1911 / 73 p. 7 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 25 Mar 1911 18:00:01 GMT) scan diff

Seyda: Und wo sind die Redakteure?) Meine Herren,!

ich kann mich döch nicht. mit Ihnen in eine Privatunter= haltung einlassen. Meine Herren, dazu kommt die ganze Stellung der polnischen Presse in Schlesien, die immer und immer- wieder daxauf drängt, daß die polnisch sprechenden Oberschlesier und Posener ihre Ersparnisse zu diesen Volksbanken tragen sollen, weil diese ein Mittel im Kampf gegen das Deutschtum seien (Abg. Mertin⸗Oels: hört, hört!, und die geradezu zum Ausdruck bringt, daß die Aus⸗ fechtung des Nationalitätenkampfes mit Hilfe dieser Genossenschaften vom wirtschaftlichen Gebiete aus geführt werden soll. (Abg. Mertin⸗ Oels: Hört, hört h

Wenn Ihnen nun diese Gründe noch nicht genügen, so will ich hier eine Feststellung eines landgerichtlichen Urteils vortragen, das Herr Abg. Seyda genau kennt; es ist nachher zwar vom Kammer⸗ gericht aufgehoben, aber die tatsächliche Feststellung ist dadurch nicht zerstört worden. Es handelt sich darum, daß der Abg. Seyda wegen eines Verstoßes gegen das alte Vereinsgesetz angeklagt war; er ist von dem Landgericht in Beuthen verurteilt, von dem Kammergericht aus Gründen, auf die ich nachher kommen werde, freigesprochen worden. In diesem Urteil heißt es:

Diese Volksbanken suchen notorisch den Personalkredit der mittleren Erwerbstände in Stadt und Land, der kleinen Hand⸗ werker, Kaufleute und Gewerbetreibenden, der Bauern und lohn⸗ arbeitenden Klassen an sich zu reißen und die so begründete wirt⸗ schaftliche Abhängigkeit zu einem sehr wirksamen sozialpolitischen und nationalpolnischen Kampfmittel zu machen. Sämtliche bisher geschaffenen Volksbanken sind begründet von Mitgliedern der groß⸗ polnischen Partei, die auch zum großen Teil durch ihre polnische Agitation bekannt sind. Vorstand und Aufsichtsratsmitglieder sind ebenfalls regelmäßig hervorragende Vorkämpfer der großpolnischen Feste und Agitationen.

Ez kann nach allen diesen Tatsachen keinem Zweifel unterliegen, daß die Volksbanken lediglich geschaffen sind, um sich in den Dienst der großpolnischen Bewegung zu stellen, deren Ziele und Tendenzen eben gekennzeichnet sind.

Nun habe ich bereits erwähnt, daß das Kammergericht dieses Erkenntnis aufgehoben hat. Aber weshalb? Es hat gesagt, eine Verletzung des Vereinsgesetzes es sollte nämlich die zur Gründung einer folchen Bank berufene polizeilich nicht angemeldete Versammlung als eine politische angesehen werden läge nur dann vor, wenn entweder die Absicht, auf öffentliche Angelegenheiten einzuwirken, auch den Gegenstand der Erörterung oder Beratung in jener Versammlung gebildet hätte oder wenn die politischen Ziele der Bankgründung aus⸗ drücklich in dem Statut erwähnt wären. Beides sei nicht der Fall. Aus dem angefochtenen Urteil“, so heißt es am Schluß der kammer⸗ gerichtlichen Entscheidung, „ist aber zu entnehmen, daß die Statuten hierüber nichts enthielten, daß man über die letzten Endziele der Bank⸗ gründung schon einig war und daß man deshalb über sie nicht zu ver handeln brauchte und nicht verhandeln wollte.“

Also daß etwa die tatsächliche Feststellung des Landgerichts auf einer rechtlich unzulässigen Grundlage beruhte, ist in keiner Weise der Grund der Aufhebung gewesen, und deshalb glaube ich mich auch jetzt hier auf diese Feststellung dieses landgerichtlichen Urteils mit Fug uud Recht berufen zu dürfen.

Nun fragt der Herr Vorredner, weshalb man denn, wenn dem so sei, nicht mit der Klage auf Auflösung gegen die Genossenschaften vorginge. Das will ich Ihnen sagen: nicht aus Furcht, daß man ihren politischen Charakter nicht beweisen könnte er ist ja schon vom Gericht festgestellt sondern weil, wenn heute die eine Ge⸗ nossenschaft aufgelöst wird, morgen an ihrer statt eine andere ent⸗ steht; damit ist der Sache nicht beizukommen.

Wenn nun aber diese Genossenschaften einzeln diesen Zweck ver⸗ folgen, so wird man wohl auch folgern dürfen, daß der Verband der Genossenschaften keine anderen Zwecke als diese im Auge hat und daß er insbesondere nach dem Vorgange in Posen nun auch eine Ver⸗ bandskasse gründen wird, um hier die ganzen gegen das Deutschtum gerichteten großpolnischen Bestrebungen in Oberschlesien in eine Hand zusammenzufassen und setze ich hinju Hand in Hand mit dem für Posen und Westpreußen bestehenden Verbande in diesem Sinne zu arbeiten. (Zuruf bei den Polen: Werden wir ohne das Revisionsrecht auch machen)) Das kann ich nicht hindern; jedenfalls, meine Herren, will ich nicht Ihnen in dieser Richtung Hilfe leisten, wenn mir das Gesetz die Möglichkeit gibt, die Hilfe zu versagen; das würde ich für gegen die Staatszwecke gerichtet halten, und dazu kann ich mich nicht hergeben. (Bravo! rechts Zuruf bei den Polen: Also vorbeiregieren!)

Abg. Leinert (Soz.): Bei meiner Aeußerung in der zweiten Lesung, daß der Abg. Graf Henckel von Donner marck seine Millionen in ein“ Warenhaus am Alexanderplatz in Berlin gesteckt habe, habe ich den Abgeordneten verwechselt mit einem Grafen Hugo Henckel ven Dennerämarck, der mit dem Fürsten Fürstenberg und anderen zu⸗ sammen an einer Handelsvereinigung, A.-G., beteiligt ist. Den Vor⸗ wurf der mangelnden Mittelstandsfreundlichkeit, den ich dem Zentrum gemacht habe, muß ich aufrecht erhalten.

Abg. Dr. Grunenberg entr) weist die Aeußerung des Abg. Rahardt in der zweiten Lesung, daß er nichts von paritätischen Arbeitsnachweisen verstehe, zurück.

Abg. Busch (Zentr.) klagt über die Einschränkung der Wochen⸗ märkte bei Kirmessen. ;

Abg. Dr. Seyda (Pole): Der oberschlesische Genossenschafts⸗ verband hat nicht großpolnische Bestrebungen. Ich fordere den Minifter auf, mir die Namen der Redakteure vorzulesen, die in den

Genossenschaften sind. Er wird keinen einzigen Polen darunter finden. Ich fordere den Minister auf, mir einen einzigen positiven Fall vor⸗ zutragen, sonst kommt er in den Verdacht, beweislose Behauptungen hier vor dem Hause aufgestellt zu haben.

Minister für Handel und Gewerbe Sydow:

Ich will nur kurz auf die Anfrage wegen der Redakteure antworten. Da Verzeichnis mit ihren Namen liegt mir vor und steht zut Verfügung. Ob die Herren noch heute alle Mitglieder sind, kann ich nicht behaupten. Daß sie es gewesen sind, kann ich Ihnen nachweisen.

Beim Etat des Ministeriums des Innern hält

Abg. Hamm er (kons.) seine Ausführungen in zweiter Lesung über die Konkurrenz, welche dem Handwerk durch die Gefängnisarbeit erwächst, voll aufrecht. Der Redner wendet sich dann gegen die Aus— führungen des Abg. Dr. Schroeder⸗-Cassel, wird aber vom Präsidenten an weiteren Ausführungen verhindert.

Abg. Vel tin (Zentr.) wünscht eine weitere

Ausdehnung der

politisches Blatt sei, und

Weinkellerkontrolle. ö. Abg. Dr. Lohmann (ul). wendet sich gegen Ausführungen des

Ministeis bei der zweiten Lesung, nach denen der in Oletzko⸗-Lyck⸗

Johannisburg durch Lehrer verbreitete „Volksfreund“ kein partei⸗ - gegen weitere Acußerungen des Abg. bon Bleberstein über den dortigen Wahlkampf.

Abg. Cafsel (fortschr. Volksp.) weist die Behauptung des Abg. Freiherrn von Erffa zurück, daß der Freisinn ein Bündnis auf Leben und Tod mit der Sozialdemokratie abgeschlossen habe und bemerkt: Aus einem Zufammengehen bei Stichwahlen läßt s eine solche Behauptung nicht beweisen. Ich erinnere an die Haltung eines früheren magdeburgischen Polizeipräsidenten, der zur Wahl des sozialdemokratischen Kandidaten aufgefordert hat, und an, das Telegramm des Fürsten Bismarck: Wählt Sabor. Wollen Sie etwa von dem magdeburgischen Polizei⸗ präsidenten oder dem Fürsten Bismarck auch sagen, sie hätten ein Bündnis auf Leben und Tod mit der Sozialdemokratie abgeschlossen? Nach der Erklärung des Ministers sollen Leute, die eine gesicherte . oder Verwandte deutscher Nationalität haben, die unter⸗

altungspflichtig und politisch nicht verdächtig sind, nicht ausgewiesen

werden. Die unteren Organe befolgen aber diese Grundsätze nicht. Die Staattzinteressen werden nicht gefährdet, wenn die Ausweisungen mit Gerechtigkeit und Milde gehandhabt werden.

Abg. Dr. Seyda (Pole) hält seine Behauptung in der zweiten Lesung aufrecht, daß mit Hilfe des Posener Polizeipräsidiums das Briefgeheimnis eines Vorstandsmit liedes eines Strazvereins . worden sei. Es set festgestellt, daß ein Schutzmann die Briefe aus dem Brieffasten genommen habe. Das sei im Sinne jedes anständigen Menschen eine ganz gemeine Handlungsweise. Er hoffe, daß der Minister die Anweisung geben werde, daß in dem kommenden Prozeß alle Polizeibeamte des Posener Polizeipräsidiums ihre Aussage abgeben. Ein Pole in Zabrze, der sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, fährt der Redner fort, wurde in der Weise ver⸗ haftet, daß mehrere Polizeibeamte mit Revolpern in sein Zimmer eindrangen, das Treppenhaus ebenfalls mit Polizeibeamten besetzt war, und auf der Straße gleichfalls Schutzleute mit Revolvern Auf⸗ stellung genommen hatten. So behandelt man höchstens Zucht⸗ häusler. Ueber den Amtsvorsteher, der alles diet veranlaßt hat, habe

ich mich schon vor zwei Jahren beschweren müssen, ohne daß etwas gegen ihn geschehen ist. Diese Vorgänge sind Folgeerscheinungen eines Systems. Warum soll sich der kleine Polizeibeamte auf dem Lande genieren, wenn die Zentralstelle Gesetze erläßt, die in Wider⸗ spruch mit der Verfassung stehen? Der stmarkenderein ist Nähr⸗ elle der Ausnahmegesetze, die Saat wird aufgehen. . Minister des Innern von Dallwitz: ,

Meine Herren! Der Herr Abg. Schiffer hat gestern um Auf⸗ klärung eines Widerspruchs ersucht, der anscheinend zwischen einer Erklärung des Herr Finanzministers und einer Mitteilung des Berliner Tageblatts“ obwalte, wonach ein Artikel der „Neuen Korrespondenz“ seitens des Ministeriums des Innern den nach⸗ geordneten Behörden empfohlen worden sei, während der Herr Finanz⸗ minister keinerlei Kenntnis von diesem Artikel zu haben erklärt hat. Meine Herren, der Artikel der „Neuen Korrespondenz“ hat mir seinerzeit vorgelegen, und ich habe nach Benehmen mit den zuständigen Reichsinstanzen und im Einverständnis mit diesen die mir nachgeordneten Behörden auf diesen Artikel aufmerksam gemacht. Es ist das in Uebereinstimmung mit den beteiligten Reichsinstanzen deshalb geschehen, weil bekanntlich die Wirkungen der bei der letzten Finanzreform neu eingeführten Steuern in weiten Kreisen nur in unzureichender und mangelhafter Weise bekannt sind und daher im Publikum vielfach ganz unrichtige, oft übertriebene Vor⸗ stellungen darüber bestehen, welche Steuern überhaupt durch die Reichs⸗ finanzreform neu eingeführt worden sind, in welchem Verhältnis die neuen Steuern zu den bisherigen stehen, welcher Teil der ersteren auf indirekte Steuern, welcher Teil auf Besitzsteuern entfällt, und nament⸗ lich auch darüber, welchen Einfluß diese Steuern auf die Preis⸗ gestaltung gehabt haben. (Sehr richtig! rechts Der Artikel enthält, wie mir von zuständiger Seite mitgeteilt worden ist, lediglich sach⸗ liche, durchweg zutreffende zahlenmäßige Angaben, ohne irgend welche Schlußfolgerungen oder tendenziöse, nichtsachliche Darstellungen daran zu knüpfen, sodaß es meines Dafürhaltens im allgemeinen Interesse nur als wünschenswert angesehen werden kann, wenn das in dem Artikel enthaltene Material durch die Presse verwendet und verbreitet wird. Es würde daher nur dankbar zu begrüßen sein, wenn die Presse aller Parteischattierungen diese zahlenmäßigen Angaben benutzen und zu ihrer Verbreitung beitragen wollte. (Sehr richtig! rechts.)

Das Ressort des Herrn Finanzministers war dabei nicht unmittel⸗ bar interessiert, da es sich nur um die Steuergesetzgebung des Reichs handelt, sodaß er für seine Person, wie er neulich auch erklärt hat, keine Kenntnis davon gehabt hat, daß meinerseits die mir unter⸗ stellten Behörden auf den mehrerwähnten Artikel aufmersam gemacht worden sind.

Meine Herren, der Herr Abg. Lohmann hat soeben 2 Artikel aus dem ostpreußischen „Volksfreund“ verlesen und daraus die Konsequenz gezogen, daß der „Volksfreund“ nicht immer als parteiloses Blatt an⸗ gesehen werden kann. Ich erkenne vollkommen an, daß die beiden Artikel, die der Abg. Lohmann verlesen hat, zweifellos als Ent⸗ gleisungen von dem sonstigen parteilosen Charakter des ‚Volks⸗ freundeß“ sich darstellen. Diese Artikel sind auch bereits früher zu meiner Kenntnis gelangt, und die Schriftleitung des „Volksfreundes“ ist seinerzeit darauf aufmerksam gemacht worden, daß solche Artikel geeignet seien, den parteilosen Charakter, den das Blatt bisher inne gehalten hat, zu beeinträchtigen. Im allgemeinen glaube ich aber einstweilen daran festhalten zu sollen, daß der Grundcharakter, die Grundtendenz des „Volksfreundes“ wohl durchweg mit Ausnahme ganz vereinzelter Entgleisungen, die im politischen Teil eines jeden Blattes ohne absichtliches Verschulden der Redaktion vorkommen können eine rein nationale ist, daß seine Gesamttendenz eine aus⸗ schließlich parteilose, nur auf Bekämpfung sozialdemokratischer und großpolnischer Bestrebungen gerichtete ist. Diese Tendenz kann sich meines Dafürhaltens auch des Beifalls der Nationalliberalen wohl erfreuen.

Der Herr Abg. Cassel ist auf eine angebliche Verfügung des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen gekommen, welche Weisungen über die Ausweisungen russischer Untertanen aus Ostpreußen enthalten sollen. Eine solche Verfügung ist seitens des Herrn Oberpräsidenten in Ostpreußen überhaupt nicht ergangen. Im übrigen ist in den Grenzprobinzen seit dem Jahre 1886, in dem bekanntlich infolge des massenhaften Zuzuges aus Rußland eine Massenausweisung russischer Untertanen aus den Grenzgebieten im nationalen Interesse erforderlich geworden und vom Fürsten Bismarck angeordnet worden ist, die Praxis befolgt worden, daß, um in Zukunft die Härten zu ver⸗ meiden, die bei der Ausweisung von Leuten, die sich seit vielen Jahren im Lande aufhalten, regelmäßig hervortreten, von vornherein den Zu⸗ züglern mitgeteilt wird, daß ihre dauernde Niederlassung innerhalb der Grenzprovinzen nicht geduldet werden könne, und daß sie infolgedessen auf die Genehmigung eines dauernden Aufenthalts in Ostpreußen nicht zu rechnen haben würden. Es handelt sich also um eine be⸗ schränkte Aufenthaltsgenehmigung, an der wir aus nationalen Gründen

festhalten müssen, weil ein unbeschränkter Zuzug unerwünschter Elemente aus dem Osten und eine massenhafte Anhäufung derartiger Ausländer in den Grenzprovinzen nicht geduldet werden kann. (Sehr wahr! rechts.)

Nun, meine Herren, werden speziell in Ostpreußen im Interesse der Handelsbeziehungen usw. Ausnahmen gestattet. Die auf Grund einer beschränkten Aufenthaltsgenehmigung vorübergehend zugelassenen Russen werden aber von vornherein darüber nicht im Unklaren ge⸗ lassen, daß ihnen die dauernde Niederlassung nicht gestattet werden kann, sondern nur ein vorübergehender Aufenthalt. Zu diesem Zweck sind sie gehalten, beim Oberpräsidenten um Genehmigung ihres Auf⸗ enthalts einzukommen. Wollte man nun ganzen Familien die Er⸗ laubnis geben, sich innerhalb der Grenzprovinzen zeitweise niederzulassen, längere Zeit dort zu wohnen, so würde es außerordentliche Schwierig⸗ keiten bereiten, nach Ablauf der ihnen gewährten Aufenthalts genehmigung solche Familien zur Vermeidung ihrer dauernden Einbürgerung zur Rückkehr in ihre Heimat zu veranlassen. Darum ist früher daran festgehalten worden, daß in der Regel nur Einzelpersonen, welche um die Erlaubnis nachsuchen, sich vorübergehend im Inlande aufzuhalten, der Aufenthalt in den Grenzprovinzen gestattet wird. Jedoch ist neuerdings mit Räcksicht auf dringende Wünsche Einzelner diesen ausnahmsweise die Ver⸗ günstigung gewährt worden, ihre Familten nachkommen ju lassen, wobei sie sich verpflichteten, etwaige Söhne, wenn sie ein gewisses Lebensalter erreicht haben würden, jum Schulbesuch in ihre Heimat zurückzuschicken, damit wenigstens solche Kinder sich nicht dauernd bei uns einbürgerten. Ich halte diese Maßnahme aller⸗ dings nicht für zweckmäßig, glaube vielmehr, daß es sich empfiehlt, dort an dem früheren Verfahren festzuhalten und nur Einzel⸗ personen vorübergehend zuzulassen, um eine Trennung der Familien⸗ glieder voneinander durch demnächstige Zurückverweisung heranwachsender Söhne nach der Heimat für die Zukunft zu vermeiden.

Der Herr Abg. Seyda hat dann 3 Fälle zur Sprache gebracht. Zunächst den Fall Michaltschak, in dem ein Mann andere Leute zu einem Einbruch angestiftet haben soll. Es ist be⸗ hauptet worden, daß er Beziehungen zur Polizei gehabt habe, weil er so habe ich den Herr Abg. Seyda verstanden gelegentlich Unter- stützungen von der Polizeibehörde erhalten habe. Mir ist dieser Fall einstweilen nur aus Zeitungsnachrichten bekannt; irgend einen Zu⸗ sammenhang mit der politischen Polizei habe ich aus den Zeitungs⸗ artikeln, die mir vorgelegen haben, nicht entnehmen können. Ich habe aber Bericht erfordern lassen und werde natürlich die Sache weiter verfolgen; falls irgendwie Beziehungen zur Polizei sich herausstellen sollten, würde selbstverständlich die notwendige Konsequenz gezogen werden, sofern der Mann tatsächlich sich der Provokation oder strafbarer Handlungen schuldig gemacht haben sollte. Einstweilen bin ich aber wie gesagt noch nicht in der Lage, nähere Auskunft zu erteilen, da der Bericht noch nicht ein⸗ gegangen ist.

Was nun den Fall des Schutzmanns Kusewski anlangt, so ist mir nichts davon bekannt, daß er ein vorbestrafter Lehrer ist. Es wird indes auch hierüber Bericht eingefordert werden. Einstweilen aber glaube ich, es als undenkbar in Abrede stellen zu sollen. Der Schutzmann Kusewski hat den Auftrag erhalten, in einem Hause den Zuzug einiger bestimmter Personen zu kontrollieren. (Hört, hört! bei den Sozialdemokraten.) Er ist in das betreffende Haus gegangen und hat nach seinen Angaben lediglich nachgesehen, ob aus den an den Türen angehefteten Visitenkarten (Heiterkeit) oder Schilder die Anwesenheit der Betreffenden zu ersehen sei. (Abg. Hoffmann: Hat Klinken geputzt! Heiterkeit. Zuruf des Abg Seyda.) Er leugnet ganz entschieden, daß er einen Briefkasten ge—⸗ öffnet und den Inhalt ganz oder teilweise an sich genommen habe. Der Staatsanwalt hat die Einleitung eines Verfahrens abgelehnt Darüber habe ich nicht zu befinden; das interessiert mein Ressort nicht; die Sache wird ja ihren regelmäßigen Gang gehen. Um aber den Sach⸗ verhalt genau festzustellen, hat der Herr Regierungspräsident in Posen das Disziplinarverfahren eröffnet, in dem die benannten Zeugen eidlich ver⸗ nommen werden sollen (Abg. Hoffmann: Strafverfahren war besser)h, um festzustellen, ob tatsächlich ein Verschulden des Kusewski vorliegt oder nicht. (Zuruf des Abg. Hoffmann: Strafverfahren war richtiger!) Das Strafperfahren kann immer noch eingeleitet werden. Das geht aber das Ressort des Innern nicht an. (Abg. Hoffmann: Ist bequem!) Erst nach Feststellung des Tatbestandes wird eine feste Grundlage für die Beurteilung der heute erhobenen Beschuldigungen gegeben sein. Ich muß es aber, meine Herren, unbedingt zurück⸗ weisen, wenn der Herr Abg. Dr. Seyda erklärt hat, daß das Polizei präsidium einem Dieb, der auf frischer Tat ertappt worden sei, ver⸗ gleichbar sei und daß die amtlichen Berichte des Polizeipräsidiumks, die unter dem Schutze des Amtseides, des Diensteides stehen, als nicht glaubwürdig anzusehen seien.

Meine Herren, der dritte Fall ist ganz neuen Datums. Er handelt sich, soviel ich weiß, um einen infolge eines Gerichts beschlusses geschlossenen Verein und um eine Haussuchung infolge eines Gerichtsbeschlusses. Vorgestern ist eine telegraphische Beschwerde des Rechtsanwaltes ich habe den Namen vergessen an mich ein— gegangen. Die Sache ist alsbald noch an demselben Tage dem Regierungspräsidenten zur weiteren Ermittlung übersandt worden. Ich bin also nicht in der Lage, heute über die Details Auskunft zu geben.

Was den von Herrn Seyda zum Schluß erwähnten Fall eines Mannes, namens Kirtzsonk, anbetrifft, so ist mir von dem Herrn Unterstaatssekretär Holtz soeben mitgeteilt worden, daß er bereits im Jahre 1909 ausdrücklich hier festgestellt hat, daß eine Provokation seitens des Mannes nicht stattgefunden hat. (Heiterkeit bei den Polen und den Sozialdemokraten.)

Abg. Hirsch⸗Berlin (Soz.): Die Aufklärungsarbeit der Regierung bezüglich der Reichsfinanzreform wird keine Aufklärungsarbeit, sondern eine richtige Tendenzarbelt sein. Ich müßte stundenlang reden, wenn ich auf all die Angriffe, die bei der zweiten Lesung gegen uns ge—=

richtet worden sind, antworten sollte. Besonders die Rede des Abg. Gronowski vom Zentrum war ein Sammelsurium von Unwahrheiten,

Präfident von Kröcher ruft den Redner wegen dieses Ausdrucks zur Ordnung. . .

Abg. Hir sch (fortfahrend): Die preußische Ausweisungs politik kompromittiert Preußen vor dem Auslande. Die Beschuldigung gegen meinen Genossen Bebel, daß er einen Beamten der politischen Polizei bestochen hätte, hat diefer schon selbst in einem offenen Briefe zurückgewiesen. Hoffentlich hat ihn der Minister gelesen.

(Schluß in der Dritten Beilage.)

„des Volkes ab; die

, T3.

Dritte Beilage zum Deutschen Neichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

Berlin, Sonnahend, den 25. März

1911.

(Schluß aus der Zweiten Beilage.)

Die Begründung des Moabiter Urteils zeigt, daß unsere Be⸗ hauptungen über das Vorgehen der Polizei vollständig richtig gewesen sind. Der Minister muß von seinen Untergebenen falsch informiert worden sein, sonst hätte er nicht bei der zweiten Lesung alles besttriten können, was die Polizei in Moabit getan hat. (Abg Do ffn ann; Der Herr, Minister schweigt h Abg. Meyer-⸗Tilsit (kons.): Der „Ostpreußische Volksfreund“ ic kenne ihn ganz genau hat lediglich eine nationale Tendenz und . sich nur gegen die Sozialdemokratie. In der Zentralstelle zur , ,, die sich gerade um die Verbreitung des preußischen Volksfreundes“ bemüht, sitzen nicht nur Kon— servative, sondern auch Liberale, wie z. B. Prof. Walther Simon. Ich komme auf, den Fall des konservativen Generalsekretärs Kuntze zurück, scheide dabei die politische Seite aus und behandele nür das rein bürgerliche Verhalten des Herrn Kuntze. Dieser hatte die Schöneberger Bürgerzeitung“ erworben, der siüher? Besitzer machte Konkurs, und in dem Verfahren erging zuungunsten des Herrn Kuntze eine einstweilige Verfügung; in dem weiteren Verfahren, das sich um die Uebertragung des Verlagsrechts der Zeitung auf Herrn Kuntze drehte, hat das Gericht zunächst nicht den eiderstattlichen Aussagen des Herrn Kuntze, sondern denen seines Gegners geglaubt und ein Urteil gefällt, das die bürgerliche Ehre des Herrn Kuntze als zweifelhaft erscheinen lassen konnte. Die Königsberger Harkungsche Zeitung! hat von die sem Urteil gegen Herrn Kuntze Gebrauch gemacht, dieses Urteil ist aber vom Kammergericht aufgehoben worden. Als der Kläger dann die Dauptklage gegen Herrn Kuntze anstrengte, wurde er vom Landgericht abgewiesen, und der Kläger hat dagegen keine Berufung eingelegt. Daher war es durchaus verwerflich, wie die „Königsberger Hartungsche Zeitung“ die bürgerliche Ehre des politischen Gegners angriff. Wir lassen Herrn Kuntze nicht fallen, wir lassen ihn für die konservative Sache weiterarbeiten, die für ihn. Ueberzeugungssache ge— worden ist. Die Bezeichnung der konservativen Partei als Junkerpgrtei ist eine Kränkung und Beleidigung der vielen bürger— lichen Mitglieder der konservativen Partei. Ich bin stolz auf mein bürgerliches Blut von Vater und Mutterseite her. Wir Bürgerlichen gehören nicht zur konservativen Partei, weil wir im Schlepptau der Junker gehen wollen, sondern weil die konservative Partei eine Volkspartei und sogar eine volkstümliche Partei ist. hie adligen Mitglieder sind nicht gewählt, weil sie Adlige sind, sondern, weil, sie das Vertrauen der Wahl haben, und sie arbeiten hier im Parlament und in den Kommissionen mit derselben Pflichttreue mit wie die Bürgerlichen, Ich bestreite die Richtigkeit der Behauptung, daß die konservative Partei semals eine Parole des Zusammengehens mit der Sozialdemokratie ausgegeben habe; meine Partei ist und wird stets fein die ent⸗ shlossenste und entschiedenste Gegnerin und Feindin der Sozial⸗ demokratie. Wir wellen niemals das Recht des einzelnen Sozialdemokraten verkümmern, aber Sie als Partei richten sich so gegen den Staat, daß dieser seine Pflicht ver— säumen würde, wenn er Ihnen als Partei nicht, anders gegenüberstehen wollte als den anderen Parteien. Sie sind als Partei nicht politisch gleichberechtigt. Ihnen muß der Staat anders gegenüberstehen als allen bürgerlichen Parteien. Daß der ‚Abg Gyßling als Vertreter unserer osipreußischen Hauptstadt Königsberg in den Reichstag eingezogen ist, hat, uns Konservatipe alle gefreut, er sollte mit uns zusammen gegen die Sozialdemokratie kämpfen. Wenn in Moabit einzelne Ausschreitungen der Polizei vorgekommen sind, so kann man das den Beamten nicht verübeln, sie sind bis aufs Blut gereit worden. Dem Abg. Lohmann erwidere ich, daß der Bauernbund in seiner Agitation demagogisch ist; er bebauptet, daß die Großgrundbesitzer das Volk Ausbeuten; in seiner Presse ist z. B. gesagt worden, daß 1870 die Offiziere hinter der Front gestanden hätten und daß die Bauernsöhne die Siege erfochten hätten. Solche Auslassungen gegen politische Gegner muß man auf das tiefste bedauern. ;

; Abg. Schiffer Magdeburg (n.): Meine Freunde sind bereit, in dem Kampf unter den bürgerlichen Parteien jede unnütze Scharfe zu vermeiden und sich auf das Sachliche zu beschränken. Ich habe bei der zeiten Lesung auf eine Aeußerung des Abg. von Pappenheim gegen den Minister von Moltke hingewiesen und im Zusammenhang damit von der schlechten Kinderstube gesprochen; ich habe mich inzwischen über⸗ leut daß jene Aeußerung des Herrn von Pappenheim sich nicht gegen den Minister Moltke richtete. Wir leiden unter einer Unmasse von Gesetzen, wir ersticken unter gesetzlichen Bestimmungen, und das gilt he sonders von den Strafgesetzen; ganz veraltete Polizeibestimmungen sind immer noch in SGeltung. Das stumpft das Rechtsgefühl . abz, Strafe gilt nicht mehr als Vergeltung, sondern als ein Zufall. Im Jahre 1909 sind wegen Vergehen gegen Reichsgesetze 500 085 Bestrafungen vorgekommen, so daß also jeder 130. Mensch in Deutschland eine Strafe erlitten hat; dazu kommen noch ebensoviele Bestrafungen wegn Verstößen gegen Landesgesetze und dann nicht weniger als fünf Millionen Polizeistrafen, insgesamt also sechs Millionen Bestrafungen. Man kann nicht von jedem ver— langen, daß er die Unmasse der Polizeiverordnungen kenne, die Polizei⸗ berordnungen sind eine Quelle immerwährenden Aergers, namentlich für die gewerblichen Kreise; die gewerbepolizeilichen Ueberschreitungen sind zahllos. Eine ganze Reihe von Polizeiverordnungen ist vom Kammergericht oder vom Oberverwaltungsgericht wieder aufgehoben werden, in den letzten zehn Jahren 71, die bis 1843 zurück— gehen; auf Grund aller dieser Verordnungen sind also rechts— ungültige Strafen verhängt worden. Auch kommunale Steuer⸗ Audnungen, sind für rechtsungültig erklärt und aufgehoben worden. Das ist nicht geeignet, die Autorität zu stärken. Bei den Steuer⸗ gidnungen ist die Sache um so schlimmer, als es sich oft um große Beträge handelt, wie z. B. bei der Umsatzsteuer und der Wert— zuwachssteuer, deren Beseitigung die Finanzen der Gemeinden in Un— ordnung bringen kann. Alle Polizeiverorduungen und Steuer geidnun gen, sollten, bevor sie erlassen werden, sorgfältig auf ihre Cc eg ul tigkeit geprüft werden. Es handelt sich hier um die zabrung der Staatsautorität und um die Rechtssicherheit. Wir müssen prüfen, wie auf gesetzlichem Wege eine sichere Grundlage für die Rechtsgültigkeit der Verordnung geschaffen werden kann.

Minister des Innern von Dallwitz:

Meine Herren! Es ist richtig, daß die Zahl der Polizei⸗ verordnungen eine außerordentlich große ist. Das hängt mit der Entwicklung der Monarchie zusammen. Es ist aber tunlichst dahin Fürsorge getroffen, daß obsolet gewordene Verordnungen auf⸗ gehoben werden, und es ist ferner angeordnet worden, daß neu zu erlassende Polizeiverordnungen der unteren Instanzen der dorgesetzten Instanz zur Prüfung eingereicht werden, bevor sie erlassen werden. Die Schwierigkeit wird aber nicht ganz überwunden werden können, solange wir eine Nachprüfung der Rechtegültikeit, sei es durch Gerichte, sei es durch die Verwaltungs⸗ gerichte, haben und auch nicht entbehren können. Wie durch eine

Einreichung der Polizeiverordnungen an die höchste Instanz, an die f

derartig mit Geschäften überlastet ist, daß sie kaum in der Lage sein würde, sich dieser neuen Aufgabe zu widmen, Abhilfe geschaffen werden könnte, das vermag ich zur Zeit nicht zu übersehen zumal was ich besonders betonen möchte auch die Ansichten der höchsten Gerichte, sowohl der Zivilgerichte als auch der Verwal— tungegerichte, bisweilen eine Aenderung erfahren. So sind z. B. vom Kammergericht ursprünglich die Polizeiverordnungen, welche das Waffentragen behandeln, für ungültig erklärt worden; in späterer Zeit hat das Kammergericht sie aber für gültig erklärt. So ist ferner z. B. das Wertzuwachsstatut der Gemeinde Schöne⸗ berg ursprünglich vom Oberverwaltungsgericht für gültig, später aber für ungültig erklärt worden. Das sind Schwierigkeiten denen auch durch die allerkompliztertesten Kautelen nicht ganz wird entgegengetreten werden können.

Der Herr Abg. Hirsch hat vorhin wieder einmal die Moabiter Vorgänge erörtert. Ich würde darauf nicht eingehen, da ich mich in der ersten Lesung hierüber ausführlich geäußert habe, wenn nicht in der Zwischenzeit ein Novum eingetreten wäre. Das ist der Umstand, daß das mehrfach erwähnte Urteil des dandgerichts in der Moabiter Strafsache inzwischen zur öffent— lichen Kenntnis und auch zu meiner Kenntnis gelangt ist. Der Herr Abg. Hirsch hat die Gelegenheit wahrgenommen, Ihnen aus dieser Entscheidung den Passus vorzutragen, der sich auf die Mißgriffe der Schutzleute bezieht. Es sind vom Gericht in 20 Fällen Mißgriffe als festgestellt erachtet worden, die Ihnen der Herr Abg. Hirsch vorhin in extenso vorgetragen hat. Er hat aber übersehen, Ihnen das sich anschließende Urteil über das Verhalten der Schutzmannschaft vorzutragen, und ich gestatte mir, dieses Versäumnis nachzuholen. In der Entscheidung heißt es wörtlich:

Die in Betracht kommenden Beamten haben in allen diesen und ähnlichen Fällen Amtsüberschreitungen begangen. Die Mißgriffe setzten aber erst am Abend des 26. September ein. Die Beweis⸗ aufnahme hat ergeben, daß bis dahin nicht das mindeste nach dieser Richtung hin vorgekommen ist, daß die Schutzmannschaft vielmehr ihres Amtes unter den schwierigsten Verhältnissen mit bewundernwerter Ruhe, Besonnenheit und Zurückhaltung ge— waltet hat. (Hört, hört! rechts.)

Es ist nicht zu vergessen, daß die Ansprüche an die Körperkräfie, die Geduld, die Pflichttreue und das Ehrgefühl der Beamten nicht höher gespannt werden konnten, daß die Beamten tagelang die rohesten Beschimpfungen (hört! hört! rechts), Steinwürfe und Schüsse über sich ergehen lassen mußten, daß viele von ihnen, mancher nicht unerheblich, verletzt wurden, und daß sie alle unaus⸗ gesetzt in Lebensgefahr standen. (Hört! hört! rechts.)

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf eine Aeußerung des Herrn Abg. Dr. Liebknecht in der zweiten Lesung zurückkommen. Herr Abg. Liebknecht hat damals behauptet, daß die von mir bei der ersten Lesung gegebene Darstellung der Vorgänge in Moabit im Widerspruch stehe mit den Feststellungen des gerichtlichen Urteils. Ich habe nun mehr das Erkenntnis mir daraufhin näher angesehen und kann Ihnen mitteilen, daß meine Sachdarstellung in allen wesentlichen Punkten lediglich bestätigt wird (Hört, hört! rechts) durch die Feststellungen des Gerichts, die in der mir vorliegenden Abschrift von Seite 25 bis Seite 41 reichen, also ungefähr 16 Spalten in Anspruch nehmen. Uebrigens ist die Zahl der Ausschreitungen, die hier festgestellt worden sind, noch erheblich größer als die von mir vorgetragenen, und die einzelnen Fälle stellen sich nach den gericht lichen Feststellungen als noch viel gefährlicher und viel krasser dar, als ich sie damals in erster Lesung geschildert habe. (Hört hört! rechts) .

Der Herr Abg. Liebknecht hat ferner behauptet, daß die Polizei allein Schuld trage an den Unruhen, daß „ganz geringfügige Unruhen gelegentlich vorgekommen sein mögen, die vorwiegend aber zweifellos durch die Streikbrecher provoziert“ worden sind. Ich muß den Herrn Präsidenten bitten, mir zu gestatten, einen ganz kurzen Passus aus der allgemeinen einleitenden Darstellung des Erkenntnisses vorzutragen.

Allmählich bildeten sich auf den Straßen des Arbeiterviertels sowie auch in der Turmstraße am Tage, meistens aber nach Fabrik⸗ schluß Abends zwischen 7 und 8 Uhr Zusammenrottungen, die bis in die ersten Morgenstunden fortdauerten. Die zusammengeströmten Massen, die nach Hunderten, ja Tausenden von Personen zählten, bestanden aus Streikenden, Arbeitern mit ihren Frauen und Kindern, Neugierigen und halbwüchsigen Burschen und Mädchen, die zu jedem Unfug geneigt sind und ihre Freude an Ruhestörungen finden und sich darin hervortun. Laternen wurden ausgelöscht und zer⸗ trümmert, Angriffe auf einzelne Schutzleute verübt und Sachbeschädigungen aller Art vorgenommen. Die Feuerwehr wurde wiederholt grundlos alarmiert, auf der Straße wurden Feuer an⸗ gezündet. Die Schutzmannschaft war gezwungen, durch Absperrungen der gerade vom Auflauf betroffenen Straßen eine Vergrößerung der Massen zu verhindern. Alle ihre zunächst gütlichen, dann immer energischer wiederholten Aufforderungen zum Auseinandergehen wurden von der Menge durch Heulen, Johlen und Schreien beant⸗ wortet. Die Schutzleute wurden mit Aeußerungen, wie „Blut⸗ hunde, Spitzbuben, Halunken, Lausejungen, Ochsen, Dickköpfe, Bauernjungen

hier kommt ein Ausdruck, den ich nicht wiedergeben kann

schießt die Blauen tot, besorgt den Bluthunden den Kitt“ be⸗ schimZpft. Aus der Menge, von Schanklokalen, aus den Fenstern und Balkonen wurden sie mit Steinen, Kohlen, Tellern und Flaschen derart beworfen, daß die Straße mit Scherben wie übersät und für die Berittenen unzugänglich war. Auch Schüsse wurden aus den Häusern abgegeben. Die Schutzmannschaft er⸗ hielt den Befehl, die Schüsse zu erwidern, die Beteiligten von Fenstern und Balkonen durch Androhung weiterer Schüsse zurückjutrelben und gegen die Menge mit Waffengewalt vorzugehen.

Zentralinstanz, die esnerseittz auch nicht unfehlbar, andererseits aber

Sobald dies geschah, zerstlebte die Masse und flüchtete in die

Häuser, welche sie hinter sich verschloß, sodaß die Straße plötzlich

menschenleer war. Dann aber, wenn die Schutzmannschaft sich

entfernt hatte, brach sie wieder hervor und betätigte sich in derselben

Weise. Diese Auftritte wiederholten sich immer von neuem bis in

die frühen Morgenstunden, in denen die Tumultuanten sich von selbst

zerstreufen. Da die Ausschreitungen der erwähnten Art tagelang fortdauerten, entschloß sich die Polizei am 27. September 1910 zu einem besonders energischen Einschreiten. Hierdurch wurde der

Tumult im wesentlichen gebrochen.

Meine Herren, das sind die gerichtlichen Feststellungen, denen gegen⸗ über der Herr Abg. Liebknecht, der sich dauernd auf dieses Urteil und seine Feststellungen in der zweiten Lesung berufen hat, behauptet hat, daß die Polizei allein die Schuld trage an den Unruhen“; daß ja geringfügige Unordnungen gelegentlich vor⸗ gekommen sein mögen, die vorwiegend aber zweifellos durch die Streikbrecher provoziert worden seien.

Meine Herren, es ist dann vorhin noch von dem Herrn Abg. Hirsch gesagt worden, daß die Polizei die Aufklärung des Falles Her⸗ mann nicht herbeiführen könne oder wolle. (Sehr richtig! bei den ö . . . daß die Polizei zur

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, , ; as getan hat, was ihre Pflicht und Schuldig⸗

Hermann ist am 27. September, Abends, in der Wielefstraße, nahe der Beusselstraße, verletzt worden, in sein Wohnhaus Wielef. straße 31 gegangen und von dort von 2 Privatpersonen zu der Unfall⸗ station in der Erasmusstraße gebracht worden. Von der Unfallstation aus ist er bereits um 8 Uhr nach dem Krankenhaus Moabit, Turmstraße, eingeliefert worden. Es sind amtliche Verhandlungen am 28. September zur Aufklärung dieses Vorfalls eingeleitet worden. Am 3. Oktober ist er im Krankenhaus gestorben. Am 4. Oktober sind die vorgeschriebenen Anzeigen über den erfolgten Tod von dem Kranken⸗ haus an die Staatsanwaltschaft und das Polizeipräsidium, Abteilung IV, abgesandt worden.

ö Die Staatsanwaltschaft hat sofort durch das Gericht die Leichen⸗ öffnung, die Abteilung IV sofort die Ermittlung zur Aufklärung des Sachverhalts durch das Kommando vornehmen lassen.

Das Obduktionsprotokoll ist am 11. Oktober von der Staats⸗ anwaltschaft an Abteilung IV gegangen und mit den inzwischen beendeten Ermittlungen am 21. Oktober an die Staatz anwaltschaft zurückgegeben.

Nach Bekanntwerden der Angaben der Belastungszeugen in dem Strafkammerprozeß Anfang Dezember sind sofort weitere Ermittlungen aufgenommen. Nach den Angaben der Zeugen sollte sich der Vorfall gegen 9 Uhr Abends auf menschenleerer Straße zugetragen haben. Die Feststellungen haben ergeben, daß diese Angaben unzutreffend sein mußten; denn Hermann war bereits um 19 Uhr von der Unfallstation Erasmusstraße laut Kontrollbuch der Unfallstation nach dem Kranken⸗ haus Moabit gebracht worden.

Diese Ermittlungen sind der Staatsanwaltschaft unterm 13. Dezember zugegangen mit dem Antrage, alle aus den Kom⸗ man dolisten festgestellten und mit Namen angeführten, in Frage kommenden Beamten alsbald vor die Strafkammer als Zeugen laden zu lassen. Die Ladung ist nicht erfolgt. Aus welchen Gründen entzieht sich meiner Kenntnis.

Am 20. Februar sind die Belastungszeugen auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft vom 24. Januar vom Amtegericht verhört worden; weitere Zeugen unmittelbar von der Staatsanwaltschaft am 1. und 4. März.

. Am J. März sind die Akten wieder bei dem Polizeipräsidium eingegangen und mit den abgeschlossenen weiteren Ermittlungen am 16. März dorthin zurückgesandt.

Desgleichen sind Ermittlungen vom Polizeipräsidium in den anderen im Urteil festgestellten Fällen veranlaßt worden und auch an die Staatsanwaltschaft abgegeben worden. Ich darf mich der Hoffnung hingeben, daß die Aufklärung dieser Vorfälle durch die Staatsanwalt schaft demnächst gelingen wird.

In dem Fall Hermann liegt mithin ein bisher unaufgeklärter Widerspruch zwischen den Zeugenaussagen, auf die sich die Feststellungen des Gerichts beziehen, und den Angaben bezw. Eintragungen auf der Unfallstation vor. (Zurufe von den Sozial⸗ demokraten: Und die Schutzleute?) Nach den Zeugenaussagen soll er nach 9 Uhr auf einer menschenleeren Straße verletzt worden sein; dagegen ist er nach den Eintragungen in das Krankenbuch der Unfall⸗ station bereits um 8! Uhr nach erfolgter Verbindung nach dem Kranken⸗ hause Moabit weggeschafft worden, sodaß er danach bereits bald nach 7 Uhr verletzt sein mußte, zu einer Zeit, als tatsächlich der offene Aufruhr in der Gegend tobte und die Polizei gezwungen war, wiederholt Angriffe mit blankem Säbel auf die Menge zu tun (Zurufe von Sozialdemokraten: Im Urteil steht das Gegenteil! Rufe rechts: Ruhe!) Nach den Feststellungen des Gerichtsurteils sind um 7 Uhr Abends Ausschreitungen in den Straßen begangen worden, die die eben von mir erwähnten Konsequenzen gehabt haben. Meine Herren, ich will nun hoffen, daß es der Staats⸗ anwaltschaft und dem Gericht gelingen wird, diesen Widerspruch und den ganzen Vorfall aufzuklären. Mag dem aber sein, wie ihm wolle, das steht fest, daß das traurige Schicksal des Herrn Hermann allseitige Teilnahme und lebhaftes Bedauern mit Recht hervorgerufen hat. Andererseits ist dieser Vorfall aber wiederum ein erneuter Beleg dafür, welche schwere Verantwortung alle diejenigen auf sich laden die bei solchen Gelegenheiten an Tumulten mitwirken, sie anregen, und die durch Wort und Schrift den Geist des Aufruhrs und der Widersetzlichkeit fördern und nähren. (Bravo! rechts. Unruhe. Zuruf des Abg. Hoffmann: Und die Mörder?)

Abg. Nissen (Däne): Gegenüber dem Minister muß ich meine Ausführungen in zweiter Lesung Über die Kreissparkasse in Hadersleben voll . erhalten. Das Landgericht in Flensburg und das Ober⸗

landeßgericht in Kiel haben sich auf den Standpunkt der Gemei Schottburg gestellt. Die Revision vor dem Reichsgericht 9

selbe Ergebnis haben. Die Gemeindevertretung von Schottb ihr l erklärt, daß man gar nicht an den Verkauf 9 i 9