1911 / 125 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 29 May 1911 18:00:01 GMT) scan diff

daß wir uns auf diesem Gebiete mit dem weitaus größten Teile dieses hohen Hauses geeinigt haben.

Wenn ich nun das Schlußergebnis ziehen soll, so kann ich nur wiederholen: wenn auf dem Gebiete der Organisation, des Instanzenzuges, der Verwaltung im einzelnen nicht alles das erreicht worden ist, was ich und die verbündeten Regierungen erstrebt haben, so ist und darin liegt für uns die Rechtfertigung aller der Kon⸗ zessionen, die wir im Laufe der Verhandlungen gemacht haben auf dem Gebiete der sozialpolitischen Fürsorge ein Beträchtliches erreicht worden. Die Annahme dieses Gesetzentwurfs wird einen erheblichen Fortschritt bedeuten, und deshalb freuen wir uns, daß es uns gelungen ist, uns mit einer großen Mehrheit dieses Hauses über den Entwurf zu einigen.

Damit bin ich am Schlusse. Ich will nicht eingehen auf die Ausführungen, die der Herr Abg. Mugdan am vorigen Sonnabend über das englische Gesetz gemacht hat. Dieses englische Gesetz ist noch garnicht verabschiedet. Was wir davon wissen, beruht auf Zeitungsnachrichten. Ob dieses Gesetz so verabschiedet wird, wie es uns bekannt gegeben ist, ist im höchsten Maße zweifelhaft. Ich meine, wir sollten aus dem Umstand, daß die Engländer jetzt ver⸗ suchen, Wege zu beschreiten, die wir seit einem Menschenalter gegangen sind, nicht den Anlaß nehmen, nun über die Grenzen zu sehen und zu sagen: das wird nun sicher besser. Wir haben gerade in diesem Punkte allen Anlaß, stolz zu sein auf das, was unser eigenes Vater⸗ land geschaffen hat und was wir in diesem Augenblick zu schaffen im Begriffe sind. (Sehr richtig! rechts, in der Mitte und bei den Nationalliberalen.)

Meine Herren, ich habe dann auch noch allen denen zu danken, die an diesem Gesetz mitgearbeitet haben und zu seiner Verabschie⸗ dung mit beitragen werden. Die Arbeit, die hier geleistet ist, hat eben doch bewlesen, daß der Drang zum Schaffen stärker ist, als alles, was sonst den Menschen trennt, und daß das gemeinschaftliche Hin⸗ arbeiten auf ein großes Ziel imstande ist, mehr Gegensätze zu über⸗ brücken, als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Ich hoffe, wir alle werden aus dieser Kampagne mit dem Bewußtsein herausgehen, daß es uns gelungen ist, über manche Schwierigkeiten und manche Differenzen hinweg ein großes und gutes Stück vaterländischer Arbeit zu leisten.

Und, meine Herren, wir werden noch eins mitnehmen, was mich persönlich mit Freude erfüllt, nämlich die Erinnerung daran, daß die Gegner dieses Entwurfs ihn zwar bekämpft haben, aber von wenigen Ausnahmen abgesehen, in ritterlichen Formen, und daß uns in dem Bestreben, den Entwurf zur Verabschiedung zu bringen, Niemand gehindert hat. (Lebhafter Beifall rechts, in der Mitte und bei den Nationalliberalen.)

Abg. Korfanty (Pole): Wir stehen am Abschluß eines großen Werkes, aber nicht ohne Enttäuschung. Wir haben versucht, in das Gesetz Bestimmungen hineinzubringen, die es uns ermöglicht hätten, dem Gesetz unsere Zustimmung zu geben. Unsere Wünsche hätten keine erheblichen Summen erfordert, fanden aber trotzdem bei den Mehrheitsparteien keine Berücksichtigung. Um so schwieriger ist unsere Stellung, und um so gen issen zafter müssen wir alle Vorteile und Nachteile für die Arbeiter abwägen. Wir stehen nicht an, an— zuerkennen, daß in dem neuen Gesetze eine ganze Reihe von Vor— schriften enthalten sind, die ohne dein einen erheblichen Fort⸗ schritt bedeuten und Nutzen und Vorteil für die Arbeiter bringen. Sehr bedauerlich ist u. a.ůů daß nicht die Wählbarkeit der Berg— invaliden zum Knappschaftskassenvorstand ohne jede Einschränkung zu⸗— gelassen worden ist. Als einen bemerkenswerten Fortschritt müssen wir die Gewährung der Kinderzuschußrente an die Invaliden an— erkennen. Die Wege der Sozialdemokraten können wir nicht gehen; wenn es zutrifft, daß die Erfüllung ihrer Forderungen 2 Milliarden kosten würde, so werden die Sozialdemokraten doch selbst nicht an die Möglichkeit der Erfüllung glauben. Aber auch uns machen die Passiva der Vorlage die endgültige Entscheidung über das Ganze sehr schwer. Bezüglich der Krankenkassen pflichten wir durchaus dem Abg. Mugdan bei, daß es vollständig genügt hätte, in der Dienstordnung vorzuschreiben, daß bei der Anstellung der Beamten eine Mehrheit in jeder der beiden Gruppen des Vorstandes vor handen sein müsse. Statt dessen hat man aber den Arbeitern einen großen Teil ihrer Verwaltungsbefugnisse genommen, und ganz be— sonders in der Frage der Landkrankenkassen hat das Zentrum den Konservativen Konzessionen gemacht, die es nicht hätte machen dürfen; es hat die Interessen der katholischen Landarbeiter preisgegeben. Mutterschutz und Säuglingsschutz sind bedauerlicherweise durch den schroffen Widerspruch der Regierung nur ganz unvollkommen aus— gestaltet. Die beschlossene Bureaukratisierung ist gerade meinen politischen Freunden besonders unangenehm. Rechnen wir die Vor⸗ teile gegen die Nachteile auf, so bleibt für uns immerhin ein Rest von Nachteilen übrig, ganz besonders bezüglich der Landkrankenkassen. Hätten wir die entscheidende Stimme, dann würden wir ohne Zögern gegen das Gesetz stimmen und unsere Hoffnung auf den nächsten Reichstag setzen. Wie die Dinge liegen, werden wir uns der Stimme enthalten.

Abg. Becker⸗Arnsberg (Zentr.): Das Gesetz kann als Kompromiß produkt nicht alle Wünsche befriedigen. Die Versicherungskommission hat 117 Sitzungen abgehalten; das Plenum wäre damit gar nicht ausgekommen, wenn nicht ein Kompromiß vorher zu stande gekommen wäre. Warum hat das Zentrum mit den Nationalliberalen und den Konservativen den Kompromiß gemacht, warum nicht mit der Linken? Die Antwort hat der Abg. Schickert gestern gegeben. Die Sozialdemokraten haben so sehr oft erklärt, sie hätten sich eine sehr große Mäßigung auferlegt, sie verlangten nur das Minimum des Notwendigen. Für diese 2 Milliarden hätte sich niemals eine Mehrheit und niemals die Zustimmung der verbündeten Regierungen ergeben. Mit den Herren vom Freisinn ging es auch nicht an, zu kompromittieren, denn es zeigte sich schon bei 5 257 (Gründung neuer Betriebskrankenkassen), daß das ein Ding der Unmöglichkeit war, denn die verbündeten Regierungen erklärten, sie würden das Gesetz scheitern lassen, wenn die Betriebskrankenkassen ganz verschwänden. Da erklärte der Abg Dr. Mugdan, das Geseß zu machen sei nicht seine oder seiner Freunde Aufgabe, sondern Auf⸗

abe des schwarzblauen Blocks. Da blieb uns, wollten wir über⸗— anpt etwas zustande bringen, gar nichts übrig, als die Ver— ständigung mit Nationalliberalen und Konservativen. Hätten sich die Freisinnigen und Sozialdemokraten von Anfang an auf das Erreich⸗ bare beschränkt, so wären wir nicht dazu gezwungen gewesen; also sind Sie (links) mit Ihrer Negationspolitik schuld an dieser Situation, in der wir den Parteien, die sozialpolitisch nicht so weit gehen wollen wie wir, Konzessionen machen mußten. Zahlreiche Aeußerungen Freisinniger stehen uns zur Seite, wonach ohne das Zentrum überhaupt keine Sozialreform möglich war, während ander⸗ seits zahlreiche Stimmen aus dem sozialdemokratischen Lager, so Schippel, die Sozialdemokratie für sozialpolitisch unfruchtbar erklären. Die „Frankfurter Zeitung! hat die Haltung der Fortschrittlichen Volkspartei in der Kommission verurteilt. Es ist auf die englische sozialpolitische Gesetzgebung hingewiesen. Die englische Kranken⸗ versicherung ist lange nicht so gut wie die deutsche. Der Arbeiter erhält dort kein Krankengeld, keine Unfallrente, keine Javalidenrente. Bei uns erhält jeder Arbeiter seine Unfall rente, gleichgültig, ob der Unfall verschuldet ist oder nicht. Der Abg. Mugdan tadelte die vorgeschlagene Form der Organisation der Krankenkassen. In der Kommission haben aber die Herren von der Fortschrittlichen Volkepartei eine ganz andere Haltung eingenommen, sie haben die gesonderte Abstimmung von Arbeit- gebern und Arbeitnehmern über die Anstellung der Beamten gebilligt und

den betreffenden Paragraphen in seiner Gesamtheit wegen eines anderen Zusatzes abgelehnt. Sie (links; werden es nicht vermeiden können, daß Sie in bezug auf Ihre Haltung zu diesem Gesetz bei den Wahlen mit den Sozialdemokraten in einen Topf geworfen werden. Auf eine Halbierung der Beitragspflicht legen die christlichen Arbeiter weniger Gewicht als auf die Steigerung des Effekts der Versicherung, auf die Heraufschraubung der Leistungen. Ich vertraue unseren Arbeitern, daß sie die Leistungen der Krankenkassen auch in Zukunft möglichst steigern werden. Der Abg. Mugdan ist der eigentliche Vater des Halbierungsgedankens. Das ist mit ein Grund, weshalb die Regierung zu diesem Vorschlage gekommen ist. Bei der Halbierung der Beitragspflicht wäre es für die Arbeiter gleich, ob die Kasse groß oder klein ist., die Arbeiter bedanken sich für solches Danaergeschenk. Das Wahlrecht des Kreistags hat der Abg. Herold sehr scharf bekämpft. Aber die Schaffung des jetzigen Zustandes ist immer noch besser als der bisherige. Von einer Entrechtung der ländlichen Arbeiter kann nicht gesprochen werden, weil sie bisher kein Recht hatten. Man darf nur sagen, sie haben nicht dasselbe Recht, wie die anderen Krankenkassen. Glauben Sie wirklich, daß der nächste Reichstag stark genug wäre, der Regierung eine bessere Regelung abzuzwingen? Die Landkrankenkassen sind immerhin noch besser als die Gemeinde⸗ versicherung, die der preußische Landtag schaffen würde. Die Regierung hätte wahrscheinlich nur die Krankenversicherung aus⸗ gebaut und an den anderen Versicherungsgesetzen nur kleine Verände⸗ rungen vorgenommen. Ich scheue eine Auseinandersetzung mit den Sozlaldemokraten über unsere Haltung in der w nicht. Ich lade den Abg. Fischer ein, in einer bon mir einzuberufenden Arbeiter⸗ versammlung in Essen sich mit mir auseinanderzusetzen und dort die⸗ selbe Rede zu halten wie heute; er wird dann sehen, wie die Arbeiter ur⸗ teilen werden. Das jetzige Wahlverfahren schließt gegenüber dem bisherigen eine Erweiterung der Wahlrechte der Versicherten in sich. Auch die Schaffung der Instanzen bedeutet gegen die bisherigen einen Fort— schritt. Das Verfahren ist viel klarer und durchsichtiger als das be⸗ stehende. Die Herren von der Fortschrittlichen Volkspartei haben gar nichts zum Ausfall des Gesetzes getan. Die Vorschläge, die sie gemacht haben, kann man an den Fingern herzählen. Selbst in der Arztfrage haben sie versagt. Die Vorschläge der verbündeten Regierungen und der anderen Parteien, die sich wenigsten die Mühe gegeben haben, die Arztfrage einer Lösung entgegenzuführen, haben sie in Grund und Boden kritisiert. Selbst die Aerzte wollen ja nur die beschränkte freie Arztwahl, mit der man schon des⸗ wegen nicht operieren kann, weil jeder sich etwas anderes darunter vorstellt. Als wir auch einen dahingehenden Antrag stellten, erklärte der Wortführer der Fortschrittlichen Volkspartei, dieser Antrag sei selbstverständlich auch Unsinn, wenn er auch den Generalunsinn der Regierungsvorlage etwas abmildere. Ich nenne die gefundene ö der Arztfrage keine ideale, aber es hat sich keine Mehrheit für eine andere Lösung ergeben. Wenn man so wenig positive Arbeit in der Kommission geleistet hat, soll man nicht anderen Vorwürfe machen, daß sie nicht etwas besseres geschaffen haben. Wir haben uns alle erdenkliche Mühe gegeben, um aus, den Wirrnissen der Beratungen herguszukommen und nicht nur kritisiert, wie die augenblicklichen Busenfreunde der Sozial demokratie. Der Abg. Fischer hat über sehr vieles gesprochen, was gar nicht zur Reichsversicherungsordnung gehört. Wegen der angeblichen Mißstände in der Essener Krankenkasse ist ein offener Brief in der „Essener Arbeiterzeitung“ vom 13. Mai veröffent⸗ licht, der an den Leiter dieser Kasse, Verwaltungsdirektor Meyer, den Oberbürgermeister von Essen und meine Wenigkeit gerichtet ist. Da wird die Behauptung aufgestellt von der übermäßigen Bezahlung des Direktors Meyer, über die Rücklagen 2c. Ich habe bereits in der Kom⸗ mission erklärt, daß diese Behauptungen unwahr sind. Mir ist einmal von meinem Freunde Behrens zu Ohren gekommen, daß in einer Krankenkasse im Kohlenrevier der Vorsitzende ein sehr hohes Gehalt emp— fangen sollte. Einige Zeit darnach kamen die Beamten dieser Kasse, die nicht sozialdemokratisch sind, hierher, ich sagte ihnen, um ihnen auf den Zahn zu fühlen, daß in ihrer Kasse geradezu fürstliche Gehälter gezahlt werden. Da gaben sie eine Aufstellung, in welcher der Direktor Meyer mit einem Gehalt von 6 bis 9000 S figurierte. Ich kann das nicht nachprüfen, wahrscheinlich sind die Sozialdemokraten besser orientiert, weil es nämlich im Vorstand der Essener Krankenkasse gar keinen christlich organisierten Arbeiter gibt, wohl aber im Vorstand einen Sozialdemokraten Kunze. Dieser Sszialdemokrat hat mehrmals die Essener Krankenkasse gegen die Angriffe der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung in Essen verteidigt. Wir haben dazu keine Veranlassung, weil keiner unserer Organisierten in der Kasse ist. Die Sozialdemokraten können sich also drehen und wenden, wie sie wollen, die Kasse bleibt an ihren Rockschößen hängen. Alle Fälle, die Sie vorgebracht haben, habe ich als unzutreffend zurückweisen können. In Essen sagt man davon auch nichts, weil einem dort gleich auf die Finger geklopft wird, aber draußen im Lande sagt man es. In der Frage der Herabsetzung der Altersgrenze hätten die Sozialdemokraten alle Ursache, vorsichtiz zu sein. Auf dem sozial⸗ demokratischen Parteitage zu Jena lag ein Antrag vor auf Herabsetzung der Altersgrenze vom 70. aufs 65. Lebensjahr. Diesen Antrag bekämpfte Molkenbuhr in einer Rede, die ich nach dem im Vorwärts“ erschienenen Protokoll zitiere. Er sagte, die Forderung ist populär, sieht man sie aber näher an, so wird man zu der Ueberzeugung kommen, daß es keine unglücklichere Forderung geben kann als gerade diese. Mit ihrer Verwirklichung würde dem Industriearbeiter der denkbar schlechteste Dienst erwiesen. Ist der Arbeiter arbeitsunfähig, so erhält er In— validenrente, ist er aber noch arbeitsfähig, so wird ihm die Rente durch Kürzung des Arbeitslohns wieder abgejagt. Die Landarbeiter haben bekanntlich kein Koalitionsrecht, desbalb würde die Erfüllung der Forderung auf eine Unterstützung der Grundbesitzer hinauslaufen. Der Abg. Molkenbuhr und seine Freunde unterstützen also jetzt die Grundbesitzer. Der Zuwachs an Altersrente würde so hoch steigen, daß die Beiträge erhöht werden müßten. Die Herabsetzung der Alters grenze wäre also nichts weiter als eine Belastung der Industriearbeiter zugunsten der Großgrundbesitzer. Würden wir etwas an dem Gesetz ändern können, so mußten wir dafür sorgen, daß die Leute höhere In⸗ validenrente erhalten. Dies alles sagte der Abg. Molkenbuhr. Ganz meiner Meinung. Ich habe erklärt, wir sind Gegner der Herabsetzung. Ich bin nicht -der Meinung, daß die Arbeiter geschädigt würden, aber es gibt wichtigere Forderungen für die Arbeiterschaft. Was haben die Sozialdemokraten aus diesen meinen Aeußerungen in der Piresse gemacht? Im „Westfälischen Volksfreund“! heißt es unter der Ueberschrift: Kein Geld für die Veteranen der Arbeit: Die Herabsetzung wäre geglückt, wenn sie nicht der Arbeiterführer Becker mit seinen Freunden zunichte gemacht hätte. Wir haben das getan, was der Abg. Molkenbuhr auf dem Parteitag in Jena ver⸗ langte, denn dieser lehnte den erwähnten Antrag ab. Die Leipziger Volkszeitung“ stellt am 20. Mai fest, daß das Zentrum eine nichts⸗ würdige Komödie“ gespielt habe, die die Empörung des Volkes werde aufflammen lassen; ich könnte angesichts des Parteitages und des Beschlusses von Jena diese Worte ganz direkt auf die sozialdemokra—⸗ tische Partei anwenden. Kann man denn nach dieser Erfahrung überhaupt noch wissen, wie Sie morgen in einer bestimmten Frage stimmen werden? Heute rin in die gartesteln. morgen raus aus den Kartoffeln! Der Renner schließt mit der Beschuldigung der Linken, daß sie schuld daran sei, daß nicht mehr für die arbeitende Be⸗ völkerung erreicht worden sei.

Abg. Dr. Mug dan lfortschr. Volksp. ): Es ist doch ein altes gutes Wort, daß viele das Splitterchen im Auge des Nächsten sehen, den Balken im eigenen aber nicht. Wir haben nur wenig Anträge gestellt; die Anträge des Zentrums in der Kom. mission bilden einen papierenen Berg. Unsere Anträge wurden vom Zentrum einfach sofort zerrissen; es war eine ganz unfrucht⸗ bare Arbeit, für unsere Anträge einzutreten, da das Zentrum schon in einem sebr zarten Verhältnis zu den Konservativen stand. Gewiß haben wir in der ersten Lesung eine Reihe von Anträgen angenommen, die das Zentrum eingebracht hat. Aber diese Anträge gab das Zentrum alle ohne Zaudenn in der zweiten Lesung preis, und da ist es wirklich kühn, wenn der Abg. Becker sich jetzt in

dieser Pose uns ge

den Sozialdemokraten sprach; er sehe sich doch Fraktionsgenossen um, wie viele davon durch die Hilfe der Sozial. demokraten in das Haus gekommen sind! Das Zentrum hat tat sichlich bald seine Bündnisse mit, den Sozialdemokraten, bald mit den Konservativen geschlossen. Der Abg. Becker hat vieles aus der Kom. mission erzählt; mir scheint, seine Augen befinden sich nicht in gutem Zustande, er muß sich ärztlich behandeln lassen. Der Abg. Becker übersieht, wenn er liest, immer gerade das, was ihm nicht paßt, waz für die Zentrumspartei ungngenehm ist; da er das doch nicht mit Absicht tut, muß er wohl an der Krankheit leiden, die wir als Verengerung, des Gesichtsfeldes bezeichnen. Wir allein sind für die Vorschläge des Entwurfs, betreffend die Betriebs— krankenkassen von vornherein eingetreten; er übersieht, daß wir für Betriebskrankenkassen mit 20 Mitgliedern, die von einer anderen Mehrheit angenommen waren, nicht stimmen konnten. Tat— sächlich hat denn doch auch die Regierung das Gesetz mit der klerikal— konservativen Mehrheit gemacht. Die Mehrheit für ein wirklich sozialpolitisches Gesetz war immer vorhanden, aber das Zentrum wollte das Gesetz mit den Konservativen machen, und darum mußten alle Beschlüsse erster Lesung wieder über Bord geworfen werden. Es ist ug daß die Fortschrittliche Volkspartei in der Kommission gegen die Herabsetzung der Altersgrenze gestimmt hat, aber nur, weil man nicht zu einer grenzenlosen Erhöhung der Einkommensteuer kommen dürfe. Es liegt ja ein Antrag Schultz vor, daß 1915 die Vorschristen über die Alters grenze wieder vorgelegt werden sollen. Ach, meine Herren vom Zentrum, das ist ein Antrag, von dem Sie wissen, daß er nur auf dem Papier steht und niemand wehe tut. Man will nur für sich in Anspruch nehmen, überhaupt etwas getan zu haben. Dem Staatssekretär er= widere ich, daß ich vor einer Ueberschätzung des englischen Kranken kassengesetzes geradezu gewarnt habe. Bei dem Abg. Becker mußte man an das alte Wort denken; wer sich allzusehr verteidigt, klagt sich an. Es ist ja offenbar, daß dieses Gesetz einzig und allein nur zu= stande gekommen ist nach dem Wunsche der Konservativen. Das Zentrum hat nur diesen nachgegeben. Selbst die Freunde des Ge setzes haben es nicht gewagt, es als etwas Befriedigendes zu be— zeichnen. Man könnte nur von ihm sagen, daß einige Verbesserungen zustande kommen, denen viele Verschlechterungen 6 , .

Abg. Mol ken bubr (Soz.) beantragt um 5 Ühr die Vertagung und bezweifelt vor der Abstimmung die Beschlußfähigkeit des Hauses.

Vizepräsident Schultz: Das Bureau ist zweifelhaft, ob das Haus beschlußfähig ist oder nicht, es muß der Namensaufruf erfolgen.

Der Namensaufruf ergibt die Anwesenheit von 226 Mit— gliedern; das Haus ist also beschlußfähig. Der Vertagungs antrag wird nunmehr gegen die Stimmen der Sozialdemo— kraten abgelehnt und die Generaldiskussion fortgesetzt.

Abg. Becker⸗Arnsberg (Zentr.) hält es für angezeigt, seiner vorigen Rede nr einige Bemerkungen hinzuzufügen. (Große Unruhe.) Vize⸗ präsident Schulz bittet um Ruhe, da der Redner nur kurze Zeit zu reden gedenke.) Der Redner beschäftigt sich dann mit der Haltung der Sozialdemokratie zu der Herabsetzung der Altersgrenze. Die Invaliden— Bereisungskommission und die verschlechterte Anwendung des In— validisierungsparagraphen lägen vor Annahme der Jenger Reso— lutionen. Der Einwand der Sozialdemokraten, sie hätten ihre Meinung über die Herabsetzung der Altersgrenze wegen jener Ver— schlechterung geändert, sei also hinfällig.

Abg. Molken buhr (Soz.): Der Abg. Becker hätte es nicht nötig gehabt, das Protokoll von Jena auszugraben. Er hätte das Zitat auch in den Reichstagsverhandlungen finden können, er hat aber nicht mitgeteilt, daß auf dem Leipziger Parteitag eine Resolution zur Reichsversicherungsordnung angenommen worden ist, wonach die Alters rente entsprechend der Invalidenrente zu erhöhen und die Ver sichezung auf die Vollendung des 65. Lebensjahres zu erstrecken sei Auf dem Parteitage 1905 konnte ich noch annehmen, daß wirklich alle Arbeitsunfähigen zu einer Invalidenrente kommen werden, denn die Zahlen der bewilligten Renten stiegen fortdauernd. Erst 190 war, wie sich hinterher herausstellte, der Wendepunkt, die Renten— quetscherei, eingetreten. Im übrigen haben wir Anträge genug gestellt, die das Zentrum früher selbst vertreten hatte. Der Abg. Becker setzte auseinander, wie das Zentrum dazu gekommen sei, mit der Rechten das Gesetz zu machen. Ich möchte nur eins konstatieren: Solange ich im Reichstag bin, ist es niemals vorgekommen, daß eine Kommission unter Ausschluß einer Anzahl von Parteien eine Sonder— kommission bildete, deren Anträge dann, ohne daß sie in der Hqupt kommission begründet wurden, angenommen wurden. Man hat der Erfüllbarkeit unserer Anträge die hohen Kosten entgegengehalten. Es ging ein Artikel durch die Zentrumspresse: [00 Millionen Mehrbelastung. Dieser war aus der Denkschrift entnommen, die Re verbändeten Regierungen der Kommission mitgeteilt haben. baben natürlich darauf geantwortet, wenn unsere Anträge wirklich 700 Millionen kosten, so werden diese doch ausgegeben für Witwen und Frauen, bei denen es sich um die Erhaltung des Lebens handelt für Leute, die noch nicht gegen Krankheit vn sind, zur Ver sicherung des vollen Verdienstes bei der Unfallversicherung ufw. Ich

habe auch verschiedene Beispiele dafür, daß die Rechnungen, die die

Regierungen aufmachen, nicht stimmen, daß man gelinde Zweifel in sie setzen muß. Die Motive schweigen sich auch vollkommen darüber aus, was aus den 10 Millionen wird, die die Versicherungs anstalten durch das Einführungsgesetz ersparen. Ich hatte gedacht, daß man davon wenigstens von dornherein Witwengeld geben würde. Tie verbündeten Regierungen haben allerdings im Einführungsgeseß darüber eine Lücke gelassen. Die Kommission aber schrieb ausdrücklich die Bestimmung hinein, daß erst von 1912 ab das Witwengeld gewährt werden soll, und daß die 10 Millionen, von denen 40 000 Witwen bis dahin die 110 6 hätten erhalten können, den Anstalten verbleiben sollen. Nun behauptet der Abg. Becker das Zentrum habe mit den Konservativen Kompromisse schließen müssen. Ich meine, wir wären für eine ganze Reihe der Zentrumsforderungen zu haben gewesen. Die Krankenversicherung der Landarbeiter hätte das Zentrum schon bei Schaffung des Krankenversicherungsgesetzes 1383 haben können. Damals lehnte es ab, und wenn es jetzt eine alte Sünde gut macht, dann verlangt es, daß wir ihm dies als ein großes Verdienst anrechnen sollen. So hat es das Zentrum fertig gebracht, eine große Anzahl von Ver— schlechterungen in das Gesetz hineinzubringen. Hätte es sich das Zentrum gefallen lassen, daß die Regierung etwa forderte, die dem Zentrum angehörigen Vertreter müßten aus den Krankenkassen heraus, da sie Mißbrauch ' getrleben hätten, wenn die Regierung auch nicht die Spur eines Beweises beibringen konnte? Den Sozialdemokraten gegenüber aber ist offenbar alles erlaubt, und auch das Zentrum geht gleichmütig darüber hinweg, daß für den angeblichen sozial⸗ demokratischen Mißbrauch auch nicht die Spur eines Beweises er bracht ist. Dieser Mißbrauch sollte aber festgestellt werden, und darum lautete die Hauptfrage bei dem damaligen Rund⸗ schreiben nicht, ob Mißbrauch überhaupt getrieben sei, sondern ch sozialdemokratischer Mißbrauch getrieben worden sei. Und tre des winzigen Materials, das man zusammenbekam, ging 2 dann los mit der‘ Entrechtung der Ortskrankenkassen. Man wi 006 angebliche sozialdemokratische Agitatoren aus den Krankenkassen, borständen heraus und 5h00 Militdranwärter hinein, haben. Das Hesetz foll doch ein Gesetz für Arbeiter sein; aber es ist so undur ch, sichtig, so untlar, wie kaum je ein Gesetz emwesen ist. Ist einer hier im' Hause, der weiß, daß die Beitraͤge der Arbeiter für die Invaliden, versicherung bei der Hinterbliebenenrente nicht rechnen sollen? S glaube nicht.

Damit schließt die Generaldiskussion. Das Haus ver tagt sich.

Schluß 6is Uhr. Nächste Sitzung Montag 1 Uhr (Reichsversicherungsordnung und Einführungsgesetz deen Handelsvertrag mit Schweden, Handelsabkommen mit Japan, Antrag auf Vertagung des Reichstags).

ieser Po enüber gefäll. Ich verstehe auch die Kühnhet. nicht, mit der der Abg. Becker von unserer Gise sn , 4

unter seinen

Preuszischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 85. Sitzung vom 27. Mai 1911, Vormittags 11 Uhr.

(Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Ueber den Beginn der Sitzung ist in der vorgestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden. .

Es folgt die zweite Beratung des Gesetzentwurfs über den Erwerb von Fischereiberechtigungen durch den Staat und das Aufgebot von Fischereiberechtigungen.

Abg. Dinslage Gentr.) erstattet Bericht über die Kommissions— beratungen. Zu § 3, der angibt, daß die Erwerbung von Fischerei⸗ gerechtigkelten durch den Staat der gerichtlichen oder notariellen Beurkundung bedarf, hat die Kommission einen Zusatz beschlossen: Bei der Eintragung ist ersichtlich zu machen, daß der Staat das Recht nur erwirbt, foweit es den Uebertragenden zusteht. Um zu ermöglichen, daß dem Staate alle Fischereiberechtigungen zur Kenntnis kommen, sieht die Vorlage ein Aufgebotsverfahren vor, nach dessen Ablauf Ansprüche dem Staate gegenüber nicht geltend gemacht werden können. Um Fälle zu vermeiden, in denen die Beteiligten von dem Aufgebotsverfahren tatsächlich keine Kenntnis erhalten, was namentlich vorkommen kann, wenn die Inhaber von Fischereiberechtigungen in abgelegenen Gegenden wohnen, hat die Kommission zu § 11 einen Absatz zugefügt, daß die zuständige Provinzialbehörde „durch Be⸗ scheinigungen der Gemeindevorsteher (Gutsvorsteber) des Aufgebots— gebietes glaubhaft zu machen hat, daß andere Fischereiansprüche, als die angezeigten, nicht bestehen?“. Nach 5 13 soll gemäß einem Kommissionsantrage das Gericht anordnen können, daß die Bekannt- machung des Aufgebots außer in den Amts- und Kreisblättern noch in anderen Blättern einzurücken ist.

Die Abgg. Berndt (Zentr.) und Genossen beantragen, in den Kommissionsantrag zu 8 3 einzuschalten: „falls die Be⸗ rechtigung noch nicht im Grundbuch eingetragen war“.

Abg. Weissermel (kons.): Die Zweckmäßigkeit des Gesetzes und die Gründe, welche zur Vorlage geführt haben, können wir durch— aus anerkennen. Es war unbedingt nötig, daß den durch Wasser⸗ bauten geschädigten Fischern eine Entschädigung gewährt wird. Bis zum Erlaß eines allgemeinen Wassergesetzes konnten wir damit nicht warlen. Den Anttag Berndt sehen wir als eine Ver— besserung an. ö

Abg. Schreiner (Zentr.) sieht in dem Entwurf gleichfalls einen befriedigenden Ausgleich zwischen den Interessen des Staates und den geschädigken Fischern. Die Zusätze der Kommission seien ehen— falls Verbesserungen. Der Redner bittet auch um Annahme des An— trages Berndt.

Abg. Lippmann (fortschr. Volksp.) stimmt ebenfalls dem Ent— . zu. Die Hauptsache sei, daß die Entschädigung möglichst rasch erfolge.

Abg. Lüdicke freikons.) bringt gleichfalls die Zustimmung seiner Freunde zum Ausdruck. Daß keine einzige Petition aus Fischerkreisen eingegangen sei, beweise, daß man den richtigen Weg eingeschlagen habe. Der Zusatz der Kommission zu F 11 sei zu begrüßen, denn die Gemeinde- und Gutsvorsteher seien die geeigneten Organe, welche über die Fischereiberechtigungen unterrichtet sind. Die Aenderung zum S 3 sei eigentlich selbstverständlich.

Abg. Dr. Martens⸗Osterholz (n.) stimmt auch dem Entwurfe in der Kommissionsfassung zu.“

Abg. Gyßling ffortschr. Volksp) begrüßt den Zusatz zu § 13, wonach auch andere Blätter vom Gericht für die Bekanntmachung vor— gesehen werden können. Von diesem Recht sollten die Gerichte mög— lichst weitgehend Gebrauch machen. Zu wünschen wäre es, daß mög— lichst viel selbständige Existenzen erbalten blieben. In der Uebergangs⸗ zeit müßte den Fischern Gelegenheit zum Nebenerwerb gegeben werden. Der Redner bittet bei dieser Gelegenheit die Regierung, mehr Mittel zur Förderung der Fischereivereine in den Etat einzustellen; es müsse mehr zur Hebung der Fischzucht geschehen.

Damit schließt die Debatte. 88 1 und 2 werden an⸗ genommen. .

F 3 wird mit dem Antrag Berndt angenommen, nach⸗ dem Unterstaatssekretär Dr. Freiherr von Coels von der Brügghen sich mit dieser Aenderung einverstanden erklärt hat.

Der Rest des Gesetzes wird ohne Debatte nach dem Kom— missionsbeschluß angenommen. .

Darauf wird die Vorlage auch in dritter Beratung sofort ohne Debatte angenommen.

Es folgt die Beratung von Petitionen. .

Ueber die Petition des preußischen Landesvereins für Frauen—⸗ stimmrecht in Berlin um Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für beide Geschlechter beantragt die Petilionskommission zur Tagesordnung überzugehen. . ö

Abg. Leinert (Soz. beantragt die Ueberweisung der Petition an die Regierung zur Berücksichtigung und bemerkt: Die Kommission hat sich diesmal gar nicht materiell mit der Petition beschäftigt, sondern ist nur formell zu dem Beschluß gekommen, zur Tagesordnung überzugehen, weil bereits 1909 über diese Petition Uebergang zur Tagesordnung beschlossen, 1910 die Wahlrechtsvorlage gemacht worden sei und die politischen Verhältnisse sich nicht geändert hätten. Der Uebergang zur Tagesordnung würde die ganze Wertschätzung der Partelen fur die Frauen überhaupt kennzeichnen. In dem verjunkerten Preußen haben sich die Frauen ihre Rechte nur langsam erkämpfen können. Die rückständigen preußischen Ansichten über die mangelnde politische Befähigung der Frauen sind durch die Tatsachen längst widerlegt worden. Abgesehen vielleicht von der russischen Duma, ist kein Parlament so volksfeindlich und steht so kraß in Wider— spruch mit den Anschauungen des gesamten Volkes, wie das preußische Abgeordnetenhaus. Die Majorität dieses Hauses hat nicht die Majorität der Wähler hinter sich. Wenn man die Wähler des Zentrums, das vor den Wahlen für das Reichstagswahlrecht ein getreten ift, hinzurechnet, so sind 761 Co der Wähler für das all— gemeine, gleiche, geheime, direkte Wahlrecht in Preußen. Die jetzige Zusammensetzung des Hauses ist eine direkte Fälschung des Volks⸗ willens. Bei der Wahlrechtsvorlage war das direkte Wahlrecht von der Regierung beantragt worden, und für das geheime Wahlrecht war eine Majorität im Hause vorhanden; diese beiden Forderungen wären also zu erreichen gewesen, wenn nicht ein so elender Verrat geübt worden wäre. Das allgemeine Wahlrecht für alle Preußen über 24 Jahre haben wir bereits, ich behaupte also, daß in diesem Hause eigentlich eine Mehrheit für das allgemeine, geheime direlte und gleiche Wahlrecht vorhanden ist, wenn man beachtet, wie die Parteien im Reichstag für dieses Wahlrecht in Elsaß Lothringen gestimmt haben. Dort haben sogar Konservative für dieses Wahlrecht 6 Das Zentrum redet so viel von seinem Patriotitznus. Man hat sich dagegen verwahrt, daß die Elsaß-Lothringer zu Deutschen zweiter Klasse gestempelt werden; entspricht es etwa dem Patriotismuß, wenn nun diejenigen, die. Elsaß Lothringen mit erobert haben, die Preußen, . zweiter Klasse sein sollen? Es wäre merkwürdig, wenn nicht für die Preußen gelten sollte, was in Elsaß Lothringen möglich ist. Wenn nicht Heuchelei geüht wird, kann deshalb nulcht der Uebergang zur Lagesordnung beschlossen

Zweite Beilage . zum Dentschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

Berlin, Montag, den 29. Mai

werden. Wir beantragen die Ueberweisung zur Berücksichtigung, wissen allerdings, daß bei der Parteistellung im Hause dieser Antrag nicht angenommen werden wird. (Abg. von Pappenheim: Sehr richtig Herr von Pappenheim, ich habe nicht geglaubt, daß die Kon⸗ serbativen in diesem Hause Recht und Gerechtigkeit walten lassen. Mindestens sollte die . als Material überwiesen werden. Aber schließlich wird auch einmal das Volk über dieses Haus, das die Karikatur eines Parlaments ist, zur Tagesordnung übergehen. (Vize⸗ präsident Dr. Krause: Herr Abg. Leinert, für diese Beleidigun des Hauses rufe ich Sie zur Ordnung! Das Volk wird n n hier ein Haus schaffen, das eine wirkliche und nicht eine Schein⸗ vertretung des Volkes ist.

Abg. Rosenow lfortschr. Volksp.): Meine Freunde können mit dem Beschluß der Kommission nicht einverstanden sein. Man kann Preußen nicht das Wahlrecht vorenthalten, das man den Elsaß-⸗Lothringern ge⸗ währt hat. Wir halten an der Forderung des Reichstagswahlrechts für Preußen fest, aber in bezug auf das Wahlrecht der Frauen nehmen wir eine andere Stellung ein als die Sozialdemokraten. Dafür kann sich der Vorredner auch nicht auf Elsaß⸗Lothringen berufen, denn dort tst den Frauen das Wahlrecht nicht gewährt. Wir haben in Preußen genug damit zu tun, zunächst einmal das Reichstagswalrecht für die Männer zu erreichen, und die politische Betätigung der Frauen sollte sich zunächst nur darauf erstrecken, den Männern dabei zu helfen. Wir beantragen, diese Petition als Material für die Vorlage zu überweisen, die wir erwarten und die bestimmt zugesagt ist, nämlich für die Vorlage über Aenderung des Wahlrechts. Bei dieser Ge— legenheit kann auch die Frage des Frauenstimmrechts geprüft werden.

Abg. Gronowski (Zentr.): Der Abg. Leinert hat u. a. die Kürze des schriftlichen Berichts der Kommission, den ich erstattet habe, bemängelt; der Bericht beweist, daß man in wenigen Worten auch viel sagen kann, und wenn der Abg. Leinert fragen kann, welche Wahlrechtsvorlage denn mit der Erwäh⸗— nung der Wahlrechtsporlage in dem Kommissionsbericht gemeint sei, so weiß doch jedes Kind, daß damit nur die Vorlage von 1910 ge— meint sein kann. Die Aufregung des Herrn Leinert ist ganz un— angebracht, es ist besser, wenn wir alle Fragen mit der gleichen Ruhe behandeln. Bei der Wahlrechtsfrage haben wir nicht allein mit diesem Hause zu rechnen, sondern auch damit, wie sich das Herrenhaus und die Regierung zu den Beschlüssen dieses Hauses stellen würden. Nach der Parteistellung sind in diesem Hause 276 Gegner des Reichstags— wahlsrechts für Preußen vorhanden und nur 160 Freunde dieses Wahl⸗ rechts einschließlich des Zentrums. Es ist also nicht richtig, das Zentrum dafür allein verantwortlich zu machen, wenn hier das Reichstags— wahlrecht nicht durchzubringen ist. Die Frauen entrechten wir nicht, wenn wir sie auf ihr natürliches Berufsgebiet verweisen. Die Frauen haben so viel im Haushalt zu tun, daß ich sagen kann, die große Mehrheit der Frauen selbst ist gegen das Wahlrecht der Frauen. Die Frauen widmen sich viel lieber ihren Haushalts- und Mutter pflichten. (Abg. Hoffmann: Sie widmen sich ja auch Ihren Vaterpflichten. Meine Vaterpflichten zu üben und für das Wohl meiner Familie zu sorgen, das gebietet mir mein Gewissen. Wenn wir poli— tische Wahlgeschäfte mit der Forderung des Frauenwahlrechts machen wollten, würden die Sozialdemokraten bald bedauern, diese Forderung erhoben zu haben, denn die christlich nationalen Frauen würden dazu beitragen, Sie (zu den Sozialdemokraten) in Ihrer Agitation zu hemmen. Heuchelei ist es, wenn man gegen seine Ueberzeugung, nur um das Agitationsbedürfnis zu befriedigen, für das Frauenwahlrecht eintritt. Die Sozialdemokraten berufen sich auf Norwegen und andere Staaten; aber wozu in die Ferne schweifen, wenn das Schlechte hier bei Ihnen so nahe liegt? Die Sozialdemokraten haben in Karlsruhe für das kommunale Dreiklassenwahlrecht gestimmt. (Abg. Hirsch (Soz.): Sagen Sie mal ausnahmsweise die Wahrheit! Die zweifelhafte sozlaldemokratische Agitation hat dazu beigetragen, daß die Freunde des Reichstagswahlrechts bis weit in die Kreise des Bürgertums hinein kopfscheu geworden sind. Wir vom Zentrum sind so viel Neal— politiker, daß wir nicht daran glauben, daß wir in den nächsten Jahren hier im Hause das Reichstagswahlrecht bekommen; darum werden wir an jeder Verbesserung arbeiten. Diese Petition bitten wir aber nach dem Antrage der Kommission durch Uebergang zur Tagesordnung zu erledigen, da wir uns zunächst um andere Fragen zu kümmern haben. . .

Abg. Freiherr von Erffa (kons.) : Hier handelt es sich gar nicht um das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, sondern um die Ein⸗ führung des Frauenwahlrechts. Unsere Zeit ist wirklich zu kostbar, als daß ich mich auf die Frage der Nützlichkeit des Frauenwahlrechts hier einlasse. Wir werden selbstverständlich nur dem Kommissionsantrage zustimmen. Meine Freunde beabsichtigen nicht, die Verbeugung des Abg. Rosenow gegen die Sozialdemokratie mitzumachen. .

Abg. Leinert (Soz.): Der Abg. Gronowski ist nicht imstande, meinem Gedankengange zu folgen. Ich habe mich gefragt, ist der Abg. Gronowski so dumm, oder stellt er sich nur so.

Vijepräsident Dr. Krause ruft den Redner zur Srdnung.

Abg. Leinert (fortfahren): Die Erklärung des Abg. Freiherrn von Erffa zeigt, wie die Rechte die Volksrechte behandelt. Herr von Pappenheim kommandiert, und das Haus soll dem Kommando folgen. Wir werden es uns aber trotzdem nicht nehmen lassen, immer und immer wieder die Volksrechte hier zu vertreten.

Abg. Gyßling (fortschr. Volksp. ). Die Bemerkung des Abg. Freiherrn von Erffa, daß wir eine Verbeugung vor der Sozial⸗ demokratie machten, weise ich als eine Verdächtigung und Ueberhebung

urũck. Abg. Schiffer (nl): Die Stellung meiner Freunde zum Frauen⸗ wahlrecht ist genügend bekannt, wir haben nicht nötig, sie hier noch einmal darzulegen. Wir werden dem Kommissionsantrage zustimmen.

Damit schließt die Debatte.

Persönlich bemerkt w

Abg. Gronowski (Zentr): Der Abg. Hirsch rief mir die Ve— merkung zu: „Sagen Sie mal ausnahmsweise die Wahrbeit!“ Ich muß ez ablehnen, mich gegen diese Bemerkung zu verteidigen, weil ich weiß, daß . Herren Sozialdemokraten ein Produkt ihrer Er— ziehung und Umgebung sind. .

; In! dersd ltc Ben ekung des Abg. Wenke (fortschr. Volksp.), in der er fich gegen den Abg. Gronowsti wendet, geht unter fort währenden Zwischenrufen der Rechten und des Zentrums verloren.

Vizevräͤsident Dr. Krause (der den Redner verschledentlich durch Glockenzeichen am Weitersprechen zu verbindern gesucht hat): Ich bitte den Abgeordneten, wenn ich das Glockenzeichen gebe, guch mit seiner Rede innezuhalten. Dann bitte ich aber, bei persönlichen Be merkungen nicht fortwährend Zwischenrufe zu machen, damit der Präsident wenigstens in der Lage ist, den Ausführungen zu folgen.

Die Petition wird gegen die Stimmen der Volkspartei und der Sozialdemokraten durch Uebergang zur Tagetgordnung erledigt.

Eine Petition des Schriftsetzers Müblberg in Berlin fordert Anstellung von Gewerbeaufsichtsbeamten aus dem Ge pilfenstande. Die Handels, und Gewerbekommissien beantragt lebergang zur Tagesordnung. : end nr Berlin Go): Unsere prinzipielle Stellung baben wir dargelegt, als wir vor zwei Jahren den Antrag gestellt hatten die Regierung zu ersuchen, einen Ausbau der Gewerbdeaufsicht in der Weise vorzunehmen, daß auch die Arbeiter zu der Gewerbeaussicht hinzugezogen werden. Gerade die Arbeiter sind am besten geeignet die Gewerbeaussichtsbeamten mit ihren praktiscihen Erfahrungen unterstützen. Das geben auch die Rewerbeaufsichtskeamten zu.

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beantragen, die Petitien zur Berüchsichtigung zu üderwenen.

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1911.

Abg. Sauermann (Zentr.): Wir halten gewiß auch die Hinzu— ziehung von Gewerbegehilfen und Arbeitern zur Gewerbeaufsicht für norte ich Nach dem Inhalt der Petition kann man sie ber kaum zur Berücksichtigung überweisen, weil sie allerhand falsche An⸗ gaben enthält. . ;

Da Haus geht über die Petition zur Tagesordnnng über.

Es folgt die Beratung einer Reihe von Petitionen;

I) betr. den Schutz des Baugewerbes in Stadt und Land und den Erlaß von Bestimmungen über die Verwendung des Strohdaches,

2) um e e, einer Schädigung der Dachpappen⸗ Verblend⸗ ziegelbau“, Zement-, Kalkindustrie u. a. durch die Heimatschutzgesetz⸗ gebung, . .

3 um Abänderung des Gesetzes gegen die Verunstaltung von Ortschaften und landschaftlich hervorragenden Gegenden,

4) um Vornahme gleichzeitiger Versuche zur Prüfung der Feuerbeständigkeit harter und weicher Bedachungsarten.

Die Handelt. und Gewerbekommission beantragt, über die Petitionen zur Tagesordnung überzugehen, soweit sie die Beseitigung des Strohdachs fordern oder über die nach dem seinerzeit an⸗ genommenen Antrage Brütt von der Regierung zugesagte Prüfung nicht feuersicherer Dachdeckungsmaterialien hinaus zugehen; im übrigen sollen die Petitionen der Regierung als Material überwiesen werden.

Die zum Worte gemeldeten Abgg. Dinslage (Zentr) und Dr. Liebknecht (Soz.) sind nicht anwesend. . .

Die Petitionen werden nach den Anträgen der Kommission

erledigt. . . Reber eine Petition des Lehrers 4. D. Post in Köslin um Ge— währung einer dauernden Unterstützung in Höhe der gesetzlichen Pension, Nachzahlung von Gehalt und Herbeiführung seiner Begnadigung will die Unterrichtskom:nission zur Tagesordnung übergehen.

Abg. von Wenden (kons.): Der Petent ist nach fast dreißigjähriger Dienstzeit im Disziplinarwege aus dem Schuldienste entlassen worden. Zweifellos ist gegen ihn nach dem formellen Recht verfahren worden. Dennoch erscheint das Urteil hart. Ich beantrage deshalb, die Petilion der Regierung dahin zur Berücksichtigung zu überweisen, daß die laufende ÜUnterstützung angemessen erhöht wird..

Abg. Lippmann (sortschr. Volksp.) tritt ebenfalls für diesen Antrag ein.

Geheimer Oberregierungsrat Altmann bittet, es bei dem Kommiffionsbeschlusse zu belassen. Es handelt sich um einen schwer disziplinarisch bestraften Lehrer, dem schon jetzt von der Regierung Unterstützung bewilligt wurde. Auch seinen Kindern warden Unter— stützungen zuteil. Weiter glaube die Regierung aber nicht gehen zu können.

Abg. Ernst (fortschr. Volksp.) erkennt das Entgegenkommen der Regierung in diesem Falle zwar an, bittet aber, den Antrag von Wenden anzunehmen. . .

Der Äntrag wird jedoch abgelehnt und die Petition nach dem Kommissionsantrage durch Uebergang zur Tagesordnang erledigt.

Eine Petition von Direktoren, Rektoren, Oberlehrern und. Lehrern wünscht eine Abänderung der Neuordnung des höheren Mädchen— schulwesens vom 18. August 1903 dahin, daß die Besoldungs—⸗ verhältnisse der nicht akademisch vorgebildeten Lehrkräfte an nichtstaatlichen höheren Mädchenschulen und den weiterführenden Bildungsanstalten nach der Besoldungsordnung der staatlichen Anstalten bemessen werden. Die Unterricht kommission hat beschlossen, die Petition der Staatsregierung zur Erwägung zu überweisen.

Nach Befürwortung durch den Abg. Ernst (fortschr. Volksp.) be⸗ schließt das Haus in gleichem Sinne.

Die Petition des Bürgermeisters von Stolberg in Rheinl. um Abhaltung der Aushebungs-⸗ und Musterungsgeschäfte für die Milisärpflichtigen der Stadt Stolberg und deren Umgebung in der Stadt Stolberg beantragt die Gemeindekommission der Regierung als Material zu überweisen. *

Abg. Dr. Kaufmann Gentr.) beantragt die Ueberweisung zur Berücksichtigung und begründet sie damit, daß die Militärpflichtigen von Stolberg und Umgebung sich jetzt nach der Stadt Aachen, also in einen anderen Kreis, zur Musterung und Aushebung begeben müßten, wodurch ihnen Zeitverluste und Kosten entständen; in anderen Kreisen finde das Musterungsgeschäft auch in verschiedenen Orten statt, um es den Leuten möglichst leicht zu machen. Das Haus möge deshalb noch über den Kommissionsbeschluß hinausgehen und die Ueberweisung zur Berücksichtigung beschließen.

Abg. Brust (Zentr.) unterstützt den Antrag des Vorredners und empfiehlt überhaupt, in allen größeren Orten Gelegenheit zur Musterung zu geben. .

Das Haus beschließt nach dem Kommissionsantrgg.

Die Petition des Vorstandes des Bromberger Bürgervereins um Erhaltung der Bromberger Schleusenanlagen beantragt die Gemeindekommission der Regierung als Material zu überweisen.

Abg. Aronsohn (fortschr. Volksp.) weist darauf hin, daß die Promenadenanlagen zu beiden Seiten des Bromberger Kanals bei der Stadt Brom3erg von Friedrich dem Großen angelegt seien, aber jetzt bei der Verlegung der Kanalmündung vom Staate veräußert werden sollten. Die Beseitigung der Anlagen würde geradezu ein Schlag in das Gesicht der Stadt sein. . :

Ein Regterungskommissar bemertt, daß die Regierung auf eine angemessene Beteiligung der Stadt Bromberg rechnen müsse und daß die Wünsche der Stadt bei den schwebenden Verhandlungen nach

1 dem ürgerm e Ger Die 1 12*. . 8 279 aon ** will, gegen die Ordnungsstrawwerfüg des Oberverwaltungsgerichts anzurufen in dem Sinne zu überweise Rr*rs om wo rr Re i, m. Instanzenweg gegeben werde Kram sr ne 328 vert eingrr zur 3 übrigen aber über die Petition zur ges Abg. Gvßling (fortschr. Volksp. ben Petition zur Berücksichtigung. aus beschließt jedoch nad ie Petition des Bürgermeisters in Amtsgerichts in Kruschwiß Frwägung überwiesen. ö 1 = 2 87 je Petition des 11 2nu1I ** um R 127. und Ges