gesetzes, der ihm dadurch eine größere Mehrheit sichern wolle, gestellt, nicht wie der Abg. Dr. Arendt als Gegner des Ge⸗ setzes. Der Antrag Marx⸗Zehnter, den betreffenden Passus des 5 1 wie folgt zu fassen: „beträgt der Veräußerungspreis eines Grundstücks und, wenn das Grundstück mit anderen zu einer wirtschaftlichen Ein⸗ heit vereinigt ist, der Wert des vereinigten Grundeigentums bei be⸗ bauten Grundstücken nicht mehr als 20 060, bei unbebauten nicht mehr als 5)00 t, so bleibt der Eigentumsübergang von der Steuer frei“, sei ihm durchaus genehm, wenn die Ziffern seinem Antrage entsprechend geändert werden. .
Abg. Graf von Westarp tens weist als Berichterstatter im Anschluß an die Ausführungen des Abg. Dr. Arendt darauf hin, daß über die Bedeutung der Worte: „der ohne Zutun des Eigentümers entstanden ist“, in dem Bericht Üüber die Beschlüsse der Kommission zweiter Lesung eine ausführliche Darlegung enthalten ist.
Nach 61 Uhr wird die Fortsetzung der Beratung auf Mittwoch 1 Uhr vertagt.
Preuszischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 5. Sitzung vom 17. Januar 1911, Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.) Es wird die erste Beratung des Entwurfs des
Staatshaushaltsetats für das Rechnungsjahr 1911. und des Entwurfs eines Anleihegesetzes fortgesetzt.
Minister des Innern von Dallwitz:
Meine Herren! Der Herr Abg. Ströbel hat gestern in so eigenartig einseitiger Beleuchtung und Beurteilung die Bedeutung der Moabiter Vorgänge dargestellt, daß es mir notwendig erscheint, in chronologischer Reihenfolge einen kurzen Ueberblick des tatsächlichen Verlaufs der damaligen Unruhen zu geben, um Ihnen eine positive und sichere Unterlage für die Beurteilung des Verhaltens der Polizei zu gewähren.
Am 19. September brach bekanntlich bei der Kohlenfirma Kupfer und Co. ein Streik aus, in dessen Verlauf 150 Arbeiter die Arbeit niederlegten. Die Firma war sehr bald in der Lage, sich Ersatz zu verschaffen und hätte berelts vom 23. ab, von dem Tage ab, an dem die neuangeworbenen auswärtigen Arbeitswilligen ein⸗ getroffen sind, den Betrieb annähernd in regelmäßigem Umfange wieder aufnehmen können, wenn sie nicht daran dadurch gehindert worden wäre, daß die Streikenden und mit ihnen sympathisierende Personen die Abfuhr der Kohlenwagen zu hindern suchten, teilweise sogar unmöglich machten, indem sie die Kutscher bedrohten, be⸗ schimpften und, wo immer es anging, tätlich gegen sie vorgingen.
Obwohl die Polizei von vornherein die erforderlichen Vor— kehrungen zum Schutz der bedrohten Arbeiter getroffen hatte, haben sich trotzdem folgende Gewalttätigkeiten abgespielt. Bereits am 20. also noch bevor auch nur ein einziger neuer auswärtiger Arbeiter ein- getreten war, wurde ein Kutscher der Kupferschen Filiale Karstädt auf einem ohne Polizeibegleitung ausgeführten Transport vom Drezdener Außenbahnhof nach dem Pumpwerk Schöneberg durch einen Steinwurf schwer verletzt. Am selben Tage überfielen zirka 40 Arbeiter einen von Schutzleuten begleiteten Kohlentransport von zwei Wagen am Spandauer Bock mit Steinwürfen. An einem Kohlenwagen wurde die Hinterschütze gezogen, sodaß mehrere Zentner Kohlen auf die Straße fielen. Eins der Pferde wurde mehrfach gestochen. Bei Verfolgung der Angreifer gibt einer der letzteren drei Revolverschüsse auf einen Schutzmann ab.
In der Nacht zum 21. wird das provisorische Straßenpflaster vor dem Lagerplatz der Firma Kupfer und Co. am Verbindungskanal Charlottenburg aufgerissen, um die Kohlenabfuhr zu verhindern. Täter konnten nicht ermittelt werden.
In der Zeit vom 21. bis 23. werden die von dem Lagerplatz am Verbindungskanal und dem Hauptlagerplatz an der Sickingenstraße aufgehenden Kohlentransporte, welche von 4 Schutzleuten begleitet sind, von Streikenden und Janhagel unter Geschrei und beleidigenden Zurufen verfolgt. Ein Steinbombardement auf Arbeitswillige und Schutzleute folgt. Einzelne Steinwerfer werden ermittelt. Gine ganze Reihe bon Beamten, Arbeitswilligen und Unbeteiligten sind ge⸗ troffen, zum Teil verletzt.
Zweite Seitage Sanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.
Mittwoch, den 18. Januar
Berlin,
Am 23. treten die ersten neu angeworbenen Arbeitswilligen den Dienst an. Wiederholte Angriffe finden auf eskortierte Transporte statt. Begleitende Schutzleute sind genötigt, die Angreifer mit blanker Waffe zurückzutreiben. Sie gehen hierbei schonend vor, da Weiber und Kinder von den Erzedenten vorgeschickt werden.
Am 24. gelingt es den Angreifern, die Geschirrteile der einem Kohlenwagen vorgespannten Pferde zu zerschneiden. Der Polizei— präsident erläßt eine Warnung, daß künftig auf Weiber und Kinder keine Rücksicht mehr genommen werden könne.
Es wurden in den Tagen vom 21. bis 25. September verletzt 1 Polizeioffizier, 6 Unterbeamte, kein Erzedent.
Der 26. September, Montag, ist der erste kritische Tag; denn die hauptsächlichsten Ausschreitungen fingen erst am Abend an. Bei der Rückkehr eines Transports entladener Wagen zur Sickingenstraße werden Mittags 12 Uhr der Kutscher und der Mitarbelter eines Wagens von Arbeitern der Löweschen Fabrik mit Steinen beworfen. Der Mitarbeiter wird durch einen Steinwurf am Auge erheblich ver⸗ letzt, worauf der Kutscher einen Schreckschuß abgibt. Die von der begleitenden Schutzmannschaft in das Löwesche Grundstück zurück— getriebenen Angreifer bewerfen aus dem Hof und aus den Fenstern der Fabrik die Schutzleute mit Steinen. Es waren lauter organisierte Arbeiter. Polizeimajor Klein wurde durch einen Steinwurf am linken Knie verletzt.
In der Nacht vom 26. zum 27., vom Montag zum Dienstag. Um 64 Uhr Abends wird ein Sperrkommando der Schutzmannschaft in der Sickingenstraße mit Steinen und Flaschen beworfen. Die Destilla⸗ tionen an den Straßenecken, aus denen mit Flaschen geworfen wurde, werden zwangsweise geräumt. Aus dem Hause Sickingenstraße 1 werden die Beamten mit Sand und Wasser überschüttet. Kurz darauf werden aus einer erneuten Ansammlung Ecke der Berlichingen⸗ und Sickingenstraße Steine, Teller, Flaschen und Biergläser gegen die Schutzleute geschleudert und mehrere Schüsse abgegeben. Nach wieder— holter vergeblicher Aufforderung wird die Menge auseinandergetrieben. Sistiert werden 14 Personen, darunter 5 wegen Werfens mit Steinen. Eine große Anzahl von Beamten ist durch Steinwürfe verletzt, des⸗ gleichen Exzedenten durch Säbelhiebe.
Gegen 11 Uhr Abends wird der Pfarrer Schwebel der Re— formationskirche auf der Straßenbahn von Exzedenten mit dem Ruf: Hier ist der Pfaffe Schwebel, schlagt den Hund tot! bedroht und mit Steinen beworfen. (Rufe bei den Sozialdemokraten: Ist ja nicht wahr!) Im Schutze der Dunkelheit gelingt es ihm, abzuspringen und in der Menge zu verschwinden. (Widerspruch bei den Sozial⸗ demokaten). — Es ist die eigene Aussage des Pfarrers Schwebel.
Bald darauf gegen 115 Uhr werden von zusammengerotteten Massen die Laternen der Beusselstraße teils verlöscht, teils zertrümmert, mehrere Scheiben der Reformationskirche eingeworfen, ein Feuer⸗ melder wiederholt mißbräuchlich in Tätigkeit gesetzt. Eine Patrouille von zwei Schutzleuten aus Charlottenburg wird von einem Haufen Menschen mit einem Steinhagel begrüßt. Der eine flüchtet, von einem Stein am Kopf getroffen, in ein Haus, in dem er besinnungslos zusammenbricht. Der andere rettet sich in die Schank⸗ wirkschaft des Gastwirts Ripperger, Ecke der Beussel⸗ und Erasmus⸗ straße, welche von der verfolgenden Menge demoliert wird. Durch hinzukommende Berliner Schutzleute wird der verfolgte Schutzmann befreit. Der Wirt erhielt durch Steinwürfe und Schaufenstersplitter mehrere Wunden am Kopf und mußte ins Krankenhaus geschafft werden. Den angerichteten Materialschaden hat er auf 1500 M an⸗ gegeben.
Gegen 1 Uhr wird bei Säuberung der Straßen ein Schutzmann durch einen Messerstich in den Unterleib schwer verletzt. Er wurde im Krankenhaus operiert. Der Täter führte gegen einen weiteren Schutzmann einen Messerstich, der aber nur die Kleidung beschädigte. In der Gotzkowsky⸗, Zwingli⸗ und Ottostraße werden von den Tumultuanten die Laternen ausgedreht und deren Scheiben zer⸗ trümmert.
An den Tumulten beteiligten sich hauptsächlich die An— wohner der betreffenden Straßenzüge; aber auch die Arbeiter der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft griffen beim Schichtwechsel gegen Mitternacht ein. Die Exzedenten flüchteten meist bei Annäherung der Beamten in die Häuser, schlossen hinter sich ab, stürmten dann aber wieder heraus, beschimpften die Beamten von hinten und warfen mit Steinen nach ihnen. Es wurden am 26. verletzt 46 Beamte (hört, hört! rechts) und 31 Exzedenten. (Hört, hört! rechts.)
Am 27. um? Uhr Abends werden an der Ecke der Beussel⸗ und Sickingenstraße und an der Reformationskirche die Beamten mit Steinen beworfen. Ein durch eine Bierflasche verletzter Schutzmann muß in das Krankenhaus gebracht werden. Aus den Reihen der Tumultuanten, die zum Teil aus besseren Arbeitern, auch aus Frauen und Kindern bestehen, wird mehrfach geschossen. Den Beamten wird „Bluthunde!“, Schlagt sie tot!“ und dergleichen zugerufen. Auch werden aus den Häusern in der Waldstraße Blumen⸗ töpfe und in der Beusselstraße Steine auf die Beamten geschleudert. Die Beamten machen von der Hieb⸗ und Schußwaffe Gebrauch. Nach 10 Uhr werden Patrouillen in der Rostockerstraße beschossen, mit Flaschen, Porzellan, Eisenstücken, Steinen auch aus Fenstern und Balkons beworfen. Die Straßenlaternen werden ausgelöscht und zertrümmert. Vor dem Hause Rostockerstraße 12 wird ein aus Brettern und anderen Holzstäcken bestehender Haufen in Brand ge⸗ setzt. Die Feuerwehr wird wiederholt mißbräuchlich alarmiert. Erst gegen 12 Uhr ist die Rostockerstraße, auch unter Anwendung der Schußwaffe, gesäubert. Es wurden verletzt 20 Beamte und b0 Ex— zedenten.
Am 28. September, Nachmittags 34 Uhr, werden die einen Kohlen⸗ wagen gelkitenden Schutzleute von einem Neubau aus mit Mauer⸗ steinen beworfen. Um 75 Uhr Abends sammeln sich Tumultuanten in der Wieleffstraße und an der Ecke der Beussel⸗ und Sickingenstraße, die mit der blanken Waffe auseinander getrieben werden müssen. Ein Haufe flüchtet in einen Hof, die nachdrängenden Schutzleute werden mit Blumentöpfen und Steinen aus den Fenstern beworfen.
1911.
Zwischen 9 und 10 Uhr werden Ansammlungen von mehreren 100 Menschen im Kleinen Tiergarten mit der blanken Waffe aus⸗ einander getrieben. Dabei wird aus einem Hause in der Turmstraße geschossen. Gegen 10 Uhr wird nochmals der Kleine Tiergarten von geschlossen auftretenden Ruhestörern mit der Waffe gesäubert. Gleich⸗ falls gegen 10 Uhr werden in der Nähe der Heilandskirche Ansamm⸗ lungen mit der Waffe gesprengt. Hierbei wird aus einem Hause auf die Polizei geschossen, desgleichen aus dem Hause Ecke der Emdener⸗ und Waldenserstraße. Um 11 Uhr wird aus dem 2. Stock des Hauses Waldenserstraße 16 mit einem Mauerstein auf eine Radfahr⸗ abteilung geworfen. Es wurden am 28. September verletzt 10 Be⸗ amte und 47 Exzedenten.
Am 29. September fanden nur noch vereinzelte Exzesse statt. Es wurden 1 Beamter und 5. Exzedenten verletzt.
Die Gesamtzahl der verletzten Beamten beträgt 84; darunter waren 3 Offiziere und 22 Wachtmeister; außerdem wurden 10 Dienst⸗ pferde verletzt. An verletzten Exzedenten sind 133 festgestellt. Der durch Messerstiche schwer verletzte Schutzmann ist erst am 20. Ok⸗ tober entlassen worden. Außer ihm waren am 25. Oktober noch 4 Beamte dienstunfähig.
Von den am 18. Oktober in Haft Befindlichen waren organisiert: politisch und gewerkschaftlich 14, politisch 2, gewerkschaftlich 31; die übrigen waren unorganisiert.
Meine Herren, so weit der Sachverhalt. Gegen das Verhalten der Polizei sind nach zwei Richtungen Einwendungen geltend gemacht worden. Von der einen Seite ist der Polizel der Vorwurf gemacht worden, daß sie nicht von vornherein mit genügender Energie ein⸗ geschritten sei, daß ferner von der Heranziehung von Militär ab⸗ gesehen worden sei. Der Herr Abg. Dr. Friedberg hat neulich mit⸗ geteilt, daß auch ein Teil seiner Fraktionsfreunde dieser Auf— fassung beipflichte. Auf der anderen Seite wird behauptet, daß die Polizei ohne Grund in den Lohnkampf bei Kupfer u. Co. sich ein⸗ gemengt, dadurch die Exzedenten und die mit ihnen sympathisierenden Bewohner erst zu ihren Ausschreitungen gereizt hätte und demnächst bei der Unterdrückung der Ausschreitungen mit viel zu großer Rigorosität, ja mit Brutalität vorgegangen sei. Ich halte die Vor— würfe nach beiden Richtungen hin für verfehlt und für unhaltbar.
Meine Herren, was zunächst den Vorwurf anbelangt, daß die Polizei zu Anfang nicht mit genügender Energie eingeschritten sei, so wird übersehen, daß der ursprüngliche Anlaß zu den Ausschreitungen, der Streik von 140 Arbeitern einer Kohlenfirma, an sich kein wesent⸗ liches, bedeutsames Ereignis ist, welches derartige Ausschreitungen voraussehen läßt. Tatsächlich haben sich auch in der Zeit bis Montag, den 26. September, die Ausschreitungen immer noch in gewissen Grenzen gehalten; der Sonntag, der 25. September, ist sogar vollkommen ruhig geblieben. Es war daher meines Dafürhaltens für die Polizei nicht möglich, die großen Dimensionen in vollem Umfange vorauszusehen, welche die Unruhen am Abend des 26. September annehmen würden. Trotzdem waren die Vor⸗ kehrungen der Polizei ausreichend, um immer wieder die stets neu sich zusammenballenden Zusammenrottungen zu sprengen und überall Herr der Situation zu bleiben. Nachdem durch den Verlauf der Nacht vom 26. zum 27. der aufruhrartige, gemeingefährliche Charakter der Bewegung aber deutlich hervorgetreten war, hat die Polizei für die folgenden Tage von vornherein außerordentlich weitgehende Sicherheits⸗ maßnahmen getroffen und die notwendige Säuberung und Freihaltung der gefährdeten Straßenzüge mit Energie planmäßig durchgeführt. Diesem tatkräftigen Vorgehen allein ist es zu verdanken, daß die Polizet in der Lage war, der Unruhen in den beiden Nächten derart Herr zu werden, daß bereits am Donnerstag der Aufstand als über⸗ wunden angesehen werden konnte. (Zurufe von den Sozialdemokraten: Aufstand! Wie klingt das!) 2
Wenn die Nichtheranziehung von Militär bemängelt worden ist, so möchte ich entgegnen, daß in der Tat die Polizei bewiesen hat,
daß sie in der Lage war, die Situation zu beherrschen und die gestörte Ruhe und Ordnung wieder herzu⸗
stellen. Es ist aber altpreußische Tradition, bei inneren Unruhen das Militär erst dann heranzuziehen, wenn die in erster Reihe zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung berufene Polizei hierzu nicht mehr imstande ist. Ich halte diesen Grundsatz für richtig, und zwar aus praktischen Gründen, aber auch aus ethischen und humanitären Gründen. (Sehr wahr! rechts.) Meine Herren, ich betrachte es sogar als einen Vorzug, dessen wir uns gegenüber anderen Kultur⸗ nationen zu erfreuen haben, daß es bei uns in der Regel gelingt, auch größere Unruhen dieser Art zu überwinden und zu unterdrücken, ohne daß es hierzu der Heranziehung des in erster Linie zum Schutze des Vaterlandes gegen auswärtige Feinde berufenen Heeres bedarf. (Sehr gut! rechts.)
Ich komme nun zu der anderen Kategorie von Vorwürfen, die im wesentlichen darin gipfeln, daß die Polizei überall übertrieben schneidig, brutal und roh vorgegangen sei. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Soweit die Behauptung aufgestellt worden ist, daß die Polizei sich grundlos in den Lohnkampf eingemengt habe, dadurch, daß sie die Arbeitswilligen geschützt habe, und daß sie dadurch erst die Streikenden und den mit ihnen verbundenen Janhagel zu Ausschreitungen gereizt habe, so ergibt sich die tatsächliche Unrichtigkeit dieser Behauptung aus dem von mir vorhin vorgetragenen Sach⸗ verhalt. Abgesehen von der tatsächlichen Unrichtigkeit, bekundet diese Behauptung aber auch eine solche Verkennung der dem Staat seinen Bürgern gegenüber obliegenden Pflichten, einen solchen Tiefstand des Empfindens für die einem Kulturstaat obliegenden Aufgaben, wie er krasser gar nicht gedacht werden kann (sehr richtig! Bravo! rechts), denn, meine Herren; es kann doch keinem Zweifel unterliegen, daß eine der vornehmsten, wenn nicht die vornehmste Pflicht des Staates darin besteht, jede redliche Arbeit zu schützen, jedem Bürger, dem Arbeitgeber wie dem Arbeiter, die Möglichkeit zu gewähren, un⸗ gefährdet und ungestört seinem Beruf und seiner Arbeitstätigkeit nach⸗ zugehen. (Sehr richtig; Bravo! rechts Zurufe bei den Sozial⸗
1 6 e 86
-. ö ᷓ